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Erster Teil

Das Schicksal hat mich dazu bestimmt, im Leben eines der seltenen Menschen, welche nach dem Weltkrieg gewaltige Veränderungen und unermeßliche Leiden in Europa hervorrufen sollten, eine gewisse Rolle zu spielen. Oft habe ich mich nachher gefragt, was mich damals im Herbst 1918 zu jenem Eingriff bewogen hat, ob es Wißbegierde, die Haupteigenschaft eines in der ärztlichen Wissenschaft tätigen Forschers, war oder eine Art Gottähnlichkeit, der Wunsch, auch einmal das Schicksal zu spielen.

Einerlei, ich will mein Leben vorerst bis zu jenem Tage Ende Oktober oder Anfang November 1918 in kurzen Zügen darstellen. Nüchtern und klar, schmucklos und möglichst wahrheitsgetreu.

Ich bin in Süddeutschland geboren als der einzige eheliche Sohn eines ziemlich angesehen Hoch- und Tiefbauingenieurs. Die Anlage von Bergwerken und dergleichen hat meinen Vater wenig gereizt. Sein eigentliches Gebiet waren Brücken, und ich entsinne mich, daß wir, meine sehr geliebte zarte Mutter, er und ich, eines Herbsttages mit der Eisenbahn von M. nach I. reisten und daß mich, als ich eingeschlummert war, mein Vater plötzlich weckte, als wir über eine Eisenbahnbrücke fuhren, die er im letzten Sommer zu Ende gebaut hatte. Ich merkte nichts Besonderes an der Brücke, es schien mir eine Eisenbahnbrücke wie alle anderen zu sein, sie führte über einen mit Weiden und Erlen eingefaßten Wildbach, aus dessen Bett ein paar bemooste Steine hervorragten, die Böschung, noch ohne Grasnarbe, war nicht besonders steil, aber meine Mutter tat, als sei sie außer sich vor Begeisterung, und sie hustete, wie immer, wenn sie sich erregte. Mein Vater lächelte bescheiden unter seinem dicken blonden Schnurrbart. Gelegentlich vertraute er mir an, es gäbe etwas noch Schöneres zu bauen als Brücken, nämlich Schlösser, Warenhauspaläste, Bahnhöfe, aber diese Aufgabe behielte er sich für später vor.

Man nannte ihn immer den Herrn Oberingenieur. Man bückte sich ziemlich tief vor ihm, aber wenn jemand seine Verdienste rühmte, wandte er sich kopfschüttelnd vor Staunen ab und begann meist von seiner schweren Jugend oder von seinem Onkel zu sprechen, eigentlich dem Onkel meiner Mutter, der ungeheuer reich sein und dessen Macht und Einfluß alles übersteigen sollte.

Ich war für mein Alter sehr groß, immer der Stärkste in der Klasse der ›Au-Schule‹. Ich habe mich schon damals nach einem Freund gesehnt, habe aber nie jemanden dazu finden können. Wahrscheinlich war ich es selbst, der die Annäherung der Klassenkameraden nicht richtig aufnahm, und zwar aus einer sicherlich bei manchen Kindern, die keine Geschwister haben, häufigen Ursache: ich fürchtete mich vor den Fremden. Sie fürchteten sich aber noch viel mehr vor mir, vor meiner Körperstärke, vor meinem schweigsamen Wesen. Hätten sie gewußt, daß ich in besonderem Maße schmerzempfindlich war, daß mich ein hartes Wort ebenso verwundete wie ein kleiner Riß in meiner Haut, was alles sie gar nicht spürten, so hätten sie sich mir vielleicht leichter genähert. Ich konnte niemanden leiden sehen, nicht Mensch, nicht Tier, aber ich habe selten geweint.

Die Schule befand sich am Ende einer ziemlich breiten Straße, am Au-Park. Die eine Front ging auf den Park hinaus, oder vielmehr auf die hohe Mauer, die ihn umgab. Von der Straße konnte man im Winter bei Schulbeginn vom Park nichts anderes sehen als die Gipfel der Bäume, Eichen, Platanen, Ahorne, Buchen. Wenn ich aber zum Beispiel im ersten Winter von meiner grasgrünen Schulbank aus dem von Gasflammen erleuchteten Schulsaal heimlich hinaussah, zeichneten sich die schwarzen schweren Zweige unter ihrer handhohen Schicht von Schnee gegen den Dämmerdunst zuerst nur undeutlich ab. Die Gasflammen summten behaglich, der weiße Kachelofen strömte Wärme aus, und die Tannenzapfen, unter das Holz und die Kohle gemischt, krachten lustig. Die Flächen der Landkarten und Tierabbildungen leuchteten hell. Gegen neun oder zehn Uhr wurde das Gaslicht verlöscht, die Landkarten hörten auf zu spiegeln, um zehn Uhr lüftete man, frische Luft drang ein. Die Sonne war kupferrot aufgegangen. Der Dunst im Park hob sich, durch die klar gewordenen Scheiben sah ich, am Fenster stehend, den Rockkragen aufgeschlagen, die Hände in den Taschen, die mit Rauhreif besetzten Gebüsche an den Wegen, den zinkfarbenen, mit schütterem Schnee bedeckten Eislaufplatz, die große Wiese, die Au in der Mitte des Parkes, die Tennisplätze, von hohen Netzen umgeben, ganz verlassen. Bald öffnete sich die Tür, und der lustige Tumult der Schule verstummte, bevor der Lehrer die Tür hinter sich geschlossen hatte.

Unweit dieses Parkes befand sich die Kaserne des dritten schweren Reiterregimentes. Wenn wir nun mit krummem Rücken dahockten, den Kopf über unser Heft gebeugt, schläfrig vor Hitze und Langeweile, und still unsere Arbeiten niederschrieben, tönte plötzlich in verschiedenartig schnellendem Takt rhythmisch und klar der Klang der trabenden oder galoppierenden Pferde zu uns herüber. Wie oft war es meine (verbotene) Lust nach der Schule, an eine dicke hölzerne, aufgerauhte Barriere gelehnt, dem Reitdienst der Rekruten zuzusehen und die Peitsche des Sergeanten knallen zu hören. Bisweilen kam ein Soldat auf mich zu, in einer gelblichweißen Zwilchjacke trotz der Kälte, auf dem kahlgeschorenen Kopf eine tellerartige schirmlose Mütze, unter dem Arm ein dickes, hell eingestäubtes knusperiges Kommißbrot, das er gegen Tabak umtauschen oder sehr billig verkaufen wollte. Aber ich hatte leider weder Geld noch Tabak. Mit Bedauern sah ich, wie der Kürassier es mit seinen schweren Händen auseinanderbrach und die Stücke eines nach dem anderen den Pferden geschickt und ohne die geringste Angst verfütterte, welche es gnädig entgegennahmen. Ich weiß eigentlich nicht, warum dieses Brot solche Gier in mir erweckte. Ich bekam ja daheim alles, was sich ein vernünftiges Kind wünschen kann. Eines Tages mußte ein Soldat in meinen Augen diesen brennenden Wunsch nach dem Brot bemerkt haben, er trat sporenklirrend zu mir und hielt mir ein ziemlich großes Stück als Geschenk entgegen. Noch viel später erinnerte ich mich des merkwürdig beizenden Geruches nach Leder und Gerberlohe, den er um sich hatte.

Ich nahm es, aber ich aß es nicht. Eben hatte ich mir etwas Bestimmtes vorgenommen, und dies mußte ich durchführen. Ich nahm meinen Mut zusammen, ging ein kleines Stück an der Barriere, dann an der Umfassungsmauer der Kaserne entlang und kam zu den Schildwachen, von denen nur die eine, die auf der rechten Seite, mich wahrgenommen hatte. Auf ihren Zuruf antwortete ich, ich müsse einen kranken Unteroffizierssohn, der in der Kaserne wohne, besuchen. Ich schlüpfte in den Eingang der Kaserne, kam in den Hof. Schon sah ich ein paar Gäule, drei glaube ich, die, mit den Zügeln einer an den anderen angebunden dastanden, und auf die harte staubige Erde klopften und mit den langen Schweifen um sich schlugen. Ich gab, eisig vor Angst, aber brennend vor Entzücken und Glück, meinen Willen durchgesetzt, meinen Mut bewiesen zu haben, dem mir zunächst stehenden Pferde ein Stück des Brotes. Sei es, daß meine Hand trotz alledem zu sehr zitterte, sei es, daß das Pferd diese Kruste nicht richtig aufnahm, sondern vielmehr fortstieß, das Brot fiel herab. Ich, jetzt einer gewissen Gefahr gruselnd bewußt, bückte mich trotz allem danach. Das Blut war mir aber so stark zu Kopf gestiegen, daß ich das Brot unter den vielen unruhigen Hufen nicht sah. Die Pferde, die vor der Mittagsfütterung standen und schon deshalb unruhig waren und welche die Stallordonnanz auf einen Augenblick allein gelassen hatte, waren militärfromm. Sie stutzten, sie lauschten auf ein Trompetensignal hin. Sie rissen eines am anderen, ich hörte, wie die Zügel knirschten. Ich konnte nicht auf, ich wand mich, immer noch am Boden, zwischen den zwölf Pferdebeinen hindurch, fand das Brot und war schon gerettet und hatte mich deshalb aufgerichtet, als ein Pferd – ich glaube, es war dasselbe, dem ich den Leckerbissen zuerst zugedacht hatte –, dem Trompetensignal nur zu gehorsam, mich mit dem Huf trat. Es war der erste wahrhaft ungeheure Schmerz meines Lebens. Ich hörte mich aufstöhnen und versank in Ohnmacht, aber nicht in Schmerzlosigkeit, ich war meiner Sinne nicht mehr mächtig und doch ganz wach in grauenhafter Pein. Zum Glück war der Huf an meinem Schultornister, ein dickes Lineal zersplitternd, abgeglitten. Ich fand mich wieder in einer Mannschaftsstube, bis zur Atemlosigkeit heulend vor Schmerz, den Tornister unter dem Kopf, unter den Füßen eine Pferdedecke. Der Schmerz brannte im Rücken, ich konnte nicht atmen und mußte doch schreien. Sonst hätte ich sterben müssen, fühlte ich. Die Soldaten standen herum, die meisten sahen nachdenklich und mißmutig auf mich hin. Einer beugte sich über mich und fragte mich. Sprechen konnte ich nicht. In meinen Büchern stand meine Adresse, ich wies mit der Hand auf den Schulranzen, verlegen nahm ihn ein Kürassier mir unter dem Kopf fort, blätterte ein Buch auf und las silbenweise wie ein Schulkind meinen Namen und meine Adresse vor. Plötzlich standen sie alle stramm, der Arzt trat ein und ließ sie rühren. Die Gesichter der Soldaten, die wie in der Kirche feierlich erstarrt waren, lösten sich. Sie hoben mich jetzt auf. Ich stöhnte, es wurde mir schwarz vor den Augen. Aber ich wurde nicht wieder ohnmächtig, wie ich es erhofft hatte.

Der Militärarzt muß meine Verletzung als nicht lebensgefährlich betrachtet haben, sonst hätte er mich bei sich in seinem kleinen Lazarett behalten, statt mich in einem kleinen Regimentswagen unter Obhut eines schnauzbärtigen Unteroffiziers heimbringen zu lassen.

Während er mich befühlt und abgehorcht hatte, hatte mich plötzlich eine Art Vernichtungsgefühl befallen. Als ein ganz junger Mensch begriff ich den Tod sowenig, daß ich an alles eher dachte, als daß es meine letzte Minute sein könnte. Vielleicht war dazu der Schmerz zu beklemmend, zu zerreißend, zu erstickend. Bei jedem Atemzuge brach er wie ein Blitz meine rechte Seite durch. Versuchte ich den Atem anzuhalten, wurde es gelinder, aber wenn ich, um dem Ersticken zu entgehen, die Lungen weit mit Luft füllen mußte, war der frische, gleichsam selbstverschuldete Schmerz noch unerträglicher. Auch das Stöhnen und Keuchen verschärfte ihn, so zwang ich mich zu einem verbissenen Schweigen und erntete den achtungsvollen Blick des Arztes, der mir etwas von einem ›jungen Spartaner‹ zumurmelte.

Vielleicht wäre die Qual während der Heimfahrt in seiner Gesellschaft leichter zu ertragen gewesen, da er doch als Arzt Anteil an mir genommen und als Mann mich durch seine Achtung für die Selbstbeherrschung belohnt hatte. Dem Unteroffizier lag nur daran, mich möglichst schnell daheim abzuliefern. Ich faßte, als der Wagen gar zu schnell über die Kopfsteine unseres Straßenpflasters rollte, nach seiner Hand, aber er muß mich wohl mißverstanden haben, denn er eiferte den peitschenknallenden Kürassier auf dem Bocke zu noch größerer Eile an, vielleicht auch aus Angst, ich könne im Wagen sterben, und das Regiment könne Unannehmlichkeiten durch diesen Unglücksfall bekommen.

In mir stieg eine furchtbare Wut auf. Ich dachte daran, wie ich durch Gutmütigkeit in diese furchtbare Lage gekommen war, ich schäumte vor Zorn – im wahren Sinne des Wortes – bei dem Gedanken an das ›undankbare Roß‹, das meine Freundlichkeit mit einem plumpen Tritt belohnt hatte. Ich lag auf der linken Seite, weil mir so das Atmen leichter wurde, gerade auf dieser Seite stak aber mein Taschentuch im Rock, und als ich mich etwas aufrichtete, um es hervorzuholen und den Speichel vom Mund abzuwischen, kam von neuem das Vernichtungsgefühl, ein würgender schauerlicher Ekel, über mich, und ich versank wieder ins Dunkel.

Als es klarer wurde (ich dachte plötzlich an die Bäume der ›Au‹, die mit der aufgehenden Sonne klarer geworden waren), sah ich, daß der Wagen zwar in unserer Straße war, daß er aber über unser Haus hinausgefahren war. Mit welcher Mühe überzeugte ich den stupiden Soldaten, daß er sich in der Hausnummer geirrt habe und daß ich besser wissen müsse, wo ich wohnte. Jedes Wort war ein Stich, und ich brauchte viele. Endlich hielten wir vor dem Hause. Er nahm mich auf den Arm, murrte über mein Gewicht und schleppte mich so ungeschickt die Treppen hinauf, daß meine Füße nachschleiften. Erst als wir vor dem Eingang standen, kam mir in den Sinn, wie sehr meine Mutter erschrecken würde.

Ich hatte also meinen klaren Sinn nicht verloren, ich überlegte scharf, wie ich vorhin, in dem Untersuchungszimmer, alles scharf gesehen und belauscht hatte.

