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Vierter Teil

Wir entschlossen uns erst im Frühling des Jahres 1934, die Schweiz zu verlassen und nach Paris zu gehen. Ich war ein kranker Mann. Ich hatte mich nicht von den Mißhandlungen erholt, und wenn ich laut sprach oder mich lebhaft bewegte, waren die Stiche in der Brust kaum zu ertragen. Viktoria schonte mich. Aber dies quälte mich. Ich hätte am liebsten oft tagelang keinen Menschen um mich gesehen. Sie mußte ich um mich dulden, denn sie war doch das einzige, das mich an das Leben band. Aber wir beide fühlten wohl, es war zuviel zwischen uns zerstört. Ich war scheu geworden. Ich sah keinem mehr ins Auge, ich hatte Angst vor Menschen. Vor allen Menschen und daher auch vor ihr. Wer sehr starke körperliche Torturen ausgehalten hat, braucht sehr lange, bis er wieder Mut faßt. Ich blickte mich jedesmal voll Angst um, bevor ich sprach. Hatte ich immer noch Angst, man könnte mich belauschen? Und, was das schwerste war, ich traute auch Viktoria nicht mehr. Man kann auch ohne Liebe mit einem Menschen jahrelang gut zusammenleben; ich hatte es bei Angelika in den Jahren vor dem Krieg gesehen. Aber ohne Vertrauen kann man nicht leben. Meine Frau mußte es merken. Aber statt mich zu verstehen, wurde sie selbst mißtrauisch. Ich traute ihr nicht, weil sie durch die Auslieferung der Papiere an die Geheime Staatspolizei mein ganzes Opfer zu einem vergeblichen Versuch des Widerstandes gegen H. gestempelt hatte. Ich hatte eine Waffe gehabt gegen ihn, vielleicht nur eine winzige Waffe, aber sie war mir etwas Großes gewesen, und ich habe die Qualen im Lager ertragen können mit dem Gedanken, daß ich ihm in diesem Punkte bei all seiner brutalen Gewalt überlegen war, und in dem Gefühl meiner Liebe und meines Vertrauens zu meiner Frau. Nun hatte er die Papiere, ich hatte meine Frau nicht mehr, denn ich traute ihr nach diesem ersten Verrat aus Liebe noch einen zweiten zu. Sie begann, mir zu mißtrauen, weil sie meine Handlungsweise nicht verstand und – Judenhaß in ihr sah!

Sie erinnerte sich und mich sehr zur Unzeit an den Judenhaß meiner Mutter, an ihren Undank nach dem Prozeß, an die bösen Worte, die meine selige Mutter ihr durch den Türspalt zugerufen hatte, an den mir auf dem Totenbett abgenommenen Schwur, ich würde sie nicht heiraten.

Alle diese Tatsachen waren wahr. Aber die Lüge, wie sie ein A. H. in ungeheurem Strom über sein Land ausgeschüttet hatte, machte dort die Menschen in ihrem verblendeten Rausch glücklich, unsere Wahrheiten, die wir uns in langen schlaflosen Nächten zuflüsterten, um die Nachbarn nicht zu stören, machten uns unglücklich und entfremdeten uns noch mehr. H.s Lüge hatte alle Deutschen von der Nordsee bis zu den bayerischen Gebirgen vereint, hatte alle Grenzen niedergerissen. Und wir in unserem engen Hotelzimmer in Bern konnten nichts finden, was uns einander nähergebracht hätte.

Ich hatte meine Mutter, solange sie lebte, angreifen oder meiden und Viktorias Partei ergreifen können. Nachdem sie aber aus dem Leben geschieden, war sie mir heilig geworden. Ich war Viktorias Mann seit bald zwölf Jahren, aber meiner Mutter Sohn vom Anfang meines Lebens her.

Meine Frau war immer noch schön, eine reife, etwas üppige Schönheit, aber ich sah ihr Altern nicht. Ich wollte mich ihr nähern, sie wich unmerklich zurück, sie flüsterte, ich müsse mich schonen. Sie hatte recht, ich hatte unrecht, mein Rücken war eine einzige Wunde, die schlecht heilte, und doch wäre es mir tausendmal lieber gewesen, ich wäre am nächsten Morgen mit Schmerzen erwacht, als daß wir wie zwei Steine nebeneinanderlagen.

Manchmal machten wir schöne Spaziergänge und kamen über eine prachtvolle Brücke. Man sieht von hier die ganze Stadt und die schönen Hügel und die eisbedeckten Berggipfel, besonders das Massiv der Jungfrau. Meine Frau hatte sich diesmal wieder warm in meinen Arm gehängt und raunte mir ins Ohr, mich mit ihren weichen, seidigen, nur von wenigen grauen Fäden durchzogenen Haaren streifend: »Dankst du mir nicht, daß ich dich aus dem furchtbaren Land und dem Lager herausbekommen habe? Denke nur ja nicht, daß es leicht war! Helmut haßt die Jüdinnen, und ich habe lange gebraucht, bis ...« Ich schüttelte den Kopf. Es empörte mich, daß sie mich daran erinnerte, daß ich ihr zu Dank verpflichtet sei und daß sie etwas von ihrem Stolz geopfert habe, um von Helmut das zu erlangen, wozu er mir als Freund verpflichtet gewesen wäre. Sie merkte es, löste ihren Arm aus meinem und konnte, errötend vor Scham und Zorn, sich nicht versagen, mich zu treffen: »Auf der Holzpritsche und unter den Ochsenziemern hättest du anders gesprochen! Da hättest du dich meiner nicht geschämt! Aber du weißt ja, ich habe dich nicht zur Ehe gezwungen. Ich hätte allein leben können, mein Vater hat mir oft geraten, ich solle dir nicht trauen.«

Dies war eine Unwahrheit. Aber ich ließ es dabei. Ich erhoffte nichts und freute mich auf nichts mehr. Ich las die Zeitungen mit den furchtbaren Nachrichten, als blätterte ich in einem Lexikon, das eine mir unbekannte Sprache, etwa Chinesisch, in eine andere unbekannte, etwa Japanisch, übersetzte. Es waren Worte, Klänge, Schnarren, Vokale und Hauch. Meine Seele war nicht dabei.

Auch meine Kinder waren mir bereits etwas fremd. Hätte ich sie doch nur kürzlich in S. sehen können! Ihre Briefe kamen, ich öffnete sie nicht und überließ sie meiner Frau, die sie mit Angst und Leidenschaft an sich riß und sie zehnmal überlas. Ich fragte nicht, was darin gestanden hatte. Ich nahm meine Sprachstudien wieder auf, ich wollte einigermaßen Französisch sprechen, wenn ich nach Paris kam. Meine Frau beherrschte diese Sprache ganz gut. Wir unterhielten uns jetzt französisch. Und genau wie vor Jahren bei Angelika entfremdete uns diese Unterhaltung in einer fremden Sprache mehr als alles andere bisher. Ich merkte es mit stummer Freude. Ich machte Fortschritte. Ich hörte auf zu lieben und begann fließend zu sprechen.

 

Wir kamen Ende März nach Paris und quartierten uns in einem kleinen Hotel am Montmartre ein. Es hielt mich nicht zu Hause. Ich trieb mich die ersten Wochen von früh bis spätabends in den Straßen umher. Aber ich sah nichts. Ich war für alles blind, außer für den einen Gedanken, Frieden zu finden. Aber wie konnte ich Frieden finden, wenn ich so ungeheuer haßte, wenn ich immer einsamer wurde, wenn alles an mir abglitt, wenn ich keine Tätigkeit hatte? Es ist etwas Schweres für einen erwachsenen Menschen, ohne Arbeit zu leben, selbst dann, wenn für seine Nahrung gesorgt ist. Meine Frau, die jetzt sehr selbständig geworden war, hatte eine mäßige Summe aus Basel mitgenommen. Nach einer gewissen Zeit schien es mir, sie müsse sich dem Ende nähern, und so sehr es mir widerstrebte, mit meiner Frau das Geld abzurechnen, schlug ich es dennoch vor. Meine Frau lächelte, zeigte alle ihre schönen Zähne und streichelte ein kleines noch feuchtes Veilchenbukett, das sie im Ausschnitt ihres hellen Sommerkleides trug. Sie schien sich keine Geldsorgen zu machen.

Ihre Stimmung wechselte. Sie ertrug es manchmal, drei Tage ohne Nachricht von den Kindern zu sein, ohne laut zu klagen und sich zu ängstigen, aber sie beherrschte sich besser als ich. Wir beide haßten das neue Reich. Aber sie haßte es, weil es den Juden dort fürchterlich erging, und ich haßte es, weil es mein Volk zu einem Volk hündisch gehorchender Sklaven gemacht hatte, die sich in der Knechtseligkeit wohl befanden. Im Grunde hätten wir uns in unserem Haß verständigen, wir hätten wieder zueinander finden, uns stützen, das Leben erleichtern können aber wir wurden einander fremder mit jedem Tag, und manchmal glaubte ich, meine Frau begann den Nichtjuden in mir zu hassen und ihre Ehe zu bereuen. Ich habe ihr dies nicht mit Gleichem vergolten. Ich sah fort, wenn mich einer ihrer kalten, alles durchbohrenden grünblauen Blicke treffen wollte. Ich sage es noch einmal, ich wollte nur Frieden.

Bald sah ich ein, ohne regelmäßige Tätigkeit würde ich ihn nie finden. Was sollte ich beginnen? Ich konnte daran denken, wieder Arzt zu sein. Aber die Gesetze des Landes, dem ich für die Gastfreundschaft dankbar sein mußte, verboten es, die einheimischen Ärzte taten sich zusammen und brachten ein Gesetz gegen die zugewanderten Ärzte fremder Nationalität ein. Wir durften nicht einmal an den Studien teilnehmen. Von Ausnahmefällen abgesehen, mußten wir vergessen, was wir gewesen waren.

Vielleicht hätte sich aber doch hier und da eine Gelegenheit geboten. Aber mir widerstrebte jetzt dieser Beruf. Ich konnte kein Blut sehen, die nackte Haut, die mich an die Marterszenen im Konzentrationslager erinnerte, ekelte mich an, und ich sage es ganz offen, es ekelte mich jeder Mensch.

