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Zweiter Teil

Auch ich lernte allmählich rechnen, weil ich es mußte. Ich lernte rechnen mit der Einsamkeit und mit dem Geld, der Not. Ich war bis dahin immer mit meinen Eltern zusammengewesen und hatte ohne Not dahingelebt. Nun stand ich morgens auf und sagte niemandem guten Morgen, und abends legte ich mich zu Bett und hatte niemandem gute Nacht gesagt.

Es regnete damals viel. Ich dachte an meine Eltern in ihrem Häuschen in S., wie der Regen ihnen zusetzen, wie er ihnen die Vermietung des Zimmers an einen Touristen erschweren würde, ich konnte mich eben von ihnen noch nicht losreißen, nicht bei Tag noch bei Nacht. Wenn ich nachts durch irgendeinen furchtbaren Traum, in dem entweder das undankbare Pferd oder das Moor eine Rolle spielte, aufgewacht war, horchte ich, im ersten Augenblick meine Lage vergessend, nach dem Nebenzimmer hin, ob ich nicht das Hüsteln meiner Mutter oder das Schnürfeln meines Vaters hörte, ich blieb ihr Kind, ob sie es wollten oder nicht. Das elektrische Licht hatte man abgeschnitten, aber die zwei schönen schweren Leuchter waren noch da, in der Speisekammer fanden sich zwischen Bündeln vertrockneter Zwiebeln und einem dicken Bund alter Schlüssel ein paar Kerzenstümpfe, und ich machte mich ans Schreiben. So sehr drängte es mich, den sonst so Schweigsamen, mit ihnen zu reden. Am nächsten Tage kaufte ich ein ganzes Pfund guter Paraffinkerzen. Das Porto für den dicken Brief betrug zehn Pfennig. Es waren viel Ausgaben auf einmal. Ich glaubte, meine Eltern würden mich zu sich bestellen, sie würden es ohne mich nicht aushalten, gleichviel, was sie sich vorgenommen hatten, ich wollte den Brief also lieber mitbringen und das Geld sparen. Übrigens konnte ich im Ort S. für zehn Pfennig, für fünf Pfennig beim Seewirt oder auch gratis bei Bauern im Heu nächtigen. Aber der erwartete Brief meiner Eltern kam nicht. Ich war zu stolz, um zu betteln. Langsam gewöhnte ich mich an das Alleinsein; schwer, aber doch.

Mit dem Gelde zu rechnen erwies sich mir als ebenso schwer. Meine Mutter hatte zwar oft geklagt, wie unerschwinglich teuer das Leben geworden sei, ich hatte es aber nie geglaubt. Jetzt erlebte ich es aber am eigenen Leibe. Zuerst hatte ich, weil ich unbedingt unter Menschen sein wollte, mir ein paarmal den Luxus erlaubt, in ein Bräu zu gehen. Ich bin nie ein Trinker gewesen, ich ließ meine ›Maß‹ stehen. Ich wollte nur nicht allein sein. Obwohl solche ›Maß‹ nur 13 Pfennige kostete, mit Trinkgeld 15, und ich bei Einkauf meiner Nahrungsmittel, des Brotes und des durchwachsenen Specks, soviel wie möglich sparte, schmolz meine Barschaft schnell zusammen.

Ich hätte mich zu Fuß auf den Weg nach S. machen können, aber ich wollte niemandem zur Last fallen. Nachdem ich großmütig mein Stipendium der legitimen und illegitimen Familie zur Verfügung gestellt hatte, konnte ich doch nicht wie ein herumvagierender ›Strabanzer‹ zu Fuß daheim ankommen. Zur Bahnfahrt reichte es aber schon lange nicht mehr, wie ich mich am Hauptbahnhof an der Tariftafel überzeugte.

Ich kam auf einen anderen Gedanken. Ich besaß ja noch immer die zwei schweren Silberleuchter, nichts hinderte mich, sie zu versetzen. Das hieß noch lange nicht, sie zu verschenken oder zu verkaufen. Es hieß nur, sie für eine gewisse Zeit dem Königlich Bayrischen Pfandamt anzuvertrauen. Ich pilgerte also ruhig hin, stand lange Zeit in elender Luft zwischen armseligen Menschen, die teils ihr Bettzeug oder muffig riechende Sonntagskleider, teils Uhren oder Schmuckstücke ins Versatzamt trugen. Ich erhielt endlich für die zwei Prachtleuchter nicht einen Pfennig über drei Mark. Ich wollte das Geld zuerst empört zurückweisen. Aber der Beamte bewies mir phlegmatisch, daß bloß eine dünne Außenschale, das ›Häuterl‹, aus Silber bestünde und daß das Hauptgewicht auf Blei entfiele, mit dem die zwei Dinger ausgegossen seien. Ich trollte mich also und hörte noch beim Weggehen, daß die hinter mir kommende Partei, die eine schwere ›Tuchendt‹, ein buntes Federbett, versetzt hatte, sich ebenfalls beschwerte. War denn das dicke Bettstück auch mit Blei ausgegossen? Nein, aber es war nicht insektenrein.

Ich hatte mit mindestens fünfzehn Mark für die Leuchter gerechnet, war aber lange nicht entmutigt. Die ersten Genüsse der Freiheit begannen wieder aufzugehen. Eine große Leichtigkeit des Lebens, das Kommen und Gehen, wohin man will, das Leben und Lebenlassen – die paar unausbleiblichen Schwierigkeiten mit ›stoischer‹ Würde tragen, Gott einen guten Mann sein lassen, dickköpfig und gesund sein, seine ganze Zukunft vor sich haben, das machte mich trotz allem froh.

Ich ging also durch den Nieselregen zum Hauptbahnhof. Dort hatten die in blauweiß gestreifte weite Kittel gekleideten, meist schnauzbärtigen und rotwangigen dicken Gepäckträger unter den rußgeschwärzten Arkaden ihren Standplatz. Zigarre oder Pfeife im Mund, harrten sie der Reisenden, die angesichts des Hundewetters nur spärlich kamen. Der Arbeitsplatz dieser amtlichen Gepäckträger war der Bahnhof, darüber hinaus trugen sie niemandem den Koffer, sie machten keine ›Kommissionen‹, sie ›wiesen‹ die Fremden nicht in billige Gelegenheitsquartiere usw.

Dies besorgten allerhand fragwürdige Menschen ohne amtlichen Auftrag, ohne Nummernschilder und ohne weißblaue Kittel. Einer dieser ›wilden Kofferschupfer‹ kam auf mich zu, durch meinen guten Anzug irregeführt, und bot mir an, mir ein schönes Quartier am Osttor für ein ›Markl‹ pro Nacht zu verschaffen. Es war ein ziemlich magerer, blasser, schlenkriger junger Mensch, der stark nach Enzianschnaps roch. Ich sagte ihm, er solle sich nicht auslachen lassen, ich sei kein Fremder, viel eher sei er einer. Dies war denn auch der Fall, er kam (zu Fuß) aus dem Elsaß und wollte nach Budapest, war aber noch nicht recht wanderlustig. Wir kamen ins Gespräch, und ich bezahlte ihm in der Bahnhofswirtschaft dritter Klasse ein Maß oder besser gesagt zwei, denn er trank die meine mit. Als er der Enzianflasche am Büffet einen sehnsüchtigen Blick zuwarf, spendierte ich ihm auch einen Enzian, nahm mir aber vor, dies müsse für lange Zeit mein letzter Leichtsinn sein. Er warf sich den Enzian mit einem Ruck hinten in den Rachen und hustete furchtbar. Er dankte aber nicht besonders herzlich und kehrte mit abgespanntem, noch fahlerem Gesicht in die Ankunftshalle zurück.

Jetzt wurde er tatsächlich von einer kleinen Karawane Fremder, die mit einer Unzahl von Paketen daherkamen und außerdem zu zweit ungeschickt einen mächtigen Koffer schleppten, angesprochen, er solle den Koffer schupfen und ihnen ›a recht a billiges‹ Quartier weisen. Das letztere vermochte er gut, denn er hatte über fünfzig gute Adressen in einem zerlesenen Reclambuch auf dem letzten weißen Blatt aufgezeichnet. Aber mit dem Schupfen haperte es, er war zu schwach, er war wie aus Papier, zum Umblasen.

Ich nahm den Koffer ohne Mühe unter seinen schiefen Blicken auf die Schulter, und so pilgerten wir durch die nassen Bahnhofsstraßen alle zusammen in ein ziemlich armseliges Quartier, das ich bisher kaum betreten hatte, obwohl es von unserer Wohnung nicht sehr entfernt war. Den Koffer auf der Straße zu schleppen, war keine Kunst, ihn aber die enge und gewundene Treppe hinaufzubekommen, war eine große. Das mußte eben auch gelernt sein. Ich eckte zwanzigmal an, meine alte Rippenbruchstelle meldete sich natürlich mit Stichen. Aber ich bekam oben, als ich mir mit der rechten Hand den Schweiß von der Stirn wischte, mein erstes selbstverdientes Geld in die linke Hand hinein, ein frischgeprägtes Silbermarkl. Die gutmütige Frau steckte mir außerdem ein altes, schwärzliches, silbernes dünnes ›Fuffzgerl‹ zu.

Ich hatte nun doch nicht das Herz, den ›Zuweiser‹ leer ausgehen zu lassen, von dem die Fremden annahmen, er werde von den Zimmervermietern entschädigt, was diese ebenso von den Zugereisten annahmen. Ich spendete ihm also das alte Fuffzgerl, für das er sich vier Maß Bier mit Brot, soviel man will, oder eine Maß und eine schöne Wurst dazu oder aber ein winziges Glas scharfen Enzian anschaffen konnte.

Ich habe ihn nachher noch oft wiedergesehen, zum letztenmal in der Anatomie.

 

Eines Tages bot mir das Enzianbrüderl sein rostrotes Büchlein La Rochefoucauld mit allen den wertvollen Adressen für zwei Mark an. Ich hatte eben meine schöne Briefmarkensammlung für 32 Mark verkauft. Das Taschengeld meiner ganzen Jugend war in seltene, meist echte, wertvolle Briefmarken umgesetzt worden, und ich dachte in gutem an Helmut, dem ich diese Idee verdankte, und auch ein wenig an seinen Vater, den ich mit dem meinen verglich.

Um diese große Summe nach unten abzurunden, fand ich mich zu dem Geschäft bereit. Daheim, beim Schein der Kerze (ohne Leuchter) das Büchlein durchstöbernd, fand ich zwar unendlich viel Wahrheiten, meist bittere, die mir nur schwer einleuchteten, aber es fehlte leider das Blatt mit den Adressen. Ich brauchte die Adressen nicht unbedingt, für das Brüderchen bedeuteten sie das tägliche Brot oder den täglichen Enzian. Er hatte sie von einem anderen ›Kofferschupfer‹ übernommen, der inzwischen nach Italien gepilgert war.

Ich irrte zwischen den Maximen des alten stoischen und unbestechlichen Franzosen anfangs so ratlos umher, daß ich dachte, die Übersetzung sei ungenau. Plötzlich ging mir der Plan durch den Kopf, meine viele freie Zeit zum Französischlernen an Hand des La Rochefoucauld zu verwenden. Ich ging (zum erstenmal mit Herzklopfen) in die große Stadtbibliothek, ließ mir ein französisches Exemplar und ein französisch-deutsches Lexikon geben und versuchte zu übersetzen. Da mir die Grundformen der Zeitworte unverständlich waren, mußte ich den Bibliotheksbeamten noch einmal bemühen, und zwar um eine Grammatik. Als ich endlich eine kurze Maxime übersetzt hatte, durchströmte mich großer Stolz. Ich sagte mir, wozu sollte ich mein ganzes Leben in Deutschland verbringen? Ich wollte Französisch, dann Englisch, gegebenenfalls auch Italienisch lernen, alles neben dem Studium der Medizin, auf das ich mich schon zu freuen begann. Ich wollte als ›fertiger Doktor‹ in der ganzen Welt, Europa, Afrika, Asien umherziehen, überall zu Hause sein und mir mit Hilfe meiner ärztlichen Kunst mein Brot in irgendeinem Winkel der Welt erwerben. Es war das Ideal des Kosmopolitismus, das mir so schön aufgegangen war.

Inzwischen ging es schon spät in den Herbst, die Abende wurden lang. Ich fragte in der Universitätskanzlei nach den zu erfüllenden Formalitäten, und man erklärte sie mir genau. ›Man‹ will heißen, der Fuchsmajor einer schlagenden Verbindung, der sich hier aufgepflanzt hatte, um Füchse zu ›keilen‹, das heißt, junge Studenten für seine Verbindung zu gewinnen. Er gab mir alle gewünschten Auskünfte und fügte hinzu, seine Kommilitonen würden sich freuen, wenn ich sie im X-Bräu einmal ungezwungen aufsuchte. Ich gab eine ausweichende Antwort, wußte aber genau, ich würde nie in eine Verbindung eintreten. Ich mochte viele Menschen, in einen Raum zusammengepfercht, nicht besonders, haßte jeden Zwang, das viele Bier widerstand mir, und vor allem hatte ich kein Geld.

Ich hatte erfahren, daß die Gebühren im ersten Semester an 110 Mark betrugen. Dieses Geld erwartete ich von meinen Eltern. Ich wußte, daß meine Mutter sich eine kleine Reserve (ein Sparkassenbuch) gesichert hatte, und ich wußte ebenso, daß ich ihnen nun auch drei Monate je 75 Mark gegeben hatte. Auf diese hatte ich aber offenbar keinen Anspruch mehr.

Aber ich dachte, meine Mutter könne mir einen Vorschuß auf die nächsten Monatsraten in Höhe von 110 Mark geben, und ich würde diesen Betrag langsam von meinem Wechsel im Laufe des Semesters abzahlen.

Ich hatte inzwischen etwas besser rechnen gelernt und gesehen, daß ich, wenn ich sparsam lebte, schon mit 50 Mark monatlich auskommen konnte. Ich rechnete dabei 10 Mark für Wohnung, 30 Mark für die Nahrung und weitere 10 Mark für Nebenauslagen. Außerdem hatte ich noch die 5 Mark, erinnerte ich mich, da ja Vroni nicht 25, sondern 20 Mark monatlich von mir bekommen sollte. Ich schrieb dies alles haargenau meiner Mutter. Nicht meinem Vater. Sie hatte mir klargemacht vor ihrer Abreise, daß jeder, der Geld wolle, sich an sie wenden müsse, nicht an den Vater, denn das, was sie in der Tasche hatte oder einbekam, konnte man nicht zur Wiedergutmachung des Schadens bei der Brücke heranziehen.

Ich schrieb noch einmal, bitteren Herzens ›eingeschrieben›, mit verteuertem Porto, um ganz sicherzugehen. Ich wartete vergebens auf einen Bescheid, bloß die 25 Mark kamen mit einer Postanweisung, bei der sich mein Vater als Oberingenieur im Ruhestand unterschrieb.

Dafür kamen die Handwerker ins Haus, welche unsere Wohnung für die nächsten Mieter instand setzen wollten, es erschien der Spediteur, der die Möbel auf den Speicher bringen sollte bis zum Winter, denn jetzt sei keine gute Zeit für Auktionen, erzählte er. Ihm hatte meine Mutter geschrieben.

Einige Tage hatte ich von morgens bis abends damit zu tun, das Einpacken der Möbel, Teppiche, der Kücheneinrichtung, des Geschirrs und der Kleider zu überwachen. Ich half mit und stellte eine genaue Liste auf. Ich wurde dann von den Portiersleuten um die Schlüssel angegangen. Es dränge nicht, sagten sie freundlich. Ich wurde rot vor Scham. Ich mußte die Habseligkeiten, die ich persönlich besaß, zusammenpacken, ich mußte ziehen. Einen alten, aber wetterfesten Koffer hatte ich zurückbehalten neben anderem Zeug.

Von dem Briefmarkengelde waren mir zum Glück noch an die 20 Mark geblieben, ich hatte in letzter Zeit schon sehr sparsam gelebt. Niemand konnte mir aber verraten, wie ich zu den 110 Mark plus 50 Mark für den ersten Studienmonat kommen sollte, wie ich mein Leben fristen würde, niemand konnte mir eine Wohnung weisen, sobald ich meine verlassen hätte. Sollte ich, was meine Eltern offenbar erwartet hatten, zu Fuß nach S. pilgern? Ich war stark und gesund, ein kräftiger Bart sproßte mir, da mir schon seit langem das Rasieren zu teuer geworden war, über Wangen und Kinn. Aber ich wollte nicht.

Ich machte mich also auf die Wohnungssuche. Ich kletterte in viele Dachstübchen hinauf, visierte manches lichtlose, vom Geruch der Armut erfüllte Kämmerchen, aber alles war mir zu teuer.

Ich sagte mir, ich müsse versuchen, mich irgendwo einzuwohnen für eine Miete, die absolut sicher war, also für fünf Mark im Monat. Die üblichen Stübchen kosteten aber 12 bis 14 Mark. Also ins Obdachlosenasyl? Auch daran dachte ich, und in meiner Jugendseligkeit schreckten mich die Vagabunden nicht, auch ihr Ungeziefer nicht, denn es wurde alles dort vor jeder ›Nächtigung‹ entlaust. Aber wie sollte ich dort ungestört arbeiten, und vor allem, war es ein dauernder Aufenthalt für einen Studenten der Medizin?

Das vom Leben durch und durch gebeutelte Enzianbrüderchen wußte Rat. Er war durchaus gegen das Asyl und gegen verschiedene christliche, mit Frühaufstehen und Gebeten verbundene Männerschlafstätten, hatte aber auf sein ausgerissenes Blatt aus dem La Rochefoucauld ein sehr ›originelles, oberzünftiges Stüberl‹ im schönsten Viertel der Stadt, dem Prachtturm der Hauptkirche gerade gegenüber, aufnotiert. Die Adresse war nicht billig, und ich mußte 2,50 zahlen, damals ein Vermögen für mich. Es sei eine Bodenkammer, geräumig genug für eine ganze Familie, sagte er lachend. Aber man mußte, um ins Stüberl zu kommen, die eiserne Bodentür mit einem pfundschweren Schlüssel öffnen, dann mußte man sich zwischen den käfigartigen Dachbodengelassen voll staubigen Gerümpels durchwinden, bis man zu einer festen Tür mit Vorhängeschloß kam. Es war ein einfenstriger Raum ohne Waschtisch, ohne Lichtanlage, ohne Ofen, ohne Klosettbenutzung. Die Aussicht war prachtvoll. Es war ein glattgehobelter großer Tisch da, ein Bettgestell mit einer dünnen Matratze und einem groben Leintuch. Auf einem Stuhl stand eine Blechkanne und eine Blechwaschschüssel. Für die Kleider waren Haken da. Es gab Platz genug für Koffer und Kisten, seine Habseligkeiten unterzubringen. Vor Dieben brauchte man keine Angst zu haben.

Die Schwalben pfiffen metallblaugolden im Abendrot vorbei, die Glocken im Turm läuteten. Ich mietete und zog am gleichen Abend ein.

 

Ich hatte aus unserer Wohnung einen alten von Motten zerfressenen Schafpelz meines Vaters, Jagdpelz genannt, mitgebracht. Da keine Kissen im Bett waren, legte ich ihn unter meinem Kopf zurecht und schlief gut, später diente er mir in kalten Nächten, um mich zu wärmen, denn der Frost kam nicht allein durch das Fenster, sondern auch von oben, vom Dachgebälk her. Das gebrauchte Wasser konnte ich in die Dachrinne schütten, statt es hinunterzutragen. Auch eine Lampe hatte die Portiersfrau, die das Zimmerchen auf eigene Rechnung vermietete, beigestellt, mich aber beschworen, nur ja vorsichtig zu sein, denn es bestand Feuersgefahr. Ich brannte möglichst wenig Licht, denn die Lampe soff Petroleum wie das Enzianbrüderchen Schnaps.

Endlich kam ein Brief meiner Eltern. Meine Mutter fragte, warum ich nicht schon bei ihnen sei. Die ›Einmagazinierung‹ unserer Sachen, die Auflösung des Haushaltes wäre doch beendet. Sollte ich glauben, daß mich meine Mutter nur deswegen während des ganzen Sommers nach der gut bestandenen Prüfung in der Stadt festgehalten hatte, damit ich den Wächter und dann den Packer abgäbe? Was sollte ich in S.? Sollte ich auf das Studium verzichten? Und was dann? Sollte ich der einzige sein, der die Unterschlagungen und Liebesabenteuer meines Vaters bezahlte? Und hätte sie wenigstens gebeten! Aber sie schrieb kurz und bündig, herrisch und kalt. Sie verlangte mit Dringlichkeit die ›Liste‹. Ich konnte sie ihr schicken. Alles war in die Kisten gepackt worden, den Jagdpelz ausgenommen, und das hatte meine Mutter ausdrücklich so aufgetragen.

Trotzdem liebte ich die arme Frau, ich liebte sie mehr denn je. Ich hatte einige Fotografien von ihr. Ich besah sie jeden Tag und sprach mit den verblaßten altmodischen Konterfeien, als wären sie Bilder einer Seligen, einer Toten. Sie dachte ja auch an mich! Mit großer Bitterkeit hatte sie mir Vorwürfe gemacht, daß ich mich mit anrüchigem Gesindel in der Bahnhofswirtschaft dritter Klasse herumtriebe, übermäßig tränke und rauchte und mir ›fürs ganze Leben schade‹. War das ihr Grund? Ich hatte von den Eltern jeden Monat nur 25 Mark erhalten. Selbst wenn sie annähmen, daß ich mich davon satt essen könnte, was sollte mir dann für Rauchen und Trinken bleiben? Ich hatte, als sie abgereist waren, alle zwei Tage eine Schachtel Zigaretten gekauft. 25 Stück für eine Mark, jetzt kostete die Schachtel mit 75 bloß 50 Pfennig und mußte eine Woche reichen. Es war ein bitteres Kraut. Auch darauf wollte ich verzichten, wenn es sein mußte. Es ist mir schwerer geworden, auf die Zigaretten zu verzichten als auf das warme Essen. Sie schienen nicht zu ahnen, wie ich lebte, und sie konnten es ja auch nicht wissen, da ich ihnen hatte verheimlichen müssen, daß ich von den 25 Mark nicht weniger als 20 an Vroni und meine Geschwister, die ja auch ganz anders leben mußten als früher, abgegeben hatte. Hieß auch das auf beiden Achseln tragen? Aber mein Unglück war es, beide Parteien zu verstehen, Augenzeuge zu bleiben, nicht zu richten und kein Pharisäer zu sein.

Meine Mutter hatte eine lange lebensgefährliche Krankheit hinter sich. Dadurch war sie etwas selbstsüchtig geworden. Mein Vater war nicht mehr der alte. Zu schnell war er von der Höhe des Oberingenieurs und Villenerbauers und Erhalters zweier Familien und vom unbemakelten Mann herabgesunken – ich sage nicht wozu. Er klammerte sich jetzt an meine Muter, und beide klammerten sich an mich, an mein festes Einkommen, meine Zukunft. Und ich, ich wollte mein altes Leben fortsetzen, wollte mich nicht anpassen, wollte den verhältnismäßig großen Betrag meines Onkels für mich und mein Studium verwenden, so wie er es angeordnet hatte. Sie sahen dies nicht ein. Meinem Vater leuchtete allzuviel Gelehrsamkeit nicht ein, das hatte er schon bei seiner Verachtung des Griechischen ausgesprochen. Dabei hatte er sich seine technische Bildung mit viel Entbehrungen erkauft. Auch meiner Mutter war der Beruf des Arztes zuwider – und das, nachdem sie nur den langjährigen Bemühungen der Ärzte ihr bißchen Leben verdankte. Aber sah sie es denn ein? Sie hatte im Sanatorium ein neues Gelübde getan, und das sollte Wunder bewirkt haben. Sie schrieben mir also, ich sollte zu ihnen kommen und ihnen beim Aufbau einer neuen Existenz behilflich sein. Mein Zimmerchen sei wieder frei, zuletzt habe es eine junge Touristin aus Norddeutschland bewohnt, die ihnen in der kurzen Zeit lieber als eine Tochter geworden sei.

Ich sollte studieren, gut. Sie nahmen großmütig ihr Wort nicht zurück. Aber nicht sofort. Ich sollte vorerst meinem Vater an die Hand gehen und ihm auf diese Weise den Dank für meine kostspielige Erziehung abstatten. Es handelte sich um die Erzeugung von kleinen Holzhäuschen aus wetterfesten Holzplatten, die er ›schwedische Pavillons‹ nannte. Er wollte die Fabrikation ganz im kleinen beginnen, die Furniere konnte man im Ort sägen und pressen und imprägnieren, es bestand ein Bedürfnis für diese kleinen, ganz genau nach einem ausgeklügelten Modell serienweise fabrizierten Häuschen. Allein in S. könne er sofort über ein Dutzend Bestellungen haben. Ich sollte nur so lange warten, bis alles von selbst lief. Das konnte nach der Schätzung meiner Eltern keinesfalls länger als zwei Jahre dauern, und dann war ich immer erst 20. Mein Onkel brauchte nichts davon zu erfahren. Dieses kleine Opfer, ihn darüber hinwegzutäuschen, einen Fremden, könne ich meinem leiblichen Vater schon bringen, denn die 75 Mark seien unentbehrlich, und 25 Mark Taschengeld müßten mir für Zigaretten genügen.