Nun war meine Mutter sehr zart. Ich hoffte, nicht sie, sondern die Magd oder mein Vater würde öffnen. Aber sie war es. Als sie mich erblickte, schrie sie leise auf und sank zusammen, mit dem Kopf voran, mitten durch die Tür, so daß ihr Haupt mit den schönen, dichten, schwarzen Haaren auf den Fußabstreifer mit der Aufschrift Willkommen niederfiel. Der blöde Kürassier mit mir auf dem Arm hätte sich nicht zu helfen gewußt. Zum Glück war mein Vater da. Er begriff sofort die Lage. Er half meiner Mutter auf, führte sie in ihr Zimmer und sagte ihr, ich sei nicht in Gefahr. Sie antwortete ihm nicht. Mich ließ er in mein Zimmer tragen. Er war es, der mich vorsichtig auf mein Lager ausstreckte. Im Vorübergehen hatte er der Magd gesagt, sie solle bei meiner Mutter bleiben und sie nicht aus ihrem Zimmer lassen. Aber nach zwei oder drei Minuten kam meine Mutter dennoch, schwankend am Arm der Magd, zu uns und setzte sich auf mein Bett. Sie zog mir zuerst die Schuhe aus, dann die Kleider. Sie tat es so zart, daß sie meine Schmerzen nicht erhöhte. Ich hatte keinen Verband, blutete nicht. Da sie mein Hemd nicht wechselte, sah sie die zerquetschte Seite nicht. Sie schüttelte den Kopf: ich sollte nicht reden. Sie hüstelte und hielt mir meine beiden Hände fest, als wolle ich entfliehen. Mein Vater war fortgeeilt, um unserem Hausarzt zu telefonieren. Er kam in Kürze zurück, der Arzt war daheim gewesen und mußte sehr bald hier sein. Dann zog er den Unteroffizier ins Nebenzimmer, und beide fingen an zu rauchen, während der Schnauzbärtige meinem Vater eine ungenaue Darstellung des Unfalls gab. Er war kein Augenzeuge gewesen. Meine Mutter weinte nun stärker, und mein Bett bebte. Ich tat ihr sehr leid, sie überschüttete mich mit Koseworten, wie sie sie in meiner zartesten Kindheit angewandt hatte, sie streichelte mich, wollte mich bequemer lagern, bot mir alles mögliche an. Sie glaubte mir damit den Schmerz zu erleichtern, aber das Gegenteil trat ein: ich begann, mich selbst zu bemitleiden, und das Herz krampfte sich mir noch mehr in der wunden Brust zusammen, wenn ich daran dachte, was für ein armes, unglückliches Kind ich sei. Es tat mir wohl, als der nüchterne, nach Medizin riechende, in einen speckigen Gehrock gekleidete jüdische Arzt erschien, der mich im Augenblick nur flüchtig untersuchte und mir einige Fragen stellte, zuerst die, ob ich schon Wasser gelassen hätte, und zweitens, ob ich Blut gespuckt hätte. Ich schüttelte den Kopf. Er bestand darauf, daß ich meine Notdurft verrichtete. Meine Mutter bat er zu gehen, und er war mir behilflich. Er riet mir zu Geduld und ging in das Nebenzimmer, wo er ihnen allen Bericht erstattete. Bald darauf traten alle wieder bei mir ein, sprachen durcheinander, beengten den schmalen Raum, nahmen mir die Luft. Alle waren irgendwie mit meinem Unglück abgefunden und freuten sich, daß es nicht ärger gekommen war. Mein Vater und der Unteroffizier rauchten. Ich konnte nicht verstehen, daß niemand daran dachte (meine Mutter ausgenommen, die mir nutzlose Umschläge auf die Stirn machte), daß ich einen solchen Schmerz nicht auf die Dauer ertragen konnte. Aber sie dachten eben doch nicht daran.

Ich beschreibe diesen Nachmittag, diesen Abend, diese Nacht nicht. Nachzufühlen ist eine solche Lage nur von dem, der etwas Ähnliches erlebt hat. Tröstende Worte empören nur und helfen nichts. Meine Mutter muß es begriffen haben. Nie hat eine Hand leichter auf einer wehen Brust geruht als die ihre, als sie gegen Morgengrauen einschlief. Bloß wenn sie im Schlummer hustete, drückte sie fester. Aber ich ertrug es noch, ebenso wie alles bisherige, so verzweifelt ich auch war. Und sowenig ich mir vorher einen solchen Schmerz hätte vorstellen können, so wenig konnte ich mir jetzt vorstellen, er könnte jemals ein Ende haben. Dabei schien er immer noch nicht seine letzte Furchtbarkeit erreicht zu haben, und manchmal stach mich ein Kitzel von der Art, wie man ihn hat, bevor man niest.

 

Solange ich wach war, hatte ich genügend Kraft, um diesem schauerlichen Kitzel zu widerstehen. Der Arzt hatte mich gewarnt, ich solle möglichst wenig husten oder laut sprechen und mich ja nicht im Bett herumwerfen. Damals – es waren noch keine fünfzehn Stunden seither vergangen, und doch schien es mir ein anderes Leben zu sein, das nie mehr wiederkam, so schön! – hatte ich diese Warnung noch nicht recht verstanden. Warum sollte ich husten? Warum sollte ich mich im Bett unnötig bewegen? Aber in der Morgendämmerung, als meine Mutter, in dem alten Ohrenstuhl zusammengesunken, sich immer tiefer in friedlichen Schlaf hineinatmete, beide Hände, die zarten mit den blauen Adern, im Schoße, da trieb es mich mit aller Gewalt, der Versuchung nachzugeben.

Besonders reizte es mich, meine Lage zu verändern. Ich lag auf der rechten Seite, also auf den fünf gebrochenen Rippen, auf den gequetschten Muskeln. Wenn ich mich ganz allmählich unter Anwendung von tausenderlei Listen umdrehte und mich auf die gesunde Seite legte, bekam ich sofort weniger Luft. Nun probierte ich es auf dem Rücken. Aber dann machte die kranke Seite, die frei mitatmete und sich bewegte, solche Schmerzen, daß ich ins Kissen biß. Also zurück auf die rechte Seite. Nach dieser großen Anstrengung brach mir der Schweiß aus, es überkam mich eine große Müdigkeit, es war mir, als würde ich zu einem ganz kleinen Kind. Ich gab mir nach, ich schlummerte ein. Ich weiß nicht, wovon ich träumte. Plötzlich brach durch den wohltuenden, langsam sich abspielenden alten Traum ein neuer von furchtbarer Grauenhaftigkeit ein. Ich spürte, wie mich jemand mit einem scharfen, spitzigen Messer kitzelte, es durchzuckte mich wie ein brennendes Feuer, ich warf mich lachend vor unbegreiflichem Entsetzen empor, und das Messer ging mir durch und durch. Ich sehe es noch vor mir, es war wie ein Messer, das man zum Schinkenschneiden nimmt, doppelseitig geschliffen, dünn und sehr glatt und lang. Ich erwachte. Ich saß aufrecht, die Kissen lagen verstreut auf dem Teppich. An den Fenstern war es schon dämmerig, der Rest des Zimmers war dunkel. Meine Mutter war fort, ich schrie laut um Hilfe, und während ich noch schrie, merkte ich, wie mir etwas Bittersalziges die Kehle hochstieg. Ich klammerte mich an die Messingstäbe des Bettes und rüttelte daran. Meine Mutter stürzte mit einem brennenden Licht herein, halbentkleidet, bloßfüßig, die Haare aufgelöst, in langen Locken um die bloße Schulter. Sie umarmte mich mit ihren noch vom Waschen nassen Armen und zog das Nachthemd an ihren Hals in die Höhe. Meine Augenlider lagen an ihrem lauwarmen glatten Hals, und ich fühlte bei ihr die Adern pochen. Plötzlich drang das Bittere, Salzige durch die Lippen, und ich konnte nicht widerstehen, und an den gestickten Säumen ihres Nachthemdes blieb das Entsetzliche haften, schaumiges hellrotes Blut. Seltsamerweise war mir auch jetzt der Gedanke an den Tod fern. Ihr nicht. Sie machte sich, sobald sie die Blutflecken wahrgenommen hatte, sanft, aber energisch, von mir los, lief zu meinem Vater und hieß ihn, sofort den Geistlichen mit den Sakramenten und nachher den Arzt holen. Ich hörte, wie er aus dem krachenden Bette aufstand, wie er mit den Kleidern raschelte, mit den Schuhen knarrte. Das Blut kam mir alle Augenblicke in den Mund. Meine Mutter war wieder bei mir. Als gläubiger Katholikin war ihr mein ewiges Seelenheil wichtiger als mein Leben. Was konnte sie Besseres für mich tun, als mich in ihren Armen halten, beten und Gelübde tun? Sie verlangte nicht von mir, daß ich in der Stunde des Todes hörbar mitbete. Im Gegenteil, sie sagte, ich solle ruhig bleiben, sie drückte mich mit sanfter Gewalt in eine liegende Stellung zurück, baute die Kissen in meinem Rücken auf, ohne ihr Gebet zu unterbrechen, holte einige ihrer kleinen nach Vanille duftenden Taschentücher, tupfte mir den Schweiß von der Stirn, das Blut vom Mund, die Tränen von den Augen. Sie tat mit leiser Stimme das Gelübde, zur Hl. Mutter Gottes von Altötting zu pilgern, wenn es aufhören wolle, zu bluten und mich zu peinigen.

Es wäre mir wohler gewesen, wäre sie ruhig gewesen und hätte sie mich wieder aufsetzen und mich fest an den Stäben des Bettes anhalten lassen. Denn jetzt kam etwas Neues über mich: vielleicht nenne ich es am besten das Zermalmende. Es hatte eigentlich mit dem früheren Schmerz nichts zu tun, es ähnelte am ehesten dem Augenblick, als der Huf des Pferdes, von dem Schulranzen niedergleitend, das Schullineal unter Krachen zerbrechend, mir die rechte Seite zerschlagen hatte, also dem ersten Augenblick.

Vielleicht hat dies eine viertel oder halbe Stunde gedauert, ich konnte es nicht ermessen. Ohne daß ich bemerkt hatte, daß ich fortgewesen, war ich wieder bei mir, als der Arzt eintrat. Mein Vater führte mit meiner Mutter ein hastiges Gespräch. Er, der viel weniger fromm und katholisch war als meine Mutter, war noch nicht beim Geistlichen gewesen, er wollte zuerst den Bescheid und die Hilfeleistung des Arztes abwarten. Dieser hörte sich mein Stöhnen nicht lange an. Er legte mir seinen Zeigefinger, der nach Mandelseife roch, quer über meine Lippen, wie um mich zum Schweigen zu mahnen, jetzt holte er aus den Schößen seines speckigen Salonrockes ein mit violettem Samt gefüttertes Futteral mit einer kleinen Nickelspritze und einem Fläschchen mit Äther, dessen Geruch mich zu neuem furchtbarem Husten reizte, und aus einer anderen Tasche ein anderes Fläschchen, auf dem das Wort Morphium und ein Totenkopf mit zwei gekreuzten Schienbeinen sich befanden. Mich überkam es aber angesichts dieser Todesinsignien eher wie ein Trost. Mir war alles gleich, wenn es nur hinter mir lag. Ich fühlte mich in seiner Gegenwart leichter als vorhin, und wenn man in solcher Lage von Frohsein sprechen kann, war ich froh, daß er und nicht der geistliche Herr als erster mir zur Hilfe kam. Der Arzt hatte mir den Ärmel des Nachthemdes hochgestreift, die Haut mit Äther gereinigt, das Morphium aufgezogen und einen Strahl der Flüssigkeit aus der kleinen Nickelspritze emporsteigen lassen, dann stach er mich geschickt in den Arm und zog die Nadel eine Sekunde nachher wieder zurück. Jetzt setzte er sich zu mir, sah zum Fenster hinaus, mit angespannten Zügen, schweigend, übernächtigt. Er gähnte hinter seiner mageren feinen Hand.

Mich überkam ein sonderbares Gefühl der Milderung. Nicht daß die Schmerzen mit einem Schlag verschwunden wären. Im Gegenteil, sie dauerten weiter und sollten, wenn auch vermindert, noch sehr lange bleiben, aber über dem Schmerz lag wie ein Verband mit guter Salbe diese Beruhigung, dieser Schleier, diese Milde, dieses Schweigen, dieses Gähnen, das Hellerwerden im Zimmer. Meine Mutter trat ein, im Gesicht hochrote Flecken, in einem dunklen Kleid. Sie staunte sehr über die schnelle Verwandlung, die sie mir sofort ansah. Sie konnte nicht begreifen, daß der kleine, unscheinbare Arzt soviel vermocht hatte. Der Arzt zog die Uhr, hielt sie an sein Ohr, um zu sehen, ob sie noch ging, er zählte mir den Puls. Das Zimmer war nun sehr hell, war aber mir ganz fremd, ich sah alles klar, aber wie von weitem. Ich war hier und fuhr gleichzeitig über eine Brücke. Ich merkte, wie sie zusammen sprachen, verstand sie aber nicht mehr. Jemand wischte mir die Feuchtigkeit vom Mund. Das Tuch blieb weiß, also mußte es Winter sein.

 

Diese ›Wunderkur‹ ist mir unvergeßbar geworden, vielleicht hat sie mich bestimmt, den Beruf eines Arztes zu ergreifen. Die Brücken meines Vaters hatten mich kalt gelassen. Das Militärswesen, das mich früher sehr gelockt hatte, war mir verhaßt. Die Wunderkur leuchtete mir ein.

An der Person des Arztes, des braven Doktor Kaiser, lag es nicht, eher im Gegenteil. Meine Eltern ließen ihn zwar immer sofort kommen, wenn er notwendig war, aber sie nannten ihn ein notwendiges Übel. Manchmal waren sie in ihrer Geringschätzung sogar so weit gegangen, nach seinem Fortgehen die Fenster aufzumachen und den Raum zu lüften. Nicht etwa, weil der Arzt einen unangenehmen Geruch verbreitete, sondern weil er Jude war. Meiner Mutter war jeder Jude ›zuwider‹, obwohl sie nur wenige kannte und von keinem etwas wirklich Tadelnswertes wußte. Es war vielleicht ihre katholische Erziehung, denn sie ›mochte‹ die Lutheraner ebensowenig, die sie für ganz ›abgefeimt‹ hielt.

Es gab in unserer Stadt aber noch einen zweiten Doktor Kaiser, einen sehr mageren, hochgewachsenen, stolzen, reichen Mann, der sich hier ein großes, abgeschlossenes Nerven- und Irrensanatorium und außerdem in S., einem kleinen Ort an einem schönen langgestreckten See, wo wir ein Holzhäuschen mit kleinem Obstgarten besaßen, eine prachtvolle, aus Marmor gebaute Villa mit Spiegelscheiben und einer Terrasse aufs Wasser hinaus gebaut hatte. Man sah ihn in der Stadt fast nie zu Fuß, er fuhr meist in einem mit zwei Apfelschimmeln bespannten Wagen, mit einem seiner Kinder auf dem Rücksitz, neben sich aber eine schöne junge Frau. Später gehörte er zu den ersten Besitzern eines Automobils.

Während man unseren Hausarzt den Judenkaiser nannte, zog man vor dem anderen, dem Hofrat und Irrenarzt, zwar ehrerbietig den Hut, gab ihm aber spöttisch den Spitznamen Narrenkaiser.

In den kommenden Tagen, während derer ich noch oft fieberte und sehr abmagerte, konnte ich viel über die ›Übermacht‹ eines Arztes nachdenken. Wenn schon dem unscheinbaren dicklichen Judenkaiser eine solche Gewalt zustand, wie unermeßlich mochte dann erst die Macht des Narrenkaisers sein.

