Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

26

Der Wagen fuhr langsam und wiegend über die Ringstraße gegen die Mariahilfstraße zur Westbahn. Nur fort, nur weit fort von Edith, von dem ganzen Leben, das sie führte... Ruhe. Das klare Wasser des Leopoldsteiner Sees, selbst das schlecht gespielte Adagio von Mozart, das in der Villa am jenseitigen Ufer erklang – all das erschien ihr Erlösung. Erst Mitleid, dann Liebe, und Verzweiflung zum Ende, das hatte sie an Erik gekettet. Verzweiflung hatte sie auf die Straße getrieben, in die Arme eines fremden Menschen – dem sie nur durch Zufall entgangen war.

Drinnen in ihrem Kupee dritter Klasse (sie wollte sparen) war es schwül. Ein kleiner Knabe aß Obst und warf die Kerne umher.

Sie wurde ängstlich, als der Zug sich in Bewegung setzte. Die Häuser flogen vorbei. Jetzt – jetzt bereute sie. Sie dachte daran, die Kupeetür aufzureißen und herauszuspringen, zurück zu Erik, zu Edith, zu der Sonnenfelsgasse. Sie erinnerte sich Dina Ossonskajas – sie erinnerte sich, daß auch die Russin versucht hatte, aus dem Kupee herauszuspringen – und daß sie selbst darüber gelächelt und das Mädchen verachtet hatte ... Und heute wollte sie das gleiche tun. Weshalb wollte sie das gleiche tun? Eine Handlung, die dumm, verzweifelt und völlig unnütz war, über die Edith lachen und die Bahnbeamten sich ärgern würden – und die nichts änderte? Sie war doch frei.

Freie Liebe verband sie mit Erik. Freie Liebe wuchs sanft blühend zwischen Edith und Erik hervor. Freie Liebe zwischen Dina und Erik bestand.

Warum frei? Konnten diese fürchterlichen Fesseln irgendeine Freiheit lassen? Wenn der Mensch, die Persönlichkeit, das erotische Wesen dem andern nackt und wehrlos gegenüberstand? Die Menschen würden vielleicht erst in hundert Jahren begreifen, daß auch die freie Liebe wirkliche, starke, unzertrennliche Verbindungen herstellen konnte, zwischen der Frau, die gab, und dem Manne, der nahm. Denn sie, Helene, hatte immer gegeben. Ihre Zeit, ihr Geld, Kleinigkeiten, – bis zu unersetzlichen Dingen, wie es der erste Kuß war.

Die Rollen waren nicht gleich. Man sprach nicht von Mann und Frau wie in der Ehe, sondern von dem Herrn und der Dame. Sie war die Dame oder konnte es sein, wenn sie sich behauptete in ihrer eigenen Achtung und in der Achtung der Welt. Er blieb der Herr ...

Die Höfe der Häuser längs der Bahn zeigten schamlos ihre Gänge, ihre kleinen Kammern mit ungewaschenen Fenstern, die Gitter der Korridore, auf denen die Wäsche hing, die getrocknet werden sollte, und wo die Teppiche lagen, die geklopft werden sollten.

Helene erinnerte sich der erotischen Szenen der letzten Zeit. Waren die etwas Neues für die Welt? Nein, es war das Gewöhnliche und mußte es sein. Die Häuser waren alle angefüllt von Menschen, Tag für Tag, Nacht für Nacht, mit Menschen, die miteinander lebten und welche die Erotik mißbrauchten, um die Wunden zu heilen, die ihnen das Leben geschlagen hatte. So wie sie gestern auf die Gasse gegangen war, um sich Ruhe für ihre überreizten, übermüdeten Nerven zu holen, so wollten alle die Menschen von der Erotik den Ersatz für das, was sie draußen nicht erreichen konnten.

Der Mann hatte quälende Geldsorgen in seinem Geschäft. Wo holte er sich Ruhe? In der Ehe; da wartete immer eine Frau auf ihn, so wie sie, Helene, auf Erik gewartet hatte. Eine Frau war unglücklich in einen kleinen Schauspieler verliebt; sie hatte Hunger nach Luxus, den das magere Gehalt des Gatten nicht befriedigen konnte. Zu Hause, hinter den Vorhängen des Schlafzimmers, glich sich alles aus.