Das sah ich ein. Mein Entschluß war augenblicklich gefaßt. Er hieß, auf das Geld verzichten, trotzdem Medizin studieren und Vroni die 20 Mark nicht wieder fortnehmen. Für die Wohnung war gesorgt. Das Essen konnte ich mir durch Gelegenheitsarbeit verdienen. Koffer schupfen oder in einer Hotelküche Teller waschen. Eine solche Arbeit hatte man der noblen Vroni angeboten. Sie war ihr zu schmutzig. Unrecht hatte sie nicht. Aber ich hatte nicht die Wahl wie sie. Auf diese Weise konnte ich zwei bis drei Mark am Tage verdienen. An Stundengeben dachte ich natürlich auch, verwarf aber den Plan. Eine Handarbeit war vorzuziehen.

Die einzige große Schwierigkeit waren die 110 Mark für die Studiengebühren. Ich trieb mich den ganzen Tag auf der Straße umher und suchte nach einem Ausweg. Schließlich fiel mir ein ganz absonderlicher ein. Ich suchte die Wohnung des Narrenkaisers auf, fragte nach Helmut, von dem ich genau wußte, daß er längst in der Kadettenanstalt von G. war, und als man mir den erwarteten Bescheid gab, bat ich, mit dem Geheimrat sprechen zu dürfen. Er war kürzlich zum Kgl. Bayrischen Geheimrat ernannt worden, und die Feier anläßlich dieser Ehrung war mit seiner fünften Hochzeitsfeier zusammengefallen. Er hatte seit ein paar Monaten eine neue Frau, angeblich ein Wunder von Schönheit. Ich mußte lange warten. Es klingelte des öfteren, und man führte Patienten in das Wartezimmer. Ich war nicht aufgefordert worden, dieses zu betreten, und lauerte in einem Korridor. Nicht in dem Hauptkorridor, sondern in einem anderen, der einem Engpaß glich, denn zu beiden Seiten waren Stöße von verstaubten Büchern und unaufgeschnittenen Broschüren und Zeitschriften aufgestapelt. Ich war plötzlich so müde, daß mir der Gedanke kam, alles gehen zu lassen. Nur das Warten hatte mich müde gemacht, nicht der Widerstand, die Schwierigkeiten. Endlich kam der Geheimrat. Er kannte mich von S. her. Er wußte sofort, daß ich nicht Helmuts wegen gekommen war, und fragte mich, während er eine Zeitschrift aus dem Gerümpel aufnahm und klatschend an seinem schneeweißen Ärztekittel abstaubte: ›Was wollen Sie?‹ Ich entgegnete ihm ohne Förmlichkeiten: »Herr Geheimrat, ich brauche 110 Mark.« Es überraschte ihn, daß ich ohne Verlegenheit, ohne Umschweife sprach. Ich bettelte nicht. Man gibt Bettlern ungern. Den Blick immer noch auf die Seiten der Broschüre gerichtet, forderte er mich stumm, das harte, aus dem Kragen vorspringende Kinn emporreckend, auf, zu reden, ohne sich durch mich in seiner Lektüre stören zu lassen. Ich tat es auch nicht. Ich schwieg. Was gesagt sein mußte, war bereits gesagt. Ich sah genau, daß er mich dauernd beobachtete und daß ihm am Inhalt der Zeitschrift nichts lag. Schließlich gab er nach. Er sprach zwar kein Wort, kramte aber in der Brusttasche seines Kittels und zog aus einem sehr dicken, unordentlichen Geldbündel einen Hundert- und einen Zwanzigmarkschein heraus.

Er gab mir das Geld, aber nicht die Hand. »Sie müssen das Geld bei mir demnächst abarbeiten«, sagte er, »übrigens lassen Sie sich ein Mittellosigkeitszeugnis geben, dann können Sie gratis studieren.« Er blieb noch im Korridor stehen, während ich die Wohnung über die Dienstbotentreppe verließ.

 

Ich wußte durch meinen Kameraden Helmut, daß sein Vater einen starken Verbrauch an Menschen hatte. Das heißt sowohl an schönen Frauen als auch an ›wissenschaftlichen Mitarbeitern‹, die er teils als Assistenten besoldete, teils als Privatsekretäre oder aushilfsweise.

Er war ein von stets wechselnden Ideen besessener Gelehrter, nicht ohne Erfolg als Wissenschaftler in der Theorie. Ob er als Arzt praktischen Erfolg hatte, wußte sein Sohn nicht. Er meinte aber, das beweise nichts gegen die Größe seines Vaters. Im Grunde war er trotz der harten Behandlung blind vor Bewunderung. Sein Vater sei ein Genie, die geistig Erkrankten seien aber auch in der Hand eines Genies ohne Rettung. Man könne nur an ihnen studieren, sie bei Lebzeiten beobachten, ihr Gehirn nach dem Tode unters Mikroskop nehmen. Es sei aber der Mensch noch nicht aufgestanden, welcher einem geistig Kranken bewußt und methodisch, systematisch den Verstand wiedergegeben habe. Wozu auch, hatte der phlegmatische Helmut, hinzugefügt, es muß auch Narren geben, schon allein deshalb, damit sich mein Vater wie ein Herrgott unter ihnen fühlt.

Ich habe übrigens selbst Gelegenheit gehabt, Jahre nachher, Kaiser am Bett seiner Kranken oder im Anstaltspark und so weiter zu beobachten. Ich habe ihn immer fast väterlich, ja kameradschaftlich mit den Geisteskranken umgehen sehen in der Art, wie er mit ihnen sprach oder auf sie einwirkte. Fast alle, auch die leicht Erkrankten, waren, wenn man es beobachtete, in einer anderen Welt als Kaiser oder ich oder die Wärter, und es schien mir sogar manchmal, die Geisteskranken und Halbverrückten wirkten mehr auf die Gesunden ein als umgekehrt.

Er ließ ihnen viel durchgehen. Mehr als seinen Kindern. Er, der seinen Helmut einmal in S. wegen eines geringfügigen Zigarrendiebstahls ›krumm und lahm‹ geprügelt hatte, entließ seinen Oberwärter, der sich 15 Jahre lang in diesem so verantwortungsvollen Amt bewährt hatte, weil er einem tobsüchtigen Kranken einen leichten Schlag versetzt hatte, den dieser nicht spürte. Denn er hatte darauf mit einem schallenden Gelächter geantwortet.

Manchmal gewann ich nahezu den Eindruck, er verehre das mystische Dunkel dieser unbegreiflichen Geister; es ziehe ihn magisch an, und er fühle sich wohl in ihrer Gegenwart voll Toben, Trauer, Freude und Geheimnis und Verwirrung, Verzweiflung, Zerstörung.

Mit mir ging Kaiser nüchtern und streng um. Wenn ich geglaubt hatte, diese 120 Mark seien ›leichtverdientes Geld‹, um diesen Ausdruck meines Vaters zu gebrauchen, hatte ich mich getäuscht.

Die Studienzeit hatte begonnen, ich war den Tag über in den Hörsälen, studierte Anatomie, Physiologie, Botanik, Mineralogie, Chemie. Nachher ging ich in die Bibliothek, da ich mir keine Bücher anschaffen konnte.

Das zum Lebensunterhalt notwendige Geld erwarb ich mir, da jetzt im Spätherbst mit Kofferschupfen nichts zu verdienen war, in der Hotelküche des großen Hauses ›Zum Prinzregenten von Bayern‹.

Ich konnte nur abends im ›Abwasch‹ arbeiten, aber man stellte mich an. Ich sah bald, daß man mich aus Mitleid aufgenommen, daß man, auch ohne daß ich sagte, wer ich sei, in mir einen Menschen aus besserem Haus, einen gut erzogenen ›Hungerstudenten‹ gesehen hatte, bei dem es nicht notwendig war, die silbernen Bestecke (man aß im ›Prinzregenten‹ von echtem Silber) nachzuzählen. Ich wusch anfangs langsam und schlecht und zerbrach viel Geschirr in dem Bestreben, gut und schnell zu waschen.

Tellerwaschen ist viel schwerer, als man glaubt. Zehn Teller waschen sich ohne Schwierigkeit. Aber wenn man an den fünfzigsten und an den hundertsten kommt und immer neues Geschirr mit dem mechanischen Aufzug in den im Souterrain gelegenen ›Abwasch‹ hinabtransportiert wird und man immer wieder das mit Fett und Speiseresten bekleckerte Geschirr in die Hand nehmen, es immer wieder unter den heißen Wasserstrahl halten, es mit einer nicht mehr ganz neuen, schon weich gewordenen, mit dem widrigen weißen Fett inkrustierten Bürste abscheuern muß und wenn der Geruch des Fettes und der Speisen und der Waschlauge einem hochsteigt (der Geruch nach Wild, das es in dieser Jahreszeit sehr reichlich gab, ist mir anfangs besonders verhaßt gewesen), dann verläßt einen manchmal alle Kraft. Man läßt einen Teller fallen. Aber an dem inneren Hochgefühl, das man hat, wenn man ihn auf dem Steinboden prächtig klappernd zerschellen hört und die blitzenden Scherben alle sieht – daran merkt man, wie zuwider einem die Teller und Schüsseln geworden sind.

Aber ich zwang mich mit dem Aufgebot aller Energie, die Teller nicht mehr zu hassen, den Geruch nach Fett und nach Reh nicht mehr zu verabscheuen und für das bißchen Geld das zu tun, was man von mir erwartete, denn bei allem Wohlwollen für den ›Hungerstudenten‹ wollte man gute Arbeit, und mit Recht.

Anfangs aß ich nach der Arbeit, um in aller Ruhe die Speisen genießen zu können. Dann habe ich mir mit stark parfümierter Seife die Hände gewaschen.

Manchmal durfte ich sogar baden – aber ich gab diese Methode auf. Mein Hunger war bei der Arbeit vollständig vergangen, und ich konnte nichts Gekochtes und nichts Gebratenes mehr riechen und mußte mit leerem Magen fortgehen. Ich bat die gutmütige ›Wirtschaftspflegerin‹, welcher dieser Teil der Hotelwirtschaft unterstand, vor Beginn der Arbeit essen zu dürfen, und sie, die einmal als ›Abwaschmadel‹ angefangen hatte, gestattete es mir trotz des Widerstandes des anderen Küchenpersonals, das in mir den ›Gebüldeten‹, den hochmütigen Eindringling haßte. Und wie hatte ich mir Mühe gegeben, ›bescheiden‹ zu sein! Nicht jedem gelingt es wie meinem Vater. Aber schließlich schlössen wir Frieden, denn wir aßen alle aus dem gleichen Topfe.

Ich hatte es als bloße Formsache betrachtet, daß der Geheimrat mich aufgefordert hatte, mich zu melden. Die 120 Mark drückten mich ja nicht. Aber es war nicht so gemeint. Ich rief eines Abends aus Gewissenhaftigkeit bei ihm an und glaubte, man würde mich gar nicht mit ihm verbinden. Ich war erstaunt, als ich die Stimme des hohen Herrn vernahm, der sich bitter beschwerte, daß ich mich erst jetzt meldete. Ich solle sofort zu ihm kommen.

Zum Glück war es Montag, mein einziger freier Abend in der Woche.

Ich eilte also sofort hin. Er war nicht da, hatte mir aber hinterlassen, ich solle warten. »Er ist zum Protokolle stenographieren«, raunte mir die Empfangsdame zu, eine nicht mehr ganz junge, aber immer noch schöne Frau. Er mußte eben immer Schönheit um sich haben.

Mir war alles recht. Im Stenographieren war ich nicht ungeübt. Meine Aufzeichnungen, die ich zuerst in deutschen, dann in griechischen Lettern abgefaßt hatte, schrieb ich jetzt mit stenographischen Hieroglyphen. Ich durfte diesmal in das prächtige Wartezimmer mit den alten holländischen Bildern. Die Uhr schlug neun, er kam nicht. Ich hörte im Nebenzimmer die junge Frau Geheimrat mit rosiger Stimme, wenn ich so sagen darf, ein Liedchen trillern, dann lange mit einer Freundin telefonieren, dann sich mit dem Papagei unterhalten, schließlich wurde es still, die Uhr schlug zehn, er kam nicht.

Die Empfangsdame trat ein, warnte mich davor, vorzeitig wegzugehen. Er werde dann fuchsteufelswild und hätte ohnehin einen Pik auf mich. Dabei hätte er schon oft von mir gesprochen und mich, sie wußte nicht aus welchem Grunde, in S. seinem phlegmatischen Helmut hingestellt als das Muster eines wahren modernen Spartaners. Ich war schon vom Judenkaiser als Musterbild heroischer, stoischer Tapferkeit hingestellt worden, und es hatte nicht gut geendet für mich.

Aber was war zu tun? Zuerst setzte ich mich, dann legte ich mich auf das Sofa, erwachte um drei Uhr morgens, zog mir die Kleider und die Schuhe aus, um sieben Uhr zog ich sie mir wieder an, suchte die Empfangsdame auf, bat sie, mich ins Badezimmer zu führen, wo ich mir die Gelegenheit zu einem Bade nicht entgehen ließ, und verließ um dreiviertel acht das Haus, um ins Kolleg zu gehen. Ich hatte einen guten Kaffee im Magen, war froh und sang. Er war nicht heimgekommen. Man wußte nicht warum. Er hatte aber gegen fünf Uhr morgens angerufen, man solle mich nicht wecken, aber mir ausrichten, ich solle ihn unbedingt morgens anrufen.

Aber alle meine Schwierigkeiten, selbst die, meinem Wohltäter Kaiser die von ihm erwarteten Gegendienste zu leisten, schreckten mich nicht. Je mehr Hindernisse, desto mehr Energie. Ich war jung und frei, und ich lebte gerne.

 

Wäre es mir gelungen, meiner Mutter wieder näherzukommen, wäre ich wohl fast ganz glücklich gewesen. Was war mir im Grunde alle neue Wissenschaft im Vergleich mit ihr, der Alten, Armen und Geliebten? Aber sie schrieb geschäftlich, sachlich, und wenn es mich auch noch so trieb, ihr anders zu antworten, nämlich aus dem Herzensgrunde, so tat ich mir doch Zwang an und schrieb ihr eher noch kälter, ich wollte ihr nicht zur Last fallen und verzichtete gerne zu ihren Gunsten dauernd auf die 75 Mark und brächte mich gut durch. Ich erwähnte meinen Vater absichtlich nicht. Ich zürnte ihm, weil ich ihn nicht mehr so zu achten vermochte wie früher. Nämlich nicht so wie zu der Zeit, wo er noch oben war. Meine Mutter muß mich hier besser verstanden haben, als ich mich selbst verstand. Sie nahm seine Partei, mit jedem Briefe mehr, und ich war und blieb der Friedensstörer trotz meiner scheinbar so großmütigen Handlung.

Scheinbar? Bezahlte ich sie denn nicht teuer genug? Lebte ich nicht mutterseelenallein in meinem gottverlassenen Dachstübchen, blickte ich nicht täglich ihre Fotografie an, zeigte ich diesem Bildchen nicht alles, was ich sah und erlebte, indem ich es neben mich an die Fensterscheibe hielt, so daß die Augen der Fotografie die Außenwelt, die Kirche mit dem Glockenturm und am Horizont die azurne verträumte Kette der Berge sahen? Zog ich nicht meine Mutter im Geiste, also in der Liebe, während des ganzen Tages durch den Hörsaal, die Bibliothek, ab und zu in die Volksküche und sechsmal in der Woche mit in den Abwasch der Hotelküche des ›Prinzregenten von Bayern‹? Einmal, kurz vor Weihnachten, spendete uns dort allen die Wirtschaftsverwalterin je ein Glas Glühwein. Ich preßte das heiße Glas an meine Wange und drehte es zart hin und her und dachte mir dabei, es sei die Wange meiner geliebten Mutter, die sich an die meine schmiege.

Ich weinte nicht, ich seufzte nicht. Seit meinem Erlebnis mit dem undankbaren Roß war mir die Gabe zu weinen abhanden gekommen. Und doch sehnte ich mich nach ihr. Aber nach ihr, sowie sie einmal gewesen war, nicht nach ihr, wie sie jetzt lebte. Zwischen beiden war eine tiefe Kluft. Aber ich dachte und hoffte, eines Tages würde sie, die mich doch so gut kannte und mich deshalb auch lieben mußte, diese Kluft erkennen, alles stehen und liegen lassen, zu mir kommen und dann mit mir allein zusammenleben, meinen Vater und seine schwedischen Pavillons seelenruhig sich selbst überlassen.

Es hatte keinen Sinn, sich weich zu machen und dem nachzutrauern, das ich auch mit aller Energie nicht wiedererlangen konnte. Weihnachten kam, ich erwartete sie hier, sie erwarteten mich bei sich. Vergebens.

Kurz nach Beginn des neuen Jahres kam ich in der Anatomie zu den praktischen Übungen, zu meiner ersten Sektion. Man hatte mich vor den üblen Gerüchen gewarnt. Aber mit mir war etwas Merkwürdiges vorgegangen. Ich roch jetzt überall nichts als Fett und ›angegangenes‹ Reh. Es war so stark, daß ich glaubte, auch alle anderen müßten es riechen. Einmal waren im Kolleg die Nachbarn von mir weggerückt. Ich führte dies nicht darauf zurück, daß weiter unten, dem Vortragenden näher, ein paar Plätze frei geworden waren, sondern darauf, daß sie vor meinem Geruch zurückgewichen waren. Ich stellte sie zur Rede. Sie nahmen die Sache nicht ernst, hielten sie für einen Scherz. Trotzdem verließ mich diese Idee meines üblen Geruches nicht.

Im Sektionssaal konnte ich von dem Verwesungsgeruch nichts finden. Es blieb die Fettatmosphäre um mich, wie sie beim Frisör oder im Wartezimmer des Geheimrats um mich gewesen war. Ich ließ das also sein, wie es war, und machte mich an meine Partie, die durch einen kleinen Pappdeckelkarton an dem Leichnam gekennzeichnet war. Mir und noch fünf Kollegen war eine schlanke, zierliche, wohlgebildete Leiche zugewiesen, das Gesicht friedlich, sogar etwas spitzbübisch. So fahl das Antlitz war, in welchem sich die Lippen von der umgebenden Haut nur durch ihre Runzelung und ihre etwas dunklere Farbe unterschieden, so erkannte ich es sofort wieder, es war das Gesicht des Enzianbrüderchens. Es war eine schauerliche Empfindung, als ich von der linken Hand, die mir als Sektionsobjekt zugewiesen war, das Papptäfelchen mit meinem Namen abnahm. Die Hand gehörte mir, wie es hieß. Sentimentale Gefühle änderten nichts an seinem Schicksal, nichts an meiner Aufgabe. Ich machte mach an die Arbeit, zuerst mit Herzklopfen, dann immer ruhiger. Ich zeigte mich anstelliger, als ich gedacht hatte. Der Assistent, der uns alle beaufsichtigte, war mit meiner Arbeit nicht unzufrieden.

Ich hatte über der objektiven Wissenschaft den Enzianbruder nicht vergessen. Ich wußte, und wie gut noch, was er im Leben gewesen war. Ich hatte sogar seine Vagabundengeschichten treu im Gedächtnis, ich sah die Bleistiftnotizen voll Witz und Ironie vor mir, mit welchen er seinen La Rochefoucauld kommentiert hatte. Aber nach kurzer Zeit hatte ich dies nicht mehr vor Augen, sondern einzig das greifbare, positive Wunderwerk der menschlichen Hand.

Wer dieses Wunderwerk der Mechanik begriffen hat, neben welchem die Mechanik eines Automobils, eines mechanischen Webstuhles, einer hundertpferdigen Lokomotive wie Stümperwerk erscheint (von einer blöden Riesenkanone ganz zu schweigen, die nichts kann als Menschen zerfetzen), wer nicht vor seinen Augen gesehen hat, wie sich in dem winzigen Raum zwischen Haut und Knochen die verschiedensten Sehnen, Strecker und Beuger, Nerven, motorische und sensible, Adern, zuführende und abführende, einordnen, wie sie hier zusammenarbeiten, sich genial einfach ergänzend, der mag mich verurteilen. Ich stand als der letzte von meiner Arbeit auf. Ich hatte alles andere vergessen, selbst meine Mutter, selbst Dr. Kaiser, der mich an diesem Abend erwartete, ich ging wie von Sinnen heim, versank in einen traumlosen seligen Schlaf und erwachte am nächsten Morgen wie neugeboren, mit großer Freude am Leben.

Ich war in letzter Zeit öfter bei Kaiser zum Diktat gewesen. Anfangs hatte er sich den Spaß gemacht, zu versuchen, ob er mich zu Tode hetzen, das heißt, ob er schneller diktieren könne, als ich nachzuschreiben vermöchte. Das erste Mal ist es ihm gelungen, das zweite Mal nicht mehr. Ich konnte, was ich wollte. Und mochte es eine Nacht mit viel Übungen und sehr wenig Schlaf kosten. Oft war ich bei ihm freilich so müde, daß er mich aufrütteln mußte, wenn er eine lange Pause gemacht hatte und ich eingenickt war. »Wachen Sie auf, schreiben Sie!« raunte er mir zu. Ich wachte auf, ich schrieb. Ab und zu fragte er mich nach der Arbeit: »Brauchen Sie vielleicht etwas Geld?« Ich brauchte es immer. Die Kosten des Studiums waren höher, als ich gedacht hatte. Er nahm es mir nicht übel, daß sich meine Schuld bei ihm vergrößerte, vielleicht hatte er sogar damit gerechnet. Diesmal entschuldigte er mein Fernbleiben wegen der Anatomie. Er war es, der mich in Hinkunft immer auf die Anatomie hinwies. Er prüfte mich sogar manchmal mit mehr Strenge als Gerechtigkeit. Ich dachte, er täte es meinetwillen, er wolle mich wie ein Vater führen.

 

Ich hielt damals mein Leben für sehr hart, es war aber nur äußerlich schwierig, im Innern war es leicht, denn das Ziel, das ich mir gesetzt hatte, der ärztliche Beruf, war kein schweres, kein unerreichbar fernes, unpersönliches Ziel, sondern es bestand alle Aussicht, daß ich es erreichen würde.

Meine Bedürfnisse waren gering. Ich konnte als Arzt oder als Gelehrter von sehr geringen Einnahmen leben. Ich wollte, so spät wie möglich, um lange frei zu bleiben, eine Frau wählen, welche dieselben Interessen hatte. Ich dachte dabei nicht an eine sehr junge, sehr lebensgierige Frau, ich widerstrebte einem ›unreinen Gefäß‹, mochte es noch so glatt und zierlich sein, ich dachte an eine Frau, die etwas älter war als ich, um die ich nicht zu kämpfen, an der ich nie zu zweifeln hatte, die selbst bei Schwierigkeiten und in Konflikten unbedingt zu mir halten würde. Erst später habe ich erkannt, dieses Idealbild war nichts anderes als das – meiner Mutter. Nur wollte ich nicht ihr Sohn sein, den sie zuerst mit überschwenglicher Liebe verwöhnt und für den Lebenskampf geschwächt und schließlich doch im Stiche gelassen hatte dem Gatten zuliebe, sondern ich wollte die Rolle meines Vaters spielen, mit dem sie jetzt durch dick und dünn zusammenging.

Sie kam eines Tages zu mir und stieg die vielen Treppen hinauf, ohne den Atem zu verlieren. Ich sperrte die schwere Bodentür auf und leitete sie an der Hand zwischen den Speichergelassen in meine Stube. Sie setzte sich ans Fenster und sah sich die Aussicht an. Zu mir sprach sie nicht viel. Sie hatte eben ihre Pflicht als Mutter erfüllen wollen, denke ich. Sie staunte nicht über meine elende Existenz. Sie dachte nur an den Neuaufbau der Existenz meines Vaters. Daß er Entbehrungen auf sich nehmen mußte, ›in seinem Alter und nach allem, was er geleistet hat‹, das bedrückte sie. Sie wollte mich glauben machen, ihm sei Unrecht geschehen. Geliebt habe ich sie immer noch, aber ich hielt sie nicht zurück, als sie schon am Nachmittag abreisen wollte. Wozu den Nachtzug nehmen?

Mein leiblicher Vater würdigte mich keines Besuches.

Mein geistiger Vater, der Geheimrat Kaiser, dachte wohl auch daran, wie er seinen Nutzen von mir ziehen könne. Dabei erwies er mir aber viele Wohltaten, er wollte mich das lehren, was das Leben und La Rochefoucauld mich nicht hatten lehren können: Mißtrauen allen Menschen gegenüber, auch sich selbst gegenüber. Aber beherrschte denn er selbst immer und überall diese Kunst, die vielen angeboren war?

Er erwies mir aber einen anderen großen Dienst, vom Geld ganz abgesehen. In diesem Land, in dieser übersättigten Zeit, die in dem Größenwahn ihrer technischen Fortschritte, ihres Goldes, ihrer Industrie, ihrer politischen Macht, mitten in ihrem eigenen Überfluß erstickte und nicht wußte, wohin mit sich, zeigte er mir, daß es wenigstens auf dem Gebiete der Wissenschaft noch ungeheure brachliegende Landstriche, daß es fast unermeßliche weiße Flecke auf der Weltlandkarte des menschlichen Wissens gab und daß der Arbeit kein Ende sei. Also auch keines der Freude, der Hoffnung, des Glücks, wenn man unter Glück die Illusion versteht, man habe eine Aufgabe im Leben zu erfüllen, die uns und keinem anderen zugewiesen sei.