Es blieb nämlich nicht bei jener plötzlichen Zauberwirkung der Medizin aus der Totenkopfflasche. Wenn ich nachher noch so sehr von Schmerzen und Atemnot geplagt war, der Judenkaiser brauchte nichts zu tun, er brauchte nur mein Zimmer zu betreten – und ich atmete auf, im wahrsten Sinne des Wortes, und die Lungenstiche waren wie fortgeblasen.

Schmerzempfindlichkeit war stets mein wundester Punkt. Meine Schulkameraden hätten es nie geglaubt. Ich aber wußte es nur zu gut. Es gibt ein sehr naheliegendes Mittel, sich Schmerzen zu entziehen, zum Beispiel bei den Kämpfen der Jugend unter sich, die sehr grausam geführt werden und wo jede Träne, jedes Greinen als große Schande gilt. Dieses Mittel besteht in Feigheit. Ich war etwas feig, das war der Grund, weshalb ich mich, sooft es nur ging, von den Spielen ausgeschlossen habe. Spielen und sich bekriegen ist bei Knaben fast das gleiche. Meine Kameraden sahen nur, daß ich sehr groß war für mein Alter, daß ich harte Muskeln und wenig Fett und starke knochige Hände, ›Pratzen‹, hatte. Sie konnten sich nicht vorstellen, daß in einem so kraftvollen Körper eine so schmerzempfindliche Natur hauste. Und nicht allein meine eigenen Schmerzen, auch das, was anderen weh tat, was ich zum Unterschied von den Schmerzen Leiden nannte – mir war es nicht gegeben, es ruhig anzusehen, es ging mir nahe, die Tränen kamen mir ›grausam‹ hoch, und ich schämte mich.

Vielleicht wäre alles anders gewesen, hätte ich Geschwister gehabt. Wir würden uns gegenseitig abgehärtet haben und wären lustig gewesen. Meine Mutter, so zart sie war, sprach zwar oft, unter Husten lachend und unter Lachen hustend, davon, daß sie mir nicht ein Geschwisterchen, sondern mit einem Schlag deren zwei oder drei, Zwillinge oder Drillinge, ›bescheren‹ würde, mein Vater mochte es nicht hören und fand es ›unbescheiden‹, daß sie klüger sein wollte als der liebe Gott, der es zum Glück für ihre zarte Gesundheit bei einem einzigen Kind belassen hatte. Nun war wieder meine Mutter böse, errötete mit zirkelförmigen Flecken auf den Wangen und hieß den Vater schweigen, da sich solche Reden nicht für meine Ohren eigneten. Als ich nun so lange ans Bett genagelt war, brach eine Regung in mir durch, die mir neu war und die mir eine Art Genugtuung oder einen Ersatz für die verlorenen Knabenfreuden gewährte, nämlich der Wille, über die Großen zu herrschen, meinen Willen bei den Übermächtigen durchzusetzen. Ich begann beim Arzt. Er tat mir wohl. Solange er neben mir saß, hob sich meine Brust leichter, meine Schmerzen waren geschwunden. Er untersuchte mich oft und eingehend, denn das Fieber, das zwar nicht hoch war, aber nicht weichen wollte, machte ihn besorgt. Er fand aber nichts Bedrohliches, und nach fünf oder zehn Minuten wollte er wieder gehen. Es gibt keine List, die ich nicht anwandte, um ihm entgegenzuarbeiten und ihn immer noch eine Minute länger zurückzuhalten. Ich brachte, als er meine ungeschickten Manöver durchschaute, zuerst meine Mutter, dann meinen Vater dazu, den Arzt zu längerem Bleiben zu bewegen. Man verdoppelte das Honorar, brachte das Gespräch auf irgend etwas Interessantes, und manchmal gelang es ihnen wirklich, den Judenkaiser dazu zu bringen, seinen in allen Farben schillernden schwarzen Filzhut noch einmal auf den messingenen Fenstergriff zu hängen, die Rockschöße seines speckigen Gehrockes auseinanderzubreiten und sich zu mir an das Bett zu setzen. Es mag sein, daß er dann wichtige andere Patienten warten ließ. Möglicherweise verursachte mir auch dies eine Genugtuung.

Nachts schlief ich unruhig, oft schwitzte ich, und mein Vater, der mehr Vertrauen zum Arzt hatte als meine Mutter, die alles gern der Mutter Gottes überließ, die ihr immer bei ihrer ›schwachen Brust‹ geholfen hatte, drängte den Arzt zu energischeren Maßregeln.

Dies kam dem Judenkaiser sehr gelegen. Eines Tages brachte er allerhand Geräte in einem abgeschabten Handköfferchen mit. Er entnahm ihm eine Spritze, die aber bedeutend größer war und bedrohlicher aussah als jene, mit welcher er die Wunderkur getan hatte. »Bist du auch ein tapferer kleiner Kerl?« fragte er mich, mir wie damals den Finger auf den Mund legend. Ich ahnte nichts Gutes. Ich dachte an den tapferen kleinen Spartaner des Arztes in der Kaserne.

Übrigens ging von meinem Abenteuer eine ganz falsche Berichterstattung um. Ich hatte in der Tat den Pferden Brot geben wollen. Keineswegs hatte ich sie etwa durch Schläge mit dem dicken Lineal gereizt, wie der falsche Augenzeuge, jener Unteroffizier, es meinen Eltern berichtet hatte. Ich hatte es nicht aus Güte, nicht aus Mitleid mit den vollgefressenen, prallen, schwergliedrigen Pferden getan. Ich hatte nur meine Feigheit besiegen, meinen Mut auf die Probe stellen wollen, denn ich hatte, wie viele Stadtkinder, Angst vor Pferden – und besonders vor den Hufen und Zähnen dieser Tiere. Ich hatte die Probe bestanden, aber teuer bezahlt. Sollte es damit nicht genug gewesen sein?

Jetzt bereute ich, daß ich den Arzt so oft aufgehalten hatte, daß ich, der kleine, hilflose, bettlägerige Junge, ihn zu beherrschen versucht hatte. Aber was half es? Ich biß die Zähne zusammen. Ich hielt den Atem an. Dieses Atemanhalten ist für mich immer ein schmerzverhütendes oder schmerzlinderndes Mittel gewesen. Hätte der Arzt nur sofort mutig zugestochen! Er suchte aber lange die beste Einstichstelle, tastete vorsichtig hin und her, klopfte und horchte und kitzelte mich grausam. Es war dann höchste Zeit, daß er mit der dicken Hohlnadel mir zwischen die Rippen fuhr. Kein Schmerzenslaut kam mir über die Lippen. In der folgenden Nacht schlief ich nicht. Ich hielt mich für einen seltenen, für einen ungewöhnlichen Menschen, über den der Schmerz nichts vermag.

 

Ich habe vergessen zu berichten, daß mir der Judenkaiser vorgeschlagen hatte, mir einen kleinen Ätherrausch zu geben, wenn ich glaubte, den Eingriff nicht aushalten zu können, aber das unverständliche Wort Ätherrausch hatte mich mehr erschreckt als der Gedanke an Schmerzen. Ich hatte mich stark gemacht und war stark gewesen.

Mit diesem kleinen schmerzhaften Eingriff, den der Arzt am nächsten Tage als ›prächtig gelungene Rippenfellpunktion‹ bezeichnete, war mir sehr geholfen. Das Fieber sank mit einem Schlage wie fortgezaubert, zum Entzücken meiner Mutter, die dem Arzt als Extrahonorar an diesem Tage aus ihrem Wirtschaftsgelde ein goldenes Zwanzigmarkstück verehrte, das dieser schwitzend und errötend – es war an jenem Tage sehr heiß – einsteckte. Er kam nicht mehr so oft zu mir. Zwei Tage danach durfte ich zum erstenmal aufstehen, und bald kam ich auf die Straße und in die Schule und wurde sehr bewundert.

Ich war stolz auf meine Heilung. Ich sah zwar bei näherer Überlegung ein, die Punktion, die aus der Entfernung von etwas trüber, gelblichroter Flüssigkeit aus dem Brustraum bestanden hatte, wäre auch dann gelungen, wenn ich mich weniger tapfer gehalten hätte. Aber ich hatte mich gehalten. Ich hatte nicht gemuckst. Ich hatte also doppelten Mut bewiesen, zum ersten, als ich mich in die Gefahr begeben hatte, von einem Rudel wilder Pferde (so sah ich es jetzt) zerstampft zu werden, und dann, indem ich die Schmerzen, die ungewöhnlich groß waren, mit ungewöhnlicher Seelenruhe und Selbstbeherrschung auf mich nahm. Ich sagte mir immer wieder vor: Ich kann, wenn ich will. Ich strahlte in meinem Innern vor Freude und Stolz. In der Tat war jetzt auch mein Schülerehrgeiz erwacht. Ich, der bis dahin ein träger, bequemer Schüler gewesen war, stürzte mich über die Bücher, und ohne daß mich jemand mahnen mußte (mein Vater staunte sehr), holte ich das in diesen Monaten Versäumte bis zur letzten Lektion nach. Auch das ein Grund des Stolzes.

Der Arzt hatte mich liebgewonnen. Jetzt brauchte ich ihn aber nicht mehr. Er kam ab und zu, setzte sich zu mir an den Tisch und unterhielt sich mit mir. Ich erfuhr, daß er seine Frau verloren hatte und daß er mit seiner Tochter Viktoria lebe. Ich stellte mir dieses Geschöpf als ein ältliches vertrocknetes Mädchen vor. Eines Tages, kurz vor Beginn der Sommerferien, kam ich am Mädchenlyzeum vorbei. Vor dem Tore wartete der Judenkaiser, seine abgeschabte Instrumententasche unter dem Arm, statt in den alten Gehrock in ein etwas verwaschenes hellblaues Lüsterjackett gekleidet. Als die Schulglocke ausgeläutet hatte, eilte ein bildschönes, schlankes, honigblondes junges Mädchen in weißem, fußfreiem Strickereikleide auf ihn zu. Er nahm ihr ein Blatt aus der Hand und strahlte dabei vor Stolz und Freude. Es war seine Tochter, die an diesem Tage die Schlußprüfung im Lyzeum mit glänzenden Noten bestanden hatte.

Meiner Mutter hatte ich mich während meiner Krankheit Herz an Herz angeschlossen. Ich hatte sie immer geliebt. Jetzt wußte ich es mit klarer Überlegung. Ich hatte mich während der Krankheit sehr verändert, sie aber auch. Nicht, daß sie jetzt von Zärtlichkeiten und Koseworten übergeströmt wäre, aber sie tat etwas, was sie bis jetzt immer vermieden hatte: sie begann sich für mich zu schmücken. Sie kaufte das Schönste, was sie bekommen konnte, ihr Sinn stand auf einmal nach kostbarem Schmuck, und sie stellte sich manchmal, leise hüstelnd, vor das Schaufenster eines Juweliers, und ihre überaus glänzenden schwarzkirschfarbigen Augen wanderten von den ausgestellten Broschen und Armbändern zu einer zweireihigen Perlenkette und zurück. Ihr Arm, der sich in meinen schlang, als suche sie Schutz, begann leicht zu zittern, nur mit Widerstreben ging sie fort. Ich liebte sie nicht wie etwas Fremdes, wie eine zweite Person, sondern ich liebte sie, wie ich mich selbst liebte. Ich und sie gingen ohne Unterbrechung ineinander über. Ich sah sie und fühlte sie bei mir, selbst wenn ich allein war. Das machte mich aber nicht träumerisch und weich, im Gegenteil, es machte mich kühn, meiner selbst sicher. Der während meiner ›Leiden und Schmerzen‹ erwachte Trieb zum Herrschen war nach meiner Heilung nicht schwächer geworden, aber ich versuchte diesen Trieb nicht an ihr, so wie ich es manchmal (bisweilen mit Erfolg, bisweilen auch nicht) mit meinem Vater tat. Wir waren zu sehr eins, sie und ich.

Die Ferienzeit stand nahe bevor, mein Vater dachte natürlich daran, daß wir nach S. gehen würden. Mir wäre dies am angenehmsten gewesen, und auch der Arzt war dafür. Meine Mutter aber hatte andere Pläne. Sie hatte, während ich in Gefahr war, ein Gelübde getan, nämlich nach Altötting zu pilgern, und dieses Gelübde wollte sie erfüllen. Ich sollte sie begleiten. Es wurden alljährlich, meist im Herbst, nach der Ernte, große Prozessionen zu dem wundertätigen Muttergottesbild unternommen, wobei besonders Bauernfrauen, die schwarzseidenen Röcke hochgeschürzt, in pechschwarzen Strohhüten mit herabwallenden schmalen Bändern über den knochigen, sonnengebräunten Gesichtern, alt und jung, reich und arm nebeneinander, in Reih und Glied durch den Straßenstaub wateten, dem voranschreitenden Geistlichen seine Litaneien im Chor nachsingend und ihre Rosenkränze fromm abrollend. Unmittelbar hinter dem Geistlichen zog manchmal auch eine kleine Zahl von Stadtfrauen und ehrbar gekleideten, meist älteren Herren einher. Zu ihnen hätte sich meine Mutter gesellen können. Sie würde sich diese Anstrengung wohl zugetraut haben, aber nicht mir. In Wahrheit aber war sie jetzt schon viel schwächer und anfälliger als ich. Sie kam auf den Gedanken, einen Wagen zu mieten und jeden Tag nur eine gewisse Strecke zu Fuß zu pilgern. Wenn ich dann nicht mehr weiterkonnte, sollte die Kutsche uns weiterbefördern. Meinem Vater verschwieg sie diesen Plan. Wir besprachen uns heimlich, während er schon schlief.

Da es aber dann fast ununterbrochen geregnet hat, sind wir nur wenig zu Fuß gegangen. Trotzdem kam meine Mutter gänzlich erschöpft und zähneklappernd vor Fieber im Wallfahrtsorte an. Die meisten Gasthöfe waren besetzt, endlich fanden wir ein kleines Kämmerchen. Diesmal war ich es, der an ihrem Bette wachte. Ich konnte meinen Blick nicht von ihr abwenden. So schön war sie. Manchmal sah sie in ihrem Fieberglanz jünger und bezaubernder aus als die honigblonde Viktoria.

Ich betete nie für mich. Für sie tat ich es. Nach zwei Tagen Fieberfrost und -hitze stand sie plötzlich vergnügt auf, machte sich ohne Mühsal auf die letzte Partie des Wallfahrtsweges, einen steil ansteigenden Weg, an welchem die Leidensstationen des Heilandes in bunten Holzbildern angezeigt waren. Abends fasteten wir, am nächsten Tag empfingen wir die Sakramente, liefen dann aus Angst, den Zug zu verpassen, zum Bahnhof und fuhren nach S., wo uns der Vater, diesmal ganz unbescheiden lachend, bereits erwartete, Blumen in der Hand. Meine Mutter blieb aber etwas ernst. Es begann leise zu regnen, und das Dach unseres Häuschens, mit dicken Steinen oben belastet, glänzte.