Ich erfuhr, im Institut Pasteur würden Ärzte gesucht. Hier handelte es sich um große wissenschaftliche Untersuchungen, Bazillenzüchtungen, Tierversuche, um entweder rein wissenschaftliche Fragen zu klären oder um neue Heilmittel zu finden. Ich ging bis zum Tor des Instituts, ich dachte, vielleicht würde ich unter der Leitung erfahrener, human gesinnter Gelehrter einen neuen Lebenszweck finden. Aber bevor ich durch das Tor eintrat, brach der alte würgende Ekel in mir empor. Ich begann zu zittern, die Luft ging mir aus, es wurde mir dunkel vor Augen. Alles aus Ekel. Nicht aus Schwäche. Ich konnte keinem Tier mehr etwas antun, ich konnte nicht mehr begreifen, daß das Leiden oder der Qualtod eines Tieres nichts bedeute, wenn es sich darum handelte, der reinen Wissenschaft zu dienen oder den Menschen neue Hilfsmittel zur Bekämpfung ihrer Leiden zu bringen. Ich sah in dem Menschenleben nicht mehr wie vor dem Kriege den höchsten Lebenswert. Es war etwas Billiges geworden. Es lohnte nicht.

Ich sagte mir eines Abends, auch ich sei billig geworden. Es war gleichgültig, ob ich noch ein paar Jahre lebe oder nicht. Und wem machte ich stumme, aber erbitterte Vorwürfe deswegen? Meiner Frau, die mir meinen letzten Glauben an einen Menschen und seine Treue genommen hatte. Wir saßen einander abends in dem größeren der zwei Zimmer stumm gegenüber. Sie hatte ein Schachspiel angeschafft, und wir spielten, scheinbar ruhig, Zug um Zug. Aber selbst in diesem Spiel, in diesem stummen Zusammensein über dem schwarz-weißen Brett, brach er aus der Tiefe durch, und wir spielten mit Haß, erdachten Listen und Tücken, um zu siegen. Niemals haben wir beide so großartig gespielt. Haß macht vielleicht genial. Nachher standen wir mit verzerrten Gesichtern, brennenden Augen, in den verkrampften Händen noch die letzten Figuren haltend, vom Spiel auf, ungern, denn niemand wollte die Niederlage anerkennen, niemand als Besiegter schlafen gehen. Auch hier fand ich den Frieden nicht.

Ich hörte in den ersten Sommermonaten auf, in den Straßen, Museen und Kirchen umherzustreifen. Es war vergebens, ich hätte ebensogut hinter den elektrisch geladenen Stacheldrähten des Lagers umherirren können. Ich suchte Frieden, aber in den Schönheiten und Kostbarkeiten der Museen fand ich ihn nicht. Ich hatte mich von meiner Frau etwas abgetrennt, wir küßten uns nicht mehr, und bald hörten wir auf, Schach zu spielen. Ich trennte mich von der Zeit, ich versuchte es, indem ich den Verkehr mit anderen Ausgewanderten, Ausgestoßenen, Friedlosen mied. Ich hörte auf, die Zeitung zu lesen. Ich, suchte eine körperliche Arbeit und fand sie mit Mühe. Sie bestand – in Tellerwaschen in einer Emigrantenküche. Es waren nicht mehr die geräumigen, gekachelten Souterrains des ›Prinzregenten von Bayern‹. Die üblen Gerüche, die oft verdorbenen Zutaten, das ranzige Fett, das schlechte Geschirr hätten mich mehr anekeln müssen als alles im ›Prinzregenten von Bayern‹. Aber es war nicht der Fall. Die schwere Arbeit, mittags von 12 bis 3, abends von 7 bis 10, tat mir wohl. Ich freute mich an den paar Francs, die es eintrug, raffte sie gierig an mich und verschwieg meiner Frau, was ich tat und wieviel ich verdiente.

Nach ein paar Wochen gab ich diese Arbeit auf. Ich konnte die Nähe meiner Leidensgenossen nicht ertragen. Ich wollte Deutschland vergessen, aber nicht immer daran erinnert sein.

Damals, im Sommer 1934, kam es zur Ermordung des Hauptmanns R. und von ein paar Hundert anderer Männer und auch Frauen. Ohne Anklage, ohne Gericht, ohne Protokoll.

R. war immer ein starker Mann gewesen. Er war ein kluger Kopf, hatte ein klares Auge. Wie hätte er sich sonst von einem Instruktionsoffizier der bolivianischen Armee im Jahre 1925 zum Herrn von drei Millionen Menschen im Jahre 1934 aufschwingen können, die ihm und dadurch dem obersten Führer blind dienten? Aber er ahnte die Natur H.s so wenig, daß er ihm wie einem Bruder vertraute. Was H. tat, war kein unbeherrschter Wutausbruch. Es war vorbedacht und wurde folgerecht zu Ende geführt. Er hatte sich mit Energie angereichert, er war kalt, berechnend, überlegen gewesen. Er liebte nicht. Er hat nie geliebt. Daher verlor er nie die Übermacht. Er war ein Spartaner. Blut war ihm wie Wasser.

Was er in R. und dessen Kreis haßte und fürchtete, ist nie ganz klargeworden. Sie waren zuviel auf der Welt, das allein steht fest. H. mußte allein sein. H. war eines Nachts zu Hauptmann R. gekommen, hatte ihn aus dem Schlaf gerissen, ihn verhaftet, angespien, beschimpft, in Ketten gelegt. Man riß ihm und seinen jungen Freunden die Schulterstücke von der Uniform. Der Führer soll den Adjutanten des Stabschefs, einen Grafen Spr., mit seiner berühmten Peitsche verprügelt haben. R. wurde einer Gnade gewürdigt, die ich aus dem Lager wohl kannte, durch Selbstmord zu enden. Unseresgleichen hatte man eine ›Rebschnur‹ auf die Pritsche der Baracke geworfen und auf einen starken Nagel hingewiesen, bevor man die Tür hinter sich schloß. R. war ein großer Soldat, deshalb durfte er ›durch eine ehrliche Kugel‹ enden. Man gab ihm lächelnd einen schweren Revolver. Er lehnte ab. Nicht aus Feigheit. R. war einer der beherztesten Menschen seiner Zeit. Sondern aus hündischer Liebe zu H. Er flehte ihn an, er möge ihn eigenhändig erschießen. Aber das konnte H. nicht tun. Er ist ein sanfter Mensch. Er vergießt niemals Blut. Er verließ R.s Zelle und sagte ein paar SS-Leuten, sie möchten das Notwendige veranlassen. Ich las kalt diese Nachrichten. Ich hatte R. gekannt. Geliebt oder geachtet habe ich ihn nie. Vielleicht habe ich ihn gefürchtet, und das hat mich angezogen – wie ... Er und ich haben kaum jemals miteinander gesprochen. Was war ich ihm, was war er mir? Aber H., ihm war er viel, und für R. war H. schlechthin der Gott auf Erden.

R. und die Seinen waren nicht die einzigen, die gefallen sind. Eine Woche später zählte H. in einer großen Rede 77 auf. Es können auch 270 oder 870 gewesen sein. Schließlich hat man sich auf 370 geeinigt. Man siebte nicht lange. Das Menschenleben war seit dem Krieg außer Kurs. Es mögen auch weniger Schuldige oder sogar völlig Unschuldige darunter gewesen sein, das gab H. zu.

›Eine Anzahl von Gewalttaten, die mit dieser Aktion in keinem Zusammenhang stehen, werden den normalen Gerichten zur Aburteilung überwiesen.‹ Lüge, Phantasie. Man hat später niemals von einer solchen Tätigkeit des normalen Gerichtes gehört. Tot war tot.

Hatten die drei Millionen SA-Männer gemeutert, und hat man, um die Meuterei zu brechen, 370 geopfert? H. stellte sich dem Urteil seines Landes und hielt eine Rede: ›Meutereien bricht man nach ewig gleichen Gesetzen. In dieser Stunde war ich verantwortlich für das Schicksal der deutschen Nation, und damit war des deutschen Volkes oberster Gerichtsherr in diesen 24 Stunden ich selbst.‹ Aber war R., der Treueste der Treuen, ein Meuterer? War er nicht in aller Ruhe seinen Freuden des Daseins, wie er sie verstand, hingegeben gewesen, hatte man ihn nicht aus dem Schlafe geweckt? Schläft ein Meuterer so tief? Ein den Freund verratender Judas, klammert er sich so an den Heiland und will den Tod nur von seiner Hand? Aber bei dieser Anklage ließ es der Abgott des deutschen Volkes nicht bewenden. H. verriet die, die ihm gedient hatten, die er selbst zu mächtigen Unterfeldherrn, zu Subdiktatoren gemacht hatte, denen er die größte Autorität und Verantwortung anvertraut hatte. Zornflammend schrie er etwas von Sittenverderbnis und Korruption, ihr Leben sei so schlecht geworden. Er nannte sie Verschwörer, Hetzer, warf ihnen den Luxus vor, den sie ›mit den Groschen unserer ärmsten Mitbürger trieben, er hielt ihnen ihre Männerliebe vor, von der er seit vielen Jahren wußte: ›Ich will Männer als SA-Führer sehen und keine lächerlichen Affen.‹ Er zog den französischen Botschafter hinein. Als dieser sich gegen die Lüge wehrte, tat H., als sei nichts geschehen, war nett, und es wurde nie wieder davon gesprochen. Man hatte gemordet, und man hatte nicht einmal den Schein eines gerichtlichen Verfahrens aufrechterhalten.

Man hatte den General von Schleicher, den früheren Reichskanzler, ermordet. Vielleicht fürchtete man, er sei im Besitz von Akten aus H.s Kriegszeit. Man ermordete auch seine Frau, die sicherlich keine Akten besaß, man ermordete den alten bayerischen Exminister von Kahr, um sich an ihm für sein Verhalten vor elf Jahren zu rächen, man knallte Menschen an der Kasernenmauer nieder, weil ihr Name genauso lautete wie der eines Beschuldigten.

Aber nicht das war es, was mich bis zum Ersticken empörte. Der uralte Reichspräsident telegrafierte: ›Aus den mir erstatteten Berichten sehe ich, daß Sie durch Ihr entschlossenes Zugreifen und die tapfere Einsetzung Ihrer eigenen Person alle hochverräterischen Umtriebe im Keim erstickt haben. Hierdurch spreche ich Ihnen meinen tief empfundenen Dank und meine aufrichtige Anerkennung aus.‹ Ein protestantischer Bischof sagte, es sei die Pflicht aller Deutschen, im Gottesdienst dem Herrn für diese Errettung zu danken ... ›Wir wollen alle fürbittend hinter ihm stehen, daß Gott ihn weiter behüte und zu seinem großen Werk Kraft und Gelingen schenke.‹ Das Fürchterlichste war für mich, zu sehen, wie er erst jetzt wirklich geliebt wurde, seitdem alles ›deutsche Blut‹ vor ihm zitterte, wollüstig hingegeben.

Er hatte alle Deutschen zu Angelikas gemacht. Niemand widersprach. Niemand von den vielen, die noch dazu imstande waren, weigerte sich, die Luft dieses Knechtslandes zu atmen und auszuwandern.