Die Erotik war kein Freudenfest, sie war eine Gewohnheitssache, tausendfach mißbraucht, abgeschwächt, und da wurde sie verwirrt, vergiftet, häßlich und trüb.

Und um diesen Punkt zog sich alles zusammen. Die vielen Theater lebten davon, daß die verheirateten Leute in die Operetten gingen und an den sentimental-gemeinen Liedern sich das Feuer holten, das der häusliche Herd brauchte. Es war aber schrecklich, auszudenken, wie alle diese Leute miteinander lebten.

Der Ausländer in der Rauhensteingasse war nicht der einzige, der schlechte, zerfressene Zähne hatte. Die Leute hatten schmutzige Füße, die Frauen waren fettleibig oder klapperdürr, überreizt oder kalt, nervös und Launen unterworfen; die Hände der Männer rochen nach Tabak, ihr Mund nach Wein, die Hände der Frauen waren vom Herdfeuer aufgesprungen und die Worte – – wie waren die Worte, die sie sich zu sagen hatten?

Und doch lebten sie zusammen.

Die Kinder wuchsen ihnen heran, man mußte sich vor ihnen in acht nehmen, damit sie nicht zum Schlüsselloch hereinsahen.

Es war eine grauenhafte Welt, die sich vor den Augen Helenes aufrollte, vor den Augen einer Entzauberten.

Und die Hoffnung all dieser Menschen, wie ihre eigene, war das Kind. Die Mutter des Kindes war nicht mehr die Mätresse eines Mannes. Das war der Schlüssel, der alle Schlösser dieser Kette aufschloß.

Das Kind war das einzige, was beiden, dem Mann und der Frau, am Herzen lag, an dem beide leiden, durch das beide glücklich werden konnten. Erik hatte einmal von seiner Mutter erzählt, daß sie das Wort ausgesprochen hatte: Glücklich oder unglücklich kann eine Frau nur durch ihr Kind werden. Das fühlte Helene, das glaubte sie.

Sie glaubte, daß sie ein Kind von Erik habe. Dann wird er zu mir zurückkehren, dachte sie; wenn das Kind seinen blutigen, schmerzensreichen Weg aus meinem Körper geht, dann wird die Spur seiner entehrenden Liebkosungen verschwunden sein; dann bin ich die Mutter seines Kindes; mir kann er untreu sein, meinem Kinde nie.

Ihr Beruf, ihre Absicht, Ärztin zu werden, erschien ihr anders als früher. Vor allem wollte sie ihrem Kinde die Mutter sein und dann wollte sie für andere Kinder sorgen und das für sie tun, was die eigenen Mütter nicht tun konnten, weil sie nicht genug wußten, nicht genug Fleiß, nicht genug Liebe gehabt hatten. Deshalb wollte sie studieren.

Der Zug hielt in St. Pölten.

Als er abfuhr, gab es einen heftigen Ruck. Schützend hielt Helene beide Hände vor ihren Leib. Sie wollte das keimende Leben hüten und schirmen, so wie man die Hände vor eine kleine, erst halb glimmende Flamme hält.

Sie sah den kleinen blonden Jungen, der Obst gegessen hatte, wohlwollend an. Alles erschien ihr tröstlich. Sie lehnte sich in die Ecke, Tränen begannen zu fließen. Die ältere Schwester des Buben, eine Frau von dreißig Jahren, tröstete sie, und gesprächig, wie alle Frauen auf Eisenbahnfahrten, fing sie alsbald an, ihre eigenen Familiengeschichten zu erzählen, die sehr verwickelt waren. Dann stellte es sich durch einen Zufall heraus, daß sie ebenfalls an den Leopoldsteiner See wollte und daß der Junge mit dem Obst ebenderselbe war, der die Mozart-Sonate verschandelt hatte. Das kam Helene so lustig vor, daß sie lachte – zum erstenmal seit langer Zeit.

