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Dritter Teil

Meine Eltern hatten schon vor vielen Jahren im ›Waldfriedhof‹ von M. eine Begräbnisstätte gekauft. Mein Vater war aber jetzt nicht dafür, die sterblichen Überreste meiner Mutter nach M. transportieren, dort einsegnen und beisetzen zu lassen. Heidi fand es überflüssig und murmelte etwas von süddeutscher Sentimentalität. Ich gab ihr keine Antwort und ordnete alles so an, als wäre ich es, der zu bestimmen hatte. Meine Mutter hatte den Ort S. nie geliebt. Sie hatte oft, zu Zeiten, als sie sich sehr elend fühlte, ihr künftiges Grab in M. besucht und mir sogar die Blumen genannt, die sie darauf gepflanzt haben wollte. Mein Vater gab mir, etwas beschämt, nach.

Ich als Kriegsteilnehmer mit meinen Auszeichnungen, meinem Stabsarzt- oder Hauptmannsrang, imponierte ihm, und er gestand mir auf der Reise nach M., er persönlich hätte immer gewünscht, es solle alles im Sinne der teuren Dahingeschiedenen geschehen, aber das ›gar praktische‹ Heidi habe ihn auf den Gedanken gebracht, daß die Begräbnisstätte in M. ebenso wie alles seither im Preis gestiegen sei und daß man, ohne jemand zu schädigen, etwas Geld gewinnen könnte, wenn man meine Mutter, die doch nichts mehr wisse und im Himmel sei, auf dem billigen Friedhof von S. beisetze und die Begräbnisstätte in M. verkaufe.

Ich brachte meinen Vater in dem Zimmer neben dem meinen im ›Ehemaligen Prinzregenten von Bayern‹ unter. Wir hielten die Verbindungstür offen und ließen uns jeder an einem Tisch nieder – er dort, ich hier –, um die vielen Partezettel und Telegramme an alle näheren und ferneren Bekannten aufzusetzen. Mein Vater vergoß häufig Tränen. Mir war dies nicht gegeben. Ich konnte nur sehr selten weinen.

Ich hatte vielleicht damals noch nicht ganz begriffen, wie groß mein Verlust war. Die Leiche war in einem geschlossenen Wagen nach M. gebracht und dort aufgebahrt worden. Als mein Vater und ich vor der herrlichen Kirche standen, der gegenüber ich als junger Student gewohnt hatte, entsann ich mich der großen Sehnsucht nach ihr und der innigen Zärtlichkeit, die mich damals bei aller meiner Not als Hungerstudent erfüllt hatte, wie ich das heiße Grogglas im ›Abwasch‹ an meine Wangen gepreßt hatte, ihrer gedenkend, und wie ich, aus dem Fenster blickend, ihrer Fotografie die Alpenlandschaft und den Turm der Kirche gezeigt hatte, in deren Innern sie jetzt auf dem mit silbernem Zierat und Kreuzen bedeckten schwarzen Katafalk lag.

Unversehens waren mir die Tränen gekommen. Ich kniete nun an ihrem Sarge, mein Vater neben mir. Inzwischen hatte sich das Kirchenschiff mit einer Menge Personen gefüllt, und man hörte immer noch Autos und Wagen ankommen.

Als die Trauermesse zu Ende war, gingen wir an der Spitze eines ziemlich großen Leichenzuges und feierlich zur Kirche hinaus, und es fuhren eine Menge von Pferdedroschken bei strahlendem trockenem Schneewetter zum Friedhof. Dort wurde die Leiche nochmals eingesegnet, es wurde ein kurzes Gebet gesprochen, dann trat ein Totengräber auf meinen Vater zu und drückte ihm, der vor Tränen nichts sehen konnte, eine blanke Kelle in die Hand, damit er etwas Erde in die Grube schütte, in welche man inzwischen an knarrenden Seilen den schwarzlackierten Sarg versenkt hatte.

Ich sah alles klar, und mit fester Hand schüttete ich ein Stück harte, wie zu Stein zusammengefrorene Erde in die Grube.

Jetzt hatten wir den unangenehmsten Teil vor uns, den Trauergästen als Leidtragende zu danken und ihnen allen die Hand zu drücken. Ich wußte nicht, sollte ich dazu meine schwarzen Handschuhe ausziehen oder nicht. Mein Vater behielt sie an, es war kalt, und er hat immer sehr empfindliche Hände gehabt. Er lächelte schmerzlich und bescheiden, aber es ehrte und erfreute und tröstete ihn, daß viele seiner Freunde aus seiner besten Zeit sich auf die Traueranzeige in der Tageszeitung hin seiner erinnert hatten und gekommen waren, so der Direktor und dessen Frau, beide in prachtvollen Pelzen, der Besitzer des Hauses, in welchem ich meine Kindheit verbracht hatte, der Anwalt, der ihn verteidigt hatte, seine Freunde vom Stammtisch. Auch von meinen Bekannten waren viele gekommen. Geheimrat von Kaiser, immer noch ungebeugt, mit seinem seltsam verwitterten Gesicht, seinen feurigen Augen unter den buschigen schneeweißen Brauen. Sein Sohn Helmut, der mir warm und vertraulich zulächelte und den ich leise bat, er möchte mich doch bald aufsuchen. Er war in Uniform wie ich. Auch der alte Judenkaiser war erschienen, und er war einer der wenigen, die weinten. Er hatte mit seinem guten treuen Herzen alles vergessen, was zwischen ihm und ihr gewesen war, und sich nur erinnert, daß sie jahrelang in seiner Pflege gewesen war und daß er uns allen hatte helfen wollen. Auch seine Tochter war da, schöner denn je. Mir ging trotz der schweren Zeit ein Schauer des Entzückens durch das Herz, als sie mir die Hand drückte und mich mit ihren großen, klaren, blaugrünen Augen anstrahlte, welche meinen Blick beherrschten. Sie schien aber nicht wie ihr Vater alles vergessen zu haben. Etwas Bitteres, Herrisches war geblieben, und ich hatte wohl gesehen, daß sie die Erde auf den Sarg meiner Mutter nicht etwa sanft aus der Kelle hatte herabgleiten lassen, sondern mit Gewalt hinabgeschleudert hatte.

Der Sommergast, das blonde Heidi, war nicht bei der Trauermesse in der Kirche anwesend gewesen, vielleicht liebte sie als Protestantin solche Zeremonien nicht. Jetzt war sie hier, sie hielt sich, ohne aufzufallen, dunkel und einfach gekleidet, nahe bei meinem Vater, dem ihre Nähe sichtlich wohltat. Erdschollen warf sie nicht hinab. Außer diesen Trauergästen, mit denen man mehr oder weniger gerechnet hatte, waren noch vier andere gekommen, die unerwartet waren. Vroni, sehr abgearbeitet, aber immer noch mit einer Art herber bäurischer Schönheit in den Zügen und in der Haltung, war da mit ihren beiden Kindern, die jetzt 13 Jahre alt waren und von ihr die Schönheit geerbt hatten, die aber bei ihnen noch zart und weich war, und die meinem Vater ähnlich sahen – und mir. Sie alle waren sehr ärmlich gekleidet. Es fiel mir auf, daß die früher kohlschwarzen Haare und die einst so frische blühende Haut der früheren Geliebten meines Vaters messinggelbe Flecke hatten, wie sie die Arbeiterinnen in den Munitionsfabriken bekamen, die mit dem Einfüllen von nitroglyzerinhaltigen Explosivstoffen zu tun hatten. So waren die Spuren des Krieges bis hierher zu sehen.

Wenn das Erscheinen dieser Person für meinen Vater und dessen Heidi eine unliebsame Überraschung war, so war es für mich das Auftauchen der Angelika C, der früheren Hausdame Geheimrat Kaisers, die ich nicht mehr wiederzusehen erwartet hatte. Sie war aber gekommen, sehr würdig in einem gut geschnittenen, tadellos sitzenden Trauerkleid. Ihr Mann, der Major, sei in den Rückzugsgefechten auf dem Feld der Ehre an der Westfront gefallen, teilte sie mir mit, und ich mußte ihr kondolieren wie sie mir. Sie hielt meine Hand länger als nötig fest. Und ich muß sagen, so wie mich die schöne, stolze, unversöhnliche Viktoria entzückt hatte, so tat es mir jetzt wohl, daß die alternde demütige Angelika meine Hand nicht aus der ihren lassen wollte und daß sie mich mit einem bittenden Blick anflehte, das Vergangene zu vergessen. Was hatte ich ihr zu verzeihen? Wir hatten jahrlang zusammengelebt und waren uns dann jahrelang aus dem Wege gegangen. Zu verzeihen gab es nichts. Inzwischen hatte sich der Gottesacker (so hatte meine verstorbene Mutter immer den Waldfriedhof genannt) geleert. Blutrot ging die Sonne über den klar und silbergrau und schneebereift herüberscheinenden Gebirgen unter, es wehte herb und kühl von dem nahen Flusse her, in welchem das Eis krachend trieb. Wir kehrten stumm nach Hause zurück durch die spärlich erhellten Straßen. Vor den Lebensmittelläden standen, wie schon seit drei Jahren, die langen stummen ›Schlangen‹. Die Kanonen waren verstummt, die Flammenwerfer erloschen, die Gasgranaten platzten nicht mehr, und die Flieger schwiegen, der Himmel mit Wolken, Sternen und Blau war wieder zum Himmel geworden, aber es war kein Friede. Der Krieg war aus, die Blockade dauerte an. Hunger, Kälte, Not. Kein Brot kam herein. Wir, als wir abends nach S. heimkamen, waren froh, daß uns das praktische Heidi etwas zum Essen aufgetrieben hatte, es war ein ›schwarz‹, das heißt heimlich geschlachtetes Spanferkel. Sie hatte es sogar zustande gebracht, für den großen Ofen im Wohnzimmer ein paar Stück Kohle und ein paar ordentliche Scheite Holz heranzuschaffen. Vielleicht hätte ich mich an diesen Tisch nicht hinsetzen, an diesem Ofen nicht wärmen dürfen, aber ich habe es trotzdem getan. Ich bin im Laufe des Abends nur auf eine Stunde fortgegangen, um ihn und Heidi allein zu lassen, damit sie alles miteinander besprechen konnten, und bin beim Ortsgeistlichen gewesen, um ihm das Geld für die Seelenmessen zu bringen, wie die Selige es gewünscht hatte. Er hat mich aber etwas länger bei sich festgehalten, als ich angenommen hatte.

Ich lernte in dem Geistlichen einen gütigen, unfanatischen, aber durch die überschwere Zeit schon etwas verbrauchten Mann kennen. Er mußte sich Mühe geben, sich meiner Mutter zu erinnern, obwohl sie durch Jahre jeden Sonntag in seine Kirche gekommen war und er ihr die Letzte Ölung gegeben hatte. Der Geistliche notierte sich die ihm bestimmte Summe in ein dickes Buch und bezeichnete im Kalender das Datum der ersten dieser Gedächtnismessen. Er ließ mich nicht gehen, bevor er mir nicht ein Glas Schnaps angeboten hatte, wie ihn die Bauern hier heimlich brannten und das ich am liebsten sofort ausgespien hätte, denn Alkohol, auch in kleinen Mengen, tat mir seit einiger Zeit, seit den Gurkhastürmen wohl, nicht gut.