Vorerst freilich spielte sich alles nicht so philosophisch ab. Ich wusch Abend für Abend außer Montag, meine Hände glitschten unter der Wirkung der im Abwaschwasser aufgelösten schwarzen Seife und des weißen Sodapulvers, und ich schleppte mich manchmal wie mit gelösten Kniekehlen, fade lächelnd vor Müdigkeit, zum Hoteltelefon, um ihn pflichtgemäß anzurufen. Hier im Hotel konnte ich umsonst telefonieren und sparte die 10 Pfennig für den Telefonautomaten. Vielleicht war es nicht allein der strenge Begriff der Pflicht, sondern auch die noch strengere tägliche Not, die mich ans Telefon zwang. Ich sah ein, daß ich nicht ewig imstande sein würde, so erbärmlich wenig zu essen, in unheizbarem Raum zu wohnen und im Schweiße meines Angesichts als Wäscher zu arbeiten. Meine einzige Hoffnung war er.

Wenn ich aber glaubte, er würde es mir an diesem oder jenem Abend ersparen, zu ihm zum Diktat zu kommen, angesichts der vorgerückten Stunde, wo ich ihn manchmal aus dem Bett klingeln mußte, täuschte ich mich. Er dachte nicht daran. Ich mußte meinen Vorschuß abarbeiten. Ich sagte, ich wäre nicht vor elf Uhr frei. »Um so besser«, antwortete er mir, »dann nehmen Sie eine Droschke, lassen Sie die Rosse peitschen, und kommen Sie!« Eine Droschke nehmen, ich, der ich 50 Pfennig pro Stunde mit dem Abwasch erwarb und dessen Sekretärdienste er auch nicht besser bezahlte! Ich trabte also fast tot vor Erschöpfung zu ihm. Er kam in einem rotseidenen Schlafrock und roch stark nach dem Parfüm seiner Frau, welche jetzt die Parfümmanie hatte, wie ich von der Empfangsdame erfahren hatte. Die Bezeichnung ›Manie‹ war im Haus des Psychiaters nicht absonderlich, im Gegenteil. Niemals bot er, eine Zigarre nach der anderen rauchend, einen französischen Kognak nach dem anderen hinunterschüttend, mir eine Zigarette oder ein Glas Wasser an. Und trotzdem, diese Diktatstunden wurden mir eine Freude, keine Last. Ich ging zwar ungern zu ihm hin, aber auch nicht gern wieder fort.

Es war die Zeit, wo die exakte Wissenschaft sich an himmelstürmende Aufgaben machte in einem ungeheuren Aufschwung, den sie der modernen Technik, dem Mikroskop, dem Experiment im allgemeinen verdankte, und der Vorurteilslosigkeit der Gelehrten, für die es weder Gott noch Satan gab, sondern nur die ›voraussetzungslose Wissenschaft‹. Der Chemiker wollte künstliches Eiweiß erzeugen und dadurch die soziale Frage in der Eprouvette lösen, der Nervenspezialist und Psychiater mutete sich zu, eines Tages im menschlichen Gehirn die Stelle zu finden, wo das Zentrum des Glaubens an Gott oder der Begriff des Ich lag und wo die Geisteskrankheiten ihren anatomischen Sitz hatten. Kein Schleier der Natur war so dicht, als daß die damals zu gleicher Zeit so zukunftsfreudige und an sich verzweifelnde blasierte Menschheit sich nicht zugetraut hätte, ihn zu lüften, allen vergangenen Geschlechtern zum Trotz.

Und sie ging noch weiter. Ein Mann wie Gottfried Kaiser mutete sich zu, die bis dahin als unheilbar erkannten Geisteskrankheiten oder die angeborene Schwäche der Intelligenz, Imbezillität genannt, durch eine geniale Kombination der modernen Technik (zum Beispiel Elektrizität) mit rein wissenschaftlicher Erkenntnis zu heilen. Die großartigen Fortschritte, die damals das wissenschaftliche Weltbild durch die Entdeckung des Radiums und der Hertzschen elektromagnetischen Wellen gemacht hatte, ließen alles als möglich erscheinen. Es schien nichts nötig zu sein außer einer gewaltigen Energie, absoluter Objektivität und genügend Zeit und Geld, um die Experimente zu machen. Wir, Kaiser und ich, verfügten über das alles. Was er nicht hatte, besaß ich. Er hatte mehr Geld, ich hatte mehr Zeit. Sie war mein Kapital.

Er gab mir weder beim Kommen noch beim Gehen die Hand, er hatte eine krankhafte Scheu, seine Hand berühren zu lassen. Das störte uns nicht, mit der Zeit wurden wir beinahe Freunde, gute Arbeitskameraden auf jeden Fall.

Im Frühjahr hatte ich ein paar Vorprüfungen zu bestehen. Ich mußte sie ablegen, um dann auf Staatskosten studieren zu können. Kaiser, der außer seinen großen Einnahmen über ein riesiges Privatvermögen verfügte und der jeder seiner vielen Gattinnen eine große Rente bezahlte, hätte mir diese Prüfungen, vor denen ich zitterte, mit etwas Geld ersparen können. Er dachte nicht daran und hatte damit wie mit allem im Grunde recht. Ich war überrascht, als ich sie mit Glanz bestand. Keine Frage gab es, die ich nicht sofort, und zwar exakt und korrekt, beantwortet hätte. Und ich war doch bisher immer ein so mäßiger Schüler gewesen. Ich behielt meinen Sieg für mich. Ich hatte erkannt, daß ich ihn nur dem Umstand verdankte, daß ich mich auf eine Sache konzentrierte und daß ich mehr mit dem Willen lebte und weniger mit dem Gefühl. Auf eine kleine Liebhaberei hatte ich dabei nicht verzichtet, ich hatte mein Französisch weiter getrieben. Mit wenig Erfolg, gestehe ich. Denn lebende Sprachen lernt man schlecht aus toten Büchern, und alle Willensenergie versagte hier.

Noch eine gute Folge hatten die mit Glanz bestandenen Examina. Als ich das letzte erledigt hatte, atmete ich tief auf – und welch Wunder, der Fettgeruch, der mich bis dahin so zäh verfolgt und ekelhaft belästigt hatte, war verschwunden. Er kam nicht wieder. Sollte er weiter um mich geschwebt haben als unheilige Opferwolke, mir kam er jedenfalls nicht mehr zum Bewußtsein.

Ich hatte mich schon auf ruhige Sommerferien gefreut, als mir Kaiser sagte, ich solle mit nach S. kommen, er würde mir monatlich 30 Mark zahlen, das heißt, diese Summe von der auf fast 300 Mark angelaufenen Schuld abziehen und mich nutzbringend beschäftigen. Ich willigte ein, froh, meine Eltern trotz allem wiederzusehen und mit ihnen wie früher zusammenzuleben, und immer noch in der Hoffnung, sie würden ihr Unrecht einsehen.

Auf dem Bahnhof in S. erwarteten uns zwar nicht meine Eltern, aber Kaisers Söhne, Karl Otto, der älteste, und Helmut, die aus Norddeutschland gekommen waren. Helmut war nicht mehr so mädchenhaft hübsch wie zur Zeit, als ich ihn kennengelernt hatte. Er schien mir etwas verändert, bedrückt, trüb und scheu, voll verhaltener Leidenschaft. Er wollte mich unbedingt sofort sprechen. Ich sah, seinem Vater war es nicht recht. Ich verschob diese Aussprache und fragte ihn, wo sein Phlegma geblieben sei. Mein erster Gang war zu unserem Holzhäuschen.

Sie saßen zu zweit im Garten, mein Vater, etwas alt und dick geworden, hatte ein paar hellbraune Furniere und einen Notizblock vor sich liegen, offenbar arbeitete er an seinen Holzmodellen. Er zeigte mir nachher ein solches in stark verkleinertem Maßstabe. Ich lernte auch den Sommergast, den blonden Mädchenzauber, kennen. Das Fräulein, Heide genannt, in knapper bunter Landestracht, stand in der Küche und kochte Früchte ein, aber nicht die bissigen Holzäpfel, an denen meine Mutter sich seinerzeit vergeblich versucht hatte, sondern Himbeeren, deren herrliches Aroma das ganze Häuschen erfüllte.

Wir tranken Kaffee im Garten. Ich war mit den Meinen keinen Augenblick allein. Nach dem Kaffee legte sich der Sommergast in die alte Hängematte. Mein Vater schaukelte sie vorsichtig, sog dabei an seiner Stummelpfeife und warf ab und zu einen Blick auf seinen Notizblock und auf meine Mutter, die seine Socken stopfte. Sie kamen gar nicht auf den Gedanken, ich könnte Quartier und Kost von ihnen verlangen, das heißt, mein Vater und sein Sommerschmetterling nicht. Aber ich fing einen Blick von meiner Mutter auf, in dem noch etwas von ihrer alten Liebe und Sorge war, etwas von ihrer alten Gestalt, wie sie vor ihrer Wallfahrt gewesen war. In mir wallte es heiß auf. Aber ich sagte mir, es sei sinnlos, das Vergangene mit Gewalt aufzurühren, nur weil sich gerade jetzt eine gute Gelegenheit dazu bot.

Ich stand auf, gab ihnen allen dreien (sie bildeten untereinander einen gemütlichen behaglichen Familienkreis) die Hand und kündigte ihnen an, ich würde wohl im Orte bleiben, aber beim Geheimrat wohnen und essen, weil er mich zu seiner Arbeit brauche. Meine Mutter wurde purpurrot, als sie diesen Entschluß hörte, mein Vater schaukelte das weizenblonde Fräulein gelinder und zog stärker an seiner Pfeife, schließlich beruhigte sich alles, und ich ging in Frieden. Als ich zurückblickte durch die Latten des Tores und die rostige alte Schelle klang, sah ich, daß meine Mutter ihre Socken wieder aufgenommen hatte. Sie hatte mir nicht nachgeblickt. Ich seufzte und klagte nicht. Ich sah, was es war. Ich dachte, vor einem halben Jahr, im Winter, als ich in der Hotelküche das heiße Grogglas an meine Wange gehalten und mir eingebildet hatte, das sei sie – damals sei sie mir näher gewesen.

Der Geheimrat wartete schon mit Ungeduld auf mich. Er hatte mir ein schönes, helles, nach dem See zu gelegenes Zimmer im Parterre eingeräumt, ich sollte am Tisch mit der Familie essen, ich durfte die Badehütte und die verschiedenen Ruderboote der Familie benutzen.

Von Jagd war für ihn, wie es schien, diesmal nicht die Rede. Der Hausherr hatte keine Jagdhunde auf Urlaub mitgenommen. Er hatte seine Zwinger aufgelöst, die Tierexperimente schienen nicht ›mit Glanz‹ verlaufen zu sein, wenigstens ließ er kein Wort verlauten.

Ich bin aber auch nicht zum Rudern, kaum einmal in der Woche zum Schwimmen gekommen. Ich arbeitete. Es handelte sich um eine damals ganz neue Art von Untersuchung, nämlich die systematische, lückenlose, mikroskopische Durchforschung eines menschlichen Gehirns, das in zahlreiche Schnitte, ich glaube an 2000, zerlegt war. Diese schwierige mechanische Vorbereitung der Gehirnstudien war längst in der Stadt erledigt worden, die Schnitte waren zu je 100 in zahlreichen numerierten Holzkistchen mitgebracht worden, die Kosten sollen über 5000 Mark betragen haben.

Mir war damals das menschliche Gehirn nicht mehr ganz unbekannt. Ich hatte Schnitte durch das Gewebe schon oft unter dem Mikroskop gehabt, aber niemals einen Querschnitt durch das ganze Gehirn, der außergewöhnlich schwer herzustellen war, immer nur kleine Partien. Ich konnte die Rinde von den tiefer liegenden Schichten bereits einigermaßen gut unterscheiden. Ich wußte, was ein Kern, ein Ganglion war, eine Nervenscheide, eine Markfaser, eine Bahn, eine motorische oder sensible Leitung, aber diese kümmerliche Schülerweisheit war alles.

Ich muß nun Kaiser für eine nur scheinbar nebensächliche Anordnung danken. Er hat während der ganzen fünfeinhalb Jahre, während derer ich für ihn und mit ihm arbeitete, es sorgfältig vermieden, die Zeitfolge meines regulären Studiums zu stören. Ich wäre vielleicht schon jetzt neugierig gewesen, das Gehirn eines Paralytikers zu mikroskopieren, die Krankengeschichte eines Irren kennenzulernen oder einen solchen psychiatrisch oder klinisch zu untersuchen. Er ließ es nicht vorzeitig dazu kommen. Ich erfuhr von den Geisteskrankheiten durch ihn erst dann Näheres, als ich auch im regulären Lauf meiner Studien, im vierten Studienjahre, zu diesem Gegenstand kam. Er setzte sich also jetzt zu mir. Er wies mir unzählige Einzelheiten, die mir wie jedem Ungeübten entgangen wären. Er ließ sich seine Geduld nicht rauben. Er sparte nicht mit seiner Zeit, im Anfang wenigstens nicht. Ich hätte manchmal, besonders bei strahlendem Wetter, mich lieber in den blaugrauen, lebhaft vom Ostwind bewegten kristallklaren See gestürzt. Er hielt mich fest. Ohne Worte, ohne Versprechungen, sachlich.

Seine junge Frau hielt er vielleicht nicht ebenso stark, weil er bei ihr nicht ebenso ruhig war. Katinka, die sich während der ganzen Zeit in der Stadt auf das Zusammensein mit ihrem Gatten gefreut hatte, klopfte an der Tür. Ihre ›rosige‹ Stimme erklang in ihrem ganzen Kinderzauber. Ihr Hündchen winselte und bellte. Er ließ sie warten und bat mich schließlich, ich solle den drei Jungen sagen (inzwischen war auch der jüngste Knabe eingetroffen), sie sollten ihre Mutter (mit der sie gar nicht verwandt waren) auf einen Spaziergang zu den Osterseen mitnehmen, sich aber vor dem trügerischen Moor hüten.

Er sprach fast nie von persönlichen Dingen mit mir, dies hatte ich schon in der Stadt bemerkt. Dennoch war mir bald vieles klar. Denn es war immer mein Bestreben, in den Menschen zu lesen wie in mir, um sie zu beherrschen wie mich selbst.

Er, mit seinen grauen Haaren und verwitterten Zügen, liebte, und zwar auch diesmal so, wie er immer geliebt hatte, stürmisch, fast besinnungslos, wie ein Jüngling, alles um sich vergessend. So fing er nämlich jedesmal an. Er vergötterte die junge Katinka mit der Parfümmanie, der rosigen Stimme, das feine, adelige Geschöpf. (Alle seine Frauen stammten aus aristokratischen Familien, meist verarmten.) Nach einer gewissen Zeit aber, als er die Frauen durchschaut hatte, hatte er sich jedesmal langsam, schonend, aber unerbittlich von ihnen abgewandt und sich als reifer Mann, der er doch war, spartanisch seiner Gelehrtentätigkeit wieder zugewandt. Er hatte nur nach dem besten Wege gesucht, um sich von ihnen zu befreien. Diesmal aber schien ihm der Schluß nicht so gut zu gelingen, wie ihm der Anfang gelungen war. Bisher hatten sich die Frauen immer stärker an ihn geklammert, je mehr er sich von ihnen abwandte. Die letzte aber, ein strohdummes, aber äußerst niedliches Ding, mit jener flötentonartigen, seelenlosen Stimme begabt, der, für ihn wenigstens, schwer zu widerstehen war, hatte es verstanden, dem Blaubart nicht zu verfallen. Sie lachte, tollte, blieb aber kühl, kapriziös, schmückte sich für sich, parfümierte sich für sich und herzte das braune gelockte Hündchen so, wie der Geheimrat geherzt werden wollte. Vergebens verschanzte sich der Alte hinter seine Gehirnschnitte, schon nach zwei Wochen gab er mir mein Pensum auf, blieb aber nur eine bis zwei Stunden täglich bei mir, dann aber wich er dem Frauchen nicht von der Seite, er war eifersüchtig auf jeden Blick, den das kindliche Ding einem anderen Mann zuwarf, mochte dieser andere Mann sein Sohn Karl Otto oder der scheue, häßlich gewordene Helmut sein oder ich, der Hungerstudent auf Ferien. Aber ich erwiderte diese Blicke nicht. Für mich war sie ein ›unreines Gefäß‹, um so unreiner, je rosiger, küßlicher und zierlicher sie war. Er gewann sie durch eine neue Liebesglut wieder, glaubte er. In Wahrheit wurde er zu ihrem Sklaven, und bald wußte er es.

Leider war auch mein armer Helmut zum Liebessklaven geworden. Er vertraute mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit an, er hänge bis zur Verzweiflung an einem alternden Schauspieler, der ihn so lange mit seiner Liebe verfolgt habe, bis er ihm nachgegeben hätte, ohne zu ahnen, was ihm an ›Wonnen‹, aber auch an schauerlichen Qualen der Eifersucht bevorstände. Denn der Schauspieler liebte auch Frauen, vielleicht sogar mehr als Männer. War das möglich? Fragen über Fragen, Unruhe, Schlaflosigkeit, Wahn, Haß und Liebe durcheinander. War es der Mühe wert? Ich war froh, daß ich dergleichen nicht kannte. Hätte ich eingreifen sollen? Aber wie? Vielleicht konnte ich es. Ich hatte Einfluß auf ihn. Mir hätte er gehorcht. Aber ich wollte lieber Augenzeuge sein und guter Kamerad. Ich hatte meine Arbeit, damit genug.

 

Meine Arbeit war schwer, aber voll ruhiger Freude. Mein persönliches Leben war es nicht, nicht so freudig und ruhig. Helmut hatte sich enttäuscht von mir abgewandt, weil ich nicht mit ihm über seine Leidenschaft diskutieren wollte, mein Meister beobachtete mich argwöhnisch und begriff erst später, daß ich niemals auch nur im Traum daran gedacht hatte, sein Nebenbuhler bei der Katinka mit der rosigen Stimme zu werden.

Die Wahrheit zu gestehen, im Traum war ich es. Aber wer wollte mich deswegen richten? Im Traume wurde mir mit wildem, blitzartigem Entzücken klar, mit einem Aufzucken blutiger Lust – ich kann nur dieses ungezügelte Wort verwenden –, daß ich auch anderes in mir trug als den Wunsch nach ehelicher Kameradschaft mit einer älteren, eher mütterlichen als leidenschaftlichen Frau. Aber ich trat Katinka genauso unbefangen gegenüber, als wäre sie ein Helmut oder Karl Otto in Röcken. Sie merkte es und schmollte. Was wollte man von einem blutjungen törichten Persönchen, von dem die Hausdame erzählte, sie hätte den alten Kaiser (von seinem Geld und seiner Berühmtheit abgesehen) hauptsächlich deswegen geheiratet, weil der Name Katinka Kaiser so ›putzig‹ klinge. Vielleicht wäre es noch etwas klüger von mir gewesen, die Verliebtheit der süßen Nixe (beim Schwimmen sah ich sie von oben aus meinem Zimmer als wirklich bezauberndes Wesen in ihrem schwarzen Trikot inmitten des blaugrünen Bergsees) dazu zu benutzen, um sie zu erziehen. Aber war das meine Aufgabe? Brauche ich nicht selbst eine Autorität über mir? Durfte ich schon jetzt dem Drang nachgeben, selbst eine zu sein und das Schicksal zu spielen? Ich war jung, jünger als sie.

Ich hatte schon Pflichten genug, die mir zu schaffen machten, zum Beispiel die, für meine Halbgeschwister wenigstens in beschränktem Maße zu sorgen. Die 20 Mark waren fällig. Vroni mahnte. Ich nahm mir ein Herz und ging zu meinen Eltern, außer der Reihe, denn mein regelmäßiger Besuchstag war Sonntag. Mein Vater hatte mir die sonst an jedem Ersten fälligen 25 Mark diesmal nicht gegeben, weil er annahm, ich sei hier aller Sorgen enthoben. Er konnte nicht wissen, daß ich mich um seine unehelichen Kinder (man nannte diese Art unglücklicher Geschöpfe hier ›liederliche Bamsen‹) kümmern mußte. Er sammelte das Anfangskapital für seine Holzwarenerzeugung, meine Bitte kam ihm sehr ungelegen. Er fragte, ob ich denn gleich ganze 25 Mark für Zigaretten brauchte. Nun hatten mich hier die Zigaretten keinen Pfennig gekostet, da Katinka von Anfang an so vorsorglich war, täglich eine große Schachtel bester Zigaretten neben mein Mikroskop zu stellen. Der Alte sah es, wagte aber kein Wort dagegen, er, der große alte Mann, fürchtete Katinkas Zorn. Aber das konnte meinen Vater nicht interessieren. Ich sagte ihm, ich bekäme keinen Heller ausgezahlt von Geheimrat Kaiser, denn ich arbeite meine Schulden bei ihm ab. »So, du hast Schulden?« sagte er. »Das ist ja besonders schön«, und schlug zwei Holzfurniere klappernd gegeneinander. Ich nahm ihm die Holzplatten fort und sagte, wie groß die Summe sei. Er riß mir jetzt die Holzplatten aus der Hand – ich hatte sie ganz mechanisch ergriffen, damit der Lärm aufhörte – und zischte durch Zahnlücken (er hatte das Geld zu einer teuren Zahnbehandlung nicht übrig), er hätte trotz allem nicht geglaubt, ich würde auf seinen bescheidenen Namen Schulden machen. Mich empörte dieses Wort. Er vergaß, vielleicht weil es ihn demütigen mußte, daß er und die Mutter durch ein Jahr fast ausschließlich von dem nur für mich bestimmten Gelde des Großonkels gelebt hatten. Ich beherrschte mich, ich stand als objektiver Beobachter, als Augenzeuge der Tatsachen, da. Aber ich blieb dabei, er müsse mir 20 Mark geben, wenn schon nicht 25 Mark. Aber daß ich ihm dieses Geschenk von fünf Mark machte, brachte ihn noch mehr auf. »Also fünf lumpige Sch...mark wagst du Schandbube mir ins Gesicht zu werfen, nachdem du mich um meinen Ruf hier gebracht hast?« Ich schwieg darauf. Ich hielt still. Ich wußte wohl, worauf sich das bezog. In dem Formular des Mittellosigkeitszeugnisses, das ich mir der Studienkosten wegen hatte ausstellen lassen, war eine Rubrik: Beruf des Vaters. Ich hatte eingeschrieben ›Kleinhäusler‹. Hätte ich geschrieben Oberingenieur i.R. oder Holzwarenfabrikant in spe, wäre das Gesuch zurückgewiesen worden. So aber war es zu dem Bürgermeisteramt von S. gewandert und mochte dem Renommee meines Vaters hier nicht eben genutzt haben. Meine Mutter trat hüstelnd hinzu, wischte sich die Hände an der Schürze ab (sie schwitzten immer noch, das hing mit ihrer Schwäche zusammen, von der sie sich niemals ganz erholt hat) und redete uns beiden gut zu, besonders ihm. Ich nahm alle Schuld auf mich, bestand aber auf dem Geld. Und bekam es. Vroni war im Dienst, die Kinder waren auf dem Land, bei armen Bauern. Das, was mein Vater von Amts wegen zu zahlen verpflichtet war, reichte nicht ›für Hemd und Hosen‹, die Kinder waren zarter, als man geglaubt hatte, und ich war entschlossen, mein Wort zu halten. Ich hatte es unter schweren Bedingungen gehalten und mich wohl dabei befunden, und meine Geschwister, die gar nicht liederlichen Bamsen, auch.

Daheim, das heißt bei Kaiser in der Villa, erwartete mich eine Überraschung. Ich war ausquartiert. Ein neuer Gast war gekommen, es war der Schauspieler, Helmuts Freund, der auf dessen verzweifelte Bitten hin hierhergereist war. Helmut hatte sich sofort beruhigt, obwohl ich sah, daß der Schauspieler, ein Mann in reiferen Jahren, mit scharfen, durchgeistigten, sehr wandelbaren und bei aller Routine sehr kindlichen Zügen, ihn als Mann nicht voll nahm. Er schien sich für Katinka viel mehr zu interessieren.

Vater Kaiser sah aber die beiden, Oswald Schwarz und Katinka, in der Folgezeit ohne Eifersucht miteinander plaudern, rudern, schwimmen, Tennis spielen, sogar auf die Jagd gehen, von der sie aber nur ein so klägliches Wild wie einen Kolkraben mitbrachten. Auf einen Mann über fünfunddreißig eifersüchtig zu sein wäre Kaiser absurd erschienen. Er war eben blind, er sah nicht, was er nicht sehen wollte. Er glaubte, bloß sein vorgerücktes Alter sei an Katinkas Flatterhaftigkeit schuld, und da der Schauspieler fast ebensoviele graue Haare hatte wie er, und das schon mit 35 Jahren, sah er in ihm den Nebenbuhler nicht. Außerdem ahnte er, was seinen Helmut mit dem Schauspieler verband, und sah in dem feingliedrigen, von Schlaflosigkeit und tausend eingebildeten Beschwerden geplagten Künstler keinen brutalen Mann, einen resoluten, rücksichtslosen Frauenräuber am wenigsten.

Er kam also bald in voller Seelenruhe wieder zu mir in mein unter dem Dach gelegenes großes und helles Zimmer, setzte sich ans Mikroskop und arbeitete, rauchend und Kognak trinkend, mit mir. Da Katinka keine Zigaretten mehr für mich bestellte, gab er mir endlich welche. Am Schnaps lag mir nichts.