 

Während der ersten Tage gab es fast ununterbrochen Regen. Ich schlief jetzt viel und aß für drei. Das Schwimmen war mir untersagt worden, ich litt also nicht so unter dem schlechten Wetter, als wenn ich ins Wasser gedurft hätte. Meine Mutter war still, sie sorgte sich um mich. Ich strahlte jetzt vor Gesundheit und Freude am Leben. Ich hätte Bäume ausreißen, in einem Rennen, ohne anzuhalten, um den ganzen See herumlaufen, mich von einer Bergwiese, den Kopf zwischen den Schultern, die Arme um die Knie, zu einem Knäuel zusammengerollt, herabkugeln lassen mögen. Meine Mutter hatte Geduld mit mir. Viel Geduld, ja.

Aber war es der Aufenthalt in dem kleinen Orte am Ende des Sees, den sie niemals sehr geliebt hat, war es die Langeweile, das Fehlen ihrer gewohnten Beschäftigung im Haus oder der Umstand, daß sie jetzt nicht mehr gar so viel für mich tun konnte, sie war nicht mehr die alte. In ihren glänzenden, neuen, glatten Kleidern saß sie mißmutig am Fenster, hustete und sah fröstelnd hinaus. Ich bin niemals sehr gesprächig gewesen. Jetzt, wo ich es versuchte, erzielte ich nichts. Meine Mutter strich mir mit zerstreutem Gesichtsausdruck zart über mein Haar und entschloß sich dann zu einem gedrückten Lächeln. Oft besah sie sich im Spiegel. Es kam mir beinahe vor, als hätte sie begonnen, sich Mühe zu geben, weniger zu lachen, weniger zu husten, weniger zu sprechen. Wenn ich sie in meiner kindlichen Art, sicherlich ohne das rechte Geschick dazu, aufheitern wollte, verzerrten sich sogar ihre sonst so sanften Züge. Oft schien es mir, als reize es sie unten in der Brust oder oben in der Kehle zum Husten, sie griff sich dann an den Mund, als wollte sie sich Stillesein gebieten.

Mein Vater machte trotz des ungünstigen Wetters kleine Bergtouren und kehrte abends in seinen von Nässe geradezu dampfenden Lodenkleidern, aber in bester Laune zurück, den Tirolerhut mit einer seltenen Blume geschmückt, wie sie dort in den Höhen zu finden ist. Meine Mutter nahm seine Küsse geduldig entgegen. Nachher aber sah ich, wie sie sich den Mund mit einem ihrer kleinen Batiststücher abtrocknete, wobei sie einen besonders starken Hustenreiz nur mit großer Anstrengung überwand. Ich dachte, sie wische sich die Lippen ab, weil der Mund, der Bart meines Vaters vom Regen so feucht gewesen War. Erst später verstand ich es. Übrigens wiederholte sich dies nicht mehr oft. Am nächsten Tage brach nach einem nebligen Morgen die Sonne durch, bald senkten sich die Nebel, wie immer, wenn sich das Wetter bessert, die See schlug kräftige blaugraue Wellen, hier und dort silbrig aufblitzend, der Wind zog herb und stark, und nachmittags war es bereits so trocken, daß wir den Kaffee im Freien trinken konnten unter einem der verwilderten Apfelbäume, die schon voller winziger, steinharter, giftgrüner Früchte steckten, die niemals reif und süß werden sollten; das heißt, reif wurden sie auf ihre Art, genießbar aber nie, und selbst die Hausfrauenkünste meiner Mutter, die aus ihnen unter Zugabe von Unmassen Zucker eine Art Mus bereiten wollte, sind daran gescheitert. Ich blieb diesen schönen Tag bei ihr, obwohl es mich natürlich sehr lockte, in den Ort, an den See, in den Wald oder zum Moor zu laufen. Es war eigentlich einerlei, wohin ich rannte. Es pochte mir in allen Adern vor Lebensfreude und Übermut. Ich war monatelang ans Bett gefesselt gewesen, jetzt war ich ganz gesund, bloß eine dicke, aber schmerzlose harte Anschwellung auf der rechten Seite des Rückens zeigte die Stelle an, wo mich das Pferd getreten hatte. Auch den nächsten Tag verbrachte ich bei meiner Mutter, von ihrer Blässe und Müdigkeit beunruhigt. Wir spannten gemeinsam eine alte, schon etwas löchrige Hängematte an knarrenden Hanfseilen zwischen einem der besagten Apfelbäume und einem uralten Birnbaum aus, der überhaupt nichts mehr trug.

Wir gaben uns Mühe, die Mahnungen meines Vaters zu befolgen und die Rinden durch die Seile nicht zu schädigen. Meine Mutter bettete sich, so gut sie konnte. Da aber die eine Seite der Hängematte etwas herabglitt und ihr Kopf recht tief lag, holte ich, während sie in unruhigem Schlummer lag, aus ihrem Schlafzimmer ein Kissen. Als ich die Bettdecke abgehoben und die Kissen aufgenommen hatte, fiel mir ein zerknäultes Batisttüchelchen in die Hände. Es zeigte rostrote Blutspuren. Ich hatte sofort erfaßt, was es war, und das Zermalmende kam wieder über mich.

Ich wollte meiner Mutter nicht zeigen, daß ich wußte, warum sie so verändert war. Ich machte Ordnung in ihren schneeweißen glatten Kissen und Decken, so gut, daß sie am Abend nicht merkte, daß jemand sich mit dem Bett zu schaffen gemacht hatte. Ich kehrte ohne Kissen zu ihr zurück. Sie war bereits wieder wach und schien mir ungeduldig. Ich versuchte nun nicht mehr, etwas aus ihr herauszulocken, was sie, doch sicher nur aus Liebe zu mir, so beharrlich mir verschwieg. Sie hatte Angst um ihr Leben. Sie war immer schon schwach auf der Lunge gewesen, und die Aufregung um mich hatte ihr geschadet. Ich ging sogar weiter. Als sie mich bedrängte, ich solle die schöne Zeit ausnützen und schwimmen gehen (sie hatte im Augenblick vergessen, daß es mir verboten war), gab ich ihr nach und tat, als könne ich mich vor Freude nicht lassen. Das war es, was sie gewollt hatte. Sie wollte allein sein, vielleicht hielt sie vollständige Ruhe und frommes Beten für die beste Hilfe.

Mein Vater machte sich damals den Spaß, rudern zu lernen. Natürlich konnte er von jeher einen gewöhnlichen Kahn mit oder ohne Rollsitz rudern. Was ihn reizte, war, einen der plumpen, viele Meter langen flachen Holzkähne der Fischer zu rudern, was vom Heck aus mit einem flachen Holzscheit geschieht, das man in eine drehende Bewegung versetzt, wobei sich der Ruderknecht mit dem ganzen Gewicht seines Körpers hineinlegen muß. Anfangs kam mein Vater, sehr zum gutmütigen Spott der Fischer und der jungen Mädchen am Ufer, nicht von der Stelle, ja, der Kahn, den man dort die ›Plätte‹ nennt, kam zurück. Da er aber sehr kräftig und geschickt war, erfaßte er bald die Kunst und brachte eines Abends meine Mutter dazu (es war ihr Namenstag), sich in die mit einem an Drähten hängenden Lampion geschmückte Fischerplätte zu setzen und sich, mit mir zu ihren Füßen, bis nach der kleinen Stadt T. rudern zu lassen. Ich hatte Angst, die feuchte Luft des Sees könne ihr schaden, aber merkwürdigerweise schien sie sich schon besser zu fühlen, sie hüstelte fast gar nicht mehr. Der ernste, verschlossene Ausdruck ihres bisher so kindlichen Gesichtes war nicht geschwunden, er paßte nicht gut zu dem sehr schönen neuen Seidenkleide und der schmalen goldenen Brosche, die meine Mutter zur Feier des Tages trug. Mein Vater sang auf der Heimfahrt, ich und sie blieben still. Bald nachher tat sie die neuen Kleider in die Truhe und trug sie nicht mehr.

Am nächsten Tage lockte es mich in das Moor. Das Ende des Sees bestand aus immer flacher werdenden Kieselgründen, die mit Schilf bewachsen waren und um die das dicke Dampfschiff in weitem Bogen herumfuhr. Landeinwärts, jenseits der um den See führenden breiten Fahrstraße, begann eine ganz andere Landschaft, nicht festes Land, aber auch nicht Wasser, eines ging ins andere über. Einige kleine fischreiche, aber grundlose, gefährliche Seen, die Osterseen genannt, glänzten in fahlem, mattem Grün. Es führten schmale Fußwege durch das Gelände, in dem sich weit und breit keine Hütte befand. Erst am Rande, dort, wo es wieder bergan ging, standen ein paar elende Baracken der Torfstecher. Alles war hier anders als am Seeufer, die Pflanzen üppiger, die Vögel schreckhafter, mit bunterem Gefieder und von unbekannten Arten, die Schmetterlinge größer, aber, wie mir schien, weniger scheu. Auch die Luft zitterte hier in der Sommerhitze anders als über den Wiesen, den Feldern, dem freien Wasser. Ich versuchte, einen Falter mit saphirfarbenen Flügeln, der sehr träge schien, zu fangen. Ich zog ihm nach, oft über weiche Stellen oder kleine Rinnsale springend. Eine alte Holzstange mit einem vermodernden Heubündel zeigte hier und da, eigentlich selten genug, Gefahr an. Mich lockte der unter meinen Füßen federnde Grund. Ich bekam endlich mit Geduld und List den Schmetterling unter meinen Hut. Dann aber dachte ich daran, daß ich ihn rauh anpacken müßte, wenn ich ihn behalten wollte, und fand ihn zu schade. Er flatterte unbeirrt davon, die edelsteinfarbenen Flügel lautlos entfaltend. Als ich zum Weg zurückwollte, war plötzlich rings um mich alles Moor. Vom Ort her hörte man in der großen Einsamkeit und Stille die mir wohlbekannten Töne der Turmuhr sechs Uhr schlagen. Es war also noch früh. Es wurde wieder heller. Was ich für die Abenddämmerung gehalten hatte, war nur eine Wolke gewesen, die sich vor die Sonne gestellt hatte. Ich versuchte noch einmal, aus dem Moorgrunde herauszukommen. Hätte ich nur gewußt, wie ich hergekommen war. Ich war gesprungen, den Hut über den Falter werfend. Aber die Spuren meiner genagelten Schuhe waren inzwischen von dem gurgelnden Grund aus wieder gänzlich ausgeglichen, und wo ich es von neuem versuchte, sank ich ein. Ich hörte Stimmen, Lachen und Jodeln. Ich konnte aber niemanden sehen. Überall standen Gebüsche, Weiden und Erlen, hohes Schilf in der Blüte, Ginster und Gras. Moor und Land durcheinander, von kleinen Wegen durchzogen. Wildvögel flatterten auf, grüne und blaugoldene Flecke am Halsgefieder und an den Flügeln. Frösche quakten, und Grillen sangen aus der Nähe im Chor. Ein Hund bellte, andere Hunde stimmten ein. Ich rief um Hilfe, schämte mich aber, laut zu schreien. Ich zog die Schuhe aus, nahm die Schnüre derselben in die Hand und versuchte, ob ich mit bloßen Füßen über die mit trügerischem Grün verdeckten Stellen kommen könnte. Ich atmete tief auf, überall roch es herb nach dem Moor, nach Torf und nach heißem Gras. Aber ich machte den Fehler, den, wie ich nachher erfuhr, die meisten in ähnlicher Lage machen. Ich war, nachdem ich anfangs zu tollkühn gewesen war, nun zu vorsichtig, ich stützte mich auf ein Bein, statt mit beiden fortzuspringen. Außerdem bereitete mir die Nacktheit der Füße ein häßliches, kitzelndes Gefühl. Wenn ich dann mit kaltem Schrecken merkte, daß der eine Fuß unter meiner Körperlast langsam, aber sicher, Zentimeter für Zentimeter in dem glucksenden Boden versank, versuchte ich natürlich, mich auf den anderen zu stellen und den ersten herauszustemmen. Dies gelang aber nur in dem Maße, als der zweite tiefer in den teigartigen gurgelnden Ungrund versank. So arbeitet sich der Mensch, der es nicht versteht, ins Moor immer tiefer hinein. Das Lachen und Bellen war wieder schwächer geworden. Die Menschen, deren Lachen ich gehört hatte, konnten doch nicht sehr weit sein? Aber vielleicht doch, da hier die Luft den Schall sehr weit trägt. So hörte ich die Kühe brüllen, die mindestens eine halbe Stunde von hier am Rande des Waldes in einer Wiese weideten. Ich gab, mich sehr beherrschend, die Versuche auf, aus eigener Kraft herauszukommen. Ich setzte mich hin, beruhigte mich, bis die Stiche in der kaum vernarbten Bruchstelle der Rippen nachließen. Ich holte die Strümpfe aus der Tasche meiner Joppe und zog sie mir auf die noch schwarzen, klebrigen Beine. Plötzlich tauchten, während ich damit beschäftigt war, hinter den Gebüschen ein paar Menschen und eine Koppel Hunde auf. Es war der Narrenkaiser mit seinen drei Jungen. Er und sein ältester Sohn hatten Gewehre auf der Schulter, aber nur er hatte Wild, eine bunte Ente, glaube ich, in der Jagdtasche. Der grün und blaugolden gesprenkelte Hals und der Kopf mit dem gelben Schnabel hingen heraus. Aus dem Schnabel sickerte etwas Blut. Sie schritten alle auf festem Boden ruhig einher. Ich sprang auf, ihnen nach, und war auf festem, gutem, hartem Boden wie sie, die gar nicht ahnten, was dieser Sprung für mich bedeutete.

 

Der kleine Fußweg führte zwischen Gebüschen keine fünf Meter an meiner Insel im Moor vorbei. Ich hätte die Richtung längst an der hier stehenden Warnungsstange erkennen können. Aber ich hatte wieder einmal die Gefahr aufgesucht und hatte mich dann verloren, als sei ich blind. Beschämt trottete ich hinter dem Narrenkaiser und seinen Jungen nach dem Ort zurück. Der zweitälteste Sohn, ein ganz hübscher, aber etwas schüchterner Junge, schien an mir Gefallen gefunden zu haben. Über beide mit zartem Flaum bedeckte Wangen errötend und in einem vertraulichen Lächeln seine schönen Zähne zeigend, sprach er mich an, er kenne mich schon seit langem, denn seine Familie käme wie die meine alljährlich her. Er stotterte im Anfang, bald beruhigte er sich, wir blieben hinter seinem Vater und seinen Geschwistern zurück, ließen sie zusammen mit den lebhaft kläffenden Hunden den Weg in den Wald einschlagen, während wir zu unserer Gartenpforte gingen. Wenn man sie öffnete, erklang immer eine alte, rostige, heisere Schelle. Meine Mutter kam unfreundlich vom Hause auf uns zu, mit finsterem Gesicht musterte sie meinen Gast. Ich lud ihn ein, sich an den Tisch zu setzen, wo Teller mit Obst standen, und sich nachher in die Hängematte zu legen. Ich wollte ihm etwas anbieten, den Gastgeber spielen. Aber der Blick meiner Mutter wurde noch kälter, er merkte es, und, ein Stück eines großen, aber sauren Apfels noch im Munde, nahm er mit einer ungeschickten, eckigen Verbeugung, die meine Mutter mit einem ebenso eckigen Kopfnicken eisig beantwortete, Abschied von uns. Auch ich war so verlegen, daß ich vergaß, ihn zu fragen, ob ich ihn wiedersehen könne. Aber am nächsten Tag, als ich meiner Mutter aus Andersens Märchen vorlesen wollte, sah ich ihn, mit einem der Hunde seines Vaters an der Leine, an unserem Hause vorbeistreichen. Meine Mutter nahm mir die Unterbrechung im Lesen übel. Sie warf mir meinen Hut, der auf einem Sessel lag, zu, stand auf und stieß mich förmlich aus dem Garten heraus, ich solle keine Minute verlieren, solle ausbleiben, solange ich wolle, und mich verlustieren wo immer. Ich zögerte, aber es half nichts.