Dann kamen schöne, langsame Tage; klar und heiter stiegen sie über den See. Helene lag gerne auf einer kleinen Wiese, ein paar Meter hoch über dem Wasser, und zählte die Schmetterlinge, die vorüberzogen, dachte an nichts, lernte bloß abends und morgens ein paar Stunden. Die Arbeit ging so gut vorwärts, daß sie hoffen konnte, im, Herbst die Prüfung am akademischen Gymnasium zu bestehen und noch im Wintersemester auf der Universität zu inskribieren. Das Sommersemester – um diese Zeit würde das Kind schon da sein, mit Händchen und Beinchen strampeln, das Köpfchen noch nicht allein halten können – diese Zeit sollte ganz dem Kind gehören.

Es waren jetzt zwei und ein halber Monat seit dem ersten Kuß.

Einmal – wie glücklich war sie damals noch mit Erik gewesen – war die monatliche Mahnung ausgeblieben, und wenn sie an diesen Tagen noch ausblieb, dann wußte sie, daß sie Mutter war. Immer wieder fragte sie sich nach Zeichen und Symptomen, aber sie fand sich nicht verändert – und war froh darüber, daß ihr die Unannehmlichkeiten erspart blieben.

An einem Abend – es stand ein Gewitter über der Steinernen Wand – ruderte sie langsam hinüber nach dem flachen Ufer, wo sie damals mit Erik gebadet hatte. Sie hatte jetzt Angst zu baden, sie hütete sich vor jeder Anstrengung, als könnte das den Schatz in ihrem Körper, der still und unbemerkt wuchs, zerstören.

Sie setzte sich am Ufer nieder und las in Valentins »Physik für Mittelschulen«. Aber es war schwül, und die Augen fielen ihr zu. Sie strengte sich an, zu denken und zu begreifen, aber es war wie eine Hand, die am Kopfe anfaßte und bis ins Kreuz und die Lenden drückte.

Da sah Helene am Strand, in einem kleinen Weidenstrauch verschlungen, blaue Tuchfetzen. Sie trat näher; es waren die Reste des Badekleides, das ihr Erik damals, in den glühenden Tagen, vom Körper gerissen hatte – damals hatte er es ins Wasser geworfen, und nun hatte es die Flut zurückgetragen.

Es war nichts als ein Fetzen blauen Stoffs – nichts mehr. Und die Stelle da im Sand, in der Mitte zwischen dem Wasser und der Wiese und den Weidenbäumen, das war nichts als ein Stück Erde, so wie jedes andre. Nein, es war mehr. Eine bebende, zitternde Erinnerung, süß und schmerzlich, stieg in ihr auf und erfüllte sie vom Kopf bis zu den Füßen, wurde stark und gewaltsam, krümmte sie zusammen wie eine Uhrfeder. Sie war ganz gebückt. Da – da – unerbittlich das Gefühl: Ich habe kein Kind. Alles war nichts.

Mit eiserner Hand sonderte die Natur die Frauen: fruchtbare und unfruchtbare. Helene sollte nicht Mutter werden, nicht Mutter eines Kindes von Erik Gyldendal.

Sie schrie nicht, sie weinte nicht. Sie sehnte sich nach nichts mehr. Sie haßte Erik von diesem Augenblick an, sie verachtete ihn mit der ganzen Kraft eines Weibes, das einen Mann verachtet, weil seine Umarmungen unfruchtbar sind. Sie waren unfruchtbar – grausam und schmählich, brutal, weil Brutalität nichts ist als unnütze Grausamkeit.

Das Leben war verändert – sie hatte abzuschließen mit dem Kapitel Liebe – und sie schloß ab.

Sie hatte nicht mehr genug Geld, um für sich allein leben zu können. Mit Edith wollte sie nichts zu tun haben.

Sie erinnerte sich des Doktors Sänger; sie wußte, daß er kahlköpfig war und einen krummen Rücken hatte; sie hatte sich zu entschließen und entschloß sich. Auf ihr Telegramm kam Doktor Sänger am nächsten Tag.