Er bemerkte meine Verwirrung, ließ mich nochmals niedersetzen und erging sich in Gesprächen über die Sittenlosigkeit der Bauern oder vielmehr der Bäuerinnen, die mit den stämmigen russischen Gefangenen, die sommers auf den Feldern mit ihnen arbeiteten, im Winter mit ihnen am Herde saßen, in heidnischer Weise zusammenlebten, zahlreiche Kinder zur Welt brachten, von denen nur eins feststand, daß der Vater kein katholischer Christ aus dem Orte war. »Und wie wird es erst jetzt, wo wir keinen König mehr haben und alle Behörden und Gerichte abgeschafft werden sollen?« Jetzt war ich es, der ihn beruhigte, denn ich glaubte, das Chaos würde nur bis zum Friedensschluß dauern, und dieser sei dank der Nachgiebigkeit der deutschen Heeresleitung und der Friedenssehnsucht des Volkes sehr nahe gerückt.

Er fragte mich nach meinen Erfahrungen und meiner Tätigkeit im Kriege. Ich antwortete nur, ich sei als Arzt im Feld gewesen, von dem Stoßtrupp schwieg ich. Und doch war mir die kurze Zeit als Stoßtruppsoldat tiefer zu Herzen gegangen als die lange der Amputationen, von den geistigen Kriegsruinen in P. ganz zu schweigen. Er meinte, es würde hier in der Gegend ein junger tüchtiger christkatholischer Arzt recht sehr erwünscht sein. Er nahm großen Anteil an seinem Pfarrsprengel, ich sah, ich hatte mich getäuscht, wenn ich ihn für schwachsinnig gehalten hatte. Der frühere Landdoktor, der allgemein beliebt gewesen sei, sei an Flecktyphus 1916 in den Karpaten als Stabsarzt d. R. bei der bayrischen Südarmee zugrunde gegangen, erzählte er, und die jungen Ärzte, die vertretungsweise hier geschafft hätten, seien einer nach dem anderen eingezogen worden, und der letzte sei infolge des flüchtigen Studiums so untüchtig gewesen, daß kürzlich erst eine Holzfällersfrau im Ort Schrangen an einer Geburt gestorben sei. Das Kind, leider ungetauft, sei mit ihr ›abgeschieden‹, während der junge Arzt dabeigesessen sei und sich die Haare gerauft habe. Ob ich nicht Lust hätte, hier mich ansässig zu machen? Ich sagte, ich wolle es überlegen, und kehrte zu meinem Vater und Heidi zurück.

Die beiden hatten schon in der kurzen Zeit, die seit dem Tode meiner armen Mutter verstrichen war, die Wohnung ganz nach ihrem Geschmack umgemodelt. Manches war hübscher geworden, ich gebe es zu, es waren eben Menschen, die dem Leben und dem Genießen geneigt waren und die nicht mit dem Jenseits rechneten, deshalb wollten sie es hier möglichst gemütlich haben, schonten sich und nahmen nichts ernst außer ihrem Wohlbefinden, sie waren gesund und freuten sich des Lebens. Ich hielt mich von ihnen abseits, das Bild meiner Mutter trat immer mehr vor mein Auge, und nachts geschah etwas, das ich seit meinem ersten Studienjahr nicht mehr gekannt hatte, meine Lippen bewegten sich, ich sprach mit ihr, lange, fast die ganze Nacht hindurch, aber leise, so daß es weder Heidi noch mein Vater im Nebenzimmer hören konnte.

Ich sank dann in einen sanften Schlaf. Keineswegs sanft war aber mein Traum. Er führte mich mitten hinein in einen Sturmangriff gegen die Gurkhas und verband sich in sinnloser, aber suggestiver Weise mit den Erinnerungen an die Amputationen. Ich wollte diesen Traum vergessen, aber er verließ mich auch am Tage nicht. Auch ich war also noch im Kriege, und es war noch kein Friede da.

Ich nahm mir vor, einen Kurs in der Gebärklinik von M. zu besuchen, da mir durch die Erzählung des Pfarrers zu Bewußtsein gekommen war, daß ein Landarzt in einer solchen Gebirgsgegend eine große Verantwortung hatte und in der Geburtshilfe gut beschlagen sein mußte, um die Entbindungen auch in einer ärmlichen Holzfällerhütte ohne Licht und ohne viel Hilfsmittel zum glücklichen Ende bringen zu können.

Die allgemeine Not, statt endlich abzunehmen, wuchs immer mehr. Die Geburten waren freilich leicht. Man brauchte keine ›Zange‹, kaum einmal eine ›Wendung‹, nie einen Kaiserschnitt, denn die wahrhaft kläglichen ›Früchte‹ der Frauen nach vier Kriegsjahren waren so dünn, so schlaff, daß die Geburten sehr leicht vor sich gingen. Auch der Blutverlust der armen halbverhungerten Mütter war meist gering. Entstand aber trotzdem ein Blutverlust, waren die Armen verloren, denn wie sollten sie das Blut ersetzen? Auch hatten sie die größte Mühe, zu stillen, und viele wollten verzweifeln. Ich nahm meine ganze Kraft und Suggestion zusammen, ihnen noch Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu machen.

Endlich kam es im Sommer 1919 zu dem furchtbaren, all meine Hoffnungen zu Boden schmetternden Frieden von Versailles.

Und dann trieb es mich damals oft in die Kirche. Wenn die Orgel dröhnend erscholl, wenn plötzlich in der eisigen Stille vor der Hl. Wandlung das Glöckchen leise und doch alles durchdringend erklang, ging ein gewaltiger Schauer durch mich hindurch. Ich versank in einen Rausch, der mich nach oben trieb, durch die gotischen Wölbungen hindurch, meine Wangen brannten, das Herz klopfte, ich warf mich gehorsam und demütig mit den anderen zusammen auf die Knie. Ich betete, obgleich ich nicht glaubte.

Oft zog es mich nun aber auch zu den Massen, die ich bis dahin gescheut hatte. Die katholischen Prozessionen, in denen meine Mutter einst Trost und Vergessen ihrer Leiden gefunden hatte, fanden nicht mehr statt, aber es bildeten sich alle Tage in der Stadt, meist in den Fabrikbezirken, riesige Massenzüge. Die Menschen, fahl, in zerschlissenen Kleidern mit verbissenen, verhungerten, verhärmten Gesichtern, die Fäuste geballt in den Taschen ihrer schlotternden Röcke, viele in Uniform ohne Rangabzeichen, marschierten dahin, stießen dauernd wie aus einem Munde ihre Rufe, ihre Flüche und Verwünschungen, den Namen ihrer politischen Führer oder andere Schlagworte aus. Ich, der ich den Vormittag in der Klinik verbracht hatte als ein klar beobachtender, verantwortungsvoller klinischer Arzt, ein einzelner, hier ging ich in der Masse auf, sie trieb mich unwiderstehlich mit sich. Und ich vergaß mich, die Zeit und ihre Not. Ich muß sagen, ich vergaß, wenn ich in Reih und Glied marschierte, alles Elend leichter als in der Kirche.

 

Die Not wurde immer drängender. Wenn man geglaubt hatte, sie könne keinen höheren Grad erreichen, stieg sie doch, und kein Ende war abzusehen.

Kriege kannte man, seitdem man Geschichte kannte. Unsere bescheidene Dynastie war nicht die erste, die durch eine bescheidene Revolution gefallen war. Was aber unbekannt war, das war die allgemeine, von der machtlosen, um ihre Existenz kämpfenden Obrigkeit nicht behebbare Hungersnot, die Ohnmacht der Behörden, die Unsicherheit der Straßen, der Mangel an Kohle, Kleidung, an allem Notwendigen – und vor allem die Entwertung des Geldes. Das Geld war nicht mehr heilig, nachdem der König nicht mehr heilig war und die Kirche nicht mehr. Niemand konnte sich diesem Schwunde, diesem sumpfigen Untersinken des Geldes entziehen. Reich war nicht mehr reich, denn alles wurde ärmer mit jedem Tag, nur ein paar ganz Listige ausgenommen, die ihre Künste für sich behielten. Es war, wie wenn ein Schiff, das sich bereits lange Zeit durch Wind und Wetter durchgekämpft hat und sich gerettet glaubt, einfach strandet, weil das Meer sich unter seinem Kiel in den Urgrund, das Nichts, verzieht. Die Meeresmassen, die das Schiff getragen haben, fliehen nach allen Seiten fort. Niemals ist das Wort ›man sitzt auf dem trockenem‹ unbarmherziger und wahrer gewesen als jetzt.

Es schwanden Treu und Glauben. Was man gestern für 100 Mark gekauft oder verkauft hatte, war heute mehr oder weniger wert. Kein Kontrakt, kein Kurs galt, und man zweifelte an allem, nachdem man angefangen hatte, an dem gleichbleibenden Preis zu zweifeln, den ein Laib Kriegsbrot, eine Nacht im Hotel, ein Kleidungsstück aus Ersatzstoff auf Bedarfsschein kostete – oder ein Buch, ein ärztlicher Besuch, ein Stück Seife, eine Briefmarke.

Ich hatte zwei Wohnungen, eine in T., wo ich meine Praxis als Landarzt einrichten wollte, und eine zweite im ›Ehemaligen Prinzregenten‹. Ich sah alles von der Großstadt und vom flachen Lande aus.

Mit der Kleidung haperte es sehr. Ich hatte meine alten guten Uniformen etwas herrichten lassen, indem ich die Schulterspangen und andere Rangabzeichnungen abgetrennt hatte. Diese militärähnlichen Anzüge und die dazu passenden langen Offiziersmäntel trug ich in der Stadt. Für das Land hatte ich von meinem Vater ein paar noch erträgliche Kleidungsstücke erhalten. Er kleidete sich neu ein, wohl dem Heidi zuliebe, vor dem er als eleganter, noch lebensfreudiger und gut gekleideter Mann erscheinen wollte.

Meine Kleidung aus der Vorkriegszeit hatte ich großmütiger-, dummerweise fortgeschenkt, als ich ins Feld gezogen war. Wer hätte gedacht, ich würde in einer Zeit wiederkehren, in der es keinen echten Faden mehr gab? Auch mein Vater hätte sich nicht einmal ein neues Hemd leisten können für seine Hochzeit, hätte er nicht schon vom zweiten Kriegsjahr an angefangen, zu hamstern und sich gute Sachen auf Vorrat anzulegen, Leinwand, Stoff, ›Edeldevisen‹ und alles mögliche bis zu reinem Fett, ›Edelfett‹ in steinernen Töpfen.

Manchmal blieb mir eine freie Stunde in meiner Arbeit. Ich rief Viktoria an. Sie ließ sich nicht bitten und kam. Wir trafen uns, bald hier, bald dort, fast immer in Gegenwart Dritter.

Sie blieb kühl, das hatte ich erwartet. Aber sie wurde es immer mehr, das tat mir weh. Ich wußte nicht, was sie wollte. Sie begriff mich sehr gut in meiner Verzweiflung über mich und die Zeit, aber sie tröstete mich nicht. Liebte sie noch ihren verstorbenen Mann? Ihr alter Vater brachte in einer Minute mehr Wärme und Güte für mich auf als sie während vieler Monate.

Ich entsann mich meiner Mutter und meines Versprechens auf dem Totenbett. Ich wollte nicht lieben. Ich wollte frei bleiben. Ich wollte keine Jüdin heiraten. Aber ich liebte, zum erstenmal. Ich mußte es. Ich fragte nicht mehr, ob das ›Gefäß‹ rein oder unrein sei. Ich hatte mein Wort am Totenbette meiner Mutter gegeben. Meine Mutter war tot. Viktoria lebte und war schön, um so schöner, je kälter sie war. Ich hätte immer an ihren Lippen hängen mögen, aber diese Lippen waren hart, ironisch, herrisch und gaben weder eine Liebkosung noch ein gutes Wort.