Deutschland stank nach Mord und Verrat, und alle zogen den Gestank wie Rosenduft ein. Ich kam einige Tage nicht nach Hause. Ich schämte mich vor meiner Frau, daß ich ein Deutscher war und mein Blut nicht gegen ein anderes austauschen konnte. Aber dann schämte ich mich auch dieses Gedankens. Kam es denn aufs Blut an? War denn auch ich H.s Sklave im Geiste geworden? Niemals bin ich so nahe dem Selbstmord gewesen wie damals. Nur der Gedanke, daß ich ihm dann freiwillig unterläge, hielt mich zurück. Nicht der Gedanke an Frau, Vater und Kinder.

 

Die Listen der bei den Massenmorden Umgekommenen, die in den deutschen Blättern erschienen waren, mußten natürlich ungenau und lückenhaft sein. Ich sah sie durch und fand in ihnen den Namen H. von Kaiser. Ich blieb ruhig. Ich staunte über mich, wie kalt ich blieb. Ich überlegte logisch, daß nur der alte Kaiser, der seit Jahr und Tag in Italien lebte, geadelt war, sein Sohn hatte kein Anrecht aufs ›von‹. Und was konnte ›H.‹ alles bedeuten? Es kam mir sogar der Spott in den Sinn, womit der Vater Helmuts vor Jahren das ›O. Schwarz‹ aufgenommen hatte. Ich wußte wohl, ich verdankte Helmut mein Leben. Aber was war mir Dank? Konnte ich für ein solches Dasein noch danken? Es war leer, kalt und friedloser als die Existenz im Lager und auf der Flucht.

Meine Frau nahm die Nachricht mit großer Erregung auf. Sie weinte, sie raufte sich die Haare, sie schrie so laut, daß ich ihr den Mund zuhalten mußte, denn es war mir nicht lieb, wenn man sich in dem kleinen Hotel über uns wegen nächtlicher Störung beklagte. Sollte ich es für möglich halten, daß sie für Helmut etwas Tieferes empfand, so häßlich und – judenhasserisch er auch war? Auch dieser Gedanke rührte mich nicht auf. Ich hatte als Augenzeuge neben der jammernden, sich in einem knarrenden Lehnstuhl hin und her werfenden Viktoria bemerkt, daß sie – zerrissene Sohlen hatte. Schon in der letzten Zeit hatte sie mehr gespart als sonst. Nun fragte ich sie, schon um sie auf etwas anderes zu bringen, ob wir wirklich in Not seien. ›In Not‹, sagte sie, ›ja, in Not!‹ und fügte hinzu, es ginge nicht um uns zwei alte Menschen, die auf jeden Fall verloren seien, sondern um die Kinder, die seien in Not und wüßten es noch nicht einmal! Sie wollte von neuem zu weinen beginnen, ich ging und schloß leise die Tür hinter mir. Am nächsten Tage bat sie mich, ich möchte ihr verzeihen, ich würde bald alles verstehen. Ich sah sie fragend an. Sie wollte nichts mehr sagen, weder wollte sie lügen, noch konnte sie die ganze Wahrheit sagen. Wir gingen zu zweit zu einem Schuster, setzten uns jeder auf einen Stuhl, zogen unsere sehr schadhaften Schuhe aus (denn die meinen waren nicht besser als die ihren) und warteten geduldig, bis die Reihe an uns kam. Eine Menge anderer armer Leute wartete, die Männer in Socken und die Frauen in grob gestopften, oft gewaschenen Kunstseidenstrümpfen, bis sie die Schuhe repariert wiederbekamen, sie nahmen die Geldbörse aus der Tasche, zählten das französische Geld, sie bewegten die Lippen, und ich sah, sie rechneten in deutscher Sprache das Geld nach, ob es reiche.

Das Warten dauerte für uns beide nicht weniger als drei Stunden. Aber wir Emigranten waren alle an das Warten gewöhnt, und meine Frau sagte mir, als wir auf der Straße standen, sie fühle sich sofort viel mutiger und fester, sobald sie dicke schöne Ledersohlen unter den Füßen habe. Ich glaubte ihr, denn ihr Gang, der schon sehr schleppend geworden war und an den schlürfenden Gang des alten Judenkaisers erinnerte, war wieder federnd und so, wie sie ihn als junges Mädchen gehabt hatte, wenn sie mit dem Schachbrett und den klappernden Figuren die Treppe hinaufgesprungen war, um mit meinem Vater und mit mir Schach zu spielen. Ich strich ihr daheim über das Haar. Sie zuckte zusammen. Ich hatte nur sehr leise wie in Angst über ihr Haar gestrichen. Aber gerade diese übergroße Zartheit schien sie aufzuregen. Wir kamen uns nur sehr langsam wieder näher, und es schien mir ganz unmöglich, daß wir uns wieder so liebten wie am Anfang unserer Ehe oder noch in der letzten Zeit in S.

Zwei Tage später kam Helmut zu uns. Er war verwundet worden, sagte nicht wo und wie und trug den linken Arm in einer von der Reise sehr schmutzigen Binde und sah alt und verfallen aus. Er gab uns beiden etwas befangen die Hand, wir boten ihm den besten Stuhl an, ließen etwas Essen besorgen und sahen ihm zu, wie er aß und sich dann wusch. Er tat es so ungeschickt, war durch den verwundeten Arm so behindert, daß meine Frau sich lachend zu ihm stellte und ihm mit meinem Schwamm das Gesicht und den Hals und die Hände wusch. Er erzählte auch jetzt nichts von seinen Erlebnissen. Kein Wort, wie er aus Deutschland entflohen war. Ich zeigte ihm seinen Namen auf der Liste. Er zuckte die Achseln, wahrscheinlich war er mit seinen Gedanken anderswo. Er hatte kein französisches Geld außer ein paar kleinen Münzen, aber einen Reisekreditbrief auf ein paar hundert Franc. Er forderte mich auf, ich solle sofort zur Bank gehen und das Geld für ihn einlösen, ich wandte ein, man würde es mir nicht ausfolgen. Zum mindesten müsse er mir ein Legitimationspapier mitgeben. ›Dir?‹ fragte er lakonisch. Er sah meine Frau an, und sie gab mir einen Wink, ich solle gehen. Kaum war ich aus der Tür, hörte ich ihre ersten Worte, und zwar in einem solchen leidenschaftlichen Ton gesprochen, wie ich ihn seit meiner Abreise von S. von ihr nicht gehört hatte: ›Und Bobby?‹ (Robert). Er rückte seinen Stuhl näher zu ihr, ich hörte seine Schritte auf dem teppichlosen Fußboden knarren, er sprach so schnell, daß ich nicht folgen konnte und wollte. Ich ging. Das Geld bekam ich wider Erwarten doch ausgezahlt. Ich erlaubte mir den Luxus, von diesem Geld eine Flasche guten Weines und Blumen zu besorgen, und brachte sie meiner Frau und ihm. Sie achteten nicht weiter darauf. Sie saßen sich mit heißen Köpfen beim Schachspiel gegenüber. Ich sah ihren Zügen zu. Manchmal hätte ich ihm helfen wollen, der ein stärkerer, aber unvorsichtiger Spieler war, bald ihr, die jetzt nur mit der Routine spielte und eigentlich immer unterlegen war. Ich hatte aber (stärker als früher) immer bei dem schwächeren Spieler den Wunsch, einzugreifen, einen Rat zu geben, vielleicht durch einen Blick, und das Schicksal zu spielen.

Seit der Haft hatte es mich immer entschiedener auf die Seite des Schwächeren getrieben. Hier aber war nichts im Spiel als das Spiel. Ich beherrschte mich und ließ allem seinen Lauf.

Abends quartierte sich Helmut in meinem Zimmer ein. Er hatte auch jetzt noch heiße Wangen, und sein Puls ging schnell. Er fragte mich, halb im Scherz, halb im Ernst, ob ich ihm den Verband nicht noch schnell wechseln, seine Wunde untersuchen, ihn behandeln wolle als sein ältester, sein einziger Freund. War es Spott, war es Ernst? Ich tat, als nähme ich es als Scherz, und sagte, hier sei fremden Ärzten das Handwerk gelegt, aber ich wolle ihn am nächsten Morgen in eine französische Klinik bringen, wo man die Unbemittelten umsonst behandele und wo für alles in modernster Weise gesorgt sei.

Wir entkleideten uns im Dunkeln, erst als ich im Einschlafen war, erinnerte ich mich, wir hatten einander nicht gute Nacht gesagt.

 

Ich hätte eigentlich Helmut dankbar sein müssen, daß er gekommen war. Seine Anwesenheit beruhigte mich. Etwas von der alten Zeit, von der Vorkriegszeit, war mit ihm wiedergekehrt, und ich schlief jene Nacht besser als die ganze Zeit zuvor. Mein Rücken war stellenweise immer noch wund, nämlich dort, wo sich die Striemen kreuzten. Ich mußte auf dem Leib liegend schlafen, und dann bekam ich wiederum zuwenig Luft. In dieser Nacht hatte ich sowohl genug Luft als auch keine Schmerzen in den Narben von dem Ochsenziemer. Ich stand vor ihm auf, ich schämte mich, mich in seiner Gegenwart zu waschen und ihm den Anblick meiner elenden Leiblichkeit zuzumuten. Aber war es ihm um soviel besser ergangen? Er hatte sich über seine Erlebnisse vom 30. Juni ausgeschwiegen. Als ich aus dem Zimmer meiner Frau zurückkam zu ihm, stand er gerade am Waschtisch. Ich hatte nicht geklopft, ich dachte, was brauchte es das zwischen Jugendkameraden? Er schreckte beim Schall der zugeschlagenen Tür auf, stürzte instinktiv wie ein aufgescheuchtes Wild zu dem verwühlten Lager (er hatte also unruhiger geschlafen als ich) und riß unter dem Kopfpolster eine riesige automatische Pistole hervor. Er konnte sie nur mit einer Hand richtig bedienen, der rechten, die linke war durch den Verband behindert. Ich lachte, er stutzte. Ich hatte keine Angst vor Riesenpistolen, wohl aber hatte ich Angst vor dem vertierten, wahrhaft bestialischen, gehetzten Ausdruck seines fahlen häßlichen Gesichts. Er zwang sich zu lachen und tat, als sei alles Scherz und Theater. Ich trat, mich bezwingend, zu ihm, nahm ihm die schwergewichtige Waffe aus der Hand und legte sie wieder unter das Kopfpolster. Dort befand sich noch etwas Kühles, Hartes, Glattes: ein winziger mit Silber eingelegter Revolver. Als ob die automatische Pistole nicht genügt hätte. Ich half ihm beim Anziehen und überließ ihn dann sich selbst, da er es heute unbedingt so wollte. Er lehnte es ab, sich von mir in die Klinik begleiten zu lassen. Wir sahen uns erst abends. Ich hatte angenommen, er würde sich eine andere Unterkunft gesucht haben, er wollte mich aber nicht verlassen – aus Angst vor Verfolgern, dachte ich, denn in seinem Gesicht war das Scheue geblieben. Auch meine Frau zeigte viel Unruhe, ich wußte, es war wegen der Kinder.