Und gerade an diesem Morgen hatte ich doch die feste Absicht gehabt, sie zu erfreuen und zu zerstreuen, da mir der gestrige Abend in trüber Erinnerung geblieben war. Nicht etwa wegen des Helmut Kaiser, meine Mutter hatte ja immer gewünscht, ich solle mit Gleichaltrigen verkehren. Sondern wegen etwas anderem. Nichtsahnend hatte ich mich abends ausgekleidet und dabei an meinen Füßen die Spuren der klebrigen Moorerde wahrgenommen. Ich hatte, auf den Zehenspitzen gehend, um meine am Tische über ihrer Handarbeit eingeschlummerte Mutter nicht zu wecken, aus der Küche einen hölzernen Zuber geholt, ihn aus dem Ziehbrunnen hinter dem Haus gefüllt und hatte ihn auf einen Stuhl gestellt, um mir die Füße zu waschen. Ich war fast damit fertig, als ich merkte, wie die Blicke meiner Mutter mit stechendem Ausdruck auf mich gerichtet waren. Hätte sie doch nur gefragt! Hätte sie mich gescholten! Hätte sie mir, was ja früher ab und zu geschehen war, lachend einen klatschenden Schlag auf die Wangen gegeben. Er hätte weniger geschmerzt als dieser stumme Blick, dessen Bedeutung ich wohl verstand. Er sollte sagen: Du bist also wieder! Ohne daran zu denken, wie ich mich beunruhige, mußtest du ins verbotene Moor gehen. Du bist eingesunken, und Gott weiß, wer dich herausgezerrt hat, damit du nicht zugrunde gehst wie so mancher andere zuvor. Du hast nicht genug gehabt von deinem blöden Abenteuer mit dem Pferd, das mich und deinen Vater soviel Sorge und ein Stück Gesundheit gekostet hat. Sie sagte nichts. Sie hustete, wie ich sie nicht hatte husten hören seit dem ersten Abend nach der Ankunft in Altötting, und preßte ihr Taschentuch auf den blassen, jetzt so strengen Mund. Ich lief mit bloßen Füßen über den nackten Estrich zu ihr hin, ich wollte ihre Hand küssen oder meine Stirn an ihren Hals legen wie damals, als mir das Blut in höchster Gefahr aus der Lunge gekommen war. Sie rührte sich nicht von der Stelle. Nichts hinderte mich. Aber ich ging ungeküßt und unangeschmiegt zurück. Ich trug den Zuber mit dem Schmutzwasser so ungeschickt aus dem Zimmer, daß er überschwappte. Nachts lag ich lange wach, mein Vater kam spät heim, er hatte sich als ortsangesessener Grundstücksbesitzer von einem kleinen Tanzvergnügen der Bürger von S. nicht ausschließen können. Er sang sogar leise vor sich hin, was er doch so selten tat.

Ich dachte im stillen, vielleicht finde ich wenigstens in dem Zweitältesten des Doktor Kaiser einen Kameraden. Dessen Schüchternheit rührte daher, daß er sowohl von seinem ›großmächtigen‹ Vater als auch von seinen zwei Brüdern hart hergenommen wurde. Der älteste hatte eben das Erstgeburtsrecht und die größere Körperstärke für sich, der jüngste war der Benjamin, das verzärtelte Lieblingskind. Bloß an ihm war nichts Besonderes.

Er hatte sich aber damit abgefunden. Sein ›Herr Vater‹ hatte bei Strafen keine leichte Hand. Ich versuchte, ihm mein Geheimnis der Schmerzlinderung durch Atemanhalten beizubringen. Er hatte eine andere Methode, er zählte von hundert nach rückwärts.

Er berichtete mir sehr Aufregendes und für einen Jungen meines Alters Unbegreifliches von den Kranken seines Vaters. Das Grauenhafteste aber war, daß er von Hunden erzählte, es seien Hunde auf Urlaub, die der Vater aus dem ›klinischen Zwinger‹ herausgeholt habe. Es waren herrenlose Hunde, vom Schinder in den Straßen zusammengefangen, von den Besitzern nicht vermißt, die zu schmerzhaften Versuchen, von deren Ziel und Zweck wir uns natürlich nichts vorstellen konnten, bestimmt waren. Unter diesen vielen Dutzend Hunden waren immer ein paar Jagdhunde, diese holte der Herr Vater bei Beginn der Ferien heraus, gab ihnen ein paar schöne Wochen Urlaub und überließ sie dann ihrem schauerlichen Schicksal. Ich fand es nämlich schauerlich, dem phlegmatischen Helmut schien es nichts Besonderes. Dabei war er eines warmen Gefühls fähig, sprach viel von seiner Mutter und seinen zwei Schwestern, vergoß sogar etwas wie eine Träne beim Abschied von mir und versprach zu schreiben. Er und seine Geschwister wurden nämlich nicht beim Vater erzogen, sondern bei den Müttern. Jedes Kind stammte von einer anderen Frau, die in drei verschieden Städten wohnten. Der Vater hielt jetzt bei der vierten.

Ende August wurde das Wetter wieder sehr schlecht. Anfang September begann es gar zu schneien. Meine Mutter machte meinem Vater, als sei er an dem Mißwetter schuld, bittere Vorwürfe, mit absichtlich leiser Stimme sprechend, wie um ihre Schwäche zu betonen, was dieser damit beantwortete, daß er ihr im Scherz vorschlug, sie solle die Koffer packen. Er war erstaunt, als am nächsten Morgen die Koffer wirklich gepackt waren und der Lohndiener mit seinem zeisiggrünen Handwägelchen vor dem Garteneingang stand, um sie zur Bahn zu bringen. Er war während der ganzen Zeit sehr fester und froher Stimmung gewesen, mir gegenüber kameradschaftlich. Er führte lange Gespräche mit mir über den Judenkaiser und den Narrenkaiser und vergaß sogar die schöne Judenprinzessin, die junge Viktoria, nicht.

Meine Mutter hatte sich etwas erholt. Sie war aber immer noch sehr ernst und lachte fast nie. Einmal hatte ich in der gebrauchten Wäsche gestöbert, so widerlich mir dies war. Ich wollte sehen, ob noch blutbenetzte Tüchelchen darunter waren. Das böse Gewissen trieb mich. Als ich sah, daß nichts Derartiges da war, wurde mir wieder wohler.

 

In der nächsten Zeit, ja eigentlich bis zu meinem endgültigen Fortgehen von zu Hause, nach dem Prozeß meines Vaters, war mein Leben geteilt: auf der einen Seite meine Schule und das Lernen, das Raufen und Sich-wieder-Vertragen, der Fußball und Handball und was sonst einen gesunden Jungen meines Alters inmitten seiner Kameraden beschäftigt, bis zum Lesen von Abenteuerromanen und dem Sammeln von Briefmarken, worauf mich Helmut gebracht hatte – und auf der anderen Seite die Sorge um meine Mutter. Warum verstand sie es nicht? Ich konnte doch nicht Tag und Nacht um sie herum sein? Einstens wäre ich ein Stück von ihr gewesen, sagte sie einmal. Aber sie wollte es mir nicht erklären, wie, und ich forschte nicht weiter, wenigstens nicht jetzt und nicht bei ihr. – (Ich erfuhr es später von meinen Kameraden auf grobe Art.)

Ich wußte nicht, ob ich noch jetzt, wo sich ihre Gesundheit nicht schnell genug einstellen mochte, ein Stück von ihr war, aber sie blieb eines von mir. Ich habe eine schöne Kindheit gehabt, ich sage es auch in Anbetracht dieser Zeit. Ich bin immer kerngesund gewesen, die schwere Verletzung durch das undankbare Pferd war ohne Folgen geheilt. Aber mit einer sonderbaren Bitterkeit machte sie in einem der folgenden Winter eine schwer zu verstehende Bemerkung. Sie verglich nämlich meine schnelle Heilung mit ihrer so langsamen, zögernden und leider auch besonders schmerzhaften. Dabei sei ich an meinem Unglück dazumal mit schuld gewesen, ich hätte mich ›expreß‹ in Gefahr begeben, sie aber nicht! Sie sei fromm, frömmer als mein Vater und ich. Und doch habe sie der Himmel so bitter geprüft, die Wallfahrt nach Altötting habe nichts gefruchtet! (Hatte sie sie meinetwegen getan oder ihretwegen?) Und sie könne sie in ihrem jetzigen Zustand nicht wiederholen, sie würde selbst in einem geschlossenen Wagen nicht bis dorthin kommen!

Was sollte ich tun? Sollte ich ihr ins Gedächtnis zurückrufen, was ich selbst mit allem Bemühen vergessen wollte, wie sehr auch ich gelitten hatte? Sollte ich versuchen, sie dadurch zu trösten, daß ich log und sagte, ich habe noch ab und zu Stiche, wo ich keine mehr hatte? Ich konnte nicht lügen. Ich habe es nie gut erlernt.

Ich konnte nichts tun als ihre Hände streicheln. Aber sie waren feucht, und sie trocknete mir die meinen ab, als hätte ich sie mir an den ihren beschmutzt. Ich verstand es nicht – oder ich verstand es nur zu gut. Ich ahnte jeden ihrer Gedanken, sie brauchte nichts zu sagen. Aber das erleichterte uns unser Leben nicht.

Sie ließ mir scheinbar alle Freiheit. Aber sie sah es, wie schon auf dem Lande, nicht gerne, wenn ich von ihr Gebrauch machte. Nun hatte ich bei aller Liebe oder gerade wegen dieser Liebe in meinen Wachstumsjahren ein ungeheures Bedürfnis nach Freisein, Bewegung und nach Alleinsein. Es trieb mich unwiderstehlich, in der freien Zeit umherzuwandern, die Stadt, die Umgebung zu durchstreifen, allein. Bei diesen Spaziergängen vergaß ich meine Mutter nicht, die inzwischen, eine kleine Handarbeit, die niemals fertig wurde, unter den Händen, in dem einzigen wirklich sonnigen Zimmer unserer Wohnung auf dem Sofa lag, auf einem kleinen Tischchen neben sich das Thermometer, mit dem sie sich alle drei Stunden messen sollte. Im Gegenteil, während dieser Streifzüge war ich mit meiner Mutter zusammen, aber in einer anderen Weise, in einer viel innigeren und süßeren Art, als wenn es ihr gelungen war, mich ein oder das andere Mal festzuhalten. Wenn ich in den Straßen, auf den Feldern, am Flusse oder im Walde allein war mit meinen Gedanken an sie, liebte ich sie am tiefsten, und dann war ich auch am glücklichsten. Ich versuchte, es ihr einmal zu erklären. Sie ließ mich meinen Spruch dreimal wiederholen, dann schüttelte sie den Kopf bei zusammengepreßten Lippen, die dadurch noch mehr Blässe und Runzeln bekamen. Sie wollte nicht hören, es war vergebens.

Dabei verstand ich wohl, sie wehrte sich nicht so gegen mich wie gegen ihre Krankheit. Der Arzt war jetzt wieder oft bei uns. Er riet, meine Mutter solle in ein Sanatorium, er garantiere für eine Heilung in zwei bis drei Monaten, denn ihr Fall sei ›gutartig‹, und sie sei über das kritische Alter, nämlich das bis zu 30 Jahren, hinaus. Sie lächelte aber eher spöttisch als vertrauensvoll. Nachher bemerkte sie zu mir, der Arzt als Jude habe immer solche niedrigen Geschäftsausdrücke wie ›Garantie‹ im Munde, und er bilde sich soviel auf die Jugend seiner Tochter Viktoria ein, so daß er ihr, meiner Mutter nämlich, ihr Alter nachrechne, worauf ein anderer, ein christlicher Arzt, nicht gekommen wäre. Und so lieb ich den Arzt und auch seine Tochter hatte, die manchmal, eine Wachsleinwandrolle mit Schachmuster unter dem Arm und eine Schachtel voll klappernder Schachfiguren in ihrem Handbeutel, zu uns kam, mit mir oder meinem Vater Schach zu spielen, jetzt überredete mich meine Mutter, und ich wollte ihm nicht wohl. Seine Tochter freilich – ich war sehr jung und sie in ihrer ersten Blüte! Es ging ein Duft von ihr aus wie von einer Rose, die in der Sonne steht und die nicht recht weiß, soll sie sich schon öffnen oder nicht. An ihr habe ich zuerst die Wölbung der Brust, die geschmeidige Fülle der schlanken Hüfte wahrgenommen. Ich sah sie von der Seite an, benommen, wie berauscht. Sie ahnte nichts und zog gleichmütig ihre Schachfiguren auf der spiegelnden Wachsleinwand; sie wollte immer gewinnen. Wir waren schwache Spieler, und sie hätte uns auch einmal ein Schach und Matt gönnen können.

Es kam die Zeit, wo ich mich entscheiden mußte, ob ich die Real- oder die Gymnasialabteilung unserer Schule besuchen wollte. Ich war mittelmäßig. Wozu es leugnen? Die Professoren rieten mir also nicht zu dem viel schwereren und länger dauernden Besuch des Gymnasiums, wo das fast unerlernbare Griechisch studiert werden mußte, das schon durch seine ganz absonderlichen Lettern seine Schwierigkeit bekundete. Aber das Gymnasium war die Vorbedingung für die Universität, für den Beruf des Arztes. Ich mußte also meinen Vater bitten, er möchte es mir erlauben. Er hatte sich in den letzten Jahren etwas verändert. Unser Haushalt kostete mehr Geld, er mußte mehr arbeiten, mußte sogar Arbeit mit nach Hause nehmen. Er mußte sich an seine Pläne und Grundrisse machen. Ich sah gespannt zu, wie er die kleine viereckige Flasche mit der wohlriechenden schwarzen Tusche öffnete und das Reißzeug aus dem Lederetui nahm. Meine Mutter betrachtete uns beide von der Chaiselongue aus. Sie hatte uns in der letzten Zeit oft vorgeworfen, daß sie uns das große Opfer gebracht habe, nicht ins Sanatorium zu gehen, weil sie uns nicht hatte allein hausen lassen wollen. Ihr war vielleicht eine Art Eifersucht nicht fremd, und sie sah den Besuch Viktorias sehr ungern. Sie hatte eines Tages ein hübsches, fleißiges und anstelliges Dienstmädchen, Vroni aus dem Allgäu, ohne Angabe von Gründen entlassen und war meinem Vater während einiger Wochen böse gewesen, als er sich nach dem Anlaß dieser Maßnahme erkundigen wollte. Ihre Krankheit war es wohl, die sie so mißtrauisch machte.