Es war schon sehr viel, wenn sie mir einmal mit abgewandtem, blassem Gesicht gestand, sie habe nichts gegen mich, im Gegenteil, aber sie könne ihren im Krieg gefallenen Mann nicht vergessen, sie habe die Entwürfe seiner Reden gestern verbrannt und dabei unter wütenden Tränen an mich gedacht. Er hätte sein Volk, das deutsche, nicht das jüdische, mehr geliebt als sie. Aber war das der wirkliche Grund? Ich zweifelte.

 

Mein Vater riet mir, mich an seiner kleinen Holzindustrie zu beteiligen. Er hatte sich umgestellt und war zu der Erzeugung von Möbeln übergegangen. Er sei immer bescheiden geblieben, lächelte er mir vertraulich zu, stehe aber auf festeren Füßen als so mancher andere. Tatsächlich hatte er eine Menge gutes Holz in seinen Schuppen lagern, und er war einer der ersten, die Zahlungen nur in fremder Währung oder auf Grund eines bestimmten Schlüssels annahmen. Da er ›Sachwerte‹ fabrizierte, die von allen Seiten gesucht wurden, ging man auf seine Bedingungen ein, und seitdem ihm das ›Pech‹ mit dem schlechten Material der Brücke zugestoßen war, hielt er große Stücke auf gute, solide Rohstoffe, ausgetrocknetes Holz usw.

Es hatte sich in S. eine Ortsgruppe der Demokratischen Partei aus Kriegsteilnehmern, aber auch aus ganz jungen Männern und Frauen gebildet. Man forderte mich zum Beitritt auf. Man versprach sich sogar viel von meiner Tätigkeit, da ich sowohl als ehemaliger Offizier als auch als Arzt Vertrauen genoß und von mir eine gewisse ruhige Kraft ausgehen sollte. Ich könnte reden und überzeugte, hieß es, und ich glaubte es schließlich, obwohl ich stets nur ein mittelmäßiger, beherrschter Redner war.

Mich hemmte die Anwesenheit einer größeren Menge nicht. Sie feuerte mich aber auch nicht an. Ich sah wohl ein, daß es meine Aufgabe wäre, hier mitzuwirken, denn das Programm war human und politisch einsichtig, es predigte Freiheit, das heißt Ausgleich zwischen dem Herrscherwillen des einzelnen und den Interessen der Massen, es verlangte Ruhe, Geduld und Einsicht in die begangenen Fehler der Kriegs jähre, es stellte klare und mäßige Ziele auf im Gegensatz zu der Ziellosigkeit der Vaterlandspartei, die sich sofort nach dem Zusammenbruch aufgelöst hatte, deren Geist aber noch sehr lebendig war. Aber ich muß es zu meiner Schande gestehen, der Gedanke an Viktoria ließ mich nein sagen, als man mich aus der Menge der Mitglieder herausheben, an verantwortliche Stelle setzen und zum Kandidaten des Landkreises nominieren wollte. Ich glaubte, in ihren Augen zu steigen, wenn ich ein Opfer auf mich nahm und politisch entsagte, denn sie wollte keinen Politiker zum Mann. Aber es machte keinen Eindruck auf sie. War sie vorher kühl gewesen, wurde sie jetzt eisig.

Ich konnte nicht ohne sie leben, das heißt nicht ohne Hoffnung auf sie, und wer konnte mir die Hoffnung geben, wenn ich sie nicht sah? Also zog ich es vor, sie gar nicht mehr zu treffen, und blieb ihr ohne Erklärung fern. Ich versuchte, mein Gefühl durch den Willen zu überwinden.

Ich schloß mich in dieser Zeit meinem Jugendfreund Helmut enger an denn je. Er war dem bayrischen Generalstab zugeteilt, ich weiß nicht, ob wegen seiner besonderen militärischen Fähigkeiten oder wegen seiner Beziehungen zu dem Hauptmann R., der damals der geistige Leiter des Generalstabs in Bayern war.

Die ungarische und die bayerische Räterepublik waren zusammengebrochen, und der Kampf gegen die gemäßigte schwache, schwankende deutsche Republik, Weimar genannt, bereitete sich nun vor. R., ein abgrundhäßlicher, der Männerliebe ergebener, noch junger und ungebrochener, skrupelloser, brutaler Mann von gewaltiger Willensstärke und ungewöhnlich klarer Einsicht in die Dinge, sah natürlich in dem kleinen Helmut nicht seinesgleichen. Er vertraute sich ihm an, aber so, wie sich ein in verantwortungsvoller Stellung befindlicher Bruder seinem ›Benjamin‹ anvertraut, und Helmut hatte keine Geheimnisse vor mir.

R. machte aus seiner Gesinnung kein Hehl. Er war zwar als Offizier auf Weimar und den Reichspräsidenten vereidigt, und er bezog ebenso wie Helmut seinen bedeutenden Sold von der allzu vertrauensseligen Republik, aber er trat ihr als offener Gegner entgegen. »Ich bin nicht gewillt«, sagte er, wenn man ihn fragte, »auf mein Recht zum politischen Denken und Handeln im Rahmen der mir zugewiesenen dienstlichen Tätigkeit zu verzichten. Ich werde davon Gebrauch machen.« Was strebte aber das Offizierskorps an? Die Wiederkehr, ja die Übersteigerung der Zustände vor 1914, die Herrschaft des Schwertes, die ›restlose‹ Militarisierung der Nation und den Revanchekrieg.

Die Ziele waren einfach und brutal, die Methoden aber vielfältig und listenreich. Auf Betreiben des Offizierskorps, das die einzige Stütze von Weimar war, da die Arbeiterschaft in einen konservativen, liberalen, bürgerlichen und einen revolutionären, proletarischen internationalen Flügel geteilt war, wurde den deutschen Heeresangehörigen das Wahlrecht versagt. Den republikanischen, den revolutionären Parteien, den sogenannten Novemberparteien, wurde verboten, Angehörige in der Armee zu werben. November, die große Revolution ohne Blutvergießen, galt in diesen Kreisen einfach als Schmach, als Fahnenflucht vor dem Feind, als Dolchstoß in den Rücken der unbesiegten Armee.

Die Vorgesetzten konnten jetzt in der neugebildeten Musterarmee kleinen Maßstabs, der Reichswehr, ihre Untergebenen wie Wachs modeln und ihnen ihre Ideale, ihre Ziele, ihre Methoden einimpfen. Für sie war der Krieg nicht zu Ende. Ich fühlte ja auch, es konnte nicht so bleiben.

Helmut und R. waren mir dankbar gewesen, daß ich sie im Herbst 1918 von P. aus auf A. H., den Kriegsblinden, den wunderbar geheilten Fanatiker, diesen scheinbar so einfachen, aber mit unheimlichen Kräften begnadeten Mann aufmerksam gemacht hatte. Sie hatten eben diese unheimlichen ›Kräfte‹ entdeckt, und er besaß etwas, was sie sehr brauchten.

Die Truppenteile in M. hatten damals Untersuchungen veranstaltet, welche von ihren Angehörigen an den revolutionären Vorgängen, Novemberschmach und Räterepublik, beteiligt gewesen waren. Man hatte den Gefreiten A. H. zu einer solchen Untersuchungskommission kommandiert. Er hatte sich bewährt. Er hatte alle verurteilt, die vor sein Tribunal kamen, ohne Ausnahme, wahrscheinlich auch ohne Unterschied und ohne Gerechtigkeit.

Aber daran hätte man bloß seinen Fanatismus erkennen können, nicht aber die unheimlichen Kräfte. Diese sollten bald nachher entdeckt werden. Jetzt ließ man ihn nämlich an einem Kurs teilnehmen, in dem die Soldaten politisch ›belehrt‹ wurden. Er sollte dem sozialistischen und republikanischen Gift durch Reden entgegenarbeiten. Er hatte sich als verläßlich erwiesen. Er stand auf der rechten Seite, auf der der Mächtigen.

Der Generalstab versuchte, Agitatoren auszubilden, vorerst für die Propaganda im engsten Kreis. Die politischen Kurse der bayerischen Reichswehr bestanden nicht in langweiligen Diktatstunden, sie bestanden aus Vorträgen mit hitzigen Diskussionen. Eines Tages war für den Gefreiten die Gelegenheit gekommen, in die Diskussion einzugreifen.

Es ging um die Juden. Ein paar Redner waren nicht sehr für sie, andere nicht sehr gegen sie. Jetzt aber kam H. Mit besinnungsloser Wut stürzte er sich in die Diskussion und redete sich, wie er es schon in P. getan hatte, in einen Rausch, ein Delir hinein, dem niemand widerstehen konnte. Er schlug, schmetterte den Gegner zu Boden, ließ kein Gegenargument, keine Logik, keine historische Tatsache gelten. Er machte dem Gegner niemals die geringste Konzession, er wurde immer fanatischer, je länger er sprach. Er wurde unersättlich, schrankenlos, dämonisch, er hypnotisierte so die Anwesenden, wie ich ihn einmal hypnotisiert hatte, durch die Energie des tausendmal eingehämmerten Gedankens, durch die Verengung des geistigen Gesichtsfeldes. Keine Fülle des Geistes. Kein Zweifel. Kein Umlernen. Kein Zulernen. Ein Gedanke, zwei, höchstens drei, diese aber immer wiederholt, mit immer gewaltigerer Glut, im Schweiße des Angesichts, blind, mit religiösem Fanatismus, mit Gebärden voll prachtvoller Wucht, Tränen im Auge, außer sich, fast außer der Welt. So sah ich ihn nach Jahren wieder, als ich, zwischen Helmut und R. sitzend, in der Au-Kaserne seiner ersten großen Rede lauschte.

Der Saal kam mir bekannt vor. Es war ein Mannschaftszimmer jener Kaserne, die jetzt in eine Reichswehrkaserne umgewandelt war. Es war der gleiche Raum, in den man mich nach meiner Verletzung gebracht hatte, der jetzt als Vortragsraum diente. Er war bis zum Bersten gefüllt und widerhallte von tobendem Applaus. H.s Triumph war groß. Hauptmann R. trat zu dem Gefreiten, der sofort stramme Haltung annahm, und versprach ihm, ihn zum Bildungs-Offizier zu ernennen. Schon in der letzten Kriegszeit hatte man Offiziere zwecks Stärkung der Moral zur Fronttruppe beordert und sie dann als Unterrichtsoffiziere bezeichnet.

H. hatte mich erkannt. Er wurde blaß und wandte zuerst den Blick ab. Dann bezwang er sich und gab mir die Hand. Ich sah, er hatte eine Scheu vor mir. Das flößte mir aber ein gutes, warmes Gefühl ein, ich wollte ihm weiterhelfen, gerne. War er nicht mein Werk?

 

In diesen Zeiten, die härter waren als alle früheren, war ich schmerzempfindlicher geworden denn je zuvor. Meine Liebe zu Viktoria war eine Quelle steter Leiden. Ich kann selbst jetzt nicht ausdrücken und begreife es heute nicht mehr, wie tief es mir ging und wie unglücklich ich war. Die Einsamkeit half mir nicht, und der Wille versagte vor dem Gefühl. In der Kirche, wohin es mich immer wieder zog, obwohl ich weder an Gott noch an Christus und das Wunder glaubte, betete ich, aber die Gebete widersprachen sich: einmal betete ich, ich möchte Viktoria vergessen können, ein andermal, daß ich trotz allem mit ihr glücklich werden möchte. Und obwohl ich nicht an Gott glaubte, suchte ich ihn als einen Willen über mir.