Wir setzten uns um den Tisch, und sie begannen, sich über Geldfragen zu unterhalten. Es fielen Namen, die ich zum erstenmal hörte, vielleicht Zwischenpersonen, mit Hilfe derer meine Frau Nachricht über die Kinder erhalten hatte, ich weiß es nicht. Im Grunde war dies unsinnig, denn es war einer Emigrantin nicht verboten, mit ihren Kindern einen Briefwechsel zu unterhalten. Möglicherweise fürchtete sie aber doch, es könne ihnen schaden, wenn sie von hier Briefe erhielten. Helmut lächelte trübe, plötzlich wandte er sich an mich, als erblicke er mich nun erst, gab mir die Hand und fragte mit seinem alten jungenhaften Lächeln, ob wir nicht an den Alten in Rom einen Bettelbrief um Geld schreiben wollten. Ich wußte, er hatte gestern noch ein paar hundert Franc gehabt. Was konnte er inzwischen ausgegeben haben? Aber er ließ sich auf keinerlei Erklärungen ein, sein Gesicht war wieder starr und abweisend geworden und erhellte sich auch dann nicht, als ich mit ihm und meiner Frau zusammen einen langen Brief an seinen Vater aufsetzte. Ich war für Kürze. Das hatte auf den Alten immer am besten gewirkt. Helmut aber brachte süßliche, im Grunde kalte Phrasen an (er schrieb, wie A. H. sprach), und meine Frau war auf seiner Seite. Die Antwort kam erst spät, nach ein paar Wochen. Der Alte lehnte ab, Geld zu schicken, seinen Sohn wolle er im Notfall, weil Katinka sich für ihn verwendet habe, aufnehmen. Warum stellte er sich auch jetzt als ihren Sklaven hin? Tat es ihm wohl?) Von mir war nur zum Schluß die Rede, ein Mann wie ich brauche ihn nicht, ich würde mich durchschlagen wie immer, und er werde einmal hierherkommen, um mich vor seinem Tode noch einmal zu sehen, also jedenfalls vor Anbruch des Winters.

Mir taten seine Worte nicht gut, ich behielt aber alles für mich, und wenn Helmut und Viktoria über die Knickrigkeit des Alten loszogen, der sein Geld doch nicht in die Grube mitnehmen könne, war ich still. Ich habe den Vater in ihm gesehen. Wenn er an den Tod dachte, wußte er warum. Der Gedanke, ihn zu verlieren, ging mir näher als die Angst, mein Vater könne eines Tages sterben. Es ist vielleicht unmenschlich, wenn ich so gegen mein Blut empfinde, aber ich hätte tausendmal lieber ihn hier gehabt als meine Kinder, welche nun meine Frau in Begleitung meines Vaters und Heidis herkommen lassen wollte. Das einzige Gute daran war, daß mich Helmut von seiner dauernden Anwesenheit befreite. Er suchte sich ein anderes Zimmer, und ich hatte es nicht mehr nötig, mein Zimmer zu verlassen und mich auf der Straße herumzutreiben, wenn er geheimnisvolle Besuche entweder sehr martialischer oder sehr delikater Herren empfing.

Er behielt seine Geheimnisse für sich, ich die meinen. Eines Tages kam er auf etwas zu sprechen, worüber schon früher Andeutungen gefallen waren. Daß er meine Rettung mit einer Art Ungnade bezahlt habe. Zwar habe er jenen Teil meiner Aufzeichnungen, die ich im Safe aufbewahrt hätte, bis zum letzten Blatt der Geheimen Staatspolizei abgeliefert, die sich mit dem Führer in Verbindung gesetzt hätte. Aber auch sie sei nicht in Gnade empfangen worden. Der wichtigste Teil sollte fehlen, nämlich jener, der sich auf seine Beziehungen zu Frauen bezog. Nun habe ich tatsächlich in dem langen Gespräch in P. manches in Erfahrung gebracht, was der Welt bis heute verborgen geblieben ist. Ich habe aber schon damals im Jahre 1918 kein Wort aufgeschrieben.

Ich weiß alles noch. Es ist ein zu wichtiger Fall. Aber man wird in diesen Blättern vergebens danach suchen. Auch dieses Geheimnis habe ich mit Runen, die niemand außer mir lesen kann, aufgezeichnet. Das konnte der große Mann nicht glauben, und nun bereute er, daß er mich lebend aus seinen Fängen gleiten ließ, glaube ich. Es kann aber auch sein, daß er fürchtete, einen Menschen zu töten, der ihn durch ein Wunder sehend gemacht hatte. Könnte denn nicht ein zweites Wunder ihn wieder blind machen, wenn er mir wie so vielen anderen das Lebenslicht ausbliese?

Paris war schön, himmlisch, wunderbar, sprühte von Leben, das Alte und Ehrwürdige mischte sich zauberhaft mit dem Modernen und Kühnen. Aber war es für mich da, war es für uns da? Es war nicht unsere Sprache, die man dort sprach. Ich kannte sie seit meinen Studentenjahren, vermochte sie aber niemals so perfekt zu erlernen, daß ich sie fehlerfrei sprechen konnte. Nie war es unsereinem möglich, unerkannt bei den vier Millionen hier unterzutauchen. Die deutsche Sprache aber, in der unsereins eben dachte, hoffte, fürchtete, rechnete, sich erinnerte und träumte (war es denn nicht das ganze Leben und alles, was uns blieb?), das war eigentlich die verbotene Sprache, etwas, das uns nicht mehr gehörte und das uns hätte fremd geworden sein müssen. Und war es doch nicht! Meine Frau begriff das nicht. Sie war wieder aufgeblüht in dem Gedanken, die Kinder bei sich zu haben. Sie sang manchmal und lief leichtfüßig die vielen Treppen hinauf, fiel mir um den Hals und küßte mich ab. Nicht wie ihren Mann, eher wie ihr Kind. Ich strich ihr übers Haar und zwang mich, es mit fester Hand zu tun, damit sie nicht sähe, wie es zitterte in mir.

Nachts kam ich mit ihr zusammen. Für sie war es natürlich, mich schauderte es. Ich tat es um ihretwillen und tat doch so, daß sie glauben mußte, sie hätte mir sonst gefehlt, ich hätte mich nach ihr gesehnt usw. Dieses ›usw.‹ schreibe ich, weil ich es so empfinde. Zu diesem ›usw.‹ gehört auch, daß ich mich um einen Verdienst umsah. Ich wußte, es gab verschiedene Komitees, die beträchtliche Summen für die ärmsten Emigranten aussetzten. Ich schickte meine Frau hin, obwohl jetzt ich derjenige war, der mitleidswürdiger aussah als sie, eine gut erhaltene Frau in den besten Jahren.

Ich wollte keine Almosen annehmen, doch mußte ich es. Etwas sträubte sich in mir. Als junger Mensch hatte ich von Kaisers Hilfe gelebt, aber damals konnte ich hoffen, alles abzuzahlen, heute konnte ich es nicht mehr, denn ich erlebte jeden Tag, als wäre es der letzte meines Lebens. Kurz vor der Ankunft meiner Kinder raffte ich mich auf. ›Mach ein Ende‹, sagte ich zu mir, auf einer Bank des schönen, schon etwas herbstlich angehauchten Parks Luxembourg sitzend, vor mir das kleine Bassin, in welchem Kinder ihre Schiffchen schwimmen ließen, ›mach ein Ende, einen Weg dazu wirst du schon finden, deine Frau wird sich mit den Kindern mit Hilfe des Komitees und vielleicht Helmuts durchhelfen, der alte Kaiser wird ihr geben, was er dir verweigert, weil er dich überschätzt. Gut. Wenn du aber doch noch weiterleben willst, bedrücke dich nicht mehr. Vergiß oder krepier! Verzweifeln ist gut. Weiterleben ist auch gut. Aber weiterleben und verzweifeln zusammen ist nicht gut.‹

Schöne Vorsätze. Immerhin tat es mir gut, daß ich mich grob, spartanisch angefahren hatte. Ich bemitleidete mich auf dem Heimweg nicht mehr so sehr und fand den Mut, in der Emigrantenküche mich dem Spott meiner Leidensgenossen auszusetzen und um Arbeit zu betteln, die man mir aus Mitleid – und zu schlechteren Bedingungen als im Frühjahr – gewährte, nämlich nicht mehr gegen ein paar Francs pro Tag, sondern nur gegen freies Essen. Ich sagte daheim nichts. Ich schämte mich vor Viktoria.

Meine Eltern kamen. Mir war jetzt meine Stiefmutter gleich nah und gleich fern wie mein alter, aber ausgezeichnet aussehender Vater, der mich zuerst mit dem ›deutschen Gruß‹ zu begrüßen vorhatte, dann aber den ausgestreckten Arm sinken ließ. Meine Kinder fielen mir um den Hals und rieben sich nachher die Wangen und Lippen, denn meine Wangen waren stachelig. Ich lächelte, ich hatte es als Kind nicht anders getan. Wirklich ergriffen hat mich etwas anderes. Heidi hatte einen ganzen Laib Bauernbrot mitgebracht. Als ich ihn auf den Arm nahm wie ein kleines Kind und ihn befühlte, ging mir die verlassene Heimat auf. Ich legte das Brot schnell weg und stürzte auf die Straße, wo ich heulend, weinend, die Zähne zusammengepreßt, die Hände vor den Augen, in einer abgelegenen kleinen Straße hin und her lief, bis ich mich beruhigt hatte.

Am nächsten Tage zeigte ich den Eltern die Sehenswürdigkeiten, entschuldigte mich zur Essenszeit, ich hätte eine wichtige geschäftliche Unterredung, und ging Tellerwaschen; desgleichen abends. Heidi ließ sich täuschen, mein Vater nicht. Er sagte mir, als ich spätabends heimkam, todmüde, er verstehe mich wohl. Viel sei für mich im Dritten Reich nicht zu tun, aber er werde jeden Monat dreißig Mark ›flüssig machen‹. Jeder Deutsche könne zehn Mark an Verwandte ins Ausland schicken, also er, Heidi und Angelika, es sei nur ein bescheidenes Scherflein. Ich war dankbar, meine Augen blieben aber trocken.