Ich war noch im Beginn der Gehirnanatomie. Ich hatte noch nicht mehr als 20 bis 30 Platten hinter mir, da die Präparate genau durchgearbeitet werden mußten und kein einziges etwa deswegen übersprungen werden durfte, weil es nur geringfügige, fast unwahrnehmbare Unterschiede im Vergleich zu dem vorhergehenden und nachfolgenden zeigte.

Das, was ich sah und erfuhr, entzückte mich. Es entzückte mich ganz anders, aber ebenso tief, wenn ich sagen darf, wie das atembeklemmende Entzücken bei dem Traum von der nackten Katinka, es war Tag im Vergleich zur Nacht. Es tat mir wohl. Das Schwimmen und Rudern lockte mich jetzt viel weniger als am Anfang, ich konnte mich von der Arbeit nicht trennen. Ich verglich die Anordnung der Zellen, die in einem rätselhaften, rhythmischen, planmäßigen Zusammenhang standen (obwohl niemand das Rätsel lösen konnte, niemand den Rhythmus erfaßte und noch keiner den Plan auch nur auf eines Millimeters Tiefe und auf eines Quadratmillimeters Umfang aufgedeckt hatte), einmal im Gespräch mit Kaiser mit dem der Milchstraße, die ich nachts von meinem Bette aus sehen konnte, wenn ich, gestört von der Musik und dem Lachen unten auf der Seeterrasse, nicht einschlafen konnte. Gegen solche Vergleiche war mein Lehrer sehr. Sich strikt an das halten, was ist. Alles ignorieren, was nicht ist, war sein Wahlspruch. Nervenzellen waren etwas und eine Milchstraße etwas anderes. Er war Spezialist in diesem und Ignorant in jenem.

Mitte Oktober kehrten wir alle in die Stadt zurück. Der Doktor Kaiser nahm mich in seinem Auto mit. Schon am frühen Morgen waren seine Frau, seine Kinder und der Schauspieler (den kleinen Hund nicht zu vergessen) vorausgefahren. Ich hatte im stillen gehofft, Kaiser würde auf der schönen ruhigen Fahrt über meine Lage sprechen, denn offen gesagt, es graute mir vor der Rückkehr in meine kahle, im Winter eiskalte Bodenkammer und noch viel mehr in den ›Abwasch‹ des ›Prinzregenten von Bayern‹. Auch meiner Mutter hatte ich beim Abschied Andeutungen gemacht. Sie mußte doch wissen, wie ich lebte und daß ich nicht ohne Entbehrungen lebte. Sie hatte mich aussprechen lassen, hatte lange gezögert und dann gesagt, wenn ich ›meine Großmut‹ wieder zurücknehmen wolle, werde sie es ihm sagen. Daraufhin blieb mir nichts anderes, als ihre feuchte, schon etwas zitterige Hand zu küssen. Meine Mutter war noch nicht alt, aber schon ganz grau und trug sich wie eine bejahrte Bäuerin.

Auch Kaiser war nicht sehr entgegenkommend. Aber ich ließ nicht locker. Wenn er sich auch nicht darauf einlassen wollte, mich mit einem festen Monatslohn statt der einzeln bezahlten Diktatstunden abzufinden, so brachte ich ihn, wenn auch diesmal schwerer als sonst, dazu, mir etwas Geld ›auf die Hand‹ zu geben. Ich mußte unbedingt neue 100 Mark haben. Ich hatte mir 90 Mark im Laufe der drei Monate verdient. Meine Gesamtschuld betrug also nun wieder 300 Mark. Aber ich konnte in meinem alten, aus den Fugen gehenden Anzug mich nicht mehr zeigen. Ich mußte Schuhe und Wäsche haben. Wir trennten uns kühl in der Stadt. Vielleicht hatte er erwartet, ich würde überschwenglich danken.

Das Bodenkämmerchen war anläßlich meiner Rückkunft trefflich aufgeräumt, alles blitzte, blinkte, und die Portiersfrau hatte mir einen Strauß Astern hingestellt. Ich dankte ihr sehr herzlich. Denn sie war mir zu nichts verpflichtet. Im Hotel wurde ich ebenso freundlich aufgenommen. Ich hatte im stillen gefürchtet, man würde einen Ersatz für mich gefunden haben, aber die Verwalterin hatte den Platz für mich frei gehalten.

Ich war jetzt ein sehr verläßlicher Wäscher. Ich besorgte diese Arbeit nicht anders als ein Fabrikarbeiter an der Maschine, es mußte etwas Besonderes kommen, wenn ich ein Stück zerbrach. Wirkliche Verwüstungen unter dem schönen Geschirr habe ich erst im nächsten Frühjahr nach Ostern angerichtet, als im vierten Semester die praktischen Übungen in Physiologie begannen, und zwar die Experimente an lebenden Tieren, Vivisektion genannt.

Ich hatte schon lange vorher gewußt, was das war. Helmut hatte es mir im Regen in unserem kleinen Garten erzählt. Schon damals hatte mir ungeheuer davor gegraut. Ich hatte lange dem Geheimrat Kaiser nicht die Hand geben mögen (er übrigens mir ja auch nicht die seine), weil ich daran dachte, er habe sie in das Blut der um der Wissenschaft willen gemarterten Kreaturen getaucht. Ich hätte mir sagen können, dies gehöre eben zu unserem Beruf und würde mir nicht erspart bleiben. Vielleicht habe ich mir dies dann auch gesagt und mich damit abgefunden und getröstet, es werde nicht so arg sein, und da ich seelenruhig die Leiche des Enzianbrüderchens hatte sezieren können, werde mir das Herz beim Anblick eines elenden Köters nicht schwach werden. Aber – – ich schildere die Einzelheiten nicht. Ich sage nicht, welcherart das Experiment war, wie sich das Tier dabei benahm und wie die Menschen.

Ich sage nur eines: der ärztliche Beruf war mein einziges Lebensziel. Wenn man will, mein einziges Ideal. Aber wenn ich zwei Jahre früher gewußt hätte, was damit verbunden ist, ich wäre lieber Fremdenführer oder Metallwarenarbeiter oder Holzfurniersäger geworden. Ich hatte herrschen wollen, und ich hatte mein Wissen vergrößern wollen. Aber ich wollte nicht herrschen über ein vom blinden ›Schicksal‹ auserlesenes kluges, menschenähnliches Tier, das leiden konnte wie ein Mensch und vielleicht in seiner Armseligkeit noch mehr, denn es hatte keine Hoffnung, keinen Glauben, keine schönen Erinnerungen und keinen Traum vom Hundehimmelreich.

Ich wollte an einer solchen Kreatur nichts lernen, nicht an seinen mechanischen Zuckungen meinen Wissensdurst stillen. Ich habe später viele Menschen unmenschlich leiden gesehen, schon im nächsten Jahre, im ersten klinischen Semester, am Krankenbette, auf dem Verbandstisch. Aber ich konnte einen Menschen tausendmal leichter als ein Tier leiden und schreien, die Zähne knirschen, die Augen rollen und aus allen Poren kaltes Wasser schwitzen lassen, denn ich war nicht schuld an seinen Schmerzen. Ich konnte ihm vielleicht noch nicht helfen, ich war nur der lernbegierige Augenzeuge. Aber mich traf dabei keine Schuld, ich hatte keine Absicht. Aber bei dem Leiden des Hundes oder bei dem der noch kläglicheren Katze, die, weil sie trotziger ist, sich noch fürchterlicher windet, und die noch verzweifelter heult, weil sie klüger ist, da wandte sich mir das Herz mit Grausen. Ich wollte an dieser Lektion nicht profitieren. Konnte ich etwas dagegen tun? Unnütze Frage. Das Grausen war stärker als die Vernunft, es war das alte Zermalmende, das über mich kam. Es war ein Herz, das hier auf dem Tische bloßgelegt arbeitete wie meines, eine Lunge, die atmete wie meine, und es empörte mich am tiefsten, daß es ja gerade diese Menschenähnlichkeit war, die Verwandtschaft des hochzivilisierten Menschen mit dem noch von Urzeiten her unveränderten primitiven Tiere, durch welche die arme Kreatur zu ihrem Schicksal gekommen war. Außer mir vor Entsetzen und Scham fragte ich mich, wer der Bestialische ist, der Mensch oder die Bestie. Plötzlich entsann ich mich des Traumes von der blutüberströmten Katinka, und es graute mir vor ihr. Leichenfahl, mit wankenden Knien, ging ich in den Korridor, wartete, bis die Lektion zu Ende war, holte mir den Hut und trieb mich den ganzen Nachmittag in der Stadt umher. Abends ging ich zur Arbeit in das Hotel. Ich zerbrach, was mir unter die Hände kam. Dabei zitterten meine Hände nicht, es war, wie wenn mir der Teufel die Hände führte. Damals habe ich zum erstenmal an die Existenz des Satans geglaubt, ich habe eingesehen, daß mein bisheriges Bild von der Welt viel zu ›putzig‹ war, daß ich vieles nicht gesehen hatte, weil ich es nicht sehen wollte. Zu allem Unglück klebte sich jetzt auch noch der Geruch von Fett und ›angegangenem‹ Reh, der mich schon lange verlassen hatte, von neuem an mich. Er verließ mich nicht, und es war ein höllischer Tag. Ich dachte daran, nach Hause zu fahren, mich zu meiner Mutter zu flüchten, mich ihr ganz anzuvertrauen. Aber ich schämte mich vor ihr. Ich hatte mir vorgenommen, ein Spartaner zu werden, und konnte nicht einmal das mutig ertragen, was meine Kameraden ruhig, eine Zigarette im Munde und die Augen voll kalter Wissensgier und – Neugier ansahen. Oder sollte ich mich dem Geheimrat anvertrauen? Ihm, der aus persönlichem Ehrgeiz, um eine aufsehenerregende Untersuchung zu machen und in den Augen einer seiner albernen Frauen als hochberühmter Mann dazustehen, wenn er etwa einen wissenschaftlichen Preis, eine hohe Ehrung erhielt, Hekatomben von Tieren – vergeblich, wie es schien – geopfert hatte?

Es blieb nur noch ein Ausweg. Das Studium abzubrechen, heimzukehren und meinem Vater zu helfen. Aber half ich ihm dadurch, daß ich ihm einen ungelernten Hilfsarbeiter ersetzte, ihn aber der 75 Mark beraubte? Daß ich den zwei Geschwistern die 20 Mark abschnitt? Denn der Großonkel gab das Geld nur für die Studien und verlangte jedes Semester die Belege. Was sollte ich tun? Ich blieb drei Tage vom Kolleg weg, bat die Portiersfrau, mir einen Laib Brot und einen halben Liter Milch täglich heraufzubringen mit dem frischen Wasser, und dachte hin und her. Endlich fand ich eine Art Ausweg. Ich verteilte die Last auf beide Schultern. Ich wollte, wenn ich später als Arzt etwas geworden wäre, alle Kräfte einsetzen, um die Vivisektion, die in gewissem geringen Grade unentbehrlich war, aufs äußerste einzuschränken, die Tiere in allen Fällen zu betäuben, einen Fonds zu schaffen, um die erhöhten Kosten dieser humaneren Behandlung zu tragen. Ich glaubte an den Fortschritt, an die Humanität, weil ich es mußte. Das war aber nicht genug. Ich entschloß mich, von jetzt an kein Fleisch mehr zu essen, und blieb dem Vegetarianismus bis zum Kriege treu. Ich habe immer als ein kaltblütiger, seine instinktiven Regungen gut beherrschender Mensch gegolten, in den Augen eines guten Menschenkenners wie Kaiser. Ich war manuell geschickt, und er riet mir dringend, ich solle mich in der Chirurgie ausbilden, die jedem Arzt – auch dem künftigen Psychiater – als strenge Schule des Charakters von Nutzen sei. Ich hatte auf seinen Wunsch mich im Sommer darauf zu einem freiwilligen unbezahlten Dienst in der chirurgischen Universitätsklinik gemeldet, statt ihn nach S. zu begleiten. Ich habe durch Wochen Nachtdienst gemacht, beobachtend, lernend, mit kleinen Handreichungen beschäftigt, dem ›Operateur vom Tag‹, einem erfahrenen Assistenten, in Abwesenheit des Professors zur Seite stehend.

Ich gestehe es, damals schwankte ich. Ich hatte zwar für die Chirurgie, den aktivsten der medizinischen Sonderzweige, Interesse, ich hatte aber auch ein gleich großes für die Psychiatrie und Nervenheilkunde, welche den passivsten, in bezug auf Heilung unfähigsten Sonderzweig darstellte. Aber mir wäre am liebsten gewesen, hätte ich mich der universellen, sehr tatkräftigen, aber nicht eben blutigen ›inneren Medizin‹, der Behandlung der inneren Organe, der Stoffwechselstörungen, Infektionskrankheiten, Vergiftungen, der Tuberkulose, der Tropenkrankheiten usw., die alle in der ›inneren Medizin‹ einbegriffen waren, zuwenden können. Sie war damals in herrlich stürmischem Fortschreiten begriffen, besonders durch die alles bisher Bekannte umwerfenden Ergebnisse der Röntgenforschung. Sie war an kein Land, an keine Sprache gebunden, wie etwa die Psychiatrie, die Kenntnis von den kranken Seelen, (Seele und Sprache sind beinahe eins), und sie war nicht so unpersönlich wie die Chirurgie, die den Menschen nur von der körperlichen Seite her kennt.

Aber ich war Kaiser damals schon zu sehr verpflichtet, und nicht allein mit hohen Geldbeträgen. Er hatte mir in den letzten Studienjahren eine knapp ausreichende Rente gegeben. Und mehr, viel mehr noch, er war mir auch wie zu einem zweiten Vater geworden. Er hatte sich als solcher bewährt und war mir, wenn auch nur Schritt für Schritt, nähergekommen, während mein leiblicher Vater sich von mir immer mehr entfremdete, in unbegreiflicher Weise – und eigentlich ohne zwingenden Grund.

Nach Beendigung meines Studiums verbrachte ich ein Semester als Volontärassistent an der chirurgischen Klinik. Bei einer zufälligen Gelegenheit zeigte es sich, daß Kaltblütigkeit, Überblick und Selbstbeherrschung mir nicht ganz fehlten. Es war eines Nachts ein junger Fleischergehilfe, bewußtlos vor Schock und Blutverlust, eingeliefert worden, der bei einer Rauferei eine tiefe Wunde in der Schenkelbeuge erhalten hatte. Man narkotisierte ihn, desinfizierte die Schenkelbeuge und machte sich alsbald daran, die zerfetzte Wunde vorsichtig zu vergrößern, um die aufgeschnittenen Gefäße unten zu fassen und rasch abzubinden.

Aber die Blutung wurde mit fortschreitender Operation immer stärker. Es mußte ein in den unteren Schichten verlaufendes sehr großes Blutgefäß angeschnitten worden sein. Man mußte binnen kurzem die Wunde ans Tageslicht bringen, sonst verblutete sich der arme Mensch. Aber wie sie finden? Man sah buchstäblich nichts vor Blut. Das Gesicht war weiß wie ein Tuch, und unten schwamm alles in heißem Rot. Man konnte zwar vorsichtig mit dem Finger in die Tiefe tasten, aber wie sollte man mit Fingern, die mit Gummihandschuhen und Zwirnhandschuhen darüber bekleidet waren, in den vielen Schichten der Gewebe sofort das Blutgefäß finden und dann am Blutgefäß die Wundstelle?

Ein genialer Chirurg hätte sie vielleicht kraft einer Intuition gefaßt und ein Wunder getan – aber wir? Fand man sie aber nicht, mußte man die Operation abbrechen und schnell einen Notverband anlegen. Nicht etwa in der Hoffnung, ein solcher Verband, und wäre er auch mit der höchsten ärztlichen Kunst angelegt, würde die Blutung stillen und das Leben retten. Sondern nur, um den armen Kerl noch lebend auf die Krankenstation und in sein Bett zu transportieren, damit er nicht auf dem Operationstisch seinen Geist aufgäbe, was mit Unannehmlichkeiten für die Klinik verbunden gewesen wäre, nämlich Protokollen, gerichtlichen Untersuchungen und so weiter.

Als wir alle, das heißt der Operateur vom Tage, sein erster Assistent, ich als der zweite und der Narkotiseur, am Ende unseres Lateins waren, kam mir eine Idee. Ich hatte die Zeitschriften genau verfolgt und von der neuen Methode eines deutschen Stabsarztes namens M...b gelesen. Sie bestand darin, in Fällen wie dem unseren einen gewöhnlichen Gasschlauch zu nehmen, ihn um den Bauch des Patienten herumzurollen und dann so fest zusammenzuziehen, bis er die großen blutzuführenden Hauptadern des Bauches zusammenpreßte. Dann entstand in den Beinen Blutleere. Es floß kein Blut vom Herzen herein, es kehrte keines von unten zum Herzen zurück. Hatte man aber die Blutleere erreicht, konnte man klar sehen. Konnte man aber klar sehen, ließ sich auch die Wundstelle aufsuchen und freilegen. Hatte man sie freigelegt, konnte man das Gefäß unterbinden, und der Patient war gerettet, vorausgesetzt, es handelte sich nicht um die große Schenkelschlagader, die unentbehrliche Zufahrtsbahn des Kreislaufs, ohne welchen das Bein dem örtlichen Tode verfallen war.

Diese Überlegungen waren aber unnütz. Es handelte sich nicht um den örtlichen Tod, sondern um den allgemeinen. Der Operateur hörte sich meinen Vorschlag skeptisch an. Da aber sonst kein Ausweg blieb, kein Wunder mehr zu erwarten noch möglich war, vielleicht auch, weil ich ihn trotz meiner Jugend und Unerfahrenheit ein wenig zu führen wußte, ließ er sich einen Gasschlauch kommen, legte ihn um den Bauch des schlanken, fettlosen jungen Menschen, ein Operationsdiener zog rechts und eine alte stoische geistliche Schwester links an. Nach 20 Sekunden war die Wirkung wie mit einem Zauberschlage da, die Blutung stand. Die Wundstelle war in weiteren 30 Sekunden gefunden. Sie befand sich aber leider an der Oberschenkelhauptschlagader. Dieses Gefäß unterbinden, hieß das Leben retten, aber das Bein opfern, man mußte es dann früher oder später amputieren. Amputieren ist aber eine Art Schande für den Chirurgen, wie Zahnziehen für den Zahnarzt, es ist der letzte Ausweg.

Nun war damals noch eine zweite wichtige technische Erfindung gemacht worden, die des amerikanischen Arztes Armand Carell, sie bestand darin, mit einer bestimmten genialen Technik Gefäße zu nähen. Dazu waren sehr dünne Nadeln nötig. Wir hatten keine solchen. Aber die geistlichen Schwestern, die sich in ihren Mußestunden mit feinen Handarbeiten beschäftigten, hatten solche. Sie wurden gebracht, in zwei Minuten sterilisiert, der feinste Faden wurde genommen, die Nähte wurden so angelegt, wie es in der ›Internationalen Revue für Chirurgie‹ für die Ärzte der ganzen Welt beschrieben war.

Man war zum Glück sofort imstande, die Wundränder gut aneinanderzufügen, da die Verwundung durch ein scharfes Instrument, vermutlich einen geschliffenen ›Taschenfeitel‹, verursacht worden war, wie es die Bauern, Metzger und Holzfäller gern in einer kleinen Tasche über dem Gesäß bei sich tragen. Der Gasschlauch mußte natürlich sehr bald abgenommen werden, denn der Körper ertrug ihn nicht auf längere Zeit. Aber man konnte es wagen. Man mußte es wagen, und die Probe mußte gemacht werden, ob man dem Meister Tod ein Menschenleben wegeskamotiert hatte. Wir sahen, wie das schlaffe, federkieldicke Gefäß sich mit einem Schlage mit dem einprallenden Blute füllte. Die Nähte wurden angespannt, aber sie hielten fest. Der Rest der Operation war ein Kinderspiel. Wir hatten alle einander gut in die Hand gearbeitet und verließen schweißgebadet, aber zufrieden, den Operationsraum.

Aber ich blieb Kaiser treu, der mich der Psychiatrie verschrieben hatte, wie eine Mutter ihre allzu keusche oder von der Liebe zu sehr verwundete Tochter dem Kloster verschreibt. Aber nicht ich war liebessiech und herzenskrank. Er hatte einen schweren Kummer, und er brauchte mich.

Der junge Fleischergeselle hat uns übrigens noch Unannehmlichkeiten genug bereitet. Der Blutumlauf war zu stark gestört worden, es trat Brand in den äußersten Teilen seiner Zehenspitzen ein, und das erste Glied eines Daumens und zweier Zehen mußte abgenommen werden. Ein billiger Preis, hätte man denken können, für ein sonst verlorenes Leben. Das war aber nicht seine Meinung, und die Klinik mußte ihm eine gewisse Summe aussetzen, weil er in seiner Arbeit behindert war und außerdem die Verunstaltung seines Fußes als Schönheitsfehler betrachtete.

Aber wir hatten ja nicht auf besondere Dankbarkeit gerechnet. Wir hielten uns für Halbgötter, und solche tun nichts um des Dankes willen.

 

Die beiden technischen Fortschritte, die dem Fleischergesellen das Leben gerettet hatten, wären ohne lange und systematische Tierversuche nie möglich gewesen. Ich mußte mich also mit den Tierversuchen abfinden, da sie damals unentbehrlich waren. Ein Menschenleben war damals etwas so Kostbares, daß man es einer nicht zählbaren Masse von Tierexistenzen gegenüberstellen konnte, um immer daraus zu folgern: ein Menschenleben ist der höchste Wert, den die Erde besitzt.

Dieser Gedanke machte mir auch die Pläne des Geheimrats annehmbar. Ich glaubte zwar nicht sehr fanatisch an die Idee, die er hatte, nämlich durch Übertragung von Gewebsteilen der Schilddrüse eines gesunden Menschen auf einen geistig kranken oder zurückgebliebenen die Heilung zu bewirken. ›Aus einem Kretin mache ich einen intelligenten Menschen‹, rühmte er sich im voraus.

Aber es war genug, daß von zwei Forschern der eine fanatisch war und alle Hindernisse sprengte, während der andere für gute technische Durchführung sorgte, alles kontrollierte und die nüchterne, unanfechtbare Schlußbilanz zog. Das sollte ich sein.

Es handelte sich vorerst nicht um Heilung echter Geisteskrankheiten, denen man schon deshalb hilflos gegenüberstand, weil man nur im allgemeinen wußte, das Gehirn sei der Sitz des Leidens. Wie, wo, warum, war bei den wichtigsten Geisteskrankheiten niemandem klar. War denn das normale Funktionieren des Gehirns, das Denken, einem Gehirnforscher klar?

Hier nützte auch die genialste Intuition eines gottbegnadeten Gelehrten und Arztes nichts. Alle Systematik war vergeblich geblieben. Ich hatte im Laufe der Jahre unzählige Gehirnpräparate unter dem Mikroskop gehabt und Kaiser noch mehr. Aber wenn wir zusammenfassen sollten, was wir über den Sitz des Geistes und seiner Mechanik wußten, mußten wir, skeptisch lächelnd, schweigen mitten in dem Haufen von Präparaten und Stößen von Protokollen. Vielleicht war meine schwärmerische Äußerung fünf Jahre zuvor, die Anordnung der Ganglien gleiche dem Anblick der Milchstraße, ebenso exakt wie das, was man von dem Sitz der Sprache, vom Zentrum dieser oder jener Muskelbewegungen wußte, wenn man es nicht vorzog, zu schweigen.

Es drängte übrigens den alten Gelehrten öfter zum Sprechen, als er es zugeben wollte. Er wollte sein Geheimnis bewahren, das schon lange keines mehr war. Und doch war alles so menschlich, so banal, so tausendmal dagewesen, daß jemand eben sinnlos vor Leidenschaft sein mußte, um nicht den Verlauf und folgerichtigen Ausgang des Prozesses vor Augen zu haben: Ein alter Mann. Eine junge Frau. Das war alles. Dieser alte Mann war einmal jung gewesen. Dieser jetzt um Zärtlichkeit bettelnde grauhaarige Romeo war einst nicht wenig geliebt worden. Er, der sich jetzt so einsam fühlte, hatte drei prächtige Söhne und zwei fast erwachsene, wunderschöne Töchter. Aber tröstete ihn das? Er wollte eben jung und schön bleiben, unwiderstehlich, unsterblich trotz welkendem Leibe, er wollte geliebt werden, er wollte den Schein des Halbgottes um seinen knöchern und kahl gewordenen Cäsarenschädel nicht missen.

Katinka liebte ihn nicht. Sie sagte es ganz offen. Er glaubte es nicht und kehrte ihr die Worte im Munde um. Die Hausdame, eine etwas reifere, ohne ihre Schuld geschiedene, immer noch schöne Frau, an die ich mich etwas angeschlossen hatte, erzählte es mir, als ich fragte. Ich und sie waren nicht unglücklich miteinander. Es fügte sich uns alles, vielleicht weil wir so wenig voneinander erwartet hatten. Es ist nichts weiter darüber zu sagen. Wir hingen beide an dem alten Mann. Wir dachten nach, wie wir ihm die Augen öffnen könnten. Aber wie sollte man einem ungewöhnlich klugen, geistig schöpferischen Menschen die Augen öffnen, einem Menschenkenner, dem man nichts Neues sagen konnte und der als Arzt sicherlich so manchem aus dem Gleichgewicht Gekommenen den Rat gegeben hatte, den er sich jetzt vorenthielt.