Ich hatte noch von früher her einen väterlichen Freund, einen Mann von hoher geistiger Autorität, der mich als Studenten, als jungen Arzt bis Kriegsausbruch erzogen und geführt hatte, da ich in solchen Zeiten nun einmal nicht ganz ohne Führung leben konnte, sowenig wie unzählige andere. Wie gern hätte ich mich also dem Geheimrat von Kaiser anvertraut! Wie oft hab' ich daran gedacht, ihn aufzusuchen, bis der Zufall oder das Schicksal ihn mir in den Weg führte – führen mußte, weil er in einer ähnlichen Lage war wie ich. Ich sah diesen Mann – in der Kirche wieder. Er lag auf den Knien neben mir, und wir erkannten einander in der Dämmerung erst, als wir aufstanden. Seine verwitterten Züge drückten weder Andacht noch Trost im Himmlischen Vater, noch Hoffnung auf die Erlösung des frommen Christen im Jenseits und Dankbarkeit für das Leiden aus, sondern nur die bare Verzweiflung. Ich sah mich selbst im Spiegel.

Freilich war er ein Mann an der Schwelle des Alters, und ich war wenig über Dreißig. Um so trauriger, daß selbst ich in meiner Manneskraft und bei meinem klaren Verstand und Wissen der Verwirrung und Verzweiflung einer entwurzelten Zeit keinen Widerstand leisten konnte und der zwar schwierigen, keineswegs aber aussichtslosen Liebe zu einer Viktoria nicht gewachsen war.

Ich begleitete Kaiser heim. Ich erfuhr, was ich schon vorher geahnt hatte, daß er seinen Trost in der Kirche suchte, nicht weil seine Katinka fern war, sondern weil sie zurückgekehrt war zu ihm. Freilich war es eine andere Katinka, nicht mehr das kindliche Ding mit der rosigen Stimme, sondern ein abgestumpftes, illusionslos gewordenes altes Kind, das vom Tag in den Tag lebte und sich irgendwie berauschte. Von Oswald Schwarz hatte sie sich ›in aller Liebe und Güte‹ getrennt, da dieser seinen alten Neigungen zu Männern, die ihm außer Zärtlichkeit auch geistige Anregung entgegenbrachten, auf die Dauer nicht hatte entsagen können.

Vater Kaiser hatte also zwei Menschen unter seinem Dach, die von Oswald Schwarz angezogen und dann abgetan worden waren, Helmut und sie. Sie ließ sich jetzt gern die Zärtlichkeiten des greisen Freiers gefallen, ja sie forderte sie sogar heraus. Sie wollte geliebt sein. Er sei der einzige Mensch, versuchte sie ihm zu schmeicheln, der noch eine Rolle in ihrem Leben spiele, als ob die verliebten Frauen, die sie an sich zog und von sich stieß und mit denen sie so spielte, wie zum Schluß Oswald Schwarz mit ihr gespielt hatte, für nichts gezählt hätten.

Der alte Kaiser wußte wohl, woran er war. Er hätte sich jetzt aus freien Stücken von Katinka trennen, sie sich selbst überlassen, ihr nur den Lebensunterhalt sichern können, wozu er dank seines in der Bank von England gut angelegten Vermögens imstande war. Aber er zog es vor, von den Brocken zu leben, welche die zur Bettlerin in der Liebe gewordene Katinka ihm je nach Laune und Stimmung hinwarf.

Dabei war sein Licht noch nicht erloschen, seine dunklen Augen funkelten in leidenschaftlichem Feuer, die Klarheit seines Geistes war nicht getrübt. Er sah vieles, vielleicht alles klar. Er ist es gewesen, der seinen Widerwillen gegen die Juden zuerst überwunden und die drei großen Leistungen des Juden Rathenau anerkannt hat. Aber gerade das warf ich ihm vor, daß er sich jetzt zu den Juden ganz persönlich gut stellte, seit Oswald Schwarz nichts mehr von Katinka wissen wollte. Er sah in dem großen Juden den Retter des niedergeschmetterten, tief gesunkenen Reiches. Erstens kraft seiner Leistung während des Krieges, der Organisierung der deutschen Kriegswirtschaft, dann kraft des Aufrufs im November 1918 zur Levée en masse und schließlich kraft seiner letzten staatsmännischen Tat, nämlich des im April 1921 geschlossenen Vertrags von Rapallomit den Bolschewisten. Dieser Vertrag bedeutete den ersten Schritt zum Wiedereintritt Deutschlands in die Weltpolitik.

Das alldeutsche Programm der Vaterlandspartei lebe mehr denn je. Es sei nicht etwa durch den strategischen Verlust des Krieges unmöglich geworden. Nur die Schlachten seien verloren worden, die alten Ziele seien zu sehr verschwommen gewesen. Aber Deutschland habe die Katastrophe überlebt, also gesiegt. Der Krieg sei gewonnen. Nur zwei Bedingungen müßten erfüllt werden (die beide Rathenau erfüllt hat): Deutschland müsse die von Bismarck verlangte Rückendeckung im Osten haben, zu Rußland mit seinen riesigen Bodenschätzen, mit seiner gewaltigen, menschenarmen, leicht urbar zu machenden Fläche bis Ostasien hin, mit seinem stumpfen, zu allem Großen fähigen Menschenmaterial, das der deutschen Schule, der deutschen Disziplin und Überdisziplin und des deutschen Organisationsgenies bedürfe. Aber man lasse in nationalen Kreisen und in der Reichswehr Rathenau nicht als Staatsmann gelten. Das Bündnis mit Rußland sei zwar unter den Generälen sehr populär, aber der Judenhaß verblende alle. Und zweitens – warum sollte sich Deutschland nun nicht auf den Geist des Kosmopolitismus, auf die Juden stützen, die stets, trotz aller ihrer Schwächen, obwohl man ihnen nur einen bescheidenen Platz im Reich eingeräumt hatte, zu den besten deutschen Patrioten gezählt hätten? Er erwähnte den sozialistischen Abgeordneten Lazarus, den Mann Viktorias, der für sein Vaterland in den Krieg gegangen und gefallen sei, und das Beispiel des Gründers der deutschen Handelsflotte, Ballin, der den Krieg nicht wie sein Gönner, der Exkaiser, habe überleben wollen, sondern der durch Selbstmord geendet habe aus Liebe zu seinem Lande, nicht aus Liebe zu seinem Blut. Ich sah alles ein, er hatte weitreichende, vielleicht plausible Ideen. Dennoch folgte ich ihm nicht. Er riß mich nicht mit. Er war Mensch wie ich, er liebte wie ich. Seine Persönlichkeit wurde der meinen nicht Herr (nun nicht mehr), so wie Rathenaus Persönlichkeit des deutschen Volkes nicht Herr geworden war.

Er suchte in mir den Freund. Ich nahm die Freundschaft an. Sie war besser als nichts. Aber ich verschwieg ihm meine eigenen Erlebnisse, und als er bei mir Zuflucht suchte, weil seine Katinka ihre verliebten ›Mäuschen‹, ihre Freundinnen, im gemeinsamen Haushalt einquartierte, konnte ich über seine Schwäche nur mitleidig lächeln.

Rathenau fiel in dieser Zeit unter den Kugeln jugendlicher Fanatiker. Diese hatte man aus ihrer Entwurzelung herauszureißen und durch fanatische Irrlehren für ihr furchtbares Ziel zu begeistern gewußt. Sie waren des Glaubens gewesen, durch ihren grauenvollen Mord ihr Vaterland von einem jüdischen Verräter zu befreien.

Deutschland blieb still. Niemand empörte sich. Man bedauerte den armen Rathenau, man bedauerte die armen Fememörder, als sie sich, von allen Seiten auf einer verlassenen Burgruine eingeschlossen, das Leben nahmen. Man suchte nicht ernstlich nach den wahren Urhebern der Tat, von denen ich durch Helmut und seinen Freund R. wohl wußte, wo sie zu finden waren, und der entfesselte Patriotismus der zwei Fanatiker schien vielen eine Entschuldigung. Es wäre der Augenblick für eine Revolution gewesen, es wurde aber nur ein Ehrenbegräbnis für Rathenau.

 

Mein Vater kam zu mir. Er teilte mir mit, er wolle das Heidi heiraten. Vroni und die Kinder hätten das Geld von meiner Mutter angenommen und dadurch gezeigt, daß sie mit Geld abzufinden seien. Er habe Vroni sicherlich geliebt, aber er müsse Heidi seine Dankbarkeit beweisen, das verlange seine Ehre als Mann. In seiner falschen Bescheidenheit tat er, als wollte er Heidi durch den Ehering für die Dienste belohnen, die sie meiner Mutter im Laufe der Krankheit erwiesen hatte. Ich wußte es besser. Ich wußte, meine Mutter war bei Torffeuer gestorben, und zwei Tage später hatte man Kohlen- und Holzfeuer gehabt. Aber ich widersetzte mich nicht. Vielleicht hätte sich mein Vater durch mich abhalten lassen, denn er schwankte noch, er kannte alle drei Frauen, meine strenge Mutter, die Vroni, das Heidi, und fürchtete als alternder Mann Heidis Herrschsucht. Vielleicht kam er deshalb zu mir, denn meiner Zustimmung bedurfte er nicht. Vroni wäre eine Sklavin gewesen.

Aber irgend etwas trieb mich, wie schon als jungen Menschen, allen gerecht werden zu wollen und, wie meine verstorbene Mutter sich ausdrückte, auf beiden Achseln zu tragen. Vroni hatte sich während der Kriegsjahre mühselig mit meinen Geschwistern durchgeschlagen und hatte mehr als einmal die Gelegenheit zu einer Ehe mit einem Arbeiter oder einem Kleinbauern durchgehen lassen, weil – –. War es meine Schuld? Und doch! Niemand anders als ich hatte sie durch meine Zuwendung der 20 Mark allmonatlich durch viele Jahre in den Glauben versetzt, mein Vater liebe sie noch, mehr denn je, denke aufrichtig besorgt an sie und an die zwei Kinder und werde als ein ›feines Geschirr‹ ein altes ungeschriebenes und unverbrieftes Versprechen einlösen, sie nach dem Tode meiner Mutter zu heiraten. Nun war meine Mutter nicht mehr auf der Welt. Mein Vater war frei, er war wieder vermögend, gesund, unabhängig, er konnte tun, was er wollte. Ich stand objektiv über den Parteien, dachte ich. Auf der einen Seite die verblühte, alternde Vroni mit der unheilbaren Verbitterung über die verlorenen schönen Jahre, ohne Bildung und uns allen als Proletarierin im Grunde abgeneigt (ihre Blicke am Grabe meiner Mutter sprachen zu deutlich), und auf der anderen Seite Heidi, eine Lehrerin, aus gutem Hause, blühend, optimistisch, nicht ohne Geld und mit guten gesellschaftlichen Fähigkeiten, eine ausgezeichnete Hausfrau. Ich ließ also den Dingen ihren Lauf, und sie endeten zum Entsetzen und zur furchtbaren Enttäuschung Vronis mit der Verheiratung meines Vaters mit Heidi. Mein Vater liebte mich deshalb nicht mehr als früher. Heidi hatte mir nie getraut, und Vroni haßte mich, weil sie glaubte, ich sei es, der meinen Vater gegen sie aufgehetzt und die Ehe hintertrieben hätte.