Mein Vater hörte sich meine Bitte, ins Gymnasium gehen zu dürfen, zerstreut an, die Reißfeder mit der Tusche füllend und mit einem Stück Löschpapier außen über das glänzende feine Gerät fahrend, um es von der überschüssigen Tusche zu reinigen. Er sagte aber nicht nein. Besonders lieb war es ihm nicht. Vielleicht glaubte er, ich wolle etwas Besseres werden als er. »Ich als bescheidener Königlich Bayrischer Oberingenieur bin auch ohne Griechisch selig geworden«, sagte er, »aber tu, was du willst.«

 

Ich war über diese Antwort sehr froh und kam schnell zu ihm. Wahrscheinlich wollte ich ihm um den Hals fallen. Gerade weil er mir in der letzten Zeit etwas fremd geworden war, wollte ich ihm für seine Zustimmung besonders danken. Er ließ sich zwar meine Umarmung gefallen, breitete jedoch dabei beide Hände flach über seinen Plan aus. Aber es war schon zu spät. Ich hatte gesehen, daß der Plan, der zum Teil nur mit Bleistift ausgeführt war, kein Brückenprojekt darstellte – sondern ein mehrstöckiges Haus in Aufriß und Grundriß. Meine Mutter bemerkte meine Verwirrung, die ich in der Überraschung nicht schnell genug verbergen konnte. Sie fragte mich einige Tage nachher nach der Ursache. Ich sagte, ich wisse nicht, wovon sie spreche. Ich habe niemals gut lügen können. Hätte ich doch lieber geschwiegen! Mein törichtes Wort machte sie noch mißtrauischer. Hätte ich aber den Mut gehabt, die Wahrheit zu sagen, hätte ich vielleicht viel Unheil verhüten können.

Aber ich wollte doch nur das Beste. Aufregungen waren für die Arme, die jetzt schnell von Kräften kam, ›reines Gift, Ratzengift‹, wie sich der Judenkaiser banal ausdrückte. ›Weinen verboten‹, kommandierte er ihr, einen burschikos soldatischen Ton annehmend, als sie die Entscheidung, sie müsse sich einer kleinen Punktion des Brustfells unterziehen, mit Tränen aufnahm. Wie schnitten sie mir ins Herz! Ich kann nicht beschreiben, wie es mich zermalmte. Und ich mußte eine gelangweilte Miene aufsetzen und mich bemühen, ihr mein Gefühl nicht zu zeigen. Hätte doch meine arme Mutter (zum zweitenmal nenne ich sie arm in wenigen Zeilen) an einer anderen Krankheit gelitten! Aber gerade Schmerzen in der Lunge, am Rippenfell kannte ich aus eigener furchtbarer Erfahrung nur zu gut.

An dem Tage, an dem der Eingriff vorgenommen werden sollte, wollte ich früh am Nachmittag das Haus verlassen. Der Arzt hatte ihr vorgeschlagen, sie solle in einem Wagen zu ihm kommen. Er wollte den Eingriff schmerzlos, im Rausch, ausführen und sie dann, in Decken gehüllt, wieder heimbringen. »Nein«, sagte sie, »mich bringen tausend Pferde nicht von der Stelle.« – »Mit zweien wäre es genug«, sagte er, sarkastisch am falschen Ort. Sie klammerte sich an ihr Haus, an mich. Was sollte ich tun? Ich blieb. Was ich gefürchtet hatte, trat ein, meine Anwesenheit erleichterte meiner Mutter in nichts die Pein. Ich hörte ihr Wimmern aus dem Nebenzimmer. Sie rief nach mir, und ich durfte nicht kommen. Und der Arzt, bei aller seiner Tüchtigkeit und Rechtlichkeit ein Unmensch – in diesem Augenblick zumindest schien es mir so –, sagte der Armen, sie solle sich an mir ein Beispiel nehmen, der das gleiche ›Operatiönchen‹ mit stoischer Seelenruhe aufgenommen habe, und sie solle sich nicht meschugge machen! Meine Mutter, kurze keuchende Atemzüge tuend, antwortete zuerst nichts. Nach ein paar Minuten fragte der Arzt, ob sie sich nicht schon etwas leichter fühle. Er hatte, wie ich später erfuhr, einen kleinen eitrigen Erguß aus der Brusthöhle entfernt, und es war ein segensvoller Eingriff, genau wie der an mir vor Jahr und Tag. Aber meine Mutter war nicht dankbar oder wollte es nicht zeigen. Mit etwas Bosheit fragte sie den Arzt zurück, ob er erstens immer hebräische Ausdrücke wie ›meschugge‹ anwenden müsse, und zweitens, ob er nicht fürchte, mich größenwahnsinnig zu machen, wenn er mich, einen ›Rotzjungen‹, ihr, der erwachsenen, zum Sterben kranken Frau, als Beispiel vorhalte.

Darauf blieb er, endlich taktvoll, die Antwort schuldig – und sie ihm das Honorar. Ich sah, als ich ins Zimmer hineinkam, daß er darauf wartete, denn seine Einkünfte mochten nicht sehr glänzend sein, da er eine Menge mittelloser Menschen umsonst behandelte, und ich entsann mich seiner Freude beim Anblick des Zwanzigmarkstücks, das ihm seinerzeit meine Mutter für mich gegeben hatte. Aber zu tun war nichts. Er empfahl sich, sie legte sich mit einem langgezogenen weiten Atemzug, der ihr offenbar sehr wohl tat, auf der Chaiselongue zurecht. Ich blieb bei ihr, ich hielt ihre feinen Hände fest und sprach nichts. Auch mein Atem ging jetzt leichter, besonders als ich eine Stunde später sah, daß die Temperatur beträchtlich gesunken war, was man vorher auch durch Umschläge nicht hatte bewirken können. Gegen fieberstillende Medikamente war aber meine Mutter ebenso wie der Arzt gewesen.

Mein Vater kam diesmal etwas später wie sonst heim, er strahlte über das ganze Gesicht, schon bevor er das günstige Ergebnis des ›Operatiönchens‹ erfahren hatte. Aus seiner Brusttasche holte er ein kleines Etui in rotem Saffianleder und reichte es meiner Mutter hin. Es war eine kleine Brosche mit einem ziemlich kostbaren Stein, einem Smaragd. Ich weiß nicht, wie meine Mutter daraufkam, diese Gabe sei ein Zeichen bösen Gewissens. Sie begann trotz des Verbots ›Weinen verboten‹ zu weinen. Wir trösteten sie. Das Sinken des Fiebers war das beste Zeichen, und sie kam an diesem Abend zum erstenmal unter 38 Grad, und weshalb sollten mein Vater und ich ein böses Gewissen haben, wo wir doch voll Mitgefühl waren? Aber sie empörte sich gegen sein und mein Mitgefühl. »Tröstet euch«, sagte sie fast unhörbar leise, als wolle und müsse sie sich schonen, konnte aber ihr gerechtes Gefühl nicht ganz unterdrücken, »tröstet euch, ich werde euch bald eure Freiheit geben und bescheiden in die Grube fahren. Dann kannst du noch einmal heiraten, besser als das erstemal, und kannst dir die Kinderzimmer in deiner Villa mit Bambinos ausstaffieren. Und du, du kannst deine Geheimnisse in richtigen Lettern schreiben.«

Es mag sein, daß viele intelligente Kranke, die lange ans Bett gefesselt sind und nichts tun dürfen, mit der Zeit eine krankhafte Neugierde bekommen. So hatte sie nicht früher geruht und gerastet, als bis sie den ›Plan‹ meines Vaters aufgestöbert hatte. In diesem befanden sich tatsächlich zwei Räume, nach Osten gelegen, was man an einer eingezeichneten Windrose erkannte, und die in der Spezifikation als Kinderzimmer angegeben waren. Dies faßte die Arme so auf, daß mein Vater auf ihren baldigen Tod und auf eine zweite Ehe und neuen Kindersegen rechnete. Nun kann ein Hochbauingenieur zu seinem Vergnügen sich eine solche Wunschzeichnung machen mit Schnörkeln und Balkonen an der Fassade, spitzen Dächern, weiten Loggien, einfach zur Übung, aus Spaß. Der Plan war keineswegs neuesten Datums. Was mich erschreckte, war vielmehr, daß sie die Sache lange bei sich behalten hatte, daß sie also mehr wußte, als wir ahnten.

Mein Gewissen war nicht ganz rein. Ich habe schon früh den Wunsch gehabt, mir kleine Aufzeichnungen zu machen, um auch im Geist allein zu sein, es machte mich reich, stellte mich über die anderen, meine Geheimnisse zu haben. Es war mir gar nicht lieb, wenn ich sah, daß meine Mutter sie aufstöberte. Es waren die Jahre der Entwicklung. Religiöse Zweifel, Versuchungen meines Alters, gaben mir viel zu schaffen, mein Tagebuch half mir sehr, denn ich stand als Zeuge neben mir. Ich schrieb alles möglichst wahrheitsgetreu auf, und indem ich berichtete, richtete ich mich. Als ich nun merkte, daß die Mutter sich Kenntnis davon verschafft hatte – sie konnte es eben nicht ganz verschweigen, so wie sie auch jetzt die Sache mit dem Kinderzimmer ans Licht gebracht hatte –, gewöhnte ich mich daran, die Aufzeichnungen, die ziemlich kurz gehalten waren, in griechischen Lettern niederzuschreiben. Es war die Zeit, wo ich Griechisch lernte.

Ich muß sagen, man kann einen Menschen aus tiefster Seele lieben und ihn wie ein Stück von sich selbst betrachten, und kann doch den Wunsch hegen, ein Geheimnis vor ihm zu haben.

Dieser Ausbruch hatte keine guten Folgen. Ihrer Gesundheit nützte er nicht, der Arzt hatte recht: Weinen verboten. Mein Vater blieb bei seinen Plänen, vielleicht hatte er sie sich jetzt besonders in den Kopf gesetzt, und ich schrieb zwar keine Tagebücher mehr, sondern setzte für jeden Tag ein Hölzchen an, bald ein Brettchen, bald ein Zweiglein, mit eingekratzten Runen, die mich an etwas Bestimmtes erinnerten und die ich in einem ausgedienten Waschtisch aufbewahrte. Diese konnte niemand außer mir entziffern, und selbst mir gelang dies nach einer gewissen Zeit nur sehr schwer.

Eine gewisse Besserung in dem Befinden meiner Mutter war unverkennbar, machte aber nur langsame Fortschritte und bestand eigentlich darin, daß meine Mutter keinen Rückfall erlitt und daß die gefürchtete Punktion nie mehr wiederholt werden mußte. Als ich im letzten Jahrgang des Gymnasiums stand und mich auf die Reifeprüfung vorbereitete, entschloß sich meine Mutter endlich für das Sanatorium. Die Kosten waren nicht unbeträchtlich, sie trug die Bitte meinem Vater etwas furchtsam vor, er aber war mit seiner Zustimmung fast früher da, als sie zu Ende gesprochen hatte. Er sagte, alles, was ein bescheidener Beamter für seine geliebte kleine Frau tun könne, werde er leisten. Meine Mutter rüstete sich also zur Abreise, uns in Obhut einer häßlichen, trägen Köchin zurücklassend. Als der Zug aus der Halle war, bot mir mein Vater aus einem mir noch unbekannten prächtigen schweren Zigarettenetui aus blaugrauem Tulasilber eine gute Zigarette an.

Ich war seit dem letzten Sommer, in welchem Helmut mir diese Kunst beigebracht hatte, zu einem leidenschaftlichen Raucher geworden. Eigentlich hatte er mich in dieser Kunst nur auf den richtigen Weg gewiesen. Ich hatte schon lange vorher heimlich angefangen zu rauchen. Aber ich hatte nicht begriffen, daß man den Rauch einziehen muß, ich hatte den Atem durch die Zigarette durchgestoßen, wobei diese natürlich sehr gut brannte und im Dunkeln mächtig knisterte und funkelte ohne daß ich die geringsten Beschwerden bekam. Als ich nachher erfuhr, wie man es machen müsse, brauchte ich lange Zeit, um denselben Genuß wiederzuerlangen wie in der ersten Zeit, wo ich ›eingebildetermaßen‹ geraucht hatte, nämlich leer.

Die Nachrichten aus dem Sanatorium waren günstig. Wenn ich als erster daheim anlangte, öffnete ich ihre Briefe, mein Vater sollte dasselbe tun. Er sagte, er sei jetzt sehr beschäftigt, indessen nahm er keine Arbeit nach Hause mit, er blieb bis in die Nacht und nach einiger Zeit sogar über Nacht fort, erschien auch mittags nicht mehr ganz regelmäßig, und es kam vor, daß sich die Briefe meiner Mutter auf dem Tisch neben seinem leeren Teller anhäuften.

An einem wolkenlosen, schon schwülen Abend im Mai, als ich selbst mit meiner Arbeit früher und besser fertig geworden war, als ich gedacht hatte, ging ich in den Park der ›Au‹ an meiner alten Schule vorbei. Man hatte in den letzten Jahren hier viel gebaut, von den Pferden war nichts mehr zu sehen, die Kavalleriekaserne war in eine weit entfernte Vorstadt verlegt worden, und in der alten Kaserne waren Pioniere. Ich ging ziemlich gedankenlos durch den Park, tief den aromatischen Duft des blühenden Faulbaums einatmend, als ich in einer ziemlich schattigen, abschüssigen Kastanienallee vor mir ein Paar mit einem Kinderwagen erblickte. Die Frau schob ihn mit der rechten Hand, mit dem linken Arm war sie in einen Herrn eingehängt, der von hinten meinem Vater zum Verwechseln ähnlich sah. Da ich mir durchaus nicht vorstellen konnte, er sei es wirklich, ging ich ihnen rasch nach. Ich erschrak furchtbar, als ich in dem Herrn meinen Vater, in der Dame mit dem blauen Straußenfederhut und den weißen Handschuhen an den dicken Händen unsere frühere Magd Vroni erkannte.

Wie vom Blitz getroffen erstarrte ich, ›das Zermalmende‹, das ich schon lange nicht mehr gekannt hatte, durchdrang mich. Auch die beiden waren so überrascht, daß sie stehenblieben, der Kinderwagen, mit zwei schlafenden, kleinen, gleichaltrigen Kindern besetzt, rollte ein kleines Stück weiter, weil Vroni ihn losgelassen hatte und der Weg etwas abschüssig war. Ich war es, der ihn anhielt. Ich beugte mich, um meine Verwirrung zu verbergen, über den Wagen, aus dem der eigentümlich süßliche Duft aufstieg, wie ihn kleine kerngesunde Säuglinge um sich haben. Ich konnte den Blick nicht von ihnen wenden. Ich erkannte deutlich die Züge meines Vaters in ihnen wieder.