Nun hatte er immer noch eine Spur Hoffnung. Ich weiß nicht, war es wirklich so, oder stellte es Kaiser nur so hin. Der Schauspieler, den Katinka liebte, nicht bedenkend, daß ›Katinka Schwarz‹ nicht ganz so ›putzig‹ klingt wie ›Katinka Kaiser‹, auch er war auf dem Abstieg. Man versagte ihm große Rollen, und in den kleinen, die er bekam, enttäuschte er. Denn in kleinen Rollen groß zu sein, ist schwer. Er war in Not, hatte einige Menschen zu erhalten und war vor Sorgen mehr gealtert, als ihn die junge Liebe verjüngt hatte.

Kaiser bildete sich ein, wenn er heute seine geistige Kraft durch eine weltbewegende wissenschaftliche Leistung bekunde, werde Katinka ihn morgen zu lieben wiederbeginnen. Er hatte sich niemals zu der Einsicht durchringen können, daß es Frauen geben konnte, die ihn überhaupt nicht liebten, obwohl er sie seiner Liebe würdigte. Er dachte also, wenn er mit den Diplomen des Nobelpreises aus Stockholm heimkäme, würde Katinka ihm um den Hals fallen, seine welk gewordenen Lippen küssen, und ›Herr Schwarz‹ wäre vergessen, weil er ein Schauspieler zweiten Ranges war. Diese Illusion hielt ihn aufrecht.

Er hatte schon im Lauf der Jahre verschiedene Experimente gemacht, aber sie hatten ihn enttäuscht. An Tieren, an Lebewesen ohne Geist, kann man nicht Experimente des Geistes machen. Nun glaubte er sich im Besitz einer genialen Idee, und ich sollte ihn unterstützen; er bot mir an, seinen Ruhm zu teilen, und wenn er auf der Höhe seines Ruhmes seine Tätigkeit aufgäbe, um nur seiner Frau mit der rosigen Stimme zu leben, könne ich sein Nachfolger werden, so versprach er mir oft. Das war der Grund, weshalb er mich in chirurgischer Technik hatte ausbilden lassen. ›Ich mache operativ aus jedem Kretin einen intelligenten Menschen‹, wiederholte er im Familienkreise Tag für Tag und glaubte damit bei Katinka Eindruck zu hinterlassen, die, zwischen den zwei alternden Menschen schon lange nicht mehr fröhlich und kindlich, verblühte.

Wir gingen also ans Werk, vorerst bei einem Kretin, der von seiner Mutter der Anstalt Kaisers anvertraut worden war. Kaiser bewog die Mutter, ins Sanatorium zu kommen, um sich zu gleicher Zeit operieren zu lassen wie ihr zwerghafter idiotischer Sohn, der mit 20 Jahren nicht größer war als einen Meter zehn, der infolge seines Mixödems kaum ein paar Worte lallen konnte und unrein war. Ich an dem einen Tische, um in Narkose aus der Schilddrüse der Mutter einen Teil herauszuoperieren, er an einem anderen Tische neben mir, um dieses Stück dem armen Gehirnkrüppel in eine kleine Wundstelle am Halse einzupflanzen. Es bestand keine Gefahr. Interessant war es auf jeden Fall.

Der Junge war vor der Operation so verblödet, daß er nicht einmal die Finger seiner Hand hatte zählen können. Welcher Jubel, als einige Tage nach der Operation der bis dahin so trübe tierhafte Blick des Kretins heller und menschlicher wurde! Der junge Mensch wuchs, er sollte in fünf Monaten nicht weniger als zehn Zentimeter gewinnen. Sein strohiges Haar wurde seidig, er sprach 160 bis 170 Worte, zählte bis 20, lernte die Uhr usw. Er erkannte seine vor Seligkeit wahnsinnig werdende Mutter. Man fing an, ihn lesen und schreiben zu lehren. Er fing an, wie ein Erwachsener zu essen, er begann, mit wohlklingender Stimme vor sich hinzusingen, denn er wurde ein Mensch.

Das Glück, das unseren Chef erfüllte, war während dieser Zeit so hinreißend, unwiderstehlich, elementar, daß tatsächlich die süße kleine Frau ergriffen wurde und der Alte schon vor den öffentlichen Ehrungen von ihr Beweise einer großen Zärtlichkeit empfing. Küsse, Streicheln, Koseworte, anbetende Blicke. Nur ich blieb skeptisch, ich glaubte zu erkennen, daß es immer noch, und mehr denn je, die Triebe einer Tochter waren – und die Regungen eines bösen Gewissens, das sich bei dem Leiden des von ihr geachteten Mannes nicht ruhig hatte fühlen können. Sie ließ es als Zärtlichkeit einer spät erweckten jungen Frau erscheinen. Man konnte sich darüber täuschen, mußte sich aber nicht täuschen lassen.

Was ich aber weiß, ist, daß der Fortschritt im körperlichen und geistigen Wachstum des jungen Kretins bald stockte. Er verlernte allmählich, aber unwiderruflich seine neuen Künste. Er wurde, was er vorher gewesen war. Der Rausch der Schilddrüse war vorbei. Er war erwacht gewesen, jetzt schlief er wieder ein. Seine Mutter und der Chef sahen es nicht. Ich sah es an dem klinischen Verhalten des armen Jungen, ich sah es bei einer Probeexzision an dem eingepflanzten Lebensgewebe. Es war zu banalem Fett geworden. Mit der wissenschaftlichen Umwälzung war es also nichts. Was konnte Kaiser tun? Er tat etwas Unschönes, er erklärte, ich hätte aus Neid seine Ergebnisse gefälscht oder die Operation absichtlich nachlässig ausgeführt.

 

Der alte Herr schien es mir in seiner Gottähnlichkeit besonders übelgenommen zu haben, daß ich mich kraft des Willens, kraft der Nüchternheit und Selbstbeherrschung solchen Schwächezuständen der Seele bisher einigermaßen entzogen hatte und ihm das gleiche in aller Bescheidenheit anriet. ›Was versteht ein Vegetarianer vom Fleisch?‹ rief er verächtlich aus. Vielleicht lernte jedoch unsereins das Fleisch, das ›unreine Gefäß‹ bei Mann und Weib, auch dadurch kennen, daß er seiner Herr wurde.

Darin hatte er aber recht, ich liebte nicht wie er und wollte nicht so geliebt werden wie er. Ich wollte mein ganzes Leben im kühlen Licht der bewußten Vernunft führen. Vielleicht habe ich später aus diesem Grunde unbeschreiblich leiden müssen, weil ich nicht einsehen konnte oder wollte, daß nicht alles in der Vernunft beschlossen ist. Es gibt einen Geist, eine Seele; es gibt aber auch eine Unterseele. In entscheidenden Augenblicken sind es nicht die logischen Gründe, der Geist La Rochefoucaulds oder Voltaires, welche unsere Überzeugungen und Entschlüsse bestimmen, sondern unberechenbare Schwankungen der Gefühle.

So hätte ich folgerichtig aus den Tatsachen schließen können, daß ich meinen Chef durch mein objektives Urteil in zwei wichtigen Angelegenheiten seines Lebens, Frau und Berufsleitung, vor gefährlichen Irrtümern geschützt hatte und er mir danken müsse. Und wenn er schon nicht dankte, und wenn er, entsprechend dem Wahrwort des Judenkaisers, Dank durch Niedertracht ersetzte, so hätte er alles eher tun dürfen, als mir die längst verjährte Bestechungsangelegenheit meines Vaters vorzuwerfen. Das war zu absurd, seiner nicht würdig. Denn was hatte ich damit zu schaffen? Aber ich erkannte die böse Absicht und kündigte die Stellung. Ich hatte jetzt an der Psychiatrie Geschmack gefunden, an ihren neuen Methoden, die die Krankheiten des Geistes mit geistigen Mitteln, Analyse, Hypnose bekämpft. Ich war ihm noch viel Geld schuldig. Über die erhaltenen Summen stellte ich ihm einen Schuldschein aus, den er zerriß, außer sich vor Wut. Ich sammelte die Papierschnitzel, steckte sie ruhig in ein Kuvert, klebte es zu und ließ es auf seinem Schreibtisch. Er sah mir fassungslos nach, als ich sein Arbeitszimmer verließ. Angelika, seine Hausdame, empört über sein Verhalten, kündigte ihm. Und als wäre damit sein Leben noch nicht genug gestört, sagte ihm Katinka am gleichen Abend, sie könne ohne Oswald nicht leben. Sie wolle ihren Mann nicht betrügen. (Vielleicht wäre ihm dies aber lieber gewesen, als sie ganz zu verlieren.) Sie bat ihn, ihr die Scheidung zu ermöglichen, die er so vielen Frauen gegen ihren Willen aufgedrängt habe. Auf die Abfindung verzichtete sie. Er fragte: »Und wovon wollt ihr dann leben, ihr damisches Hungervolk?« Sie zuckte die Achseln. Er nahm ihren Verzicht auf das Geld an, nicht aus Geiz und Knickerei, sondern aus Bosheit, damit die beiden nicht zu glücklich würden.

Sie reiste noch in der gleichen Nacht mit einem kleinen Köfferchen ab. Er blieb während der nächsten Tage zu Hause, immer am Telefon, einen Anruf von ihr oder von mir erwartend. Wir müßten doch wiederkommen, dachte er, und dabei dachte er nur in Wut und Groll an uns. Ich war zu meinen Eltern gefahren, mein Vater hatte eine kleine Fabrik für die schwedischen Häuschen errichtet, seine Angelegenheiten gingen langsam, aber solide vorwärts. Er hatte immer noch die gewisse süße Bescheidenheit, die mir seine Nähe nicht sehr erfreulich machte; meine Mutter, schon sehr gebückt und das Gesicht sehr durchfurcht, hatte etwas Herbes, Feierliches, dabei aber Inniges und Wahres, und ich fühlte mich bei ihr wohl.

Nach einigen Tagen suchte mich die Hausdame auf. Sie kam im Namen von Kaiser, er bat mich, zurückzukommen, alles zu vergessen. Er hatte auch Katinka alles abgebeten. Als ich ihn wiedersah, erschrak ich, denn er war die Ruine eines in seiner Art immer noch stark gewesenen Menschen. Der Bart um den Mund zeigte große gerötete Lücken. Das kam daher, daß der Geheimrat in seinem Gefühlsdelirium sich einen Heftpflasterstreifen über die Lippen geklebt hatte, um die Äußerungen seines Schmerzes zu beherrschen, Schweigen zu lernen, Enthaltsamkeit zu lernen. Eine greisenhaft krankhafte Geste ›gegen den Wein, das Weinen‹, sagte er mit gebrochener Stimme.

Er zeigte mir den Entwurf eines Briefes an die geliebte Katinka, in welchem er ihr versprach, sie zur Universalerbin einzusetzen, ›als Dank meines Herzens für alle Schönheit und Liebe‹. Ich sagte, diese allzu große Güte würde Katinka wie Hohn vorkommen, er solle dem Paar lieber ein paar hundert Mark monatlich aussetzen und sie vergessen.

Er strengte sich an, meinem Rat zu folgen. Er simulierte. Er simulierte Neidlosigkeit, reines väterliches Wohlwollen, ich sah aber seinen Blick in leidenschaftlicher Wildheit, seinen Jahren zum Trotz, aufflammen, als er in der Zeitung las, ›der routinierte und nur routinierte‹ Hoftheatermime a.D. O. Schwarz habe alle ins Unrecht gesetzt, die ihn früher so wahnsinnig überschätzt und mit Gold und Lorbeer überschüttet hätten. ›Die Arme! Oh! Oh! Nicht einmal Oswald mehr! O. Schwarz! Wenn sie das liest!‹ sagte Kaiser, mir das Blatt reichend. Er strahlte, wurde fast wieder jung, es war seine erste Freude seit langem.

Freilich, einige Monate nachher war er wieder in tiefster Verzweiflung. Nicht weil etwas Entscheidendes geschehen war, sondern weil nichts geschehen war und er den unerbittlichen Ablauf der Tatsachen des Altwerdens und der Resignation und Einsamkeit nicht ertrug.

Die Hausdame, die auf seine Bitte hin ebenso wie ich geblieben war, hatte nun von früher her gute Verbindungen zum Hofe. Der Alte hatte Ehrungen genug im Leben erhalten. Man konnte sich eigentlich nicht vorstellen, daß ihm der ›persönliche‹ Adel etwas Besonderes bedeuten würde. Aber es war doch der Fall. Die Schwierigkeiten waren groß, weil Kaiser oben als schlechter Katholik und halber Anarchist angeschrieben war. Nun drehte er sich von einem Tag auf den anderen, Thron, Armee und Altar waren ihm plötzlich die heiligsten Güter, er, der in seiner Wissenschaft die großen Leistungen jüdischer Gelehrter schätzen gelernt hatte, von denen die rein geistige Methode besonders gefördert wurde, entwickelte sich zum Judenhasser – weil Schwarz aus einer halbjüdischen Mischehe stammte. Er bildete sich ein, Schwarz würde vor Neid erblassen, wenn er erführe, Kaiser sei geadelt worden, und er sagte sich den Namen seiner früheren Frau mit bebenden Lippen tausendmal vor: Katinka von Kaiser, und fragte mich, ob das nicht prachtvoll klinge. Ich nickte lächelnd. ›Und Kat Schwarz dagegen!‹ spottete er, sich auf die schlechte Gewohnheit beziehend, die Frauennamen jämmerlich zu verstümmeln, Ma, Kat, Lu, Pat, Li, Lo etc.

Alle diese Episoden brachten ihm nur auf Wochen etwas Beruhigung. Er wurde des Lebens müde. Die Arbeit für die Allgemeinheit sagte ihm nichts. Die Politik verachtete er als Tummelplatz der gemeinsten Instinkte und als Herd der banalsten Intrigen. Er wollte ins Kloster, sagte er mir, mit bitterem Lächeln hinzufügend, ja, in ein Kloster für Atheisten. »Und Ihre Familie?« fragte ich, denn ich dachte an Helmut. Er gab mir nicht einmal eine Antwort.

Ich sollte die Klinik übernehmen. Er wollte, ich solle vorher einen akademischen Grad erlangen. Dazu mußte ich eine wissenschaftliche Arbeit vorlegen, eine Dissertation. Meist waren es wertlose Kompilationen, Fleißaufgaben. Ich strebte höher. Mich interessierte eine Erscheinung, die man damals unter dem Einfluß der jungen jüdischen Wiener Psychiaterschule und unter dem Einfluß Charcots tiefer studierte, die Hysterie und die vom Geist hervorgerufenen Störungen, die man psychogene Störungen nannte und die teils mechanischer Art waren wie Gangstörungen, teils mehr seelischer Art wie hysterische Blindheit, hysterische Taubheit, hysterische Sprachlosigkeit, Stummheit, Fühllosigkeit. Es handelte sich darum, den Weg von der Tagesseele zur Unterseele zu finden. Hypnose und Analyse sagten uns viel. Aber einen ganz sicheren Weg fand man nicht. Ich sammelte viel Material, und meine Arbeit war eine bessere Kompilation als die üblichen. Ich legte sie endlich vor und erlangte mit ihr den Doktorhut.

Dieses Gebiet, das bis in die Unterseele hinabreichte, war auch für die Rechtsprechung nicht uninteressant, die psychogenen Störungen hingen mit Simulation zusammen, und ich wurde darin einigermaßen Fachmann.

Damals ging mir plötzlich auf, daß man zwischen Schicksal und Zufall keinen grundlegenden Unterschied machen konnte. Oswald Schwarz hatte einen Namensbruder; keinen feingebildeten, etwas abgelebten, zarten Frauendieb, sondern einen schweigsamen, tückischen, fahlen, aus dem Elend kommenden Vagabunden, der wegen Raubmordes an einem Strabanzerkameraden in einer Herberge angeklagt war und der vorgab, mit einem Male erblindet zu sein. Die Sache war nicht klar, da der Vagabund nach der Verübung seiner Tat lange wie geistesabwesend herumgeirrt und schließlich mit blutbefleckten Kleidern an den Ort seiner Tat zurückgekehrt war, in der Tasche noch den blutbefleckten Scherben, mit dem er dem Herbergskumpan die Kehle durchgeschnitten hatte. Er wurde verhaftet, gab irre Reden von sich, verfiel in einen vierundzwanzigstündigen Schlaf – und sah von diesem Augenblick an nicht mehr. Keinem Zuspruch zugänglich, verbissen brütend, hockte er, die Knie hochgezogen, unbeweglich fast, in einem Winkel seiner Zelle, aß nicht, was man ihm nicht in den Mund schob. Man mußte ihn zum Verhör, zum Spaziergang, zum Abtritt führen, und er tappte wie ein Blinder durch die Korridore des Gefängnisses, überall anstoßend und den Körper voller blauer Flecken. Kaiser als bekannter Irrenarzt sollte den Fall begutachten.

Ich bin immer gegen die Rolle des Arztes als Helfer des Gerichtes gewesen. Er soll neben dem Kranken stehen oder über ihm als objektiver Zeuge, aber nicht gegen ihn. Er soll dem Kranken dienen, oder der Wissenschaft Richter muß er sein. Aber richten sollen andere. Trotzdem ist die Zeugenschaft des Arztes eine Notwendigkeit, das sehe ich ein, und genauso wie die Vivisektion eine bittere Wohltat ist, ist die Zeugenaussage des Arztes eine Wohltat, für die Gesellschaft nämlich, die in ihren Besitztümern geschützt sein will, aber auch in ihrer persönlichen Freiheit. Man(ich) muß die Interessen beider Parteien wahrnehmen. Ich mußte auch die Gegenseite verstehen. Ich mußte es lernen.

Kaiser nahm mich zu den Untersuchungen mit. Wir sahen sofort, daß die Blindheit eine ›psychogene Störung‹, eine Simulation auf hysterischer Grundlage war. Aber damit war der Wahrheit nicht Genüge getan, dachte ich. Ich untersuchte den Kranken viel gründlicher, fast gegen den Willen des jetzt im allgemeinen recht ungeduldig und fahrig gewordenen Geheimrats, und fand meinen Verdacht bestätigt, er hatte seine Tat offenbar in einem epileptischen Dämmerzustand vollbracht.

Von seiner Blindheit konnte ich ihn heilen. Es gelang mir durch Hypnose.

Die Epilepsie blieb. Konnte das einem so erfahrenen Psychiater wie Kaiser entgehen? Sicher nicht. Er mußte mir endlich recht geben, als ich ihm aus meinen Protokollen die Tatsachen klarlegte. Er nahm mir die Akten aus der Hand. Als er aber (hier setzte das Schicksal Oswalds mit einem Zufall ein) den Namen des Vagabunden gelesen hatte, wurde er purpurrot vor Wut, warf das Protokoll auf den Tisch und ließ vom Schreiber nur den kurzen Befund aufzeichnen, daß die Blindheit hysterisch sei. Über den Allgemeinzustand äußerte er sich nicht. Er konnte dem Schicksal den Zufall nicht verzeihen, daß der arme Hirnkrüppel den gleichen Namen trug wie der Mann, der ihm sein Lebensglück geraubt hatte. Er, in seiner Gottähnlichkeit, gab keinen falschen Befund ab. Nein. Er war formal im Recht, denn es ging dem Gericht in erster Linie um die Blindheit. War die Blindheit simuliert – das war die Ansicht des Königlich Bayerischen Staatsanwalts –, dann war auch das Getue nach der Tat simuliert, die Rückkehr zum Tatort motiviert mit dem Wunsch des Täters, mehr zu ergattern oder die Folgen des Mordes durch einen angelegten Brand zu verwischen. Der Fall kam vor eine Jury von Bauern, einfältigen Gemütern, denen der Besitz alles war. Oswald Schwarz hatte viele Diebstähle, Gewalttaten, auch Sittlichkeitsdelikte hinter sich. Man machte kein langes Hin und Her und verurteilte ihn zum Tode. Er wurde hingerichtet am 30. Juli 1914. Auch das war Zufall – Schicksal. Hätte der Strafvollstreckungsbeamte sich mit der Erledigung des Aktes Oswald Schwarz ein paar Tage länger Zeit gelassen, hätte man den Mörder wahrscheinlich begnadigt, wie man es damals im Taumel der ersten Kriegsbegeisterung mit zahllosen anderen tat.

Mit einem Schlage gab es kein Europa mehr, die Grenzen waren gesperrt, und überall floß Blut. Im Norden, im Osten, im Süden, im Westen. Der Kosmopolitismus war zu Ende. Es gab keine Reisen ins ›Ausland‹ mehr, es gab keine Rechte des einzelnen mehr, keine Pressefreiheit, also keine Denkfreiheit, keine Forschungsfreiheit. Keine Kritik. Keine Vernunft. Es herrschte Kriegsrecht, Notrecht, also kein Recht. Das universale Völkerrecht war dem geheiligten Recht der sich verteidigenden einzelnen Nation unterlegen, die gegen eine oder andere Nationen kämpfte, die sich ebenfalls verteidigten. Wenn sie sich alle gegen alle verteidigten, hätten sie ebensogut daheim bleiben können, das wollten sie aber nicht mehr, selbst wenn es noch möglich gewesen wäre. Die bestialischen Triebe, die Unterseelen waren erwacht, man rühmte sich der unerschütterlichen, mitten im strömenden Blut, in furchtbaren Leiden und Schmerzen wie Eisen so starren Herzen, der von keinem Jammer und keinen Wunden zu rührenden Gemüter. Alles war gesund, mutig und gut, alles war patriotisch, alles war stolz auf seine Nation. Eine süßliche Woge von Sentimentalität ließ alt und jung, arm und reich sich miteinander am Fuße des Altares des bedrohten, tugendhaften Vaterlandes vereinen. Jeder gab sein Scherflein. Der Große und Reiche ein kleines, und der Kleine und Arme auch nur ein kleines. Kalt lächelnd oder mit gemütvollen Tränen in den Augen, lasen die Menschen aller Länder ihre Heeresberichte, die von tausenden Toten, zehntausenden Verwundeten, hunderttausend Gefangenen an einem Tage, zum Beispiel anläßlich der Masurenschlacht, berichteten oder anläßlich der ›gerechten Zerschmetterung‹ des kleinen Serbenvolkes. Keiner hoffte auf etwas außer auf den Sieg.

Aber was dann? Was waren die Ziele des Krieges? ›Davon wird die Rede sein, wenn wir den infamen Gegner auf die Knie gezwungen haben‹, hieß es, schlicht in der Gesinnung, phrasenreich in der Form. Es gab also keine greifbaren Ziele. Wie hätten die Ziele denn jetzt im Chaos bestehen sollen, wenn schon vorher, in der scheinbaren Ordnung, die Massen keine Ziele gehabt hatten, es sei denn warmes Essen, gutes Wohnen und viel Zerstreuung und ein langes bequemes Leben? Da aber alle Europäer diese Ziele hatten und der Krieg sie im Falle des Sieges im besten Falle nur einer einzigen Partei bringen konnte, war jedem logisch denkenden Einzelmenschen der Ausgang von Anbeginn klar. Aber der einzelne war nichts mehr. Der Staat brauchte Massen, den letzten Mann, und die letzten Männer wurden durch Addition groß und fühlten sich und waren als Sklaven die Herren.

Auf die Massen kam es an, und man sprach zu ihnen. Es setzte eine maßlose Propaganda ein. Eine fette und erfreuliche Lüge (zum Beispiel wollten alle, Freund wie Feind, nur Opfer eines ungerechten Angriffs sein) war im Dienste der guten Sache besser als eine bittere und triste Wahrheit. Was den Menschen zum Menschen macht, Vernunft und Maß, das galt plötzlich als vaterlandsfeindlich: ›Denken polizeilich verboten! Bis zum Siege schweigen, durchhalten, Maul halten.‹ Anfangs widerstrebten ein paar wenige. Auf die Dauer fast keiner. Ob jeder eine Seele hatte, blieb dahingestellt, eine Unterseele hatte jeder. Jeder wollte der Stärkere sein und als der Stärkere im Recht. Der Sieg war das Recht und Sparta das Gesetz aller.

Die ganze Nation trat mit der Zeit voll in den Dienst des Krieges, der allmählich alles umfaßte und nichts mehr aus seinem Rachen wiedergab. Nicht mehr groß und klein, alles war wertvoll als Masse, wertlos als Einzelerscheinung. Ob ein Angriff 100000 oder ›nur‹ 10000 Menschenleben wert war, entschied die strategische Lage. Niemand von den Menschen, die zugrunde gingen, wurde gefragt. Alles leistete den Eid, weil den Eid verweigern Selbstmord war. Alles gehorchte allen. Dies war ihre Ehre. Ein paar Techniker leiteten den Krieg, eben als Techniker, ohne sich als Spezialisten der Schlachten darum zu kümmern, weswegen er geführt wurde und wann und wie er enden sollte. Nur strategische, politische – keine moralischen, religiösen Ziele. Die Nation als Gott. Unten war jeder an einen Platz gestellt, dort hatte er zu bleiben, zu arbeiten oder zu schießen oder in der Fabrik zu wirken. Den meisten Menschen tat es aber wohl, daß sie nicht gefragt wurden. Der passive Gehorsam betäubte Sorgen, Gewissen, Angst um das Leben. Keiner kam zur Ruhe, und niemand hatte ein Recht darauf.