Ich war auf einen anderen Ausweg gekommen und bot ihn Vroni und ihren bald schon erwachsenen Kindern aus freien Stücken an. Ich brauchte eine Haushälterin in meinem Arzthaus an der Straße von S. nach T. Ich hätte gern Vroni und ihre Kinder bei mir aufgenommen. Ich hätte versucht, die Kinder zu erziehen und zu fördern, ich wollte Bruder und Schwester in ihnen sehen, was sie doch von Natur aus waren. Nichts davon geschah. Vroni spie Gift und Galle, als ich ihr dies anbot. Sie sei lange genug Dienstbote und Fabrikarbeiterin gewesen, sie wolle die Frau meines Vaters sein oder gar nichts, das habe sie durch ihre Treue verdient usw. Sie ging sogar so weit, daß sie schrie, sie werde uns die Abfindung vor die Füße werfen, welche meine Mutter ihr zum Hohn vermacht habe, um ihr die Ansprüche abzukaufen, die sie auf meinen Vater hätte. Sie schmähte und grollte in so furchtbaren Ausdrücken, daß ich das Gespräch abbrach, denn es war nicht geeignet für die Ohren meiner Geschwister, die anwesend waren.

Ich war nicht alt. Mir fehlte die Frau. Angelika liebte ich nicht mehr. Ich hatte sie eigentlich nie geliebt, hatte sogar geglaubt, ich wäre einer tiefen Leidenschaft nicht fähig, und wir hätten nur wie zwei Kameraden zusammengelebt. Nun liebte ich Viktoria und konnte sie nicht gewinnen, sie aber auch, mit aller Gewalt, nicht vergessen.

Angelika kam zu mir. Sie weinte, sie flehte mich um meine ›alte Liebe und Güte‹ an, sie warf sich mir zu Füßen, als hätte sie mir etwas Furchtbares abzubitten. Ich hob sie kalt auf. Ich redete ihr wie einer Kranken gut zu. Sofort wurden ihre Augen trocken, sie setzte sich in einem Lehnstuhl bequem zurecht und sah sich mit den Augen einer Hausfrau in dem etwas vernachlässigten Raum voll Staub und Spinngeweben um. Das Haus war außen mit Efeu umwachsen, allerlei Insektengetier trieb sich im Arbeitszimmer, in welchem ich meine Patienten empfing, umher.

Wir sprachen jetzt nicht mehr über unsere Zukunft, wie wir es in der guten Zeit getan hatten. Angelika war klug und mußte wissen, daß ich sie nicht liebte. Ich hätte sie nicht bei mir aufnehmen sollen. Ich tat es dennoch aus Angst vor Einsamkeit, und mir war etwas leichter zumute, als sie ihre Sachen in meinem Haus, aber nicht in meinem Zimmer untergebracht hatte. Sie kam mir nicht zu nahe.

Abends, wenn ich todmüde heimgekehrt war, fand ich alles bestens vorbereitet. Was mir von den Kranken zu melden war, hatte sie im Verlauf meiner Abwesenheit aufgenommen, ich konnte mich auf ihre Angaben verlassen, meine Fälle mit ihr besprechen. Sie hatte nicht ohne Nutzen so viele Jahre in dem Haus eines Arztes wie von Kaiser zugebracht. Sie forderte keine Zärtlichkeit, keinen Kuß, ihr Händedruck, auch ihr Blick blieb eher kameradschaftlich kühl. Ich dachte, ich müßte ihr dankbar sein und gerecht werden. Das gleiche Argument, das ich als hohl erkannte, als es mein Vater vorgebracht hatte, um seine Ehe mit Heidi zu rechtfertigen, für mich nahm ich es in Anspruch. Ich zog sie eines Abends in meinen Schlafraum, dann graute es mir plötzlich vor ihr, vor mir, ich schob sie fort, sie lag mir wieder zu Füßen, als wollte sie getreten sein, aber auch wieder aufgenommen, emporgerissen, ich ahnte nur zu gut, wohin. Denn es waren nicht mehr die gemäßigten harmonischen Zärtlichkeiten wie vor dem Kriege, sondern ich gab nun meinem dumpfen Triebe nach, den ich nach den Gurkhastürmen in mir erkannt, und sie dem ihren nach Schmerzseligkeit, nach Dienen, Sklavin sein. Wenn wir früher nach einer ›netten Stunde‹ ruhig auseinandergegangen waren, jeder eine Zigarette im Munde, dauerten jetzt die Küsse und der Rausch fast die ganze Nacht. In den Zwischenzeiten preßte sie sich mit solcher Gewalt an mich, daß mich meine nach dem Lungenschuß schlecht zusammengeheilten Rippen schmerzten.

Sie erzählte flüsternd, mit heißem Atem wie von einem herrlichen Geheimnis, von H., zu dessen glühendsten Bewunderinnen sie gehörte, weil er so rein sei und angeblich niemals ein Weib berührt habe. Sie wußte, ich kannte ihn aus den letzten Tagen des Krieges. Wie gerne hätte sie mehr über ihn gewußt!

Ich erzählte ihr, der ich ihr trotz aller überhitzten Leidenschaft entfremdet blieb, niemals von A. H., auch nie von Viktoria. Ich dachte, sie ahne nichts davon. Aber sie, dem Anschein nach die ehrliche, mir getreu ergebene Seele, ›die Sklavin ihres hohen Herrn‹, wie sie sich süßlich bescheiden nannte, wußte wenigstens das eine, daß sie nicht alles wußte. Sie vermied es mit Absicht, von dem fanatischen Judenhaß H.s zu sprechen. Sie sah in ihm einen von jedem Haß freien, bloß von Liebe, Vaterlandsliebe erfüllten Mann, dem alles gut sein müsse. So hatte sie kaum eine seiner vielen Versammlungen ausgelassen, in denen er als Redner seine Triumphe feierte.

Eines Abends hatte sie mich dazu gebracht, mit ihr nach M. zu fahren und die Obhut meines Fernsprechers dem Heidi zu überlassen, mit dem sie sich sehr schnell angefreundet hatte. Wir wollten aus M. telefonisch in S. anfragen, um zu erfahren, ob ich nicht inzwischen zu einem Kranken gerufen worden sei.

Ich hörte H. nicht zum erstenmal als Redner, sondern zum drittenmal. Zum erstenmal war er mir im Lazarett von P. entgegengetreten. Einer gegen einen. Das zweitemal in der Mannschaftsstube, er auf der einen und eine dichtgedrängte Menge von Soldaten und Reichswehroffizieren auf der anderen Seite. Jetzt sah ich ihn aber zum erstenmal in der Masse, einer gegen dreitausend. Er stand über der Masse, denn er war gänzlich unberührt von ihr, sie imponierte ihm jetzt so wenig wie früher. Er verachtete sie. Sie dagegen war vollständig unter seiner Faszination.

Er hatte die Gewohnheit, nur abends zu sprechen. Dann waren die Zuhörer abgearbeitet, nicht widerstandsfähig, sie wollten im Wachen schlafen, träumen, sich berauschen lassen, ihn anbeten, blind gehorchen, vom Geist besessen sein. Er ließ kaum einen kalt, denn er berauschte sich selbst. Er zeigte es allen, wie herrlich es ist, von einer einzigen mächtigen irdischen Idee besessen zu sein. Selbst Menschen wie ich, die skeptisch und mit der ärztlichen Diagnose in die Versammlung gekommen waren, verfielen ihm. Nur für Augenblicke, aber vollständig überwältigt. Das wollte er, damit erfüllte man seine Erwartungen. Diese Freude mußte man ihm machen. Sein Gefühl wirkte auf unser Gefühl.

Sein Instinkt, nicht sein Bücherwissen, hatte ihm verraten, wie ein einziger Macht bekommt über alle, wie einer oben spricht und die anderen unten lauschen, Herr über Knechte, ein Magier, ein Despot, ein Zauberer und grausamer, harter Priester in einem.

Aber war er denn selbst ein so starker Mensch, daß es unsereinem, Mann wie Weib, mir, dem Augenzeugen, dem objektiven, erfahrenen Arzt ebenso wie Angelika, der schmerzsüchtigen Sklavin, süß war, seine Faust zu spüren und ihm zu unterliegen? Hatte er in der höchsten Gefahr sich bewährt und war Mann geblieben? Hatte er, einem Mann wie Rathenau gleich, dem Schicksal einen heroischen Aufruf zur verzweifelten Gegenwehr entgegengeschleudert? Hatte er sich nicht vielmehr vor den Tatsachen versteckt, war von der Front ›gewankt‹, hatte sich feig hinter seine Blindheit, hinter seine Hilflosigkeit verkrochen, bis wieder bessere Zeiten gekommen waren und die Reichswehr ihm die Zunge gelöst, in ihm das heilige Feuer entfacht, ihn unter ihre Fittiche genommen hatte?

Nichtige Erwägungen meines Gehirns, nichtiger Widerstand meines Willens.

Er sprach, ich unterlag. Er redete uns nieder, Kluge und Törichte, Mann und Frau, alt und jung. Er ließ es nicht enden, viertelstundenlang, halbe Stunden lag, drei, vier Stunden lang das gleiche, nie etwas anderes, ewig im Kreise, er bohrte, bis er ins Tiefste gedrungen war. Nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal wiederholte er es, und doch war es ihm nie genug!

Nach einer Viertelstunde troff er vor Schweiß, sein Halskragen klebte ihm als nasser Fetzen am Halse, an der Stirn waren die Adern geschwollen, er zitterte wie im Fieber, mit großartigen Gesten drohte, lockte, beschwor er uns unten, die Haarlocke hatte er wie in P. wüst in die Stirn geschmissen, und immer noch endete er nicht, und niemand wollte es, daß er schon ende. Man zitterte vor Erwartung vor etwas Ungeheurem, und ich, an Angelika eng angeschmiegt, zum erstenmal seit langer Zeit, merkte schaudernd, daß ich zitterte wie alle und daß ich ein Atom der Masse geworden war.

Ich war gewarnt worden. Mir hatte Kaiser erzählt, wie es in H.s Versammlungen zuging.