Er sah schlecht aus und war sehr verlegen. Er hatte geglaubt, einen Touristenanzug zu dieser Reise anziehen zu müssen, und kam in einem karierten Sakkoanzug mit Kniehosen. Das war grotesk; man bemerkte, daß er O-Beine hatte. Das hatte Helene nicht gewußt.

Er war schrecklich verlegen, eben weil er wußte, daß ihm Helene unrecht getan hatte mit jenem brüsken, unmotivierten »Nein«, geschrieben im Westbahn-Restaurant vor der ersten Reise.

Sänger war ein zudringlicher, mittelmäßiger, aber in seinen Schwächen menschlicher Mann. Er wußte von seinen O-Beinen und bewunderte, haßte und beneidete alle, die gerade gewachsen waren. Jetzt erzählte er von seinem Milligramm Radiumbromid, das er mit dem Stipendium von Hofrat Braun erhalten hatte, und von den Heilungsversuchen. Dabei hatte es sich herausgestellt, daß wirkliche Heilungsmöglichkeiten in diesen wunderbaren Strahlen lagen – sehr hübsche, wenn auch noch nicht welterschütternde Resultate.

»Wer hätte das gedacht!« sagte Helene. »Und die Röntgenstrahlen?«

Die Durchleuchtungen seien jetzt schon eine neue große Wissenschaft für sich, aber die Heilungskraft der Röntgenstrahlen – da wäre besonders bei hoher Strahlungsintensität keine Heilungstendenz zu beobachten gewesen.

Ob sie vielleicht schadeten?

Ja, man hätte drüben in Amerika bei den Arbeitern, die die Röntgenröhren ausprobierten, und auch bei einem Hamburger Gelehrten Verbrennungen, Geschwüre und krebsartige Neubildungen beobachtet.

»Geschwüre?«

Ja, noch dazu sehr bösartige. Obolinsky hätte sich von dem Chirurgen Mayo Robson die Hand amputieren lassen und sei doch gestorben.

»Ja, das ist sonderbar«, sagte Helene bedrückt. Dann raffte sie sich auf. »Sie wissen, weshalb ich Ihnen telegrafiert habe?«

»Woher soll ich das wissen?« antwortete Doktor Sänger nach einer Gewohnheit der Juden, Fragen mit Fragen zu beantworten.

»Ich habe Ihnen damals unrecht getan. Ich will Sie jetzt um Verzeihung bitten.«

»O nein, das war doch Ihr freier Wille.«

»Ja, und es ist ebenso mein freier Wille, Ihnen zu sagen, daß es mir leid tut.«

»Ach, bitte, Fräulein Helene.«

»Ich habe mich überschätzt – und andre.«

» Sich haben Sie gewiß nicht überschätzt«, sagte er.

»Sie halten mich für besser als ich bin«, sagte sie.

»Ich weiß ja alles«, sagte er. »Und es ist unsere Sache als Ärzte, alles zu wissen und nichts zu verstehen.«

»Und vergessen?« fragte sie. »Nein«, fuhr sie gleich wieder fort. »Wozu die dummen Phrasen. Sie werden nicht vergessen und ich auch nicht.«

»Nein, das kann ich nicht«, sagte er mit einer unbeholfenen zärtlichen Stimme. – Helene vergaß, daß er kahlköpfig war und einen krummen Rücken hatte.

»Sie haben mich noch lieb?« fragte sie.

»Wissen Sie das nicht?«

»Wollen Sie mich heute noch heiraten, trotz allem?«

»Ist es denn vorbei ...?«

»Ja, es ist vorbei. Das kann ich Ihnen ruhig sagen.«

»Und ...?«

Mit einem unendlich traurigen Lächeln sagte das junge Mädchen: »Ihr Kind wird nicht Erik heißen.«

Da nahm er ihren Arm, und sie sahen beide ohne Worte auf den stillen See hinaus, über den gerade ein Kohlweißling hinauszuflattern sich anschickte.


 << zurück weiter >>