Notwehr, Notrecht des Staates, jeder als Mittel zum Zweck, so auch ich. Niemals hatte ich so rasend viel zu tun, und niemals habe ich weniger gehandelt und einen Willen gehabt als damals.

 

Zuerst hatte ich noch in Geheimrat Kaisers Diensten gestanden, weil dieser mich als ›unabkömmlich‹ beim Generalkommando angemeldet hatte und mich vor dem Kriegsdienst bewahrte. Ich leitete gemeinsam mit seinem alten Oberarzt seine Anstalt, bis die Ernährungsschwierigkeiten und der Mangel an geübten, verläßlichen Pflegern es uns unmöglich machten, die Kranken zu behalten. Sie wurden teils in Provinzialanstalten gebracht, teils in auf dem Lande gelegene Sanatorien, wo die Lebensmittelbeschaffung weniger schwierig war. Der Staat, auf der Höhe seiner Macht und Autorität, konnte weder seinen Untertanen das Leben und die Erhaltung der Existenz garantieren, noch die Menschen, Mann, Weib, Greis und Kind, krank und gesund, vor Hunger, Kälte und Nacktheit schützen. Aber er blähte sich nur um so mehr auf.

Mein Vater lebte weiter in S. Er hatte seine Fabrikation auf Kriegsmaterial umgestellt und erzeugte Gewehrschäfte. Die erforderlichen Rohstoffe wurden von Tag zu Tag minderwertiger, da es sich aber um jenen Teil der Waffe handelte, der keiner groben Abnutzung unterliegt, kam er zurecht und steigerte sogar die zunächst nur von ein paar Arbeitern betriebene Erzeugung. Dann mußte er aber, um der guten Sache willen, zwar nicht mit übergroßer Freude, seine bescheidenen Gewinne in Kriegsanleihen anlegen. Er hatte Angst, trotz seinem Alter eingezogen zu werden, zahlte ein und trug seinen Patriotismus nun doppelt zur Schau, stolz auf seinen Sohn, stolz auf seine Fabrik und stolz auf sein siegreiches Volk.

Auch der alte Judenkaiser hatte seine schwachen Kräfte dem Vaterland zur Verfügung gestellt und ging im schwarzen, abgeschabten Zivilanzug, aber auf der Brust das Eiserne Kreuz, das er als Freiwilliger 1870/71 bekommen hatte, von einem Hilfslazarett zum anderen. Die jungen Ärzte brauchte man an der Front. Seine Tochter hatte einen sozialistischen Abgeordneten, den Arbeiterführer Leon Lazarus, geheiratet. Dieser kluge und erfahrene Mann war der allgemeinen Ansteckung des Kriegswahns nicht entgangen, er hatte sich freiwillig gemeldet, und man hatte ihn eingezogen, obwohl er als Abgeordneter dem Kriegsdienst nicht unterlag. Es fehlte ihm weder an Überzeugung noch an Mut. Ich habe später erfahren, daß er, um dem Konflikt zwischen seiner internationalen pazifistischen Überzeugung und seiner Pflicht als nationaler Deutscher zu entgehen, sich an die Westfront gemeldet hatte. Das Schicksal kümmerte sich um seine Beweggründe nicht, er war gutes Kanonenfutter und fiel bei seinem ersten Gefecht. Seine Witwe, in ihrer Trauer schöner denn je, litt sehr, aber sie schwieg, ertrug alles und trat als Pflegerin in ein Mannschaftslazarett ein, nachdem sie einen Kurs durchgemacht hatte.

Auch ich wurde eingezogen. Man hatte mich als jungen Studenten nicht als militärdienstleistungsfähig anerkannt, weil meine Rippen infolge meiner Verletzung etwas deformiert waren und der Staat auf tadellos gewachsene Soldaten Wert legte. Nun war er nicht mehr so wählerisch. Ich machte also meine Ausbildung mit, sprach kein unnützes Wort, ertrug stoisch die Strapazen. Ich hatte meinen alten La Rochefoucauld wieder vorgenommen und lernte in den Mußestunden Französisch, denn alle Wahrscheinlichkeit sprach dafür, ich würde an die Westfront kommen. Angelika, mit der ich seit Jahren zusammen lebte, mußte ihren Platz als Empfangsdame und Hausdame bei Kaiser aufgeben. Sie hatte etwas Geld, legte es, meinem Wunsch entgegen (es war unser erster Zwist), in Kriegsanleihe an, weil diese sich hoch verzinste und sicherer schien als pures Gold. Sie hatte vor, später in irgendein Offizierslazarett als Wirtschaftsleiterin einzutreten, wollte sich mir aber so lange ausschließlich widmen, als ich noch im Hinterland war. Sie sprach ein fast fehlerfreies Französisch, und wir begannen uns in dieser Sprache sehr formell zu unterhalten. Lag es an dem, lag es daran, daß ich in der Unmenschlichkeit dieser Zeit, aus meiner Tätigkeit gerissen, ohne Ziel und Hoffnung, einer so harmonischen Beziehung, wie es die unsere bis dahin immer gewesen, nicht mehr fähig war – wir entfremdeten uns einander. Dafür versöhnte sie sich mit ihrem geschiedenen Mann, bevor dieser ins Feld abging.

Ich hing gewiß sehr an ihr, konnte ihr aber nicht sehr nachtrauern. Alles war stumpf und starr in mir, und ich erwartete mit Sehnsucht den Tag, wo ich ins Feld abreisen sollte, und zwar als Feldunterarzt. Meine Mutter bot alles auf, um mich umzustimmen. Es hätte Wege genug gegeben, mir ein sicheres Plätzchen im Hinterland oder wenigstens in der Etappe zu sichern, aber ich wollte nicht.

Ich war als junger Arzt ein guter Operateur gewesen, und als man mich fragte, welche Spezialfächer ich am besten beherrsche, nannte ich die Chirurgie als erstes und Nervenheilkunde als zweites. Es wunderte mich daher nicht, daß man mich an die Westfront, in den Abschnitt von La Fierté Lescoudes, in eine heiß umkämpfte, völlig zerschossene Gegend, in ein Divisionslazarett kommandierte.

Ich kam spätabends an, und schon in der gleichen Nacht hatte ich die ersten Operationen vorzunehmen. Es kamen, da sich das Lazarett sehr nahe der ersten Linie befand, vor allem diejenigen Verletzten zu uns, die eines sofortigen chirurgischen Eingriffs bedurften; also hatte man meist zu amputieren. Die Verwundeten waren gesiebt, und viel zu überlegen gab es weder für den Arzt noch für die Verwundeten. Lieber als Krüppel weiterleben als sterben – das leuchtete allen ein.

Die schweren Kämpfe flauten dann in dem Abschnitt plötzlich ab, wir hatten mehrere Monate fast nichts zu tun. Dann schwoll der Kanonendonner zu ununterbrochenem Dröhnen an, die Erde zitterte, französische Flieger surrten, aber ohne Bomben abzuwerfen, niedrig über unseren durch riesige rote Kreuze gekennzeichneten weißen Operationszelten, und nach kaum einer Stunde begannen die ersten Ambulanzautos, mit Schwerverwundeten in mehreren Etagen besetzt, in schnellstem Tempo anzurollen. Wir erlebten nun sechs Wochen ununterbrochener Riesenangriffe. Wir kamen nicht aus den Kleidern. Ein paar Stunden unruhigen Schlafs ausgenommen, während deren wir nur Schuhe und Strümpfe ablegten, standen wir an einem der vielen Operationstische und wateten buchstäblich im Blut. Wie mich als Hungerstudent der Geruch von Fett umschwebt hatte, so jetzt der nach blutigem Menschenfleisch.

Die Operationen nahmen kein Ende, die schauererweckende Kette riß nicht ab. Man sah kein Menschengesicht mehr. Dieses lag erdfarben unter der weißen Chloroformmaske. Man hatte keine Entscheidung zu treffen, alles war durchorganisiert, die Soldaten kamen (Mannschaften und Offiziere ohne Unterschied) schon vorbereitet und annarkotisiert zu uns wie Werkstücke am laufenden Band, um die Methode Fords auf diese Menschenoperationsfabrik anzuwenden, wir griffen mit unseren Händen zu, und wir arbeiteten flink und sicher, nicht anders als geübte Fabrikarbeiter.

Nach einigen Wochen war ich wie verblödet, vertiert, ohne Energie und doch immer angespannt, nicht fähig, einen Brief zu lesen oder zu schreiben, den Heeresbericht zu verfolgen, ein Buch vorzunehmen oder in den kurzen Pausen Karten zu spielen oder Grammophonmusik zu hören. Operieren fort und fort, Hautschnitt in Zirkelform nach Anlegung der blutabschnürenden Binde, Fassen der oberflächlichen Blutgefäße, Durchtrennung der Muskeln und Gefäße und Nervenstränge in einem glatten Schnitt, die Knochensäge heran und blitzschnell sägen. Und dann fiel ein Glied, man brachte es schnell fort. Denn Zeit war Geld oder mehr als Geld, Zeit war Menschenleben, und wenn der Staat auch das Menschenleben nicht mehr achtete, so wollte er doch keinen, den er vielleicht später noch brauchen konnte, unnötigerweise zu früh sterben lassen. Dann kam das präzise Aufsuchen und Abbinden der tiefen Adern, die immer dort lagen, wo sie zu liegen hatten, die Versorgung des Knochenstumpfes, wichtig besonders bei Oberschenkelamputationen, dann die Toilette der Wunde, die Hautnaht, und schnell der nächste. Nach Armen und Händen kamen wieder Arme und Hände oder Unterschenkel oder Oberschenkel, und das ging viele Wochen so fort.

Die meisten von uns Ärzten begannen viel Alkohol zu trinken, ich tat es nicht. Das Essen war gut und reichlich, aber alles schmeckte nach Amputation. Unsere Tätigkeit war human und notwendig. So wie wir anderen halfen, so mußte auch uns geholfen werden durch, gute Kameraden.

Unser Leben war nicht gesichert. Schwere Geschosse schlugen einmal in die Operationsbaracke ein. Ich war nicht anwesend. Ich hatte meine letzte Energie zusammengerafft und war bei schönem klarem Wetter mit einem kleinen Wagen ausgefahren. Meine Kameraden, Ärzte, Pfleger, Feldgeistliche, Ordonnanzen und Köche wurden ebenso wie die eingelieferten Soldaten und Offiziere schwer verwundet oder getötet. Es sei nicht zu vermeiden, hieß es. Es war nicht einmal nachzuweisen, daß ›der Engländer‹ dem die schwere Geschützbatterie, eine Marinebatterie, gehörte, mit Absicht den Verbandsplatz beschossen hatte. Es wurde schleunigst Ersatz geschafft, und ich operierte am Tage darauf mit ganz neuem Material und mit mir bis dahin unbekannten Kollegen. Aber auch sonst wechselten die Ärzte, lange hielt es niemand aus, ich war noch einer der zähesten. Der Alkohol half ihnen nur zeitweise und schädigte die Arbeitskraft sehr, vom Morphium ganz zu schweigen.

Ich bezwang mich, und dank meiner Willenskraft hielt ich mich frei von beiden. Man wollte uns, wenn die Arbeit etwas nachließ, aufheitern, unseren patriotischen Sinn stärken und auf andere Gedanken hinlenken. Man stellte ein paar Kilometer hinter der Front improvisierte Bühnen auf, und kleine Schauspielertruppen spielten, so gut sie konnten, meist hastig und fahl vor Angst hinter ihrer dicken Schminke. Bei einer solchen Vorstellung sah ich Oswald Schwarz. Er war fast unerkennbar. Dick geworden, aufgeschwemmt, hatte der frühere Charakterdarsteller sich als Komiker herausgemacht und war schon so weit in seiner neuen Kunst, daß er die Theaterbesucher, Mannschaften und Offiziere, zum Lachen brachte.

Ich hielt es nicht lange aus und ging. Ein Kollege forderte mich auf, ihn in das Offiziersbordell zu begleiten. Ich ging mit, ich ekelte mich aber beim Anblick der Weiber ebenso über sie wie über mich, und zog wieder ab.

Die Schlacht an dem betreffenden Abschnitt war abgeschlossen, und zwar zu unseren Gunsten. Die Sanitätstruppe packte unser Material in numerierte Kisten zusammen, brach auf und stellte ihre Zelte ein paar Kilometer weiter vorn auf. Wir warteten nicht lange auf Arbeit. ›Der Franzose‹ warf uns einen Gegenstoß entgegen, und es folgten wiederum vier Wochen ununterbrochenen Operierens. Dann hieß es, der Abschnitt sei nicht wichtig, er sei die großen Menschenopfer nicht wert, wir packten ein und zogen uns dorthin zurück, von wo wir vor einigen Wochen aufgebrochen waren. Ich erhielt Urlaub, weil ich an der Reihe war. Die Bürokratie arbeitete gut. Wir waren immer einigermaßen verpflegt, und die Qualität des medizinischen Materials verschlechterte sich nur allmählich in demselben Grade wie das Menschenmaterial.

Ich suchte meine Eltern auf. Sie freuten sich beide, der Vater diesmal fast mehr als die Mutter, schien es mir. Ich hatte den Maßstab verloren, konnte mich kaum zusammenhängend unterhalten. Man wollte auch keine wahrheitsgetreuen, sondern nur sonnige, hoffnungsvolle, nämlich soldatische, spartanische Berichte. Von einer Aussprache war nicht die Rede. Ich sah Viktoria wieder, staunte sie an und sie mich. Ich sie wegen ihrer Schönheit und sie mich wie ein fremdes Tier.

Im Hinterlande herrschte eine merkwürdige Stimmung, teils unsinnig übermütig, teils unsinnig verzweifelt. Die Massen begannen, den Krieg auch in dem Hinterland kennenzulernen. Es meldeten sich ein paar Friedensschwärmer und sprachen mutig von einem Frieden ohne Sieger und Besiegte, von einem Abschluß der Feindseligkeiten ohne Annexionen und Kriegsentschädigung. Sie setzten sich nicht durch. Der Staat, der nichts konnte als stur weiterkämpfen, weil er kein festes Ziel hatte außer dem, sich selbst zu erhalten und größer zu werden, als er vorher war, warf eine gewaltige Gegenpropaganda in den Kampf der Meinungen. Obwohl die Friedensfreunde im Parlament eine große Majorität gehabt hatten, mußten sie unterliegen, da sie die Exekutivgewalt nicht hatten. Diese hatte ein Mann ohne Verantwortung inne, ein Diktator im Marschallrang, dem alles blind zu gehorchen hatte, ohne zu überlegen, ohne zu zaudern. Da er persönlich untadelhaft war und wie seine Helfer nur für den Sieg lebte und eine unermeßliche Arbeit leistete, schenkte man ihm Vertrauen und klammerte sich an ihn, als wäre er das Schicksal und Gott.

Ich kehrte ins Feld zurück. Aber es widerstrebte mir aus Herzensgrunde, eine Sache durch meine Wissenschaft und Kunst als Arzt zu unterstützen, die ich verabscheute – und an deren Erfolg ich nicht mehr glaubte. Oder war es ein anderer Grund, der mich dazu bewog, mich zur Kampftruppe zu melden statt zur Sanitätstruppe?

War es auch bei mir die Unterseele, die an die Oberfläche wollte, hatte auch ich Blut geleckt (mir war oft genug ein Tropfen heiß ins Gesicht gespritzt) und wollte einer von denen sein, die wissen, wie es ist, wenn man Menschen tötet, statt bloß hinten zu warten und das gutmachen zu wollen, das man vorne mit Absicht schlecht gemacht hatte? Welchen Sinn hatte es, Menschen vom Tode zu retten, wenn der Staat sie, kaum genesen, wieder ins Spiel einsetzte? Amputierte kamen zwar nicht mehr an die Front. Aber man ließ sie methodisch turnen, man erzog sie für den nötigen Beruf, brachte die Ersatzgliedmaßen zur höchsten Vollendung. In der Etappe und im Hinterland machten sie sich dann auf irgendeine Weise nützlich und machten dadurch andere Männer frei, die Kanonenfutter wurden. Auch die Frauen wurden eingestellt, im gleichen Sinn. Aber das alles ist es nicht, ich gestehe es ein. Es zog mich, meine ganze Energie strebte nach etwas, wogegen sich die Vernunft vergeblich sträubte. Was hilft es, sich durch logische Gründe klarmachen zu wollen, was aus ›unberechenbaren Schwankungen des innersten Gefühls‹ hervorkam? Ich habe dann bei einem ›Stoßtrupp‹ für besondere Gelegenheiten, von langweiligem Schanzdienst und Wachdienst befreit, mehr als einen Nahkampf mitgemacht, ein paar handfeste, kaltblütige, mutige Kameraden neben mir. Ich bin an der Spitze meiner Kerle mehr als einmal bei Tag und auch bei Nacht vorgebrochen, ich habe Handgranaten geschleudert und habe am Maschinengewehr gesessen und habe das Wasser im Kühler summen hören und habe die hölzerne Handhabe der Mitrailleuse (vielleicht ein Erzeugnis meines Vaters) hin und her bewegt und habe mich vor dem Tode nicht gefürchtet. Ich habe nicht nur für meine Person einen guten Stürmer abgegeben, sondern habe meine Leute so in der Hand gehabt, daß sie mir in den sicheren Tod gefolgt wären, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich sah sie an, nichts weiter. Nie hat sich einer geweigert. – Nicht allen Offizieren ist dies gelungen. Ich habe schon als Arzt oft genug die Kranken besser bezwungen, durch Wachsuggestion oder Hypnose, als der alte Kaiser. Das war jetzt sehr gut.

Solange ich nicht mit dem Feind (uns standen indische Truppen, sogenannte Gurkhas, gegenüber) in persönlichem Kampf war, war alles einfach. Der technische Kampf, aus der Distanz geführt, gibt einem nichts. Aber man muß es einmal erfahren haben, was das andere ist, was die Urgeschlechter vor Jahrtausenden gekannt und geliebt haben, man muß einmal kampffreudig mit dem blanken Bajonett vorgegangen sein. Man muß einmal über die knirschenden Sandsäcke, die Eierhandgranaten in den Fäusten, eine rechts, eine links, vorgedrungen sein, man muß den Stacheldraht an seinen Hosen und den dicken Wickelgamaschen einen zurückzerren gespürt haben, man muß sich unter unbeschreiblichem Gefühl zugleich davor gegraut und danach gesehnt haben, den riesenlangen braunhäutigen Kerl mit dem Turban auf dem Kopf, in Khaki untadelig gekleidet, vor seiner Brust zu haben und mit ihm zu ringen, wenn die ihm entgegengeschleuderten Handgranaten nicht explodiert waren. Man muß sich, während er sich etwas bückte, um gedeckt die seine nach einem zu schleudern, das Gewehr mit aufgepflanztem Bajonett von der rechten Schulter herabgerissen haben, man muß ihm mit einem geschickten Stoß an der richtigen Stelle das Bajonett zwischen die Rippen gebohrt haben, man muß ihn in seiner fremden kehligen Sprache aufheulen gehört haben, ihn erblassen gesehen haben und wie er seine Augen mit dem riesigen gelblichen Weiß um die Pupille hin und her wälzte, wie er nach vorn griff, wie seine Hände sich blutig schnitten im Bemühen, das Bajonett aus der Wunde zu ziehen, während ich es in der Wunde mit Mühe umdrehte und tiefer in seinen Körper eindrang, damit schon alles schnell zu Ende sei, er erledigt und ich weiter zu andern – man muß erlebt haben, wie sich sein sterbender, erlahmender Körper auf das Bajonett so schwer auflastete, daß ich es bis in die Schulter spürte, wie sein Kopf niedersank und wie es Zeit wurde, das Bajonett herauszuziehen, den bereits weit vorgedrungenen Kameraden durch neue Stacheldrahtlücken zu folgen und dieselbe Sache ein zweites- oder drittesmal zu tun. Was ich erzähle, sind nur die äußeren Folgen. Das innere, das Zermalmende und das prachtvoll Bestialische, das Barbarenglück, den Barbarenrausch, den beschreibt man nicht. Man kann ein Delir nicht mit Worten beschreiben. Man kann nicht die Worte in einem stillen Zimmer niederschreiben, und ein anderer, in einem anderen stillen Zimmer, für sich allein, die Zigarre im Mund, den Hund zu seinen Füßen, soll dies begreifen und dann wissen, wie einem dabei zumute ist.

Einer für sich allein erlebt dies nicht. Ich habe es nur als einer in der Masse erlebt. Die Meinen waren vor mir, sie waren neben mir, sie waren hinter mir. Wenn einer fiel, die anderen waren immer noch da. Einer war am Ende, aber das Leben nicht. Ich war ein guter Stoßtruppführer, zu verbissen und wagemutig vielleicht, und ich hatte Verluste unter meinen Leuten, den Elitesoldaten. Mein Hauptmann, der mir das Eiserne Kreuz anheftete auf die linke Brustseite, hielt mich oft warnend zurück. Es trieb mich. Eines Nachts wurde ich durch eine verirrte Gewehrkugel verwundet. Im Distanzkampf hatte ich eben kein Glück. Lungenschuß. Keine Lebensgefahr, keine Folgen, keine Verkrüppelung. Wäre es nicht die unselige rechte Seite gewesen, wo ich noch die Rippenfellnarbe von meiner Verwundung als Kind hatte, wäre es eine Sache von ein paar Wochen gewesen. So mußte ich ins Hinterland. Was mir bei der etwas schwierigen Behandlung meiner Wunde auffiel, war, daß ich wenig Schmerzen fühlte. Es war die alte Stelle, ich hätte eigentlich mehr Schmerzen haben müssen als damals als junger Mensch. Ich spürte aber oft fast nichts. Meist sind Ärzte sehr empfindlich am eigenen Leib. Ich erntete viel Lob für meine Standhaftigkeit und nahm es phlegmatisch entgegen.

Als ich genesen war, stand mir ein Erholungsurlaub zu. Aber ich wollte arbeiten. Erholung war unmöglich in dieser Zeit, Anfang 1918. Ich wollte Dienst leisten. Man durchforschte meine Personalpapiere und kam mit Staunen darauf, daß ich auch Spezialist in Geistes- und Nervenkrankheiten war. Man versetzte mich in eine Spezialanstalt für solche in P. in Norddeutschland, wobei man mich gleichzeitig außer dem ›Rang‹ zum Stabsarzt beförderte. Ich schrieb anfangs niemandem davon, und kein Brief erreichte mich. Dann kehrte ich allmählich zu meiner früheren Existenz zurück.

 

Ich wurde dem Reservelazarett in P. zugeteilt und bekam hier zahlreiche Kriegskrüppel unter die Hände, aber nicht etwa Amputierte, sondern geistig Verkrüppelte, denen durch methodisches Turnen und durch ingeniöse Kunstglieder nicht zu helfen war. Es waren ebensoviel ›echte‹ Kranke da wie Simulanten, schwere Geisteskrankheiten im Anfangsstadium, Hysterie auf der Höhe, und ich konnte meine Studien aus der Zeit in Kaisers Anstalt fortsetzen.

Draußen ging der Krieg an vielen Fronten mit unveränderter Heftigkeit, ja noch verzweifelter als früher, weiter. Manchmal schien es aber, als ob der Glaube an den Endsieg im Volk doch wankte. Die Durchbruchsversuche an der Westfront nach vieltägigem Trommelfeuer, das ein nervengesunder Mensch nicht ertragen konnte, geschweige denn ein nervöser, empfindlicher, ein Hysteriker, Neurastheniker, hörten nicht mehr auf. Sie kosteten ungeheure Opfer ›an Menschen und Material‹ und entschieden nichts.

Es kamen Männer zu uns, die sich die Ohren zuhielten, weil sie das Dröhnen der schweren Mörser immer noch hörten, andere sahen die vorspritzenden Flammen der Flammenwerfer vor sich, andere schwankten, als ob die Erde bebte, und verkrochen sich in dunkle Winkel, Bettsäcke wie Sandsäcke vor sich aufstellend, um sich zu decken, andere taten kein Auge zu, andere verfielen in einen so schweren Schlaf, daß man sie zu den Mahlzeiten, zur Verrichtung ihrer Bedürfnisse wecken mußte, sie waren in einem Dämmerzustand, in einer Vertierung, einem Stupor, hatten nur noch das Vegetative des Menschen, ihre Seele war so entgeistert, daß sie nicht einmal klagten und weinten. Andere konnten die ›Schmach‹ nicht ertragen, weinten wie Kinder, verzweifelten, suchten sich das Leben zu nehmen. Mehr als einem gelang es, jetzt, da das Kriegsende nahe war.

Ein großer Teil unserer Mühe, das heißt der Mühe der Ärzte, der das Lazarett kommandierenden Offiziere und der überarbeiteten Pflegemannschaften, ging dahin, die Kranken vor sich selbst zu schützen. Nicht allein jeden vor sich selbst, sondern auch die einzelnen Gruppen voreinander. Die unseligen Menschen hatten oft an dem überstandenen Krieg nicht genug, sie setzten ihn hier fort, gingen mit entmenschter Brutalität gegeneinander los, nachdem sie sich durch Stichelreden, meist politischer Art, bis zur besinnungslosen Wut erhitzt hatten.