Mein Vater trat zu mir, er führte vorsichtig den neuen, gut gefederten, sich wiegenden Wagen zu der Vroni zurück. Jetzt sah er mir forschend unter den Hut und war sehr freudig überrascht von dem, was er in meinem Gesicht las – und was ich eben zu meinem Entzücken empfand.

Statt ihn und die treulose Magd zu hassen, statt diese zwei unehelichen Kinder als Schande zu empfinden, statt an dem Unrecht zu leiden, das in dem Betruge an meiner kranken Mutter lag, haßte ich nicht, empfand keine Schande und litt nicht. Und doch entsann ich mich deutlich, daß die Sanatoriumsidee nur scheinbar von meiner Mutter ausgegangen war. In Wirklichkeit aber hatte er sich das von ihr, der Armen, abbitten und danken lassen, was in seinem Vorteil lag.

Statt allem Bedrückenden empfand ich eine so helle und gottvolle Freude wie fast nie. Mir war wohl, wie seit langen Zeiten nicht mehr. Mein Vater verstand es sofort. Er streichelte zuerst das links liegend Kind, welchem reiche, aschblonde Locken tief in die Stirn fielen, mit seinem Zeigefinger an dem schmalen, mit einem goldnen Kettchen geschmückten Hals und nannte mir den Namen, Finchen, dann das andere, das ihr zum Verwechseln ähnlich war, dessen Haare aber unter einem hellblauen Samtmützchen versteckt waren, Max. Es waren meine Geschwister. Ich hatte also Geschwister, das, was ich mir immer gewünscht hatte. Ich war der älteste von uns dreien!

Mein Vater wurde jetzt ganz offen (so schien es mir wenigstens), Vroni blieb verlegen, sie wußte nicht, wie sie mich ansprechen sollte. »Junger Herr« war offenbar nicht das Rechte, und sie bemühte sich, hochdeutsch zu sprechen. Ich sagte ihr, sie solle mich beim Vornamen nennen. Sie ließen mich nicht mehr los. Ich mußte, statt in unsere einsame Wohnung zurückzukehren, in ihre Behausung, die mich nicht wenig entzückte, sie war mit den modernsten und schönsten Möbeln ausgestattet, die er selbst entworfen hatte, und besonders das Kinderzimmer in Hellgelb und Hellblau war bezaubernd. Ich konnte mich fast nicht von ihnen losreißen. Endlich kehrte ich heim. Er blieb bei ihnen. Ich war so müde, daß ich den eben gekommenen Brief meiner Mutter nur mit Mühe entzifferte. Auch sie war glücklich. Es ging ihr gut.

Die Reifeprüfungen fanden in diesem Jahre besonders früh statt, ich bestand die meine schon Ende Juni. Ich wollte sofort das günstige Ergebnis meiner Mutter in einem von mir und meinem Vater gemeinsam verfaßten Brief mitteilen. Er brachte mich dazu, diesen Brief nicht abzuschicken und meine Mutter im Glauben zu lassen, die Prüfung finde erst viel später statt. Dann käme sie (zu ihrem eignen Vorteil) auch später aus dem Sanatorium zurück, denn wir wollten uns zu den Ferien in S. treffen. Ich willigte ein. Obwohl dies ein stillschweigender Betrug war, hatte ich kein Gewissen.

Mein Vater war glücklich, ihm gelang alles. Es machte mir Freude, ihm bei der Fortführung seines angenehmen Lebens behilflich zu sein.

Ich habe noch einen zweiten, vielleicht eher verzeihbaren Fehler begangen. Meine Mutter hatte mir vor Jahren zum Namenstag ein Paar silberne Kerzenleuchter geschenkt, damit ich mir Licht zum Lesen machen könne, wenn mich nachts die Lust anwandelte. Kurz danach hatte man elektrisches Licht eingeführt, und die Leuchter waren nicht mehr vonnöten. Ich hatte sie in dem ausgedienten Waschtisch untergebracht, der mit einer verschiebbaren Platte geschlossen war und wo ich mein Tagebuch aus Hölzchen aufbewahrte. Nun kam es mir in den Sinn, ich müsse den Zwillingen ein Geschenk machen. Die Leuchter waren ihnen noch weniger nütze als mir. Aber es waren schöne schwere Stücke. Ich würde auf jeden Fall meinem Vater damit eine Freude machen, dachte ich, und brachte die Dinger, in Seidenpapier gewickelt und mit goldenen Schnürchen zusammengebunden, hin. Er freute sich über die Maßen, hieß Vroni Kerzen besorgen, und abends saßen wir bei Kerzenschein an dem Zwillingsbettchen, still, und rauchten vorsichtig, um die Kleinen nicht zum Husten zu reizen. Vroni hatte ihnen zuvor die Brust gegeben und lächelte stolz und doch scheu vor sich hin, uns alle vier betrachtend.

Einige Tage darauf holte mich mein Vater von unserer Wohnung ab und brachte mich in einem prachtvollen viersitzigen Mietauto, das auf der Straße gewartet hatte, in einen vornehmen, auf einem Hügel gelegenen Vorort, wo jene großen prächtigen Villen, in weite tiefe Parkanlagen eingebettet, sich befanden, wie er einmal eine gezeichnet hatte. Nun war die seine im Bau. Er hätte den Grund und Boden durch ›Freundschaft‹, nämlich durch einen seiner Vorgesetzten im Büro, erworben. Mir wurde bei dieser Gelegenheit zum erstenmal etwas unheimlich zumute. Für wen baute er? Für uns war die Villa viel zu groß, meine Mutter, die am liebsten den Haushalt ganz bescheiden und still führte, hätte sich hier nie wohl gefühlt. Er konnte die Villa doch nicht mit seiner zweiten Familie bewohnen. Er konnte sie ihr nicht einmal vorübergehend anweisen, es wäre zu auffallend gewesen. Oder rechnete er damit, daß ihn der Tod von meiner Mutter befreien würde? Für so unmenschlich konnte ich ihn nicht halten. Er war es auch nicht. Er rechnete in jener Zeit überhaupt nicht mehr. Er rechnete ebensowenig wie ich, der ich doch wissen mußte, meine Mutter in ihrer großen Neugierde würde mein Reifezeugnis genau durchschnüffeln und das richtige Datum herausbekommen, und ebenso würde es ihr früher oder später in den Sinn kommen, zu fragen, wo die Leuchter geblieben seien. Aber ich tat, wozu es mich im Grunde meines Herzens mitten aus der Seele heraus unwiderstehlich trieb. Ich war so ausgehungert nach Frohsinn, nach Gesundheit, nach Lebensmut, nach Übermut, nach einem sorgenlosen Dasein, daß ich meiner Natur entgegen alles Gewissen erstickte und in den Tag hineinlebte wie er. Die Wahrheit wäre für uns beide damals nur nüchtern und grau gewesen, kurze Zeit später wurde sie aber sehr bitter, und die Folgen haben über meine besten Jugendjahre entschieden.

Mein Vater war seit ein paar Tagen verreist zu einer ›Brückenabnahme‹, und Vroni war mit meinen Geschwistern zu ihren Eltern ins Allgäu gefahren. Da las ich in der Zeitung nur kleingedruckt und auf der vierten Seite, daß in dem Orte, wo mein Vater war, sich ein Unglücksfall ereignet hatte. Eine Eisenbahnbrücke war eingestürzt, glücklicherweise ohne Todesopfer – aber es waren von den am Bau Beschäftigten einer schwer und vier oder fünf leicht verletzt worden. Das Zermalmende kam wieder über mich. Ich sah meinen Vater vor mir, unter den Trümmern auf dem Gesicht liegend, schwer verletzt, unter grauenhaften Schmerzen stöhnend, die Brust von Quadern und Traversen zerschmettert, und ich mußte mir mit Gewalt klarmachen, daß er als Oberingenieur nicht unter den ›am Bau Beschäftigten‹ gemeint sein konnte. Ich eilte zum Postamt, telegrafierte und bekam in zwei Stunden die Nachricht, ihm sei nichts geschehen, und ich solle ihn am Bahnhof erwarten. Er kam, sehr bleich, und wehrte wortkarg meine Umarmung ab. Von dem Bahnhofs-Postamt telegrafierte er seiner Vroni. Offenbar wollte er sie beruhigen. Ich bestürmte ihn mit Fragen. Er wurde finster, beherrschte sich aber, setzte sein altes bescheidenes Lächeln auf und vertröstete mich auf den nächsten Tag. Am nächsten Tag traf meine Mutter ein, er wußte es so einzurichten, daß sie nichts erfuhr, wenigstens nicht durch ihn oder mich, dem er das Ehrenwort abgenommen hatte zu schweigen.

Bald erfuhren wir die ganze Wahrheit durch die Zeitung. Die Brücke mußte wie alle amtlichen Bauten durch eine Kommission abgenommen werden. Sie wurde zur Probe durch zwei Eisenbahnzüge belastet, deren Waggons hoch mit Steinen beladen waren. Diesmal hatte sich unglücklicherweise ein Bogen als nicht tragfest erwiesen. Fahrlässigkeit und persönliches Verschulden? Aber es konnte auch ein Materialfehler oder das Verschulden eines Bauführers sein.

Mein Vater wurde als verantwortlicher Ingenieur von seiner Stellung sofort suspendiert, eine genaue Untersuchung kam in Gang. Er tat daheim so, als wäre nichts geschehen, wir bekamen ihn aber bald kaum mehr zu Gesicht, er ging morgens sehr früh fort und kam abends sehr spät heim. Er war sehr bedrückt, und seine Selbstbeherrschung reichte eben doch nicht aus. Ich wagte die Zeitung nicht zu öffnen aus Angst, Schreckliches zu erfahren. Es wurde uns deshalb doch nicht erspart. Man hatte die Papiere meines Vaters im Büro durchsucht, die Rechnungen und Belege nachgeprüft und herausgefunden, daß sein unmittelbarer Vorgesetzter und er von einer Lieferungsfirma bedeutende Beträge bekommen hatten. Das von ihnen bestellte Material sollte minderwertig, die Traversen sollten zu schwach gewesen sein.

Es kam zu einer Gerichtsverhandlung, die Anklage lautete auf fahrlässige Körperverletzung, aktive und passive Bestechung, passiv, weil sie selbst Geld genommen, aktiv, weil sie einen kleinen Teil der ›Schmiergelder‹ an Untergebene, unter anderem an den Unterbauführer, in dessen Rayon das Unglück geschehen war, weitergeleitet hatten. Dabei war es noch glücklich abgelaufen, es hätte ein viel größeres Unglück passieren können, wenn man die Belastungsprobe nicht so systematisch vorgenommen hätte und wenn die Brücke etwa unter einem fahrenden Personenzuge zusammengestürzt wäre.

In dieser Zeit sah ich, welche gefaßte, in ihrem Innern unerschütterliche Frau meine Mutter geworden war. Sie wollte mich und sich selbst vor der Schande des Prozesses bewahren, den sie als verloren ansah, bevor er begonnen hatte. Mit Recht. Sie schrieb ihrem Onkel, ob er uns nicht für eine vorübergehende Zeit aufnehmen könne. Der Onkel ließ sich mit der Antwort Zeit. Endlich kam sie aber und war zustimmend. Wir packten in Eile, aber vorher brach noch der Rest des Unheils über uns, nämlich meine Mutter und mich, herein. Zum Glück war ihre Gesundheit jetzt so gefestigt, daß sie alles ertrug. Sie war etwas ›stark‹ geworden, wie man sagt, ihre Augen erschienen jetzt viel kleiner als früher zwischen den lederartig festen, glatten, von der Sonne gebräunten Wangen, und es schien mir, als habe sie jetzt weniger graue Haare als früher.

 

Ich dachte, nun sei das Allerschwerste überstanden, aber ich irrte mich. Ich sah nicht, was ich dank der klaren Vernunft hätte sehen können.

Mein Vater hatte mir einmal zart angedeutet, seine Vroni sei sehr begehrt. So hätte unter anderen Bewerbern sein Vorgesetzter im Büro, der Direktor, der ihm bei der Erwerbung der Villa behilflich gewesen war, ihr vorn und hinten schöne Augen gemacht, sei aber damit ›mit eiskaltem Hintern abgefahren‹. Ich hatte dies nicht recht verstehen können. Denn Vroni, deren erster Jugendreiz im Verblühen war und welche sich, nicht immer mit Erfolg, bemühte, ›noble‹ Manieren anzunehmen, mit spitzen Fingern zu essen und ›gebüldet‹ zu reden, war mir keineswegs so begehrenswert erschienen. Vielleicht kam ich zu dieser Geringschätzung, weil ich meine eigenen Versuchungen oft dadurch bekämpft und besiegt hatte, daß ich in gewissen, leicht zugänglichen Frauen nichts als ein ›unreines Gefäß‹ sah und mich von ihnen möglichst fernhielt, weil ich mir zu gut war für sie.

Aber diese Angabe meines Vaters muß auf Wahrheit beruht haben. Die Frau des Direktors hatte davon erfahren, und es war die natürliche Eifersucht eines ›unreinen Gefäßes‹, die nach Rache suchte und die sicherste Methode bald herausbekam, ihre verletzte Frauenwürde an der Nebenbuhlerin zu rächen.

Dazu kam noch etwas anderes. Man hatte meinen Vater in Freiheit gelassen. Offenbar wog seine Schuld weniger schwer als die seines Vorgesetzten. Daran war nun mein Vater unschuldig. Später ist, ebenfalls durch die Direktorin, der Verdacht ausgesprochen worden, mein Vater hätte, um sich reinzuwaschen, seinen Vorgesetzten über das erlaubte Maß hinaus angeschwärzt. Der Ausgang des Prozesses schien dafür zu sprechen. Trotzdem ist es mir immer schwergefallen, dies zu glauben.

Die Tatsachen folgten nun einander mit großer Schnelligkeit. Zuerst gab meine Mutter, ohne mir den Grund zu sagen, den Plan auf, mit mir zum Onkel zu reisen und meinen Vater sich selbst zu überlassen. Dann merkte ich eines Tages, etwa eine Woche vor der Verhandlung, daß sich etwas Unerwartetes zugetragen hatte, und schließlich kam meine Mutter eines Abends mit verzerrtem Gesicht, aber vorerst ohne ein Wort für mich oder für meinen in eine dunkle Ecke sich drückenden, fahlen und abgemagerten Vater, zu Tisch und stellte die zwei unseligen Kerzenleuchter dröhnend vor uns hin. Freilich, ohne Kerzen hineinzustecken, denn es war noch hell genug.