Meine Frau wollte den Kindern noch nicht sagen, daß sie hierbleiben müßten, sie wollte damit warten, bis die Alten abgereist wären. Ich drängte aber darauf, sie sollten die Wahrheit sofort erfahren. Ich glaubte, zum Lügner muß man geboren sein. Ich hatte selten gelogen und immer Unheil damit angerichtet, auf meiner Lüge lag Gottes Segen nicht. Meine Frau blitzte mich mit blaugrünen Aquamarinaugen etwas unwillig an, dann aber lachte sie und tollte im Zimmer umher, so daß sie nicht nur die Kinder weckte, sondern auch die zartbesaiteten Nachbarn. Am nächsten Morgen nahm ich meinen Sohn beiseite und sagte ihm alles. Er erblaßte. Ich bat ihn, er möge es auf sich nehmen, jetzt seiner Schwester die Sache beizubringen. Dieser ehrende Auftrag erleichterte ihm die Sache. Die Kinder hatten eher mit allem anderen als dem gerechnet. Die Stadt war ihnen nicht schön erschienen, sie zogen hämische Vergleiche, zum Beispiel über den Schmutz auf der Straße oder in der Untergrundbahn, über das Brot, das Wasser, alles, was anders war als daheim, kam ihnen ›komisch‹ vor, und ich sah mit Bitterkeit, wie sehr sie ihre Stadt liebten, meine Heimat, die mir jetzt so fremd geworden war.

 

Meine Eltern reisten also ab. Sie ließen uns ihre Reiseutensilien, Bürsten, Kämme, Plaids und so fort hier. Sie hatten sehr schnell erfaßt, wie notwendig uns diese Dinge waren. Ganz verständnislos hingegen waren die Kinder. Sie grüßten stets mit dem ›deutschen Gruß‹, der Portier im Hotel zeigte dann ein schiefes, saueres Lächeln, auf der Straße sprachen sie absichtlich sehr laut Deutsch. Meine Frau bemühte sich, ihnen ein paar französische Brocken beizubringen, damit sie Brot oder Milch usw. besorgen könnten. Sie wollten nichts lernen, hielten sich beide Ohren zu und schrien sinnloses Zeug durcheinander.

Geduld hat meine Frau niemals in besonders hohem Maße besessen. Ich nahm sie beiseite, ließ die Kinder allein, die sich bald beruhigten, ihr sogar Abbitte leisteten und ein paar Brocken aufzuschreiben bereit waren, das Ende des Federhalters mit ihren schönen weißen Zähnen beknabbernd.

Die Kinder konnten nicht in lateinischen Lettern schreiben, oder taten so, als könnten sie es nicht. Meine Frau ließ einen Tag hingehen oder zwei, am dritten verlor sie die Geduld. Ich hätte mich gern diesen Szenen entzogen, ich beherrschte mich nur mit aller Mühe, aber ich sah, sie war die Schwächere, ich mußte ihr gegen die zwei ungezogenen Gören zur Seite stehen.

Aber wenn sie nur ungezogen gewesen wären! Sie waren ja nur zu gut erzogen, nämlich in seinem Geiste. Mich hätte der Zorn besinnungslos machen können, als ich sah, daß sein Geist auch in diesen halbjüdischen Kindern war, daß meine Kinder sich zu drei Vierteln als Deutsche und zu einem Viertel als Juden fühlten (vielleicht war das Angelikas Werk, die ihnen diese stupide Rechnung beigebracht hatte aus Rache), daß sie ihren Führer rühmten und seine Lieder sangen, im Takt im Zimmer umhermarschierend, und daß sie das ›deutsche Blut‹ priesen. Aber durfte ich mich dem Zorn hingeben? Jeder durfte es eher als ich. Dann wäre alles verloren gewesen, als Viktoria in ihrer großen Empfindlichkeit in allem, was das Jüdische betraf, in ihrer grenzenlosen Enttäuschung über die Kinder, die sie so verändert wiederbekam, die Nerven verlor und sich auf sie stürzte, um sie zu bestrafen. Nun hat sie immer auch im Zorn eine leichte Hand gehabt. Sie selbst ist niemals geschlagen worden, der Judenkaiser verabscheute Prügel als Erziehungsmethode. Ich glaube, sie hätte den Kindern nicht mit Absicht weh tun mögen. Jetzt aber war es über sie gekommen, mit verzerrtem Gesicht, sprühenden Blicken warf sie sich auf die Kleinen, die statt sich jeder in eine Ecke zu verkriechen oder fortzulaufen, sich aneinanderklammerten und sich zu wehren versuchten, beide ein furchtbares Geschrei ausstoßend. Plötzlich erkannte ich in diesem Schreien meiner Kinder schauernd meine eigene Stimme wieder, wenn ich unter den Ochsenziemern lag. Ich war unmenschlich geschlagen worden ohne Grund, diesen drohte eine harmlose Züchtigung, sie hatten, wie ich später erfuhr, viel schmerzlichere Strafen in der neuspartanischen Schule auszuhalten gehabt. Und doch, zu meiner Schande muß ich es jetzt gestehen, nun bereute ich, daß ich unlängst bei dem Teich im Luxembourg wieder Mut gefaßt und meinem Leben nicht in der nahe vorbeifließenden Seine ein Ende gemacht hatte.

Ich tat aber jetzt das Notwendige. Ich warf mich vor die Kinder, fing selbst die paar Schläge und Püffe von den kleinen Fäusten Viktorias auf und – lachte aus vollem Herzen. Ich lachte, als mir meine Frau mit den Nägeln ins Gesicht fahren wollte. Ich lachte, als die Kinder wie aus einem Munde riefen: »Hilf uns! Von einer Jüdin brauchen wir uns nichts gefallen zu lassen! Hilfe! Hilfe!« Ich lachte, als meine Frau in ihrem sinnlosen Zorn schrie, sie sähe wohl, zu wem ich hielte, sie wolle mit einem Judenhasser nicht mehr unter einem Dach hausen und ›kenne ihre Kinder nicht mehr‹. Ich lachte, da ich mich der gleichen Worte entsann, die meine selige Mutter ausgerufen hatte. Ich lachte den Kindern zu, die völlig überrascht waren, welche wahrhaft ›komische‹ Wendung diese deutsche Schlacht im französischen Hotelzimmer genommen hatte.

Aber ich wußte auch den Weg, meinen Sohn zu heilen. ›Du bist doch ein tapferer kleiner Kerl‹, wandte ich mich fragend an ihn, wie mich einmal sein verstorbener Großvater gefragt hatte. Aber ich stellte ihm diese Frage nicht, um ihn gegen ›Schmerzen und Leiden‹ abzuhärten und ihn zum Spartaner zu machen, sondern um ihn durch den Augenschein, die direkte Methode des Anschauungsunterrichtes dazu zu bringen, den Schmerz zu achten. Er sollte heute anfangen, die zu verachten, die in ihrer Brutalität einen wehrlosen Menschen durch Torturen tiefer erniedrigten als das Tier. Ich wußte wohl, der Führer in seiner ganzen Sentimentalität hatte tierfreundliche Gesetze erlassen, Schonung der Hunde, kein Schächten der Rinder mehr, Humanität den Tieren gegenüber. Wie sehr hatte das auf das naive Gemüt von Robert und Lise und so viele Millionen anderer Kinder eingewirkt. Nun zog ich den Jungen ins Nebenzimmer, sperrte ab und entkleidete mich. Ich schämte mich vor ihm nicht wie vor Helmut. Ich behielt nichts an. Ich sprach kein Wort. Man kann ohne Worte auf Menschen oft viel besser wirken. Die wortreichen Lehren sind oft Betrüger.

Ich zeigte ihm, mich langsam im Kreise drehend, meinen Rücken, meine Lenden, meine Beine bis zu den Fersen. Ich nahm seine Hand und ließ ihn die noch feuchten, bei jeder Erregung rot und dick anschwellenden Striemen befühlen. Ich sagte ihm nicht, das hat man mit deinem Vater gemacht. Ich sagte ihm nicht, dein Vater ist ... Genug. Er brach in Tränen aus. Ich sagte ihm, er solle nicht weinen. ›Weinen verboten!‹ Er solle sich jetzt die Hände und das Gesicht waschen, zu meiner Mutter und Schwester zurückgehen und tun, was seine Pflicht sei. Er tat es. Er schwankte etwas beim Gehen, der stämmige, kräftige Junge mit seinem einen Viertel Judenblut, aber er ist immer ein energisches Wesen gewesen, so wie auch ich als Kind es gewesen bin. Er bat seiner Mutter ab. Er nahm die Schwester beiseite. Von jetzt an ließen sie sich besser erziehen. Kein deutscher Gruß mehr. Sie spotteten nicht mehr über das schöne Gastland. Es hat aber lange Zeit gedauert, bis sie die lateinischen Lettern schreiben gelernt haben.

Sie lernten sehr spät Französisch schreiben, und sie schrieben es, soweit ich es beurteilen kann, niemals fehlerfrei. Aber sie sprachen es in kurzer Zeit fließend. Am besten sprach Lise, dann kam Bobby, dann meine Frau, zuletzt ich. Ich hatte den größten Wortschatz und die feinste Unterscheidung, aber die schlechteste Aussprache. Ich habe mir große Mühe gegeben, mich zu vervollkommnen, gelungen ist es mir nie.

Wir hatten eine große Verantwortung auf uns geladen, als wir die Kinder hatten kommen lassen. Ich wußte nicht, wieviel Geld meine Frau besaß und ob jetzt die stärkste Quelle, nämlich Helmuts Sendungen, versiegte. Ich wollte es wissen, denn noch war ich das Haupt der Familie. Ich bat eines Abends, als ich spät heimgekommen war, meine Frau, mit mir in ein kleines Café an der Ecke zu gehen. Sie stand aus dem Bett auf, warf etwas um, deckte Lise, die mit ihr im gleichen Raum schlief, besser zu, und wir gingen. Ich sagte meiner Frau noch auf der Treppe, wie es mit meinen Einnahmen stünde. Die Treppe war lang, die Aufzählung kurz. Es waren und blieben die 30 Mark.

Der Franc war gefallen, man konnte für diese 30 Mark in Paris viel mehr kaufen, als dem Wert dieses Betrages in der Heimat entsprach. Aber ein Bettel blieb es. Wir waren noch nicht an der Schwelle unseres Hotels, als meine Frau ruhig, aber jede Silbe betonend, mich fragte: »Und warum arbeitest du nicht?« Ich sagte, es sei nicht möglich, als Arzt die Arbeitserlaubnis hier zu bekommen, das Gesetz sei dagegen. »Andere kümmern sich nicht darum«, antwortete sie, »du mußt endlich begreifen, daß du die Kinder hast kommen lassen und daß man an ihre Zukunft denken muß.« – »Was also soll ich tun?« fragte ich. »Du bist der Mann, du mußt es wissen«, sagte sie und nahm meinen Arm. – »Ich weiß nichts.« – »Ich habe dir oft geraten, und nicht immer falsch. Hättest du mir gefolgt, wären wir noch heute in der Heimat, und die Kinder hätten ein Dach über dem Kopf.« – »Geschehen ist geschehen«, sagte ich und wollte sie ablenken, denn mir lag nichts daran, das Vergangene aufzurühren.