Ich konnte mich nicht um jeden Kranken meiner Abteilung kümmern. Ich habe mir bei den meisten bloß ein paar kurze Notizen gemacht, die ich später zu einer wissenschaftlichen Arbeit über die Kriegspsychosen verwenden wollte. Nur ganz wenige habe ich zu studieren, aus dem Seelengrunde zu verstehen, irgendwie zu behandeln, zu heilen versucht, unter ihnen einen von Schlaflosigkeit zermürbten, aufgeregten Kriegsblinden, einen Gefreiten des bayrischen Regimentes List, Ordonnanz beim Regimentsstab, A. H.

Man hatte mich von zwei Seiten auf ihn hingewiesen, und zwar hatte ein Unteroffizier, ein ehemaliger Lokomotivführer aus Essen, dem der Saal, wo H. sich befand, militärisch zwecks Aufrechterhaltung von Ordnung und Disziplin unterstellt war, mir den Mann ans Herz gelegt. Ein anderer Unteroffizier, der für die Behandlung der Kranken in diesem Saal verantwortlich war, für die Verteilung der Medikamente, mit denen man sehr sparen mußte, für das Anlegen der Verbände (denn mehr als einer hatte körperliche Wunden neben den geistigen), hatte mich auf ihn als einen ewigen Störenfried, einen fanatischen Aufwiegler, Rädelsführer, Querulanten aufmerksam gemacht, den man disziplinarisch bestrafen müsse.

Der Gefreite A. H. hatte angegeben, er sei durch eine Gelbkreuzgranate, welche die Engländer abgeschossen hatten, bei seinem letzten Patrouillengang vergast worden, seine Augen hätten wie glühende Kohlen gebrannt, er sei wie ein Blinder zurückgewankt mit seiner Meldung zum Regimentsstab, und dann habe man ihn alsbald ins Hinterland gebracht. Nun lag er aber nicht in einem der für die Vergasten hergerichteten Feldlazarett unter anderen Vergasten, deren Augen tatsächlich oft furchtbare Verätzungen durch das Giftgas, Senfgas und Blaukreuzgas davongetragen hatten, sondern er war bei uns unter den geistigen Kriegskrüppeln. Der Gefreite weigerte sich, sich die Augen von dem Unteroffizier behandeln zu lassen, weil, wie er von dem Lokomotivführer erfahren hatte, dieser Jude war. Judenhaß war so stark bei ihm, daß er sich weigerte, an einem Tisch zu essen, wo Juden aßen. Er wich ihnen aus und behauptete, sie am Geruch zu erkennen.

Er schlief nicht. Nachts tappte er in seiner fieberhaften Unruhe durch die Korridore oder warf sich ruhelos auf seinem Lager umher. Die Zimmerkameraden mußten dann still sein. Sie durften nicht rauchen, denn er war Nichtraucher und vertrug den Rauch nicht, durften nicht trinken, denn der Geruch des Fusels bereitete ihm Übelkeit. Er war abstinent. Manchmal kam ihn die Lust an, mitten in der Nacht ein paar Freunde (es gab einige wenige, die fanatisch an ihm hingen) zu sich an sein Bett zu befehlen (trotz seines niedrigen Ranges hatte er sie in der Hand) und ihnen endlose Predigten über seine politische Überzeugung zu halten mit solchem Feuer, daß sie nachher ebensowenig schlafen konnten, wie er.

Daß die anderen ein Recht auf Schlaf und Ruhe hatten, wie er es für sich so leidenschaftlich verfocht, kam ihm nicht zu Bewußtsein. Daß sie überhaupt Rechte hatten, wenn ihm etwas nicht recht war, hielt er für eine persönliche Beleidigung und empörte sich.

Er hatte simple, aber einleuchtende Ideen und war so von ihnen durchdrungen, daß sich sein Kreis ständig vermehrte, der der Ruhefreunde im Saal aber ständig abnahm. Er, der Blinde, hatte im Geist ständig die Landkarte vor sich und entwarf oder zerstörte Reiche mit einem einzigen Wort.

Die Deutsche Vaterlandspartei, ein letzter Versuch zur Wiedererweckung der Begeisterung von 1914, war 1917 gegründet worden. Sie wollte die einzige patriotische, echte vaterländische Partei sein und drückte dies schon in ihrem Namen aus. Es durfte keine Klassen, keine anderen Parteien mehr geben. Es gab auf Erden nur ein großes Volk, das deutsche, das von Gott gerechterweise ausersehen war, auf daß die Welt genesen sollte an ihm, es war der König unter den Völkern wie Christus unter seinen Aposteln, der Volkermessias des kommenden Geschlechts, das Herrenvolk dank der Geburt, kraft des Geistes seiner Kultur, aber noch mehr kraft des unbesieglichen deutschen Schwertes und der Gewalt. So sollte das deutsche Schwert zunächst alle Deutschsprachigen, Reinrassigen Europas unter der Fahne Alldeutschlands vereinigen, und dann sollte dieses geeinte Reich von 100 Millionen Europa und damit die ganze Welt beherrschen. Eine solche großartige Idee wäre 1914 noch annehmbar gewesen bei den ersten gewaltigen Siegen der Armee. Jetzt, als der Rückzug an der Westfront unaufhaltsam war, als Zehntausende von Menschen, besonders Kinder, Greise und Frauen, im Hinterland an Hunger, Frost und Entbehrungen zugrunde gingen, war sie absurd. Aber gerade das Absurde an ihr, das Wunder, gewann dieser Idee gläubige Anhänger. Aus einer politischen Richtung wurde eine Religion. Das war auch das Programm des blinden Gefreiten A. H. Aber als Gegenstück zu dieser göttlichen Sendung der Deutschen predigte er den Haß gegen die schwarze Pest, gegen die Urheber des Krieges (den er vorher gerade als den einzigen Weg zur Macht gepriesen hatte), gegen den ›Judt‹, wie er ihn in seinem österreichischen Dialekt nannte. Widerspruch duldete er nicht, sein Gefühl schwoll dann mit einem Male explosionsartig an, er heulte, krächzte, säuselte und flötete wie im Delir, und oft schrie er so stark, daß in den Nachbarsälen die Kranken trotz der Schlafmittel wach wurden. ›Dor Judt‹ war an allem schuld. Er sagte von ihnen, daß diese schwarzen Völkerparasiten planmäßig unsere unerfahrenen blonden Mädchen schändeten und dadurch etwas zerstörten, das auf dieser Welt nicht mehr gutgemacht werden könne. ›Verführt werden Hunderttausende von Mädchen durch krummbeinige widerwärtige Judenbankerte.‹ Aber damit war es nicht genug. Walter Rathenau war für ihn nur der teuflische Vertreter des jüdischen Weltkapitals, das sich gegen Deutschland verschworen hatte, nicht aber der große, kühle, erfolgreiche Organisator der deutschen Kriegswirtschaft, ohne den der Krieg schon Weihnachten 1914 verloren gewesen wäre. Nein, er war verloren worden, weil diese ›Judensau‹, nach der Obersten Heeresleitung der mächtigste Mann des Reiches, das Reich, das sich ihm anvertraute, verraten und verkauft hatte zum Zwecke des Gelingens der jüdischen Weltverschwörung. Juden säten jetzt im Hinterland und sogar an der Front das gefährliche, zersetzende Revolutionsgift, auf das die dummen arischen Massen hineinfielen. Er blieb dabei, der ›Judt‹ arbeite nicht, nähre sich nur von betrügerischem Schacher, kenne kein Recht, sondern nur Lüge, Betrug, Schwindel.

Man konnte ihm Gegengründe bringen, soviel man wollte. Alles war vergebens. Und dabei war er ein Mann von schneller Auffassung, er war klug. Wenn er log, glaubte er die Wahrheit zu sagen, und er ergriff die anderen durch seinen Idealismus, er rührte sie durch seine Schlichtheit, und viele folgten ihm ohne Kritik, wollten nicht nachdenken und noch einmal zu zweifeln beginnen. Wenn die einen ihm vorwarfen, er habe es trotz seiner angeblich so großen Tapferkeit und seiner großartigen Abenteuer nur zum Gefreiten gebracht (er behauptete, er habe als einzelner Patrouillengänger 12 oder 25 Franzosen ›verhaftet‹ in einer verlassenen Ortschaft an der Somme in einem Keller), so sahen die anderen in ihm einen ungerecht behandelten Heldensoldaten, ein Opfer der Willkür und Ungerechtigkeit, so sehr hatte er sich in ihr Herz hineingeliebt in seiner abgeschabten Litewka, die schweißige alte feldgraue Mütze schief auf dem Kopf.

Er terrorisierte die anderen, als gäbe es keinen anderen außer ihm, begehrte auf, verlangte immer einen Mann zu seiner Verfügung, der ihn in seiner Blindheit zu betreuen, anzuziehen, zu füttern, zum Spaziergang und auf den Abtritt zu führen hatte. Aber wir hatten kaum Pflegepersonal genug für die Tobsüchtigen. Die Majorität rächte sich an ihm, hänselte ihn, zweifelte sein Eisernes Kreuz Erster Klasse an. Er sollte den Zwischenraum zwischen den zwei Strichen der II mit Tinte ausgefüllt haben in seiner Stammrolle, um daraus eine I zu machen. Man wurde aus den Akten nicht klug, die Personalpapiere wurden oft flüchtig geführt. Man wollte ihn nicht ertragen und begehrte Ruhe. Man stieß ihn aus dem Bett heraus, wenn er nachts keine Ruhe geben wollte, man schüttete ihm Saccharin statt Salz in die Suppe, führte ihn irre, statt auf den Abtritt in den Vorraum der Offiziersmesse. Er war ja blind oder gab sich dafür aus. Die zwei Unteroffiziere gerieten einander in die Haare seinetwegen, und das beste wäre gewesen, den Mann aus der Umgebung von geistig Gestörten fortzunehmen und ihn unterzubringen in einem anderen Reservelazarett, wo er in der Umgebung von körperlich kranken, aber geistig unangegriffenen Menschen die Entwicklung der Dinge abwarten konnte. Ihn aber heilen? Wie sollte das möglich sein?

 

Es wäre im Sinne meiner alten Auffassung gewesen, daß man die Geisteskranken, die man nicht für dauernd heilen konnte, vor der Gesellschaft zu schützen habe. Aber noch viel mehr die Gesellschaft vor ihnen. Hier stand er lauter Menschen gegenüber, die aus dem geistigen Gleichgewicht gekommen waren. Auch ich war es und ich mußte noch viel erleben, bevor ich wieder zu dem Menschen wurde, der ich vor dem Krieg gewesen war.

Und wie stand es damit, die Gesellschaft vor ihm zu schützen? War er nicht gefährlich? ›Rücksichtslos, brutal‹, diese Worte kehrten bei ihm immer wieder. Ich habe mehr als einen Kranken seiner Art behandelt, ohne ihn freilich im Grunde zu ändern. Denn der Urgrund solcher Menschen, ihre Wandelbarkeit, ihre Unwahrhaftigkeit, ihre Unersättlichkeit, die Unkenntnis ihrer selbst, ihre Unfähigkeit, in einem anderen Menschen aufzugehen, ja auch nur das Minimum an Lebensrecht eines andern zu begreifen, ihr Undank, ihr egozentrisches Feuer, ihr Hunger nach Zärtlichkeiten und nach Aufsehen – das alles hätte nur ein Gott von Grund aus ändern können. Unsereins aber dünkte sich gottähnlich, immer noch.

Ich entsann mich noch der Wundertat des Judenkaisers an meinem Bette, als mir die gebrochenen Rippen durchs Brustfell gedrungen waren. Ich glaubte, den Gefreiten von den hervorstechendsten Krankheitsleiden befreien zu können, von seiner Blindheit, von seiner Schlaflosigkeit. Er stand allein, hatte nie ein Liebesgabenpaket bekommen, erhielt keinen Brief von der Familie, Vater, Mutter, Bruder, Schwester, Frau oder Braut. Er hatte keinen wahren Freund, während des Tages hockte er schweigsam, mit geschlossenen Augen, seinen langgezwirbelten Polenschnurrbart über den Lippen, mürrisch in einem Winkel, und seine Gegner gingen vorbei und sagten: ›Sieh doch, wie der spinnt.‹ Er spann aber keinen hellen Schicksalsfaden, sondern nur einen schwarzen. Lachen hat man ihn nie gesehen, Humor war ihm ebenso fremd wie Ritterlichkeit. Außer seinen zwei, drei Gedanken war er blind für die Welt. Das einzige, was ihn interessierte, war die Politik, er brachte einen seiner Kameraden dazu, ihm die Zeitungen vorzulesen, er konnte nicht genug davon haben. Er faßte sie schnell und sicher auf. Er begriff das Wesentliche mit intuitivem Blick. Kaiser, Reich, Tradition, Grenzen imponierten ihm nicht.

Es gab damals noch Witzblätter, trübe, schwächliche Witze, auch groteske und grausame, alles, um über die trostlose Zeit hinwegzukommen. Er lehnte sie mit Entrüstung ab, und der Kamerad wurde es etwas müde, stets nur die politischen Neuigkeiten, im Grunde immer die gleichen, aus den Blättern der nationalen, der sozialistischen oder demokratischen Richtung vorzulesen. Aber der Gefreite setzte es durch. Mit verbissener Wut hörte er sich die Artikel der liberalen Blätter an. In manchen wurde dem Feind Gerechtigkeit zuteil, man wagte jetzt anzuzweifeln, was bisher als unumstößliche Tatsache gegolten hatte, daß nämlich Deutschland gegen seinen Willen in den Krieg hineingerissen worden sei. Er ließ sich das Blatt geben und zerfetzte es. Er wollte die Blätter nicht herausgeben, sondern sie an geheimem Ort verwenden. Die anderen Saalgenossen warteten aber schon auf das Blatt, und es entspann sich eine neue Schlägerei, bei der der Gefreite den kürzeren zog. Ein Artillerist jüdischen Glaubens kam, mit seinen schweren Stiefeln dröhnend und sporenklirrend, auf ihn zu, riß ihn an den Achseln hoch, sah ihm fest in die Augen, mit denen H. angeblich nicht sah, faßte dann H.s Kopf mit beiden Händen und warnte ihn, wenn er noch einmal Stunk mache, werde er ihm den Kopf so an die Wand schlagen, daß er es nie mehr vergesse. Dann zerrte er ihm die Papierfetzen aus den geballten Fäusten und ging davon. Er schlug den Kriegsblinden nicht. H. höhnte nur darüber. Er hätte, sagte er, an seiner Stelle anders gehandelt. Hilf dir selbst, so hilft dir Gott, war sein Wahlspruch, dem Stärkeren war alles erlaubt. Für den Gegner war auch die geringste Achtung zuviel.

Am gleichen Abend erzählte er seinen am Bettrand auf gepflanzten Kameraden, er habe es nie verstehen können, daß man gefallenen französischen Offizieren die gleiche Ehre erweise wie deutschen, zum Beispiel französischen Fliegern, die abgeschossen wurden. Die Franzosen dürfe man nicht einmal verscharren, wenn sie tot seien, aber was die Judt anlangt, so dürften sie nicht einmal die Ehre haben, in deutscher Uniform zu kämpfen, man müßte ihnen gelbe Aufschläge geben usw.

Um das alles hatte ich mich als objektiver Arzt nie zu kümmern. Er war abstoßend, aber es war sein Recht, abstoßend zu sein. Für mich hieß es nicht, sich für oder gegen ihn zu entscheiden, ich hatte ihn nicht zu richten.

Ich hatte die Wahl, entweder den Fanatiker abzuschütteln oder aber ihn mit allen meinen Mitteln von seinen Leiden zu befreien und von der Zeit zu erwarten, daß sich die große Energie dieses Menschen anderen, humaneren, besseren Zielen zuwende. Ich habe nie begriffen, daß ein Mensch so von sich hypnotisiert sein kann, daß er nie lernt, nie zweifelt, nie zulernt. Aber H. war einer von diesen.

Aber er verstand, mit Menschen umzugehen, er paßte sich an, er sah uns, obwohl er uns nicht sah. Er wußte den Großen, zum Beispiel mir, dem Arzt im Hauptmannsrang, der an der Front als Kombattant gewesen und das Eiserne Erster erworben hatte, entgegenzukommen. Er brachte es, ich weiß nicht wie, dazu, daß ich mich um ihn besonders kümmerte.

Ich begab mich eines Nachts, als auch ich von Schlaflosigkeit geplagt war (ich sorgte mich um meine Mutter, die schwer unter den Entbehrungen litt), in mein kahles Arbeitszimmer und rief H., der im Korridor umhertappte wie ein Schlafwandler, zu mir. Ich setzte ihn ins Licht, hielt mich im Dunkel, so weit entfernt von der Lampe, daß ich eben meine stenographischen Aufzeichnungen machen konnte. Ich ließ ihn sprechen, und er sprach stundenlang ohne Unterbrechung fort. Ich erfuhr, daß er Oberösterreicher war. Aus Liebe zu Deutschland hatte er den Dienst im österreichischen Heer verschmäht – »ich wollte nicht für Habsburg fechten« – und war in den Dienst der Deutschen getreten. Er hatte den Krieg mit Jubel begrüßt als seine Rettung, als Rettung der Welt. Sein Vater war ein Bauer, ein Kleinhäusler, dann hieß es, er sei ein k.u.k. Zollamtsoffizial gewesen, ein kalter, förmlicher, strenger Mensch. Der Vater war mehrmals verheiratet gewesen, hatte Kinder aus drei Ehen (fast wie der meine). Die Mutter hatte H. bald verloren (ich dachte an die meine, von der nicht die besten Nachrichten kamen).

Er sei ein armer Kunststudent in Wien gewesen, habe kleine Bilder in Öl in Postkartenformat gemalt und sie im Bratofen geröstet, bis sie schön braun wurden und Akademieton erhielten. Aber dann habe er die Aufnahme in die Akademie nicht erreichen können, man habe ihn für einen großen Baumeister gehalten, der zu schade sei für die Malereiklasse. Er habe, in Not, als Anstreicher an einem Neubau gearbeitet, sei von den organisierten, unter Judenherrschaft stehenden Arbeitern verhöhnt und weggejagt worden ohne Grund, einfach weil die Proleten den besseren, gebildeten Menschen, einen Nichtraucher, Vegetarier, Abstinenten haßten. Er habe sich in den Straßen umhergetrieben, oft habe ihn ein gutherziger ›Plattenbruder‹, ein heimloser Vagant, wie es deren viele gab, die sogar in verlassenen Kanälen des Wienflusses unter der Erde nächtigten, mit ein paar Kreuzern oder einem Viertellaib Brot unterstützt. Er hatte eine sehr harte Jugend gehabt, viel härter als ich.

Er habe oft im Männerheim im 20. Wiener Bezirk genächtigt, habe nachts oft von dort weglaufen wollen, weil ihm der Geruch der Vagabunden unerträglich gewesen sei, aber seine Kleider seien beim Entlausen gewesen, er hätte sie erst am nächsten Morgen, ganz ›verwurstelt‹ und häßlich geworden durch den heißen Desinfektionsdampf, zurückerhalten.

Er habe sich immer für Politik interessiert, er stamme von der Grenze und habe Deutschland aus der Nähe gesehen, sich immer gesehnt, ein Deutscher zu sein, weil das neue Deutschland von 70/71 groß und hart, das alte Österreich von 1866 aber weich und morsch sei. Der Judt habe es vergiftet, niemand anders, wie er auch Galizien vergiftet und ›ratzekahl‹ gefressen habe. Er kam immer wieder auf die Juden zurück. Sie seien die schwarze Rasse im eigentlichen Sinn, die Todfeinde der Deutschen als der weißen Rasse. Christusrasse gegen Judenrasse. Christus sei Arier gewesen, Judas das Urbild des Judt. Der eine müsse leben, der andere zugrunde gehen. Ich wollte ihn ablenken. Um ihn auf eine andere Sache zu führen, die in der Unterseele schlummern mochte, fragte ich ihn, ob er nicht von Frauen enttäuscht worden sei, ob er vielleicht eine jüdische Frau kennengelernt habe, die ihm nicht gut gewesen sei. Er wurde zuerst glühend rot, dann blaß vor Wut. Aber er bezwang sich, denn er wollte es nicht mit mir verderben. »Herr Stabsarzt wissen ja ohnehin alles«, sagte er spöttisch. Und damit war das Gespräch abgeschnitten. Er sprach nicht mehr, und sein leeres, wie Porzellan glänzendes Auge wanderte zerstreut umher. Jetzt sah er nichts.

Er hatte eine rauhe, tiefe, mißtönende Stimme, aber man konnte sich ihr nicht leicht entziehen. Ich hatte viel Arbeit für den nächsten Tag vor, und trotzdem hätte ich ihm noch lange zuhören mögen. Er war übrigens auch einer ›schönen Musi‹ sehr zugänglich und liebte Wagners, des Judenfeindes, Werke am meisten.

 

Das Los eines mit hysterischer Blindheit geschlagenen Menschen ist immer sehr schwer. Er ist mehr Krüppel als einer, der auf zwei Prothesen daherhumpelt. Er ist unglücklicher als ein ›echter Blinder‹. Ein solcher Mensch findet sich oft sehr schnell mit seinem Unglück ab. Die echten Blinden sehen nach innen. Sie arbeiten sehr gerne, sind anstellig, bescheiden, lernen ein Blindengewerbe ausüben, lernen Blindenschrift lesen. Oft gründen sie eine Familie, und man ist überrascht von ihrem zufriedenen Gesichtsausdruck. Man bemitleidet sie, was sie gar nicht wollen, und hilft ihnen. Anders ist es aber mit den hysterisch Blinden. Hier im Lazarett hatte H. gut Sympathien sammeln. Er war hier noch von Staats wegen und auf Staatskosten untergebracht, er litt keine äußere Not, hatte sogar viel Gesellschaft, er war mit allem Nötigen versehen. Der Krieg ging aber zweifellos seinem Ende entgegen. Was konnte dann für diesen Mann kommen? Wer nahm ihn auf? Nicht die Blindenanstalt, nicht die Heimatgemeinde, nicht einmal eine Irrenanstalt. Er hatte keine Familie, seine Heimat war die Kaserne. Er war nicht richtig avanciert, denn der Unteroffizier beginnt erst beim Sergeanten, aber er war ein guter Soldat, der Gefreite. Er war Soldat, Soldat, Soldat und sonst nichts.

Aber selbst wenn die alte Armee weiter bestünde, was sollte sie mit einem Menschen beginnen, der nicht sehen konnte? Er, der schon einmal beinahe gebettelt hatte, der auf Hausieren mit Postkarten angewiesen war, er konnte weiter betteln; Postkarten zu bemalen war er aber nicht mehr imstande.

War ihm zu helfen? Ich dachte lange nach, und endlich ging es mir auf. Ich konnte versuchen, durch eine ingeniöse Verkuppelung seiner zwei Leiden mit seinem Geltungstrieb, seinem Gottähnlichkeitstrieb, seiner Überenergie einen Weg zu finden, ihn von seinen Symptomen zu befreien. Daß ich ihn damit nicht von seiner Grundkrankheit heilen konnte, gestand ich mir nicht ein. Da war ich blind. Ich wollte es nicht sehen, weil mich eine Art Leidenschaft ergriffen hatte. Auch ich wollte wirken, ich mußte handeln. Ich wollte herrschen, und jede Tat ist mehr oder weniger ein Herrschen, ein Verändern, ein Sich-über-das-Schicksal-aktiv-Erheben. Auch H. hatte sich über das Schicksal erhoben. Er wurde lieber blind, als daß er sich den Untergang Deutschlands ansah. Seine Blindheit war ein Zeichen seines außergewöhnlich starken Willens.

Ich mußte diesen Mann, der bei aller seiner Nüchternheit beim Wein in seinem Größenwahn ein hemmungsloser Phantast war, mit der Phantasie fassen. Er, der vielleicht im einzelnen nicht immer mit Absicht, Ziel und Zweck log, sondern im ganzen ein Stück gigantischer Lüge war, für den es keine absolute Wahrheit gab, sondern nur die Wahrheit seiner Phantasie, seines Strebens, seiner Triebe, ihm mußte ich nicht mit logischen Überlegungen, sondern mit einer großartigen Lüge kommen, um ihn zu überwältigen.

Ich ließ ihm durch den ihm so sehr gewogenen Unteroffizier mitteilen, ich interessiere mich für seinen Fall, der etwas Außergewöhnliches sei und der vielleicht in einer Stunde geheilt sein könne, und ich würde ihn im Laufe des Tages sofort holen lassen, sobald ich eine freie Minute hätte. Er setzte eine abweisende Miene auf, berichtete man mir, vielleicht hatte er Angst, ich könnte ihn durchschaut haben. Ich ließ ihn gar nicht erst kommen. Ich hatte tatsächlich andere Arbeit genug. Er sollte gespannt sein. Er sollte nach mir rufen, er sollte mich sehnsüchtig erwarten, und er war es, der eines Abends durch den verlassenen Korridor angetappt kam und Einlaß begehrte. Ich ließ ihn eintreten, schrieb aber seelenruhig weiter, das Kritzeln der Feder mußte er hören. Er wagte nicht, mich anzusprechen. Ich ließ ihn stehen und ging aus dem Raum. Er kehrte erst viel später in den Korridor zurück.