H. hatte von vornherein das abgewiesen, im Bewußtsein seiner Übermacht, was die anderen Parteien, unter ihnen die unsrige, brauchten: die Polizei als Saalschutz. Er sagte sich mit Recht, die Massen, auf die allein es ihm ankam, würden darin ein Zeichen seiner Schwäche sehen. Er war der Herr, er hatte das Herrenrecht. Er hatte recht. Er war das Recht. Des Teufels war, wer anders zu denken wagte als er. Er rühmte sich dessen, wie sich ein Hauptmann R. seines Herrenrechts gegenüber der schwachen Weimar-Republik rühmte, ›wir haben dieses Herrenrecht ununterbrochen, in jeder Minute schärfstens betont. Unsere Gegner wissen genau, daß, wer jemals provoziert, unnachsichtig hinausfliegt‹. Dies war sein Grundsatz. Die Form war banal, die Sprache ordinär, aber es war keiner, der sie nicht verstand. ›Jeder Störungsversuch würde von meinen Kameraden sofort im Keim erstickt. Die Unruhestifter fliegen mit zerbeulten Köpfen die Treppe hinunter.‹

Gleich zu Beginn dieser Versammlung erlebte ich es (und ohne daß ich zu mucksen wagte), daß in einer Ecke ein kleines mageres Männchen mit krähender hoher Stimme den Redner mit dem dünnen, schrillen Ruf Freiheit unterbrach. Es dauerte keine zehn Sekunden, und ein paar stämmige, hochgewachsene Männer mit jenem Ausdruck in den Augen, wie ihn meine Kameraden und wohl auch ich bei den Stürmen auf die Gurkhas gehabt hatten, stürzten sich auf den armen kleinen Wicht, trommelten ihm den Kopf auf die Erde, hieben ihm das Gesicht blutig, nahmen ihn wie eine Feder auf und schleuderten ihn im wahrsten Sinne die Treppe hinab. Die anderen machten ›die Gasse‹. Der Redner aber auf der Tribüne hatte sich nicht unterbrechen lassen, er kannte uns und seine Leute. Es war seine Leibgarde, ein Haufen von gefährlichen und rohen Menschen, die, wie ich wußte, oft genug fremde Versammlungen, demokratische, kommunistische, katholische mit brutaler Gewalt, Totschläger in der Faust, gesprengt hatten. Sie beteten wie Wilde ihren Götzen an, schlugen ihr Leben in die Schanze, sie waren sein sicherster Schutz. Sie nannte er ›die treuen Kameraden‹, die Gegner waren ›Banditen‹. ›Ein entschlossener Bandit soll es also jederzeit in der Gewalt haben, mir, dem anständigen Menschen, seine politische Betätigung unmöglich zu machen?‹ hatte er früher zu Hauptmann R. gesagt. R. hatte gelächelt. Er hörte H. geduldig zu, wenn dieser von ›marxistisch-jüdischen‹ Untermenschen mit fanatischem Haß sprach, dabei aber zugab, niemals Marx gelesen zu haben. Er sagte, ihn leite sein Blut, das deutsche Blut. Es könne nie irren. Er könne nie irren.

Ich wußte, was er war, ich war sein Augenzeuge, sein Erwecker gewesen, ich war der erste Wundertäter an diesem Wunderwesen – und dennoch bin ich ihm unterlegen. Es sind diesem Mohammed ohne Gott 70 Millionen Menschen unterlegen, warum soll ich mich rühmen, stärker gewesen zu sein als sie? Ich merkte an den Gesichtern rings um mich, an den gespannten aufgewühlten Zügen, an den bebenden Gliedern der Angelika, daß der Höhepunkt noch nicht erreicht war, aber in den nächsten Sekunden kommen mußte. Nach einem ungeheuerlichen, unfaßbaren Haßerguß gegen die ›marxistische Judenbrut‹ kam es über ihn und über uns. Es war der Augenblick, wo der Redner mit seiner heiseren Stimme, seinem österreichischen Akzent plötzlich den Boden unter den Füßen verlor. ›Deutsches Blut! Deutsches Blut! Deutsches Blut!‹ schrie er, man wußte nicht, ob in Liebe zu diesem Blut oder in Angst um dieses göttliche Blut. Wußte er es denn selbst? Er sprach in Zungen. Es überwältigte ihn, es überwältigte uns, und wir waren nicht mehr die, die wir früher waren. Vielleicht, wäre ich allein mit ihm gewesen und hätte er die gleiche Ekstase in dem Untersuchungsraum von P. gehabt, ich hätte ein kalter Augenzeuge bleiben können. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Hier aber nicht. Es sprang von Mann zu Mann, dreitausend wurden eine Seele. Von oben nach unten, von einem Winkel des Raumes zum anderen. Unwiderstehlich, mit Blitzesschnelle, ein ungeheurer Katarakt, das entfesselte Element. Er stand nicht mehr oben auf der roh zusammengezimmerten Tribüne, er war neben uns, in uns, in dem Verborgensten wühlte er umher, und er zermalmte uns mit seinem sklavischen Wollustglück, gehorchen, sich auslöschen, unten sein, nichts mehr sein. Zum erstenmal habe ich begriffen, was es heißt, Weib sein und dem Mann, der das Weib zuerst gegen ihren Willen und dann plötzlich mit ihrem Willen, mit ihren brennenden Schmerzen, mit noch tausendmal mehr brennender Wollust zersprengt, unterliegen, in ihm aufgehen, mit ihm zusammenwachsen, als ob es auf ewig wäre. Ist Liebe also nur Knechtschaft, Knechtseligkeit? Er stand dort oben, schluchzte, er schrie, gurgelnd brach etwas Unerklärliches, Urhaftes, Nacktes, Blutiges aus ihm heraus, er konnte es nicht halten, es waren keine fest gebauten Sätze mehr, keine artikulierten Worte, die Unterseele, die immer verhüllte, der schwarze heiße Ort der Mütter war nach oben gedrungen, und niemand konnte widerstehen. ›Deutschland! Deutschland! Deutschland!‹ Was war die klägliche Übermacht des im Kampf gegen den Tod hilflosen Arztes gegen die seine? Seine Übermacht war Haß, Wut, Ekstase, Ausbruch, Kampfgeheul, bloß ganz in der Ferne, ein Regenbogen nach dem Gewitter, schien ein hellerer Raum, sein blasses, blumiges, wohlgesittetes Ideal von einem neuen keuschen und schwertfrohen Deutschland, der sentimentale Abgesang nach dem brutalen Haßgesang. Alle atmeten auf. Die Wände zitterten vor Beifall, und die Hymnen seiner Garde gingen unter in frenetischem Getöse.

Wie damals bei den Gurkhastürmen war mir jetzt heißes Menschenblut zwischen die Lippen gespritzt. Und Angelika, die ewige Hausdame, die adelige Witwe, stöhnte tiefer auf als in meinen Armen, Schauer über Schauer rann über ihr schon so welkes Gesicht, das Gesicht, abwechselnd verkrampft und in höchster Lust aufgelöst, war aber jetzt kindlich geworden, voll Dankbarkeit – und Reinheit. Nicht mir, ihm war sie verfallen. Ich war ihr ein Mann, er ein Gott. Ich tat ihr gut, er tat Wunder.

Ich fuhr schweigsam heim. Ich war schnell wieder zu Bewußtsein gekommen. Ich war für meine Person der geistigen Übermacht H.s entgangen, denn ich sah die Gefahr. Vielleicht bereute ich einen Augenblick lang, was ich im Herbst 1918 getan hatte. Ich hatte eingreifen, handeln, herrschen wollen. Ich war dem Schicksal unterlegen, während ich es in meiner Gottähnlichkeit hatte kommandieren wollen. Ich war machtlos, denn ich war allein.

Zu Haus erwartete mich eine kurze Nachricht von Heidi, die Torfstecher aus dem Moor seien dagewesen und hätten mich gebeten, so schnell wie möglich zu ihnen zu kommen, weil die Frau schwer krank sei. Ich trennte mich von Angelika, nahm meine Tasche mit Instrumenten, vorher aber ging ich an das Fenster und holte aus einer kleinen Nische im Mauerwerk, die von dem wuchernden Efeu verdeckt war, eine Kassette hervor, welche die Papiere über A. H. enthielt. Ich überlas sie noch einmal. Vielleicht waren sie eine Waffe gegen ihn, eine Stütze für die, die ihm nicht verfallen durften, die nicht blind sein durften wie die Masse und er. Ich wollte die Papiere also verbergen. Vielleicht konnten sie der Welt noch von Nutzen sein.

Während ich den Weg zum Moor einschlug, der mir aus Jugendjahren wohlbekannt war, überfiel mich eine gute Müdigkeit. Ich freute mich darauf, nach kurzer Zeit wieder heimzukehren und tief zu schlafen. Es kam mir dabei etwas in den Sinn, was ich bis jetzt nicht bedacht hatte, seine schwere Schlaflosigkeit und seine völlige Liebeslosigkeit. Seine Unersättlichkeit, das fressende, alles an sich heransaugende, alles in sich verschlingende Feuer seines Wesens. Vielleicht war er deshalb so fanatisch, so engherzig, unritterlich, böse, so haßerfüllt, weil ihm sowohl die Liebe als auch der Schlaf versagt waren.

Es war eine kalte, sternklare Nacht, das Moor war gefroren, man konnte sich ruhig vorwärts wagen. Die Osterseen waren wie festes Land, das Eis federte nicht unter meinen Schritten. Dies kürzte meinen Weg sehr ab. Bald hatte ich die Stelle erreicht, wo ich als junger Mensch in Lebensgefahr geraten war. Ich hatte vor, an dieser Stelle die Kassette zu vergraben, hier konnte sie niemand vermuten. Leider hatte ich nicht damit gerechnet, daß der Boden steinhart war, ich ließ es also vorläufig sein, ging zu den Torfstechern, versorgte die Frau und kam wieder heim.

Als ich die Kassette am nächsten Tag aus ihrem Versteck hinter dem Efeugerank herausholte, kam es mir vor, als ob sie nicht mehr in der gleichen Lage sei. Einerlei, sie war nicht geöffnet worden, glaubte ich, und das zweitemal gelang es mir, sie tief genug im Moor einzugraben. Ich sagte mir freilich, ich müsse sie noch vor Anbruch der warmen Jahreszeit wieder hervorholen, sonst versank sie im Sumpf. Der Frau des Torfstechers ging es über Erwarten gut, und in einigen Tagen war sie ganz außer Gefahr. Ich nahm kein Geld von den armen Leuten. Bei diesem kleinen und für mich gefahrlosen Zeichen von Widerstand gegen H. blieb es nicht. Helmut kam im Auftrag des Hauptmanns R. zu mir, sagte mir, große Dinge seien im Gange, auch ich hätte nun das Wunder A. H. erlebt, man zähle mit mir und erwarte etwas. Zu großen Zielen gehörten auch große Geldmittel. Ich sah ihn erstaunt an, denn er mußte wissen, meine Einnahmen waren klein und reichten gerade nur zum Leben. Angelika besaß fast nichts mehr, seitdem ihren Ersparnissen die Entwertung der Kriegsanleihen den Rest gegeben hatte. Als ich es von ihr erfuhr, habe ich nicht triumphiert, weil sich meine Vorhersage aus dem Jahre 1916 durch die Inflation bewahrheitet hatte. Ich habe sie bemitleidet, getröstet, habe versucht, ihren fanatischen Haß gegen Weimar, das sie statt der Niederlage für die Katastrophe verantwortlich machte, abzuschwächen.

Sie gab aber nur scheinbar, mit Küssen und Liebkosungen, nach, sie blieb im Grunde fanatisch und verstockt. Und so sehr die alternde Frau mir zu Füßen lag, so tierisch demütig sie auf meine Liebkosungen wartete, so lauerte doch manchmal etwas wie Haß in ihren Augen, und ich merkte wohl, sie verzieh mir ihre Demütigung, die ich nie verlangt hatte, nicht.