»Ich will nicht sagen«, fuhr sie etwas milder fort, während sie ihren Arm wieder aus dem meinen löste, was mir sehr lieb war, »daß ich die Papiere im Safe bloß deinetwegen herausgegeben habe. Es war auch meinetwegen. Es war der Kinder wegen. Es war sogar auch um deines Vaters willen, so seltsam dir das in den Ohren klingen wird. Aber du hast recht, es ist unnütz, darüber zu sprechen. Ich habe wenige Fehler in meinem Leben gemacht, diese aber sind schwer gewesen. Ich hätte niemals einen Leon Lazarus heiraten dürfen, ich hätte niemals so lange auf dich warten sollen.« – » Du hast auf mich gewartet?« fragte ich. Sie schwieg, dann sagte sie mit dem alten hellen Lachen: »Was bist du für ein Kind!« Ich schüttelte den Kopf, lachte aber auch. »Ich muß wie eine Mutter für euch drei sorgen, aber es wird mir gelingen. Ich habe auch meinen seligen Vater geführt und beraten, er hat ohne mich keinen Schritt gemacht. Nun müssen wir überlegen, wie wir die Kinder brav großziehen und was aus ihnen werden soll. Kannst du dich nicht überwinden? Es kann doch nicht sein, daß sie dir dort das Rückgrat gebrochen haben. Wo treibst du dich jeden Mittag und jeden Abend umher? Brauchst du eine andere Frau, eine jüngere, eine frohere?« – »Nein, Viktoria«, sagte ich, »du bist ...« Ich sprach nicht weiter, es war nicht nötig. Ich wartete, bis wir unsere Erfrischungen genommen und gezahlt hatten, dann gingen wir zum Hotel zurück, und auf dem Wege dorthin erzählte ich meiner Frau zum erstenmal vom Tellerwaschen. Die Wirkung war aber ganz anders, als ich erwartet hatte. Sie geriet in wahnsinnigen Zorn, schlug mit dem Kopf gegen die Wand eines Hauses, weinte und konnte sich nicht beruhigen. Endlich gelang es mir, sie so weit zu bringen, daß sie mit mir noch einmal in das kleine Café ging, das man gerade schließen wollte. Rings um uns stellte man die Stühle auf die Tischchen, und wir mußten sofort zahlen, nachdem wir unser Getränk erhalten hatten. »Wozu?« – »Wozu?« schluchzte sie, und stieß die beiden Gläser von sich. »Das Zeug kostet Geld, und es fehlt am Brot.« Sie faßte meinen Kopf bei den Schläfen und zog ihn nahe zu sich heran, so daß ich ihren heißen fliehenden Atem spürte. »Hast du denn nicht bedacht, daß du einem fetten französischen Arzt das Brot nicht wegnehmen willst und deshalb einem französischen Tellerwäscher das magere Brot wegnehmen mußt. Nein, nein ... nein ...« Sie begann jetzt schrill, ohne Übergang, zu lachen. Sie war in den Jahren. Es kamen Wallungen über sie, ich verstand sie als Arzt. Als Gatte nicht. Sie war jetzt wieder guter Dinge. Sie trank beide Gläser aus. Ich hatte keinen Durst. Ich drängte in sie, sie möge mir den Stand des Geldes angeben. Sie lachte weiter und sagte: »Dreihunderttausend Francs in Gold.« Alles, was ich tat, um sie dazu zu bringen, mir Klarheit zu geben, war vergebens. Sie behielt ihre Geheimnisse für sich. Ich hatte das meine preisgegeben.

Ich hatte nicht aufgehört, Frieden zu suchen, manchmal hatte ich gehofft, ich fände ihn bei ihr wieder, die ich einmal sehr geliebt hatte. Nein, nicht sehr, einfach geliebt. Aber sie nahm mir das wenige an Ruhe, das ich inzwischen gewonnen hatte, und ich erkannte mit Schaudern, daß das gemeinsame Unglück die Menschen nicht zu-, sondern voneinander treibt. Ich unterschied ihre Ironie nicht mehr von ihrem Ernst, und bald hörten wir auf, immer nur von ernsten Dingen zu reden.

 

Ich hatte angenommen, von Kaiser würde im Laufe des Jahres 1934 kommen. Als er nicht kam und nichts von sich hören ließ, schmerzte es mich, denn er fehlte mir – und auf der anderen Seite (wie ich auch heute noch immer beiden Seiten einer Sache gerecht zu werden versuche) dachte ich mir, würde es wohl mit der Gesundheit des alten Herrn recht gut stehen, denn er hatte sich ja vorgenommen, mich erst dann aufzusuchen, wenn er seinen Tod nahe fühlte.

Meine Kinder besuchten jetzt gute, halb deutsch, halb französisch geführte Schulen. Man holte sie in Autos, welche in der Stadt die Kinder einsammelten, morgens ab und brachte sie uns abends zurück. Ich fragte nicht mehr, woher die Geldmittel kamen. Ab und zu hatte ich einen kleinen Nebenverdienst, ich machte Übersetzungen, langsam, aber genau, Wort für Wort, mit möglichst großer Exaktheit und Gewissenhaftigkeit.

Meine Kinder tobten während meiner Arbeit im Zimmer umher, bewarfen einander mit den dicken Lexika, und ich wunderte mich, daß sich die Nachbarn nie beschwerten. Aber man mochte sie hier im Hotel sehr gern in ihrem Übermut, jeder steckte ihnen etwas Gutes zu, ein Bonbon, eine Karte fürs Kino oder für den Zirkus, oder lachte sie freundlich an. Mir begegnete man ernst, kalt.

Solange ich da war, schwiegen die Kinder ebenso wie Viktoria über Deutschland. Ob sie von ihrer Heimat sprachen, wenn ich abwesend war, wer mochte das wissen? Anfangs hatten die Kinder vor allem zu mir gehalten, das war aber noch Angelikas Werk, die ihnen die Liebe zu mir als einem hundertprozentigem Arier eingeprägt hatte. Bald aber änderte sich dies auch, und sie schlossen sich der Mutter an. Ich war ihnen auch zu gemessen, zu beherrscht. Ich schlug sie nie und liebkoste sie kaum. Eines Tages kamen sie alle drei, und Lise erklärte, sie habe sich zu etwas entschlossen, das gleiche erklärte Bobby ebenso wie Viktoria. Ich sah von meiner Arbeit auf, ahnungslos. Nun lachten sie alle aus einer Kehle, und ich erfuhr ihr Geheimnis. Meine Frau hatte ein Angebot erhalten (durch Helmut, der vornehme französische Bekannte hatte), in einer großen schloßartigen Villa bei Versailles den Haushalt zu führen gegen 350 Franc monatlich, freien Aufenthalt für sie und für die Kinder. Welch ein Glück! Eine amtliche Arbeitserlaubnis war nicht nötig.

Meine Tochter konnte hier den Haushalt lernen. Sie hatte für später andere Pläne. Sie hatte von ihrer Mutter das herrliche blonde Haar geerbt. Meine Frau, die sich mit dem schön gewachsenen Kinde schmücken wollte, hatte Lise vor kurzem zu einem sehr guten Salon geführt und ihr eine Frisur machen lassen, wie sie die feinen französischen Mädchen im Backfischalter trugen. Tags darauf durfte ich die Herrlichkeit bestaunen. Aber Eindruck hat sie nicht auf mich gemacht. Zu lange schon lebte ich in einer anderen Welt als die drei Menschen. Lise hatte Geschmack an der Friseurkunst gefunden. Ihr Herzenswunsch war, sie zu erlernen. Sie war noch zu jung, um schon jetzt in die Lehre zu gehen, aber es dauerte nicht lange, da sah ich, wie sie an anderen Kindern im Hotel, auf einer höheren Treppenstufe sitzend als diese, das Köpfchen ihres Opfers zwischen die Knie geklemmt, mit Viktorias Kamm und Bürste ihre Künste ausprobierte und wie sie den geduldigen Kindern geschickt ›Wellen drehte‹, die sie mit Wasser aus einem Töpfchen befeuchtete. Man hatte mich nicht gefragt. Meine Stimme zählte kaum, und das mit Recht. Womit hätte ich es ihr denn auch verbieten können?

Anders war es bei Bobby. Er war auf den Gedanken gekommen – Kellner zu werden, entweder Cafékellner oder besser Hotelkellner. Er mußte einmal in einem großen vornehmen Hotel eine Schar eleganter Kellner in tadellosem Frack, blendend starrer Hemdbrust, gepflegten Händen gesehen haben, aber ich erfuhr nicht, wo – vielleicht bei Helmut, der jetzt sehr vornehm wohnte und mich noch nie zu sich eingeladen hatte. Aber diese Berufswahl war mir von Herzen zuwider. Und meine Frau sollte leichten Herzens ihre Einwilligung dazu gegeben haben? Ich konnte es nicht glauben. Unser Sohn – Kellner? Ich versuchte noch einmal eine Aussprache. Aber als ich eines Abends meine Frau erneut veranlassen wollte, in ein Café zu gehen, wollte sie das schöne warme Bett nicht verlassen und hielt mir, wie einst ihr seliger Vater, den Finger auf die Lippen, um mich zum Schweigen zu zwingen. »Die Kinder sind modern, sie wissen, was sie tun. Still jetzt! Wecke sie nicht auf!«

Der Tag des Dienstantritts meiner Frau kam heran. Ich half den dreien beim Einpacken ihrer Habseligkeiten, begleitete sie aber nicht nach Versailles. Ich machte nachher aufatmend in meinem Zimmer Ordnung und tat das Bett meines Sohnes auf den Korridor. Ich empfand es als sehr gut, daß ich von jetzt an allein leben konnte. Ich hatte den Frieden noch nicht, aber doch Ruhe. Ich schränkte mich noch mehr ein. Die 30 Mark, die ganz regelmäßig von daheim kamen, reichten knapp aus, da ich genug Essen in der Emigrantenküche erhielt. Ich hatte mich an die Arbeit dort gewöhnt und etwas erlernt, was ich früher niemals gekonnt hatte: ich hörte die Menschen wohl reden, aber versperrte mich dagegen mit solcher Kraft, daß es mir war, als schwiegen sie oder es rollte ein Automobil vorbei oder es zischte der Gasherd. Ich war nicht blind geworden wie er, sondern taub.