Es kam nun heraus (meine Mutter konnte dies nicht verschweigen), daß die Direktorin meine Mutter ›zu einem gemütlichen Plauderstündchen‹ zu sich eingeladen hatte. Sie hatte ihr erzählt, nicht mein Vater, sondern ihr Mann hätte ihre schöne Magd Vroni um ihre Unschuld gebracht. Er sei sie aber dann schnell müde geworden, habe sie meinem Vater abgetreten. Vroni hätte meinem Vater nur ungern nachgegeben, habe sich aber durch große Geschenke und durch das Versprechen, er werde eine zweistöckige Villa auf dem Herzogshügel für sie bauen, umstimmen lassen. Sie hätte ihm die zwei Kinder geboren, er hätte, in seinem Vaterglück wie von Sinnen, versprochen, sie zu heiraten, hätte ihr lachend gesagt, sie, meine Mutter, käme nun schon nimmer heim, sie pfeife aus dem letzten Loch. Ich hätte mich auch hineingedrängt, hätte die Vroni bestürmt und sie für mich durch das Geschenk der kostbaren Leuchter gewinnen wollen, ohne an die Blutschande zu denken, genau wie ein Jude. Die beiden Frauen wären in aller Ruhe Arm in Arm zu Vroni in die Wohnung gegangen, hätten ihr ›gewiesen‹, sie müsse die Wohnung zum nächsten Ersten mit ihren liederlichen Bamsen räumen, und es sei am besten, sie verließe die Stadt, gäbe die ›Bankerte‹ in Kost, träte wieder in Dienst und richtete sich auf ehrliche Arbeit ein. Die zwei Leuchter hätten sie mitgenommen, und das Schandweib, das ›Gschpusi‹, hätte ihnen beiden noch unter Tränen die Hände geküßt oder nur küssen wollen, denn sie hätten sich nie mit so etwas beschmutzt usw.

Die Leuchter standen da, ich konnte nichts entgegnen. Was Blutschande war, wußte ich nicht. Etwas von dem ›unreinen Gefäß‹ sicherlich.

Der Bau der Villa auf der Anhöhe wurde unterbrochen, das Gelände zum Verkauf ausgeschrieben. Der Grund und Boden ist im Laufe der Zeit ohne großen Verlust, vielleicht sogar mit kleinem Gewinn, verkauft worden. Ich habe es erst zu spät erfahren. Aber hätte ich es auch rechtzeitig erfahren, es hätte an meinem Entschluß und an meiner Lebensführung nichts geändert. Auch die Wohnungseinrichtung Vronis, auf die sie keinen gesetzlichen Anspruch hatte, wurde ›vergantet‹, das heißt, an den Meistbietenden verkauft, wobei nur wenig einkam, da die schönen, von meinem Vater gezeichneten Möbel als ›übermodern und verrückt‹ angesehen wurden. Auch unsere eigene Wohnungseinrichtung ging denselben Weg, etwas später freilich. Sie trug bedeutend mehr ein, weil sie im alten Stil war. Das alles sind Nebensachen. Hauptsache war, mein Vater wurde mangels an Beweisen strafrechtlich freigesprochen, aber zivilrechtlich für haftbar erklärt. (Ich selbst habe dies als Widerspruch empfunden, entweder war er doch schuldig oder nicht.)

Meine Mutter nahm mich eines Tages nach dem Freispruch noch einmal ins Gebet. Sie schwankte noch. Sie sagte: »Wie hast du ihnen das Licht halten können? Wie hast du das auf beiden Achseln tragen können? Liebst du mich denn nicht?« Ich liebte sie mehr denn je. Aber was geschehen war, war dennoch geschehen. Hätte ich nur lügen können! Hätte ich nur betrügen können! Oder nur auf einer Achsel tragen!

Meinem Vater gelang es binnen kurzem ohne große Schwierigkeiten, sich mit ihr zu versöhnen, und zwar auf eine Weise, die mich auf sehr lange Zeit von ihr getrennt hat. Vielleicht mit Unrecht. Vielleicht handelte er in einer Art Notwehr. Das Unglück macht den Menschen gemein. Die Dankbarkeit verpflichtet zur Niedertracht.

Die Sache war die, daß sowohl der Judenkaiser als auch seine schöne junge Tochter in dieser Zeit, als uns alle Welt auswich, als stänken wir, zu uns gehalten haben. Für sie stanken wir nicht, sie halfen uns sehr. Es war fast kein bares Geld da (so sagte wenigstens meine Mutter, mir mit den Blicken ausweichend). Der Onkel, der durch die Zeitungen alles erfahren hatte, antwortete nicht, das Gehalt war eingestellt worden. Der Zivilprozeß mit den Opfern des Unglücks stand bevor. Der Arzt, der in sehr kleinen Verhältnissen lebte, lieh uns, was er entbehren konnte. Seine Tochter führte uns ein paar Tage die Wirtschaft, da selbst die alte, träge und häßliche Köchin uns den Rücken gekehrt hatte in tugendhafter Entrüstung über ein so ›ausgeschamtes‹ Haus. Mein Vater rechnete so, wie später viele gerechnet haben, und ebenso wie diese mit Erfolg. Er rechnete nicht mit den Tatsachen, sondern mit den Vorurteilen, er log fest drauflos, weil er hoffte, die Lüge würde bei meiner Mutter gut aufgenommen werden, weil sie den Weg zur Einigung bahnte, und er beschuldigte den armen Judenkaiser, dieser hätte ihm, dem bescheidenen Urbayern, rabulistisch und talmudisch geraten, eine gesunde, rassige Familie zu gründen. Er hätte gesagt, er müsse es wissen, an meiner Mutter sei Hopfen und Malz verloren, die Krankheit hätte sie so unleidlich gemacht, und mein Vater solle sich glücklich schätzen, daß er eine ›Bißgurne‹, ein böses, zänkisches Weib, verliere und dafür eine kerngesunde, zur Mutterschaft geeignete Prachtfrau wie Vroni bekomme usw. Kein Wort war wahr. Aber meine Mutter glaubte es. Sie verzieh ihrem Mann. Sie ließ mich fallen. Sie sagte, die Hände ringend, aber immer noch, ohne mir ins Auge zu sehen, ich sei ärger als ein Jude, nämlich ein Judas, der sie, meinen Vater und mich selbst verraten habe – und das sogar ohne Lohn, einfach aus Lust am Verrat, um zu wissen, wie es sei! Und nach dem, was vorgefallen wäre, sei ich ihr Kind nicht mehr.

 

Ich war still und schämte mich. Auch machte ich mir klar, wie enttäuscht meine Mutter sein mochte, die endlich als eine von ihrem Leiden genesene, wieder lebensfroh gewordene Frau zurückgekehrt war, um daheim alles zusammengebrochen zu finden. Ich liebte sie. Ich ging mit ihr, viel mehr als mit mir. Ich hätte nicht sie verraten, sondern mich selbst.

Ich predigte mir Geduld. Ich war jung, ich konnte warten. Die Zeit arbeitete für mich, sie renke alles wieder ein, hieß es. Ob ich in ihren Augen noch ihr Sohn war oder nicht, ganz gleich, ich blieb ja doch bei ihr, wir lebten weiter zusammen unter dem gleichen Dach und mußten wieder zueinander finden, dachte ich. Es kam nicht dazu. Ich weiß nicht, ob zu meinem Glück oder nicht.

Mein Vater überstand seine Erniedrigung viel leichter, als ich gedacht hatte, er fand in Kürze neue Bekannte (Freunde konnte man sie nicht nennen), außerdem dachte er allen Ernstes daran, sich in S. dauernd niederzulassen, und glaubte, bis dorthin wäre die Kunde seines Prozesses und seiner Vroni nicht gedrungen, oder die Einheimischen faßten solche Dinge praktischer auf.

Wichtiger war das, was er seine ›bescheidene Finanzlage‹ nannte. Diese war nun mehr als bescheiden. Er hatte seine beträchtlichen Ersparnisse und einen Teil der nicht unbedeutenden Mitgift meiner Mutter in den Neubau gesteckt. (Meine Eltern erzählten aber überall laut, es sei ihnen überhaupt nichts mehr geblieben.) Er hatte bei einem Immobilienmakler Wechsel hinterlegt und betrachtete es schon als ein großes Glück, wenn sie so lange gestundet wurden, bis der wertvolle Grund und Boden auf dem Herzogshügel verkauft war. Seine Einnahmen waren gleich Null. Er hatte Schulden, vor allem bei dem Doktor Kaiser. Er schrieb ihm einen eiskalten geschäftlichen Brief, der mit den Worten endete (ich habe Sie mit Scham und Schmerz gelesen), er hoffe, er werde in Doktor Kaiser keinen zweiten fremdblütigen Shylock finden, der mit dem Schein in der Hand den gutmütigen Einheimischen das Fleisch vom Leibe schneide. Der Arzt, ein guter Menschenkenner, von dem das erwähnte Wort stammt, daß Dankbarkeit zur Niedertracht verpflichte, tröstete sich über den Verlust des Geldes leichter als über den Verlust unserer Familie. Er hatte sich an uns gewöhnt. Er hätte mich auch nach diesen Ereignissen noch gern als Gast bei sich gesehen. Das konnte aber nicht sein, ich wollte nicht mehr auf beiden Achseln tragen. Er sah es ein. Er war sogar so taktvoll, seine Niederlage, die Selbsttäuschung eines unverbesserlichen Optimisten, seiner Tochter zu verschweigen, und Viktoria kam eines Tages ahnungslos zu uns. Meine Mutter fertigte sie mit höhnischen Worten durch einen Spalt der Tür ab, ohne sie einzulassen. Ich sah sie dann auf der Straße, blutrot vor Scham, aber nicht mit einem gedemütigten, sondern vielmehr mit einem herrischen und bösen Gesichtsausdruck, fortgehen. Auch hier hoffte ich, die Zeit werde alles ausgleichen, und meine Mutter werde ihr Unrecht einmal einsehen und bereuen.

Mein Vater, dessen Schuld, wenn auch nicht strafrechtlich, so doch für jeden feststand, der ein Gefühl für Recht und Unrecht hatte, half sich sehr schnell mit seinem ›Menschen, Menschen san mir halt alle‹ über das ›Pech‹ hinweg. Als er zur Zahlung einer Rente an den schwerverletzten Arbeiter verurteilt wurde, murrte er über das ›gar zu leicht verdiente‹ Geld des Proleten. Und vier erwachsene pfiffige Menschen, nämlich meine Eltern, die Direktorin und unser Anwalt, ›kauften‹ dem leichenblassen, elend gekleideten, fast sprachunkundigen Italiener, der seinen im Schultergelenk gebrochenen Arm in einem schmutzigen Wasserglasverband trug, die langjährige Rente für ein Butterbrot ab. Indessen, auch dieses Butterbrot mußte bezahlt werden. Meine Mutter verkaufte etwas Schmuck, und sie weinte bitter. Das Weinen war ihr jetzt erlaubt. Ich dachte an die alten Zeiten, wo wir vor der Wallfahrt nach Altötting vor der Auslage des Juweliers gestanden hatten, und daran, wie Jahre nachher, nach dem glücklich verlaufenen ›Operatiönchen‹, mein Vater ihr das Schmuckstück mit dem Smaragd gebracht hatte; dieses wollte sie noch nicht hergeben, es war ihr als Andenken teuer.

Inzwischen trat eine scheinbar für mich sehr günstige Wendung ein, als wollte mir das Schicksal zeigen, daß es mich entschädigen werde. Mein Onkel, dem ich auf Bitten meiner Eltern mit den schönsten Zügen meiner Kritzelschrift geschrieben hatte, antwortete mir eigenhändig mit noch abscheulicheren Krikelkrakelzügen, die fast unleserlich waren. Er sagte mir ein Studienstipendium bis zum Abschluß meiner Hochschulstudien, bis zu meiner Approbation als Arzt zu. Es war ausreichend, 100 Mark im Monat.

Diese Summe kam mir aus einem besonderen Grunde sehr erwünscht. Ich hatte schon ein paar Wochen früher meinen Eltern vorgeschlagen, ich würde über den Sommer hierbleiben und mich in der Wohnung, die erst im Spätherbst zum Termin geräumt werden konnte, häuslich auch ohne sie einrichten, mir selbst kochen usw. Sie sollten mein Zimmerchen im Holzhaus in S. an Fremde vermieten. Jetzt war aber Geld da. Ich sagte meinen Eltern zu, sie sollten davon 75 Mark monatlich bekommen. Die erste Rate war gleichzeitig mit dem Briefe an die Adresse meiner Mutter angekommen. Damit nahm ich natürlich an, erstens, sie würden mich nach S. mitnehmen und das Zimmer dort nicht an Fremde vermieten, und zweitens dachte ich daran, daß ich diese Summe bloß bis zum Herbst abzuliefern hätte. Meine Eltern, beide ein Herz und eine Seele wie nie zuvor (es kann sein, daß ich jetzt zum erstenmal eifersüchtig auf meinen Vater war), nahmen diese Gabe als selbstverständlich an. Sie ließen mich aber nicht mitkommen, und sie dachten niemals daran, auf diese Summe zu verzichten, die immer an ihre Adresse gesandt wurde. Sie waren in Not, und sie dachten zuerst an sich, die nicht mehr jung waren. Vielleicht glaubten sie, der Onkel, der auf meinen ersten Brief so generös geantwortet hatte, würde auf einen zweiten Bettelbrief noch generöser antworten, und Geld war gut, gleichviel, woher es kam.

Es blieben mir immer noch 25 Mark monatlich. Aber auch um diese kam ich durch eigene Schuld, ohne klüger geworden zu sein. Durch eigene Torheit, durch eigenen Übermut, durch das ›Den-lieben-Gott-spielen-Wollen‹, durch meinen Größenwahn. Meine Mutter hatte schon sehr recht gehabt, als sie einst dem Judenkaiser sagte, er solle mich nicht größenwahnsinnig machen. War denn ein achtzehnjähriger, unerfahrener, im Grunde nur auf sich selbst angewiesener Mensch – denn von dem braven und armen Judenkaiser konnte ich nichts mehr annehmen, nicht einmal einen Rat –, war denn solch ein Mensch, der das harte Leben nur vom Hörensagen kannte, nicht größenwahnsinnig zu nennen, wenn er im Gefühl, es geschehe drei Menschen, nämlich Vroni und meinen Geschwistern, Unrecht, den letzten Rest seines Geldes diesen Menschen opfert, weil sein Vater, der für diese drei Menschen verantwortlich ist, sich ›bescheiden‹ diesen Verpflichtungen entzieht unter dem Schutz des bürgerlichen Gesetzes, welches die uneheliche Mutter auf den Klageweg verweist und ihr die ›landesüblichen Alimente‹ zusichert? Hatte ich nicht bei dem Italiener gesehen, was dieses Recht in den Händen eines Proletariers bedeutet? Mit den winzigen Alimenten aber mußten die zwei Geschwister und Vroni in größter Dürftigkeit leben, das bewies sie mir mit einem stumpfen Bleistift auf dem Rande einer alten Zeitung, während die Zwillinge im Chor quäkten, lange nicht mehr so blühend und prachtvoll wie noch vor wenigen Wochen. Sie mußten, wenn sie nichts als die Alimente hatten, auseinander, die Kinder in Pflege, die Mutter in Dienst. Ich steuerte also 20 Mark monatlich zu. Niemals hat Vroni geglaubt, sie kämen von mir, der dann bettelarm dastand, sie dachte, mein Vater sei ein ›edler Herr, ein feines Geschirr‹, und er lasse ihr das Geld auf diesem Wege zukommen, damit sie ihm nicht danken solle, damit die Frau Oberingenieur nichts davon erfahre und über seine Großmut murre. Denn seine oder unsere Lage war Vroni klar, und wenn sie nicht stark im Schreiben und Lesen war, im Rechnen war sie es.


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