Wir konnten also keineswegs viel für die ›große Sache‹ H.s geben, selbst wenn wir es wollten. Aber Helmut lächelte von oben herab über mein Mißverständnis. Ich sollte eine bestimmte Summe Geldes, die, in einer kleinen oberitalienischen Stadt von unbekannten Gönnern zum Kampf gegen die bolschewistisch-jüdische Weltverschwörung gesammelt, bereitlag, übernehmen, und ich sollte sie als Vertrauensmann H.s hierhertransportieren. Ich gälte als Demokrat. Das würde die Mission sehr erleichtern, sagte er so zynisch, wie ich ihn nicht kannte. Aber auch er kannte mich nicht. Ich überlegte nicht lange, ich lehnte ab. Helmut konnte es nicht glauben und Angelika noch weniger. Er drohte, und ich sah, er fürchtete für mich üble Folgen. Aber ich blieb fest. Ich ging noch weiter, trat der demokratischen Partei wieder aktiv bei, denn es war mir bei der Rede des H. aufgegangen, es sei nicht mehr die Zeit für den wissenschaftlichen Beobachter des Weltuntergangs, für den objektiven Augenzeugen. H. war für rücksichtslosen Kampf, er war ein Soldat, ein wahnsinniger Soldat, aber Soldat. An Frieden, Waffenstillstand, Pardon, Verständigung dachte er nicht. ›Immer feste drauflos!‹ Alle Mittel waren recht. Der Angriff war nicht etwa die beste Verteidigung, sondern er war das Recht an sich. ›Das Volk sieht zu allen Zeiten im rücksichtslosen Angriff auf einen Widersacher den Beweis des eigenen Rechts‹, das war sein Wort.

Konnten wir ihm auf der anderen Seite etwas Gleiches entgegensetzen? Wir konnten es nicht. Wir hatten uns in den Gegner zu sehr hineingelebt. Das war unsere tödliche Schwäche. Es fehlte uns die naive Brutalität ebenso wie die naive Sentimentalität, die Faust, die Träne und die Lüge.

Man steigt zu der Masse nicht hinab, ohne sich der Skrupel und des Gewissens, die den einzelnen adeln, entledigt zu haben. Wir wollten mit den alten Methoden in einer neuen Zeit wirken, in der die Knechte zu Herren geworden waren und die Stärke alles war. Stark war, wer die meisten Stimmen hatte. Mit Wahrheit gewann man sie schwer. Ganz ohne Lüge kann keine Politik gemacht werden. Aber wir versuchten, mit dem geringsten Maß von Wahrheitsverschleierung auszukommen. Auf der nationalistischen Seite war keine Lüge groß genug. Ja, die Größe der Lüge, das nicht mehr Faßbare an Übertreibung und Schwindel sollte den Erfolg sichern. Und sicherte ihn. Seine fanatischen Lügen hatten Erfolg. Unsere Halbwahrheiten nicht.

Ich besuchte noch eine Massenversammlung, aber diesmal, ohne ihm zu unterliegen. Ich hörte, wie er erzählte, es seien von den Sowjetjuden 30 Millionen Menschen langsam zu Tode gemartert worden. ›Und während jetzt in Rußland die Millionen dahindarben und dahinsterben, fährt der jüdische Minister Tschitscherin im Expreßzug und mit ihm ein Stab von 200 Sowjetjuden durch Europa und läßt sich Nackttänze vorführen.‹ Das Absurde war mit Händen zu greifen. Tschitscherin war uradlig, reinrassiger Russe, von ›Nackttänzen‹ war nie die Rede gewesen. Es konnte von 130 Millionen Russen nicht jeder vierte langsam zu Tode gemartert werden. Trotzdem oder eben deshalb glaubten es die Menschen, denn sie konnten sich nicht denken, wie jemand etwas so Teuflisch-Großartig-Stupides zusammenphantasieren konnte.

Sie konnten sich aber gewiß ebensowenig vorstellen, wie ein Mensch, ein Oswald Schwarz II oder ein A. H., sich kraft des Willens zur Lüge zur Blindheit zwingen konnte, und doch hatten es beide getan, und beide hatten nur schwer sich unter der Übermacht meines Wollens als Arzt die Augen öffnen lassen.

Nun hatte ich keine Macht mehr über den Mann auf der Tribühne. Ich mußte mich glücklich schätzen, wenn er keine hatte über mich. Ich habe oft in der ersten Reihe gesessen, habe seinen Blick fesseln wollen. Es war unmöglich. Er sah nichts.

Der blinde Haß gegen den Juden kehrte immer wieder, es war der geheimnisvolle Kern seiner Seele. Ich wußte wohl, daß ich ihn zwar für immer von der hysterischen Blindheit, eine Zeitlang von der hysterischen Schlaflosigkeit, aber nicht eine Sekunde lang von dem Judenhaß geheilt hatte. War er vielleicht einem jüdischen Weib, einer ›Judt‹, verfallen gewesen in seiner Elendszeit als Vagant in Wien? War seine Reinheit freiwillig, war sie gemußt? Konnte er sich keiner Frau aus seinem Stamme, aus seinem ›deutschen Blut‹ mehr hingeben, marterte ihn dies, machte dies ihn schlaflos, machte dies ihn lieblos, unersättlich – und gab ihm dies die ungeheure fanatische Kraft? Hatte er diesen feinen Splitter unter dem Nagel und schlug aus diesem Grunde mit so brutaler Faust zu? Auf dem Grunde seiner Haßgesänge und seiner Tugendgewitter lag oft etwas wie Verzweiflung. Sein Hassen war eine Quelle ungeheurer Kraft. Keine Rücksicht, keine Milde und Vernunft, keine Liebe hat ihn gehemmt.

›Der Sowjetstern ist der Stern Davids‹, sagte er,›das Wahrzeichen der Synagoge.‹ In Wirklichkeit ist der Davidsstern sechseckig, denn er besteht aus zwei ineinandergeschobenen Dreiecken, der Sowjetstern aber ist ein in einem Zuge zu zeichnendes Fünfeck. Er als früherer Zeichner wußte es wohl. Und dennoch log er und glaubte, daß er die Wahrheit sprach. Er verblendete sich kleinlich in dieser Kleinigkeit, wie er sich in großen Dingen großartig verblendete. Und doch, mit jeder seiner Lügen gewann er mehr Macht als je ein nüchterner Wahrheitsfanatiker mit einer ›beweisbaren Tatsache‹. Ihm glaubte man, einem Rathenau nicht. ›Der Davidsstern ist das Symbol der Rasse über der Welt, einer Herrschaft von Wladiwostok bis nach Westen, der Herrschaft des Judentums. Der goldene Stern bedeutet dem Juden das gleißende Gold, der Hammer bezeichnet den freimaurerischen Einschlag. Die Sichel den grausamen Terror!‹ Die Sichel, das Sinnbild der Ernte, das kleine friedliche Ding, glitzernd auf den grünen Hügeln des gemähten Grases – das Sinnbild des grausamen Terrors! Angelika glaubte es, sie schwor auf ihn. Sie war schon lange keiner Vernunft mehr zugänglich. Sie, die mir gegenüber so sklavisch war, ließ sich kein Tüpfelchen von ihrem neuen Evangelium rauben. Und sie kannte doch viele süddeutsche Juden. Sie hatte immer ihre Freundlichkeit, ihre Dankbarkeit, ihre Ehrenhaftigkeit gerühmt, wenn sie von ihnen als von Kranken oder als von den Angehörigen der jüdischen Patienten in Kaisers Klinik gesprochen hatte. Sie besaß noch ein paar Schmuckstücke, die sie jüdischen Patienten oder ihren Verwandten verdankte, und sie trug diese Schmuckstücke in den Versammlungen.

Es waren so ungefähr die letzten Reste ihres früheren Wohlstandes. So wie sie fast zur Bettlerin verarmt war durch die Entwertung des Geldes, waren es Millionen mit ihr. Die Ruhr war besetzt. Die Mark hatte kaum mehr den Wert des Papiers, auf dem sie gedruckt wurde. Alles war im Chaos. Die Franzosen hatten Banknotenpressen beschlagnahmt und vermehrten noch die Papiersintflut.

Weimar besaß keine Autorität mehr. Süddeutschland wollte sich von Norddeutschland trennen, oder besser gesagt, die fanatisch nationalistische Partei, der H. ungeheuren Aufschwung gegeben hatte, verweigerte zwar Weimar, dem ›System‹, den Beistand, wenn es gegen die Polen Krieg geben sollte, sie traf aber die intensivsten Vorbereitungen zu einem Krieg des Südens gegen den Norden, gegen das Kernland des Marxismus, das verseuchte Proletarierland. Süddeutschland mit seinen starken Bauermassen wollte Norddeutschland erobern. Die süddeutschen Truppen verweigerten dem Norden den Gehorsam, die Goldreserven und Devisenvorräte der bayerischen Banken durften nicht mehr über die Grenze, und es sollte im Frühjahr 1932 der letzte Trennungsschnitt zwischen dem gesunden und dem kranken Teil des Reiches rücksichtslos mit blutiger Schärfe ausgeführt werden. Deutsche gegen Deutsche? Einerlei. Die höchsten Behörden in Bayern standen mit H. im Bunde. Sie seien zuerst Deutsche, dann Beamte, rühmte er. Das heißt, sie hätten ihren Beamteneid um ihrer fanatischen nationalen Ziele willen zu brechen.

Viele im Lande sahen es mit Grauen. Noch war ein Widerstand möglich. Die Massen waren nur betäubt durch die Not, von der Flut bedrängt und von ihrer alten Stätte losgerissen, aber nicht betrunken. Sie waren noch nicht vergiftet, sie waren nur im Augenblick geblendet.

Ich habe viel in Versammlungen gesprochen. Ich habe jede freie Minute, die mir mein Beruf ließ, der guten Sache gewidmet. Die Zahl unserer Anhänger wuchs. Die Beiträge liefen ein, auch die Jugend kam. Wäre die Reichsregierung energischer, wäre das ›System‹ unsystematischer, kühner, befeuernder gewesen, man hätte viel mehr erreichen können.

Aber sie glaubte, unparteiisch gegen rechts und links sein zu müssen. Sie schwächte ihre Verteidiger und machte ihre unerbittlichen, unersättlichen Feinde groß. Sie war der Augenzeuge ihres Untergangs, und als ein Wunder sie rettete, verstand sie es nicht. Sie hatte ihre Feinde nie verstanden. Sie hielt sie für ihresgleichen! Sie vertraute ihren feierlichen Versprechungen, nahm ihr ›Ehrenwort‹ ernst.

So kam es zum Putsch vom November 1923. Die Reichswehr glaubte, der Aufruhr, den H. organisiert hatte, werde zu ihren Gunsten gemacht, die braven alten Bürgerkreise, die Beamten wie von Kahr, die mit Geld und Einfluß hinter H. standen, glaubten, es werde zu einer Gegenrevolution aufgerufen, um das alte, immer noch beliebte Königshaus auf den Thron zu setzen. Aber H. hatte nur an sich gedacht. Das hatte ihm niemand zugetraut, vielleicht er selbst sich nicht. Er sollte ein zweites Wunder sein.

Er war gesprungen, aber zu kurz. Bayerische Landespolizei, auf die H. sich verlassen hatte, schoß scharf, Ludendorff, an der Spitze von H.s Zug, ging kalt durch das Feuer. Die Minister, eine Nacht lang überrumpelt, waren am nächsten Morgen wieder zur Klarheit erwacht.

Alles schien verloren. Gegen Ludendorff, der auch diesmal die ›Kriegsziele‹ nicht richtig eingeschätzt hatte, konnte niemand an. Ganz Deutschland mußte ihm auch jetzt noch treu bleiben, dankbar sein, daß er den großen Krieg in so grandioser Manier verloren hatte und daß er Weimar zum zweitenmal verriet.