Meine Frau gab mir bald gute Nachricht. Die Arbeit war nicht einfach, aber die Umgebung herrlich, die Leute hatten zwei Autos, drei Badezimmer, ›unsere Lise› hätte sich mit der ›kleinen Prinzessin‹, der Tochter des Hauses, angefreundet und ihr eine ›formidable Frisur‹ gemacht, ihr freilich dabei viele Haare ausgerissen. Von meinem Sohn schwieg sie, ich fragte nicht. Ich begann, mich körperlich etwas zu erholen, die Striemen am Rücken wurden flacher und blasser. Verschwunden sind sie nie. Manchmal dachte ich, Kaiser würde nie mehr kommen, und wenn er käme, mich nicht mehr erkennen. Beides war falsch. Er kam im Sommer 1936, diesmal ohne Katinka, zu uns, Helmut und mir, er dachte nicht daran, bald zu sterben.

Tatsächlich war aber Geheimrat Dr. Gottfried von Kaiser ein Wunder. Ein schöner alter Mann, sehr aufrecht sich haltend (dank einer kunstvoll zwischen Haut und Hemd angebrachten Bandage), reiches, schneeweißes Haupthaar, ebensolchen Vollbart, die Augenbrauen jedoch kohlschwarz, mit gemessenen Bewegungen, von einem englischen Schneider in Vollendung angezogen, würdig und bezaubernd in einem, von dem feinsten, etwas bitter-aromatisch duftenden Parfüm wie von einer Götterwolke umgeben, auf der Höhe seines Geistes, voll neuer Pläne und Gedanken, gleichgültig auf unseren Jammer, unsere Freuden herabsehend, alles genießend, alles betrachtend, alles verachtend, so erschien er in unserer Mitte und stellte seinen Lieblingssohn Helmut und mich, seinen Lieblingsschüler, in den Schatten. Er war ungebrochen, er hatte sich längst von den Ketten befreit, an die ihn Katinka geschmiedet hatte, und sprach von ihr mit Gerechtigkeit. Im übrigen war sie ihren Jahren entsprechend etwas stark geworden, und er nannte sie im Gespräch bald Püppchen, bald Dickerchen. Er war auf der Suche nach einem Parfüm, das ihr neu war, und schleppte mich und Helmut in seinem großen, ebenfalls schneeweißen Auto, einen kohlschwarzen Neger in weißer Sommerlivrée am Volant, von einer Schneiderfirma zur andern mit der Behauptung, daß es nun die Schneiderfirmen und nicht die Parfümfabrikanten seien, welchen die aufregendsten Düfte zu verdanken wären. Nachdem er einen entsprechenden Vorrat eingekauft hatte, ging es zu den Juwelierläden auf der Place Vendôme, und ich, dem 100 Franc ein Vermögen waren, sollte ihn bei der Wahl eines Smaragds oder Rubins oder einer schwarzen Perle im Werte von ein paar Zehntausend beraten – und tat es, nach bestem Wissen und Gewissen.

Ich begleitete ihn in die Vorstadt Vincennes, wo er im Museum des Weltkrieges für seine ›historisch-psychiatrischen Studien‹ sammelte. Es machte ihm Freude, an diesen Armeebefehlen, Zeitungsausschnitten und anderen Dokumenten die Merkmale des Einzelwahnsinns und des Massenwahns zu studieren. Er war alt und weise geworden. Längst hatte er es aufgegeben, Menschen heilen zu wollen. Er erfaßte sie in ihrem Wesenskern, fand Neues zu dem Altbekannten, und des Lernens war kein Ende. Statt der anatomischen Gehirnschnitte studierte er einen Querschnitt durch das Europa zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Wie gerne hätte ich ihm den kleinen Beitrag zur Geschichte des mächtigsten Mannes unserer Zeit gegeben, den mir das Schicksal oder der Zufall 1918 in die Hände gespielt hatte. Nicht in meine Hände gehörte dieser Bericht. Meine Hände hatten Unheil bewirkt. Ich hatte in meiner vermessenen Gottähnlichkeit einen Blinden sehend gemacht, ohne ihm regelmäßigen Schlaf, das heißt Frieden der Seele, zu geben. Er schlief nicht, und ebenso wie im Reservelazarett in P. ließ er keinen schlafen. Nur daß er damals ein Mannschaftszimmer in Erregung versetzt hatte, heute hingegen einen ganzen Erdteil.

Viel klarer als ich hat es mein Meister erfaßt, daß die wahrhaft aufrüttelnden und siegreichen Führer der Menschen immer Irre gewesen sind. Ihr Haß war nicht ohnmächtig, sondern zeugte. Ihre Lüge fiel nicht in sich zusammen, sondern formte alles Leben ringsum, wie es der Glaube formt.

Kaiser war so weit gekommen, nicht mehr zu hassen und zu lieben. Ihm war wohl, denn er hoffte und fürchtete nichts mehr. Er hatte nur vor dem Sterben, das heißt vor Leiden, Angst, nicht vor dem Tod. Mußte er denn nicht den Frieden gewonnen haben, seitdem er sich von allem Menschlichen gelöst hatte, dankbar war für den schönen Abend und das Ende nicht fürchtete?

Er nahm die gesamte Geschichte unseres unglücklichen Vaterlandes mit der wahren Objektivität des Gelehrten zur Kenntnis.

Ich hatte der Augenzeuge sein wollen, er war es. Denn er liebte nicht. Seine Liebe zu Katinka (der einzigen Frau, der er jemals wahrhaft angehört hatte und in der sich ihm Liebe als Knechtschaft enthüllt hatte) war längst erloschen, seitdem er gelernt hatte, nicht nur die ›Püppchen‹, sondern auch sich zu durchschauen. Als ein zweiter, weniger feudaler, aber auch weniger verbitterter La Rochefoucauld trat er mir entgegen, unsterblich in seiner wiedergewonnenen Klarheit. Allen erreichbaren Genüssen zugetan, sich vor der Schönheit einer neuen Katinka beugend (deren Namen er nicht verriet, sondern von der er nur die ›großen Onyxaugen‹ rühmte und irgendwelche berauschenden Geheimnisse ihres Körpers) – so stand er über meinem Ideal des Friedens, des Rechtes, indem er forschend und genießend den Mut bewies, sich in einer anarchischen Welt genauso hart und gleichgültig zu zeigen, wie es die Welt geworden war, und so hatte er die Kraft, die Barbaren von außen an die Wände seines Turms hämmern zu lassen, ohne ihnen zu öffnen.

Sein Glück wäre vollständig gewesen, wenn ihm zwei scheinbar leicht zu verwirklichende Wünsche erfüllt worden wären. Er hatte vorgehabt, uns beide mit sich nach Italien zu nehmen. Weshalb gelang es ihm bei Helmut nicht? Waren es die ›Freunde‹ Helmuts, die ihn an Paris fesselten? Ich konnte es nicht glauben. Menschen dieser Veranlagung gibt es überall. Es war etwas anderes. Helmut hatte eine Art dickköpfiger Stecknadel im Knopfloch seines Jacketts. Man mußte schon sehr scharf hinsehen, um in dem Silberornament ein winziges Hakenkreuz zu erkennen. Helmut war also weniger der Sohn seines göttergleichen Vaters als vielmehr der Jünger seines Heilands H. Er hatte ihm das Blut R.s verziehen – und wartete nur darauf, daß H. ihm verzieh und ihm die Rückkehr ins herrliche Dritte Reich gestattete. Und ich? Ich fühlte, es mußte sich etwas ändern. Aber nicht durch den Göttergreis. Kaiser war die Vergangenheit für mich, eine herrlich entfaltete Vergangenheit. Aber er befreite mich nicht, gab mir den Frieden nicht.

 

Als mich von Kaiser besuchte, war der große Kampf in Spanien zwischen der republikanischen Regierung und den rebellierenden Generälen schon im Gange. Diese Generäle hatten die Armee, einen großen Teil der Flotte hinter sich, sie standen unter dem Schutz Deutschlands und Italiens. Sie hatten die Hilfe der hohen Geistlichkeit und der Großgrundbesitzer, während die Masse des Volkes und die niedere Geistlichkeit auf seiten der Republik waren. Von beiden Seiten wurde der Kampf mit der furchtbarsten Heftigkeit geführt. Die Republik besaß keine Flugzeuge, die Rebellen erhielten solche in Unmassen von Deutschland und Italien. Die Rebellen hatten Mangel an Menschen und holten sich Mauren und schwarze Berber in das katholische Land, auch protestantische Söldner fehlten ihnen nicht. Die rebellischen Truppen gingen mit ungeheurer Schnelligkeit gegen Madrid vor. Die Hauptstadt des Landes war von fast allen Seiten eingeschlossen, ihr Fall und damit der Untergang der Republik schien nur eine Frage von Tagen zu sein. Anfang September fiel die Grenzstadt Irun in die Hände der Rebellen, und es folgten entsetzliche Szenen des Mordens, Brennens, der entfesselten Unterseele, gegen welche die Schrecknisse des Weltkrieges verblaßten.

Eines Abends hatten Helmut und ich Abschied von Kaiser genommen. Er hatte seine Bitte, wir sollten mit ihm nach Rom fahren, nun nicht mehr wiederholt. Er weinte nicht. Ich glaube, Greise weinen entweder sehr leicht oder sehr schwer. Er gehörte zu der zweiten Art. Er tat nur eins. Er beugte sich plötzlich über den prachtvollen Marmortisch, an dem wir bei Whisky und Likören saßen – und es kam ein unheimliches Geräusch aus seiner Gegend. Es knarrte unterm Hemd sein Korsett, das nicht für Gemütsbewegungen eingerichtet war. Helmut lächelte über seinen Vater. Ich nicht. Wir beide waren jung gegen ihn, wir waren nur grau, er aber weiß, er war 26 Jahre älter als wir. Wir alle sagten uns, wenn wir uns jetzt trennten – er mußte nach Rom zurück –, wäre es kaum wahrscheinlich, daß wir uns alle drei wiedersähen. Es war mir nämlich aus Andeutungen klargeworden, daß Helmut kein anderes Ziel hatte, als nach Spanien zu gehen, um dort auf der Seite der siegreichen Generäle zu kämpfen. Ob er lebend heimkam, daran lag ihm wenig, er hat das Leben nie sehr hoch geachtet, aber er wollte auf der Seite der Stärkeren kämpfen mit Aussicht auf Erfolg und Rückkehr in die Heimat, zurück in die Gnade des Führers, nachdem er so unheroisch gewesen war, sich H.s Gerechtigkeit durch die Flucht zu entziehen. Helmut ist wie ich nie ein Freund von vielen Worten gewesen. Er ist sich selbst immer gefolgt. Der Widerspruch in sich war ihm fremd, und fast glaubte ich, an diesem Tisch war er von uns dreien der Glücklichste.