Ich ließ mir Zeit. Ich wußte, er schlief jetzt gar nicht mehr. Die Aussicht, ich könne ihm den Schlaf wiedergeben, erregte ihn so, daß er nicht einmal zwei bis drei Stunden schlief, was er vorher getan hatte. Endlich glaubte ich, er sei vorbereitet. Ich ließ ihn eintreten, zündete zwei Kerzen an und begann, seine Augen mit dem Augenspiegel zu untersuchen. Die Hornhaut spiegelte, sie war glatt, die Bindehaut war etwas gerötet, eine Folge der Schlaflosigkeit. Die Augen, etwas hervorstehende, blaugraue Augen von merkwürdig stechendem, bestechendem Ausdruck, tränten ein wenig. In seinen Zügen drückte sich furchtbare Spannung aus, ich sah, er fürchtete, ich würde ihm sagen, was ihm bisher alle Ärzte und der jüdische Pfleger gesagt hatte, daß er lüge, daß seine Augen gesund seien und daß er doch sehen müsse, wenn er nur wolle.

Ich tat das Gegenteil. Aufseufzend tat ich den Augenspiegel wieder in das Futteral zurück, löschte die Kerzen aus und sprach im Dunkel mit ihm. Eigentlich war es ja nur für mich dunkel geworden, für ihn war es immer so gewesen seit seinem Abgang oder seiner Flucht von der Front. Ich sagte ihm, meine ursprüngliche Ansicht habe sich nach verschiedenen Zweifeln doch als wahr erwiesen, seine Augen seien durch das Gelbkreuz furchtbar geschädigter könnte tatsächlich nichts sehen. Ich hörte ihn aufatmen. Ich fügte hinzu, ich hätte auch niemals annehmen können, daß er, ein reiner Arier, ein guter Soldat, ein Ritter des Eisernen Kreuzes Erster Klasse, lüge und etwas vortäusche, das nicht bestehe.

Leider sei damit auch meine Möglichkeit, ihm zu helfen, abgeschnitten. Es wäre mir ein leichtes gewesen, ihn von seiner Schlaflosigkeit zu befreien, wenn er meinen Blick hätte auf nehmen können oder wenn er seinen Blick auf irgendein glänzendes Objekt hätte konzentrieren können. Die Hypnose wirke durch das Auge. Blinde könne man nicht hypnotisieren, ich wenigstens könne es nicht. Jedermann müsse sich in alles schicken, gegen das Schicksal sei nichts zu tun. Außer diesen wenigen Sätzen sagte ich nichts. Er tat, als wolle er von seinem Stuhl aufstehen und fortgehen, aber ich hatte ihn schon gebannt, und er setzte sich wieder hin. Er schüttelte den Kopf. Er wehrte sich gegen mich, aber jetzt war ich der Stärkere, da ich auf die Unterseele dieses Menschen wirkte. Denn im Grunde seiner Seele wollte er wieder sehen, und sein Wunsch war, ich sollte ihn mit Gewalt dazu zwingen. Voll Freude an meiner Übermacht fühlte ich, ich hatte ihn in der Gewalt. Ohne es ihm zu befehlen, dachte ich mit aller Energie daran, er solle seine Hände über dem Schoß falten. Er tat es. Er solle an seinem Eisernen Kreuz nesteln, als wollte er es abnehmen. Er gehorchte. Ich befahl ihm, er solle mir sein Geheimnis mit den Frauen mitteilen. Ich überwand den Widerstand, und er sprach. Ich befahl ihm, er solle den rechten Arm ausstrecken, er zögerte, aber dann tat er auch dies.

Kein Wort mehr, ich wußte, was ich wissen mußte. Alles ging jetzt stumm vor sich, Geist gegen Geist. Ich sah, er hatte Durst. Ich brachte ihm kein Wasser, wozu auch? Es wäre Wahnsinn gewesen, die Sitzung jetzt zu unterbrechen.

Nachdem ich alles in Erfahrung gebracht hatte, hieß es wirken. »Es geschehen keine Wunder mehr«, sagte ich. Er ließ den Kopf auf die Brust sinken und antwortete nicht. »Aber«, setzte ich fort, »das gilt bloß für Durchschnittsmenschen. Es sind an auserwählten Menschen dennoch oft Wunder geschehen, es muß doch Wunder geben und große Menschen geben, vor denen die Natur sich beugt, glauben Sie nicht?« – »Wie Sie denken, Herr Stabsarzt«, sagte er heiser. – »Ich selbst bin kein Scharlatan, kein Wundertäter«, sagte ich, »ich bin ein einfacher Arzt, aber vielleicht haben Sie selbst die seltene, in allen tausend Jahren einmal vorkommende Kraft, ein Wunder zu tun. Jesus hat solche getan, Mohammed, die Heiligen.« Er antwortete nicht, sondern starrte vor sich hin und atmete schwer. »Ich könnte Ihnen nur die Methode angeben, mit deren Hilfe Sie sehen würden, obgleich Ihre Augen verätzt sind vom Gelbkreuz. Ein gewöhnlicher Mensch wäre mit Ihrem Augenbefund blind auf Lebenszeit. Aber für einen Menschen von besonderer Willenskraft und geistiger Energie gibt es keine Grenzen, die naturwissenschaftliche Erkenntnis gilt für ihn nicht mehr, und der Geist sprengt die Mauern, bei Ihnen die dicke weiße Schicht in der Hornhaut, aber vielleicht haben Sie diese Kraft zum Wunder nicht.« – »Wie kann ich es denn wissen?« fragte er. »Das müssen Herr Stabsarzt wissen.« – »Trauen Sie sich aber den Willen zu?« antwortete ich. »Dann versuchen Sie es, öffnen Sie die Augen weit. Ich werde jetzt meine Kerze mit einem Zündhölzchen anzünden. Haben Sie den Funken gesehen?« – »Ich weiß nicht«, sagte er, »ein Licht nicht, aber eine Art weißen runden Schimmers.« – »Das ist nicht genug«, sagte ich, »das reicht nicht, Sie müssen blind an sich glauben, dann werden Sie aufhören, blind zu sein. Sie sind jung, es wäre schade um Sie! Sie wissen, daß Deutschland jetzt Menschen braucht, die Energie und blindes Vertrauen in sich haben. Mit Österreich ist es zu Ende, aber mit Deutschland nicht.« – »Das weiß ich«, sagte er mit ganz veränderter Stimme, stand auf und hielt sich an der Tischkante fest. Aber er zitterte noch. »Hören Sie«, sagte ich fest, »ich habe hier zwei Kerzen, eine rechts, eine links. Sie müssen sehen! Sehen Sie sie?« – »Ich fange an zu sehen«, sagte er, »wenn es doch möglich wäre!« – » Ihnen ist alles möglich! Gott hilft Ihnen, wenn Sie sich selbst helfen! In jedem Menschen steckt ein Stück Gott, das ist der Wille, die Energie! Fassen Sie alle Ihre Kraft zusammen. Noch mehr, noch mehr! Gut! Jetzt genug! Was sehen Sie jetzt?« – »Ich sehe Ihr Gesicht, Ihren Vollbart, Ihre Hand und den Siegelring, Ihren weißen Kittel, die Zeitung auf dem Tisch und die Aufzeichnungen über mich.« – »Setzen Sie sich«, sagte ich, »ruhen Sie sich aus. Sie sind geheilt, Sie haben sich selbst sehend gemacht.« Ich stand auf und ging im Zimmer umher. H. folgte mir jetzt mit seinen Blicken, ganz wie es ein Mensch mit normalem Auge tut. Er sah auch auf den Tisch und versuchte, meine Aufzeichnungen über ihn zu entziffern. »Sie haben sich wie ein Mann gehalten«, sagte ich, »und wenn Sie in Ihre Augen Licht gebracht haben kraft Ihres Willens, so werde ich in Ihre Gehirnzellen kraft meines Willens etwas wohltätige Dämmerung bringen, und Sie werden von heute an wieder beginnen zu schlafen. Sie werden bis auf Widerruf alles tun, was ich, zu Ihrem Wohl, befehle. Wollen Sie das?« – »Wie Herr Stabsarzt befehlen. Schlafen! Wenn Sie aber das zustande bringen könnten?!!« Ich sagte nun nichts mehr, ließ ihn nochmals aufstehen, um sich von mir auf den Untersuchungstisch betten zu lassen. Ich schob ihm die in die Stirn hereinfallende Stirnlocke zur Seite, strich ihm über die feuchte kalte Stirn und suggerierte ihm, ohne ein Wort, ihm unablässig in die Augen blickend, er werde die Augen schließen und werde sie, auch wenn ich sie ihm auseinanderzuziehen suche, nicht mehr öffnen können und werde dann ohne einen Traum bis zum nächsten Morgen schlafen. Alles geschah, wie ich es wollte. Ich hatte das Schicksal, den Gott gespielt und einem Blinden das Augenlicht und den Schlaf wiedergegeben. Am nächsten Tag schrieb ich an Helmut, der im Kriegsministerium diente, er möge versuchen, einem Gefreiten A. H. einen Druckposten zu verschaffen. Druckposten hieß leichter Posten, wo ein solcher Mensch sich erholen konnte.

 

In jene Zeit fiel ein in der ›Vossischen Zeitung‹ veröffentlichter Aufruf des Juden Walther Rathenau zu einer Erhebung des gesamten Volkes, einer Levée en masse, um die Grenzen zu schützen. Der Aufruf fand keinen Widerhall, denn Rathenau hatte keine Autorität und wußte die Massen nicht zu packen. Das Heer zog sich zurück. Die Dynastien sanken eine nach der anderen ohne Kampf und ohne Klage von den Thronen, und es gab keine Ordnung mehr. Man warf den früheren Herrschern vor, sie hätten das Volk belogen und getäuscht. Niemand wollte zugeben, daß der Krieg verloren war und das Volk diese Lügen und Täuschungen verlangt hatte.

Die Soldaten und Offiziere strebten nach Abschluß des Waffenstillstands der Heimat zu. Das Lazarett leerte sich schnell. Die Gewißheit, vor der Kugel geschützt zu sein, bewirkte so viele Heilungen von Gelähmten, Zitterern, Kriegsblinden und -tauben, wie es kein Arzt hatte zustande bringen können. Ich nahm Urlaub. Im Lazarett herrschte Unordnung, Trubel, es bestand kein Kommando mehr, seit es keinen ›obersten Kriegsherrn‹ mehr gab. Ich sammelte die Krankengeschichten verschiedener Patienten, unter ihnen waren meine Protokolle, welche sich auf A. H. bezogen. Sie konnten mir dienen, wenn ich in einer wissenschaftlichen Arbeit Exempel über die Folgen gewaltigster Leiden seelischer und körperlicher Art für den Menschen beibringen wollte.

Ich reiste nach M. zurück und nahm dort Quartier in dem besten Zimmer des Hotels ›Zum ehemaligen Prinzregenten von Bayern‹ wo ich als Student Teller gewaschen hatte. Niemand erkannte mich. Das Personal hatte gewechselt. Es bestand jetzt aus alten Männern und jungen Frauen. Die jungen Männer hatten ins Feld gemußt.

Der Regent des Landes Bayern existierte nicht mehr. An seiner Steile kommandierten die Arbeiter- und Soldatenräte. Aber sie herrschten nicht. Da niemand wußte, was das Dringendste war, und da man vor allem kein gemeinsames Ideal und politisches Ziel hatte, kam man aus den endlosen unfruchtbaren Diskussionen um die Macht nicht heraus. Das offizielle Ministerium hatte noch weniger Macht als die Räte, denn woher sollte seine Autorität kommen? Vielleicht wollte niemand mehr herrschen und führen; die anderen so wenig wie ich.

Mein erstes war, mich mit meinen Eltern in Verbindung zu setzen. Da die Eisenbahnen ausschließlich dem Truppentransport dienten und kein Auto zu haben war, nahm ich einen klapprigen Wagen mit einem lahmen, furchtbar abgemagerten Pferd und fuhr nach S., ohne mich vorher anzukündigen. Ich klopfte an die Tür unseres Häuschens, nachdem mir auf das Läuten der alten Schelle niemand durch den hohen Schnee des Gartenweges entgegengekommen war. Die sehr leise, von furchtbaren Hustenstößen unterbrochene Stimme meiner Mutter antwortete mir. Ich trat ein.

Das Zimmer war von dem üblen Dunst erfüllt, den der schwelende Torf gibt, wenn man ihn verheizt. Kohlen schienen sie nicht bekommen zu haben, und es lagen zum Trocknen ganze Haufen von schwärzlich grauen Torfwürfeln am Ofen. Meine Mutter umarmte mich mit ihren dünnen Armen, dann legte sie sich, vor Schwäche schwankend, über ihren alten Kleidern einen wollenen Sweater, auf ein Sofa nahe dem Ofen und zitterte vor Fieber. Sie war kaum zu erkennen. Was mir da weinend an der Brust gelegen hatte, war ein von Lungenschwindsucht und von Kummer ausgehöhltes Wesen, nur noch der Schatten der Frau, die ich noch vor einem Jahr gesehen hatte. Sie hustete fast ohne Unterlaß. Ihre einst so prachtvollen Schwarzkirschenaugen lagen tief in den Augenhöhlen, sie brannten in krankhaftem Feuer. Sie sprach viel und leise, atemlos, überhastete sich, doch schien sie alles überlegt, vorausbedacht zu haben.

Ich wollte näher an ihr Sofa rücken, auf das sie zurückgekehrt war, ihre Decke bis an ihr spitz gewordenes Kinn ziehend, aber sie, in der Befürchtung, mich anzustecken, flehte mich an, ich solle ihr nicht zu nahe kommen. Mein Vater war auf der Post, um nach Briefen von mir zu fragen. Die Postboten waren in einen Proteststreik getreten und hatten ihre Bestellgänge eingestellt, leerten die Postkästen nicht, und mein Vater wußte nicht, ob die Briefe und ein Telegramm, die er in den letzten drei Tagen an mich geschickt hatte (solange hatte meine Reise von P. hierher infolge der schlechten Eisenbahnverbindung gedauert), mich noch in P. angetroffen hatten. Sie fragte mich, ob ich nicht in Not sei, ob ich gegessen habe, ob ich ein Quartier habe. Ich beruhigte sie. Ich hatte viel Geld gespart, denn in P. hatte ich fast nichts ausgeben können. Ich bot ihr Geld an. Vielleicht war sie es, die in Not war, fiel mir schwer aufs Herz. Sie nahm hastig das Geld und verbarg es unter dem Kopfpolster.

Sie erzählte mir, stockend jetzt und wie von Scham gehemmt, sie lebe nicht mit meinem Vater allein, sondern es sei auch der Sommergast wiedergekommen, das blonde Kind, das ungetreue, ›abgefeimte‹ Wesen, die verstockte Lutheranerin. Mein Vater und sie hätten sich bereits untereinander verabredet, sie wisse genau, wie es um sie stehe. Man wolle es ihr verheimlichen und ihr trügerische Hoffnungen machen. Mein Vater sei fast den ganzen Tag aus dem Haus, aber Heidi habe sich geweigert, den Geistlichen heute nochmals kommen zu lassen, nachdem er schon gestern dagewesen sei. Aber gestern hätte sie sich noch nicht so todesnah und klar gefühlt wie heute. Vielleicht habe sie auf mich warten müssen. Ihr sei jetzt wohl. Ich solle ihr die Liebe tun, sofort zu ihm zu gehen und mich weder von meinem Vater noch von der Lutheranerin abhalten lassen. Ich sah, sie war bei vollem Bewußtsein trotz des hohen Fiebers, 39  ½ Grad. Die Unterseele hatte keine Gewalt über sie, da ihre Vernunft durch den katholischen Glauben an das Jenseits aufrechterhalten wurde. Sie hielt mich aber noch einen Augenblick zurück, die Worte mehr mit den Lippen formend als mit dem Atem, da offenbar ihre starken Schmerzen das tiefe Luftschöpfen und das Sprechen fast unmöglich machten. Sie flüsterte, sie wisse, sie habe mir Unrecht getan, ich sei an Vroni nicht schuldig gewesen, auch Vroni sei nicht an dem ganzen Unheil schuld gewesen, und sie habe in ihrem Letzten Willen bestimmt, sie und meine unehelichen Geschwister sollten etwas aus ihrem Vermögen erhalten, Vroni sollte die schönen Kleider von einst bekommen, die noch in der Truhe lägen. Sie verzeihe ihr, auch ihrem Mann, nur der Heidi nicht, so nannte sich das blonde lutheranische Fräulein, eine Lehrerin aus Pommern. Dann hauchte sie, meine Hände mit ihren fast gewichtlosen Händen streichelnd und sie dann eine nach der andern an die Lippen und an ihre Brust führend, als könnte ich ihr die Lippen kühlen oder den Schmerz in der Lunge besänftigen, ich solle noch Geduld mit ihr haben und bei ihr bleiben, bis es zu Ende sei. Den Arzt wollte sie nicht mehr, die Spritzen schmerzten, aber halfen nicht mehr, die Wissenschaft sei eitel Trug, das wisse sie seit dem Judenkaiser. (Daß sie damit auch mich und meinen Beruf angriff, kam ihr nicht in den Sinn.) Sie müsse sich in ihr Schicksal schicken, deshalb heiße es Schicksal, sagte sie mit einem herzzerreißenden, schelmisch sein sollenden Lächeln. Sie gab mir, plötzlich verstummend, das Geld zurück und meinte dann, sie brauche es ja nicht mehr.

Wahrscheinlich hatte sie lange Zeit hindurch den Wunsch gehabt, über Geld zu verfügen. Aber Heidi führte die Wirtschaft.

Sie irrte unruhig mit den Blicken umher, auch mit einer Art Angst, als wollte sie den Ausgang finden. Dann faßte sie sich. Ich sollte nach dem Begräbnis dem Ortspfarrer persönlich eine Summe übergeben für soundsoviel Messen, hier und in ihrem Heimatort zu lesen. Sie wisse nicht, ob das ausreiche, alles sei jetzt so teuer geworden. Aber ich solle ja nicht sparen damit, auch wenn ich nicht ans Fegefeuer glaubte. Begraben wolle sie in M. werden. Alles in größter Einfachheit. Sie sterbe nicht gern. Sie habe sich sehr auf mich gefreut, und sie habe viel gebetet und gut gebetet. Denn Gott und die Hl. Jungfrau hätten sie erhört, daß ich den Krieg überlebt habe, der soviel prächtigen jungen Menschen das Leben gekostet habe. (Ein Schatten kam an den Fenstern vorbei.)

Sie sprach jetzt noch leiser, ich mußte ihre Lippen ganz nahe ansehen, um sie zu verstehen. Der Torf prasselte, knallte auf, einen Augenblick wurde es im Zimmer hell, dann wurde es wieder dämmerig. Sie wollte nicht, daß ich schon Licht machte. Ich glaube, sie wollte mich nicht erschrecken durch ihr elendes, verwüstetes Aussehen. Die weibliche Eitelkeit war nicht ganz erloschen. Sie hatte alle ihre Ringe noch, auch den, den mein Vater ihr gelegentlich des ›Operatiönchens‹ gekauft hatte. Die Erinnerung kam über mich, der Schmerz stieg mir die Kehle hoch, und die Tränen waren da. Sie sah es mißbilligend und zog sich etwas an die Wand zurück. Ich dachte mir, sie würde sich wohler fühlen, wenn sie statt Kleid und Sweater ein Nachthemd und eine Flanelljacke anzöge. Sie schüttelte den Kopf, es war ihr nicht recht. Sie wollte bleiben, wie sie war, und sie wollte nicht, daß ich ihr durch meinen Schmerz das Unvermeidliche schwerer machte. Sie wollte gut und fromm, das heißt freudig und getröstet sterben. »Geh jetzt, geh!« sagte sie, ließ mich aber nicht los, sie hielt mich unabsichtlich fest, so wie sie es früher des öfteren getan hatte. Ich sah, sie hatte noch etwas auf dem Herzen, und da sich wieder der Schatten am Fenster gezeigt hatte und ich nicht wußte, ob wir im Laufe des Abends noch allein sein würden, bat ich sie, es mir schnell zu sagen. Sie erhellte sich sofort und kam näher zu mir, sich angestrengt auf dem Sofa bewegend, sie nickte, ich hatte ihre Gedanken erraten. »Aber du versprichst mir«, sagte sie, »daß du niemals böse bist darüber. Und daß du es mir nie in Gedanken vorwirfst, wenn es dir dann doch nicht leicht wird. Auch mußt du nicht sofort antworten, du kannst mir morgen sagen, ob du dich binden willst. Nein, aber nein«, sagte sie nach einem furchtbaren Hustenanfall, und die dunklen Augenlider flatterten vor Erregung über ihren brennenden tiefliegenden Augen, »morgen ist vielleicht nicht mehr Zeit, sage es sofort, ja oder nein, nur zwinge dich ja nicht. Aber ich würde doch viel beruhigter sterben, wenn...« Sie hatte doch nicht den Mut, davon zu reden. Sie kam auf den Partezettel zu sprechen, es solle ausdrücklich darin stehen, sie habe ihre lange und qualvolle Krankheit ›mit christlicher Geduld‹ ertragen. »Wirst du dir das merken?« Ich nickte unter Tränen. Dann wollte sie eine Aufzählung der Menschen machen, die wir benachrichtigen sollten, damit sie an der Seelenmesse und Einsegnung in der Kirche von M. teilnehmen könnten. Ich ließ sie aber die Liste nicht vollenden und sagte ihr: »Sprich lieber schnell von dem, was du wirklich auf dem Herzen hast, Mutter, sage mir das, was am wichtigsten ist. Ich werde dir folgen.« – »Du bist noch jung«, sagte sie mit verhältnismäßig sehr klarer Stimme. »Du bist jung und mußt leben. Du wirst heiraten. Ohne Ehe kann der Mensch nicht sein, besonders jetzt nicht, in dieser Zeit. Ihn kann ich nicht hindern, er mag tun, was er will. Du aber versprich mir, du heiratest keine Lutheranerin, keine Jüdin gar. Es würde euer Segen nicht sein. Dein Vater hat niemals an die Hl. Dreifaltigkeit geglaubt. Deshalb hat er dich mir abspenstig gemacht, und wir sind unglücklich geworden. Du sollst eine brave Frau, eine gute Katholikin heiraten, arm oder reich, ganz gleich, darauf wirst du nicht sehen. Glaube mir ...« Ich ließ sie nicht mehr mit langen Reden sich anstrengen und versprach es ihr.

Mein Vater kam, in einem kurzen Jagdpelz, den Opossumkragen voll Schnee. Das Heidi kam gleich hinter ihm. Er war sehr froh, daß ich da war, und zeigte mir ein paar Briefe, die er mir geschrieben hatte, die zurückgekommen waren und welche der Postmeister ihm eben gegeben habe. Heidi machte sich am Bette meiner Mutter zu schaffen, die ihre geschickten Dienste dankbar und viel geduldiger entgegennahm, als ich gedacht hatte. Sie sprach nicht mehr viel, lag da, keuchte, hustete, und ihre Hände bewegten sich scheu auf der Decke. Ich ging und holte den Geistlichen. Er kam gegen acht und gab ihr die Letzte Ölung. Draußen lag tiefer Schnee, und Heidi schaufelte im Licht eines Kienspans (Kerzen gab es hier wohl schon lange nicht mehr) mit kräftigen Schneewürfen den Weg zum Gartentor breit aus.

Wir dachten, um Mitternacht sei es aus, aber es dauerte bis zum Morgen. Ich lag an dem Bette der Armen, mit der Stirn an der hölzernen Kante der Bettstelle. Ich hätte gerne gebetet, die liturgischen Worte kamen mir ins Gedächtnis zurück, aber beten konnte ich nicht. Und ich wußte, wenn ich es jetzt nicht konnte, würde ich es nie mehr können, komme, was wolle.

Mein Versprechen war mir nicht weiter schwergefallen. Heiraten und Lutheranerinnen lagen mir jetzt nicht im Sinn. Ich dachte nur an etwas anderes, das ich bereute, nämlich, daß ich zu ihrem Schmerz vor Jahren meine Tagebücher in griechischen Lettern und dann in Runenschrift geschrieben, daß ich mein unnützes Geheimnis vor ihr verborgen, daß ich ihr das Unrecht niemals ganz verziehen, daß ich sie nicht genug geliebt hatte, daß ich allein gelebt hatte mit Kaiser als Vater und ohne Mutter. Aber sie liebte ich doch! Und ich hatte sie mit meinem ganzen Herzen geliebt. Ich hatte wohl nur mittlere Gaben, und etwas Ungeheures war mir nicht gegeben. Es ist etwas Ungeheures, ein Unrecht zu vergessen und auf einen Schlag mit einem Kuß zu antworten. Es geht über Menschenkraft und tut doch not. Ich verstand jetzt, daß sie mir gegrollt hatte, daß sie immer auf mich gewartet hatte im Glauben, ich würde mich überwinden, ich würde auch ein Unrecht auf mich nehmen und sie mehr lieben als sie mich. Jetzt hörte ich, durch das Brett des Bettes fortgeleitet, genau den immer leiser werdenden Schall ihrer Atemzüge. Ich war Augenzeuge auch jetzt, unter Tränen, Seufzern und in meinem Leid. Gegen Morgen stand ich dann auf, als alles aus war, und erlaubte meinem Vater und Heidi nicht, näher zu kommen. Ich drückte ihr die Augen zu. Ich legte ihr die Hände zurecht, die noch ein wenig von dem heiligen öl der Sterbesakramente an sich hatten, womit man sie am Abend gesalbt hatte. Sie konnte in dem schwarzen Kleid bleiben, nur der Wollsweater paßte nicht zu ihr. Ich tat ihn weg, ebenso wie die vielen unnützen Arzneien.


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