Kaiser wohnte in einem Hotelpalast an der Oper. Als ich mit Helmut den Boulevard zur Madeleine weiterging, kamen wir an eine hell erleuchtete Auslage. Aber in dieser Auslage waren weder Schuhe noch Seidenwäsche oder Pelze, weder Bücher noch Parfümflaschen, sondern hier gab es im Schaufenster nichts als eine Menge stark vergrößerter Fotografien, und höher oben lief eine Wanderschrift, welche die letzten Nachrichten vom spanischen Kriegsschauplatz brachte. Helmut stoppte wie ich. Wir lasen die Berichte, die Wort auf Wort in Leuchtschrift vorüberkamen. Als von einem strategischen Rückzug die Rede war, verdüsterte sich Helmuts ohnedies mürrisches Gesicht. Aber wie erhellte es sich, als er die letzten Worte der Leuchtschrift las, zu seiner Freude erfuhr er nämlich, daß nicht die Rebellen, sondern die Regierungstruppen diesen kleinen strategischen Rückzug angetreten hatten und daß die Leuchtschrift den republikanischen Bericht brachte.

Nun war er sichtlich befriedigt, wollte mich weiterziehen und war sogar bereit, sich mit mir noch auf eine Stunde in ein Café zu setzen.

Ich betrachtete die ausgestellten Fotografien. Nicht die Heerführer interessierten mich, nicht die in Reih und Glied marschierenden Bürgermilizen, die Bergarbeiter aus Asturien mit den offenen Hemden, sondern ich konnte mich nicht abwenden von einer mehr ins Dunkel gerückten Fotografie eines vierjährigen oder fünfjährigen armen Kindes, das von einer Fliegerbombe zerschmettert worden war und zerfetzt in seinem Blute lag.

»Wen interessiert das schon?« sagte mein Freund. Nun war ich der Rohe und stieß ihn mit solcher Gewalt von mir, daß er auf den Fahrdamm taumelte und beinahe unter einen Autobus gekommen wäre.

In fürchterlicher Erregung ging ich in meine Gegend, um Helmut kümmerte ich mich nicht mehr.

Aber mit diesem Fürchterlichen war auch etwas Göttliches in mir erwacht, eine Hoffnung, eine Erleuchtung, ein Ziel und eine letzte Freude am Dasein. Ich wußte auf einmal, ich war noch nicht bei lebendem Leibe abgetötet. Ich war lebendiger als Kaiser und sein Sohn, ich wollte handeln, ich wollte wirken, mich nicht mehr in mir verzehren. ›Hilf anderen‹, sagte ich mir, ›dann hilfst du dir selbst, Gott laß beiseite.‹ Ich atmete leicht, ich ging schnell und mühelos dahin, ich stieg die steilen Straßen nach Montmartre mit Leichtigkeit wie ein zehnjähriger Junge hinauf. Ich schlief nicht, aber ich war nicht schlaflos aus Friedlosigkeit wie bisher, sondern ich mußte wachen, um alles für den nächsten Tag zu überlegen und mir den Weg genau vorzuzeichnen, wie ich es immer getan habe.

Ich hatte für den nächsten Tag noch eine Verabredung mit Kaiser. Ich rief ihn sehr früh, zu früh an. Er konnte es nicht verstehen, daß ich an diesem Vormittag keine Zeit hatte, ich konnte es nicht verstehen, daß ihm Katinka und die Schöne mit den Onyxaugen und seine historisch-psychiatrischen Studien wichtiger waren als das, was ich ihm hatte mündlich sagen wollen. Ich hatte daran gedacht, er solle mit mir nach Spanien gehen. Ob er dort unten starb oder ob ihn der Tod inmitten seines parfümierten Palastes in Rom ereilte, – ich hätte nicht geschwankt. Auch er schwankte nicht. Er ging nach Rom und sein Sohn nach Burgos.

Am nächsten Tage hatte ich zwei Entscheidungen zu treffen. Die erste betraf meinen Entschluß, in der regierungstreuen Armee in Spanien Dienst zu nehmen. Ich war nicht der einzige, der sich meldete. Es gab also auch heute noch viele, die dachten, die Seite der Schwächeren könne die bessere Sache vertreten. Man musterte mich im wahrsten Sinne des Wortes. Ich bin ein hochgewachsener, muskulöser Mensch, meine grauen Haare ließen mich aber älter erscheinen, als ich war. Man nahm meine Meldung an. Ich war alter Frontsoldat, ich war alter Militärarzt, ich hatte Auszeichnungen des alten Deutschen Reiches. Aber was sollte ich sein? In welcher Eigenschaft sollte ich dienen? Wie diente ich der guten Sache am besten? Als Arzt hinter der Front, als Stoßtruppführer an der Front? Ich schwankte in meinem Herzen nicht. Ich wußte genau, wohin es mich zog. Aber ich überließ es dem Schicksal, das heißt diesmal der Kommission auf dem spanischen Generalkonsultat, zu entscheiden, wie ich am besten nützen könne. Man entschied sich dafür, ich könne als Arzt größere Dienste leisten. Sie hatten wenig Ärzte, aber genug Soldaten. Die gesamte Zivilbevölkerung hatte sich bereit gezeigt, die Waffen zu ergreifen und sich in ihrem Gebrauch ausbilden zu lassen. Diese Ausbildung erforderte nur wenige Wochen, höchstens ein paar Monate. Nachher war ein Metallarbeiter aus der Stadt, ein Ackerbauer vom Lande ein vollwertiger Soldat. Einen Arzt fabrizierte man nicht so schnell. Ich war froh über diese Entscheidung, setzte meinen Namen unter ein Formular und erfuhr, wo und wann ich mich dem nächsten Transport über die Pyrenäen anzuschließen hätte.

Auf dem Konsulat waren einige Menschen, die mich von früher kannten. Ich ließ mich aber in kein langes Gespräch ein, sondern eilte heim, um alles zu ordnen, was noch zu ordnen war.

Ich rief meine Frau an, bat sie, sofort zu kommen. Sie erkannte am Ton meiner Stimme, daß etwas Entscheidendes vorgegangen war, und besprach eine Zusammenkunft mit mir, aber nicht in Paris, sondern in Versailles, weil sie möglichst wenig Zeit verlieren wollte, so ernst nahm sie ihre Stellung in dem Haus, das sie mit Lise betreute.

Auf dem Wege nach Versailles mit der kleinen Bahn auf dem linken Ufer der Seine, überlegte ich die zweite Entscheidung. Sollte ich mich meiner Frau anvertrauen, sollte ich ihr sagen, was ich tat und was mich froh und sogar glücklich machte? Oder sollte ich einen wohltätigen Schleier darüberbreiten und andeuten, ich ginge mit meinem Meister ›ins Ausland‹? Hier wurde mir die Entscheidung nicht wie auf dem Konsulat aus der Hand genommen. Ich mußte sie selbst treffen. Ich fürchtete, mein Entschluß würde den letzten Rest von Ehe, der noch zwischen mir und ihr bestand, zerstören, sie würde ihn mir nie verzeihen, daß ich handelte wie Leon Lazarus. Sie hörte sich alles mit totenblassem, verzerrtem Gesicht an, hielt die Augen gesenkt, blieb stumm. Auch ich hatte nicht viel Worte gemacht. Vielleicht war die Form hart. Aber je mehr ich gezögert hätte, das auszusprechen, was in mir feststand, desto mehr Schaden hätte ich angestiftet.

Nachdem wir vielleicht eine Viertelstunde lang stumm nebeneinander durch den Schloßpark von Versailles gegangen waren, setzten wir uns auf eine Bank und begannen zu sprechen. Ich wollte meine Kinder vor der Abreise sehen. Bei Lise war das leicht möglich, etwas schwieriger war es bei Bobby, der eine Stellung als ›Lift‹ in einem Hotel zweiten Ranges erhalten hatte. Meine Frau meinte etwas bitter, er hätte noch Glück gehabt, hätte seinen Namen Bobby nicht wechseln müssen, denn fast alle ›Lifts‹ würden Bobby gerufen. Ich wußte, was hinter dieser Ironie stand, und tat, als empfände auch ich dies als ein Glück. Er hatte Nachtdienst und schlief bis in den Abend. Da ich aber am Nachmittag reisen sollte, mußte er eben geweckt werden. Ich fand ihn übrigens reizend in seiner knappen, bunten Uniform, fast noch reizender als seine Schwester. Sie waren keineswegs ergriffen bei dem Gedanken, sie sollten mich einige Zeit nicht sehen. Sie sahen ihre Mutter an, und da diese Ruhe und Gefaßtheit bewies, taten sie desgleichen. Ich machte ihnen beiden kleine Geschenke, die sie untereinander austauschten, denn ich hatte nicht die richtige Wahl getroffen. Dann blieb ich mit meiner Frau zusammen. Sie vermied es, auf das Gewesene und Künftige zu sprechen zu kommen. Bloß einmal erhob sie ihren klaren, kühlen Blick zu mir und sagte, nun sei doch erwiesen, wie recht sie gehandelt habe mit den Papieren. Hätte sie sie nicht preisgegeben, wäre ich längst verscharrt im Lager. So aber könne ich noch einer ehrenhaften Sache nützlich sein. Ich antwortete ihr, indem ich ihre rauhe, abgearbeitete, gerötete Hand fest zwischen meine Hände nahm und liebkoste, es sei alles gut. Wenn sie sich mit meinem Entschluß abfände, ginge ich froh, so froh, wie ein Mensch meiner Art in solcher Zeit nur sein könne, zu meiner Arbeit. Sie werde besser sein als Tellerwaschen. Und als sie mich unterbrechen wollte, sagte ich, ich verstünde sie gut, ich vertraute ihr die Kinder an – das sei kein besonderer Vertrauensbeweis –, aber ich vertraute ihr auch alle meine Aufzeichnungen an, damit sie darüber verfüge, wenn ich nicht mehr zurückkäme. Das hat sie mit mir versöhnt. Ich versprach ihr, so oft zu schreiben wie nur möglich, ihr meinen Sold zu schicken und immer an sie zu denken voll Achtung, Vertrauen und Dank, auch mit einer Liebe, wie sie Freunde füreinander empfänden. Vielleicht würde Helmut auf der anderen Seite der Front mir in Spanien gegenüberstehen. Aber sie und ich würden einander niemals Feinde werden. So blieb ich ihr treu und mir.


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