 

Wie Ludendorff war auch H. durch ein Wunder unverwundet dem prasselnden Kugelregen der Landespolizei entgangen. Das Wunder heftete sich auch weiter an seine Fersen. War ich nicht selbst einer gewesen, der Wunder an ihm getan, ihn aus einem Blinden zu einem Sehenden gemacht hatte? Er stellte sich dem Gericht. Man läßt Gnade walten. Fast ging er als Sieger über seine Richter, über die verratenen Verräter aus dem Prozeß hervor. Er wurde zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt. Als er bereits nach sechs Monaten aus dem Gefängnis kam, hatte sich aber zu seinem Unglück Deutschlands Lage wahrhaft wunderbar gebessert. Es bestand wieder eine feste Währung. Die Besetzung des Ruhrgebietes war dank Briand und Stresemann zu Ende. Die Menschen besannen sich auf sich selbst, arbeiteten, hofften und bauten langsam wieder auf.

Vroni hatte geheiratet, und zwar (dank des kleinen Kapitals aus der Erbschaft von meiner Mutter) einen kleinen Zigarettenfabrikanten vorgerückten Alters, in dessen Fabrik das Geld arbeiten sollte. Er war anspruchslos und fleißig, gemütlich und bierfreudig. Er hatte eine zahlreiche Familie, für welche Vroni im Hause zu sorgen hatte. Mein Stiefbruder wurde Fräser in einer großen Maschinenfabrik, meine Schwester ging als eine Art von besserem, aber unbezahltem Dienstmädchen ihrer Mutter im Hause zur Hand. Man lebte zwar noch etwas kärglich, aber alles war unverkennbar im Aufstieg.

Ich hatte mich von Angelika getrennt. Ich traute ihr nicht mehr. Ich sah in ihr das ›unreine Gefäß‹, sie vielleicht das gleiche in mir. Rein war H., ich nicht. Ich atmete auf. Diese überhitzte Leidenschaft hatte mir nicht gut getan. Sie war zu heiß, und mir wurde nicht warm bei ihr. Ich nahm eine ältere Frau aus der Gegend in Dienst, die mir zwar das Haus gut führte, aber mir in keiner Weise bei meinem Beruf zur Seite zu stehen vermochte.

Ich sah Kaiser wenig, Helmut gar nicht mehr. Er mied mich mit Absicht. Er glaubte immer noch an H., ja, mehr denn je zuvor. H. war und blieb für ihn ein Sendbote des deutschen Gottes, ja der deutsche Christus in Person. Auch Vroni und ihre Kinder verblieben in ihrer Anbetung für den Mann, den sie bemitleideten, weil man ihn ärger als Christus am Kreuz gepeinigt haben sollte. Tatsächlich hatte er sich in der Festung völlig erholt und hatte stark an Gewicht zugenommen. Aber das wollten sie nicht glauben, sie weinten bittere Tränen über seine ›Qualen und Martern‹. Abgesehen von seiner himmlischen Rednergabe, bei der der Herrgott aus ihm spräche, hatte sie, wie Angelika, sein keusches ›fleischloses‹ Wesen bezaubert, daß er seit Jahren keinen Bissen Fleisch berührte, daß er sich von den Frauen fernhielt, daß er keinen goldenen Ring trug, daß er nichts für sich wollte – und so dankbar sei für Liebe und Zärtlichkeit. Es war der glühende Glaube der ersten Christen.

In diese Zeit, 1924, fiel die schwere Krankheit des Doktor Kaiser, des Vaters Viktorias. Ich hatte ihn in der letzten Zeit öfter aufgesucht, schon um Viktoria wiedersehen zu können. Ich hatte mich also doch nicht von ihr losreißen können. Ich liebte zum erstenmal, als reifer Mann. Sie blieb kühl, als ich das erstemal nach langer Trennung kam. Aber mit der Zeit löste sich etwas in ihr, und als sie am Sterbebette ihres Vaters zu weinen begann, faßte sie meine beiden Hände, wie meine Mutter sie einmal gefaßt hatte, um mich festzuhalten. Es war der Augenblick, auf den ich seit vielen Jahren gewartet hatte. Sie war am Rande ihrer Jugend, ich ebenso. Sie war noch sehr schön. Ich hatte schon ein paar graue Haare. Ich entsann mich, auch meine Mutter war früh ergraut. Mein Vater hatte weniger graue Haare als ich. Er lebte jetzt in glücklicher Ehe mit seinem Heidi, baute vergnügt und seelenruhig ein zweitesmal ein Haus für sich. Kinder hatten sie nicht. Da aber mein Vater kinderlieb war (und das machte ihn liebenswert), ließ er oft seine unehelichen Kinder kommen. Sie sahen dies als eine Gnade an.

Meine frühere Geliebte hatte sich mit ihnen angefreundet und wollte ein Turmstübchen in der neuen Villa beziehen. Sie war mit dem blonden Heidi ein Herz und eine Seele. Sie alle, mein Vater, Heidi, Angelika, kamen, um mir mit süßsäuerlicher Miene zu meiner Verlobung mit Viktoria zu gratulieren. Ich hatte auch Helmut Mitteilung gemacht, er antwortete nicht auf meinen Brief.

Sein Vater schrieb mir aus Italien, wo er mit Katinka lebte. Ob in Frieden, war nicht ersichtlich. Ich hätte es ihm sehr gegönnt. Ich wurde jetzt, da eine Zeit langen friedlichen Glücks in meinem Haus für mich anzubrechen schien, allen von Herzen dankbar, die mir früher geholfen hatten. Wie hätte ich Kaiser vergessen können? In meiner Partei war ich geachtet. Sie machte immer noch Fortschritte, wenngleich nur mäßige. Die Jugend, die Frauen kamen spärlich, wir waren ihnen zu nüchtern, wir schmeichelten ihnen nicht genug; wahrscheinlich verstanden wir nicht, mit ihnen zu sprechen und sie aufzuwühlen und zu berauschen.

Meine Frau hatte sich endlich mit dem Gedanken abgefunden, daß ich neben meinem Beruf auch politisch tätig war. Auch sie war jetzt nach vielen freudlosen Jahren glücklich geworden, erwartete ein Kind und war dem Schicksal ergeben wie ich. Manchmal kam mir in den Sinn, weshalb wir uns nicht schon längst vereinigt hatten. Aber es waren nutzlose Gedanken. Wozu? Wir hatten viel Arbeit und waren abends froh, wenn wir sie geleistet hatten.

Die Lage des Reiches wurde nach der überraschenden Blütezeit von 1923 bis 1929 allmählich wieder kritischer. Die Arbeitslosigkeit setzte langsam ein und wuchs unaufhaltsam. Die viel zu plötzlich und ohne genügende Geldreserven vorgenommene Rationalisierung rächte sich. So klagte mir Vroni, ihr Mann habe zwar eine Menge Arbeiter durch neue amerikanische Zigarettenmaschinen ersetzt, aber die Abnehmer fehlten (Arbeiter waren ihre beste Kundschaft gewesen). Sie war empört, daß man ihren Sohn ohne Grund aus der Maschinenfabrik entlassen hatte. ›Marxisten! Juden!‹ murrte sie. Er lungerte anfangs im Hause herum, hatte sich aber dann, vielleicht auch aus ideellen Gründen, seinem Abgott H. angeschlossen, war einer uniformierten, aber nicht ganz legalen Truppe, der SA, beigetreten und bezog einen kleinen Sold, der unregelmäßig ausgezahlt wurde. Da er aber seine Arbeitslosenunterstützung außerdem bekam (von dem Staate, den er unterwühlte), konnte er sogar etwas Geld daheim abliefern. Die SA bekam bald stärkeren Zulauf. Die Arbeitslosigkeit stieg nun etwas schneller, ich merkte es an den Kassenpatienten, und mit ihr schwollen das Elend, die Unzufriedenheit an. Ein neues Warten auf den Messias, die Anklage gegen Weimar, der Haß gegen die Beamten, die Bonzen, gegen die Abgeordneten, die Parasiten, das Verzweifeln an der bestehenden Rechtsordnung, am System und sogar an Gott.

Die Wahlen zum Reichstag fanden in immer kürzeren Intervallen statt.

Niemand erwartete aber etwas Entscheidendes von den alten Parteien. Die nationalrevolutionäre Partei H.s, die wie die alte Vaterlandspartei eine Partei über allen anderen sein wollte, aus dem Zusammenbruch von 1923 wie ein Phönix aus der Asche aufgestiegen, zog allmählich alle die Verzweifelten, an der Zukunft Irregewordenen an sich.

Mir war inzwischen ein Sohn, Robert, und drei Jahre später eine Tochter, Lise, geboren worden. Wir waren alle glücklich. Ich hätte nie geglaubt, daß ich und Viktoria eines solchen Glückes fähig wären. Jetzt, glaubten wir, müsse es ewig dauern bis zu unserem ›natürlichen Ende‹.

Ich mußte schwerer arbeiten, um den Lebensunterhalt heranzuschaffen, mußte mehr Menschen beschäftigen, und die Politik durfte mich nicht so viel Zeit kosten wie bisher. Alles wurde viel teurer. Aber ich mußte mit den Honoraren heruntergehen, meine Zeit strenger einteilen, auf manches verzichten und wieder mehr mit dem Pfennig rechnen. Unsere Partei blieb stationär.

Die Sozialisten hatten bei den nächsten Wahlen keine großen Einbußen, aber die extremen Rechtsparteien wie die H.s und die extremen Linksparteien wie die Kommunisten fanden ungeheuren Zulauf von den jungen Wählern, die der Agitation unterlagen und arbeitslos waren, zum Teil noch nie gearbeitet hatten, und von den Schichten, die durch den Krieg und die Revolution und die Inflation entwurzelt, entbürgerlicht waren und jetzt den letzten Rest festen Bodens unter den Füßen verloren. Alles war wie im Moor.

Es herrschte unter einer dünnen Schicht von Ordnung Anarchie von links und von rechts. Es blieb, wenn man logisch dachte, auf die Dauer für das arme Deutsche Reich keine andere Staatsform übrig als die parlamentarische Republik, eben dieses so geringgeschätzte Weimar, oder die Rückkehr zu den Dynastengeschlechtern. Der alte ehrenhafte Reichspräsident war (und er machte kein Hehl daraus) seinem angestammten Herrscherhause treu ergeben, aber er sah ein, daß deren Rückkehr ohne Revolution unmöglich war, und diente dem System. Man achtete ihn.

Geliebt und gehaßt wurde H. Er hatte inzwischen Norddeutschland erobert, die Arbeitermassen hörten auf ihn, mit Liebe die einen, mit Haß die anderen, er ließ keinen kalt.

Die Arbeitslosen kamen ihm mit unermeßlichen Hoffnungen entgegen, seine Partei schwoll an wie eine Lawine, in kurzen Intervallen erhob sie sich von 12 auf 107, dann auf 230 Reichstagsmandate. Er selbst war Ausländer, österreichischer Staatsbürger geblieben, ging einfach einher, arbeitete mit unbeschreiblicher Energie, nur für die Sache, das heißt für sich. Er hatte keine Würde angenommen. Er herrschte unbestrittenermaßen über eine halbe Million SA-Männer, die mit Hilfe des aus Bolivien zurückgekehrten Hauptmanns R. und dank der Gelder der Schwerindustrie, die Angst vor den Kommunisten hatte, militärisch organisiert waren. Er redete, und je mächtiger er wurde, desto ungeheurer wurde die Kraft seiner fanatischen Reden, die alle erfaßten.

Auch an mich war man herangetreten, zuerst mit der Aufforderung, mich der neuen Partei anzuschließen, dann mit der, wenigstens einen größeren Beitrag zu zahlen. Ich verweigerte beides.

Eines späten Abends hieß es, ein Mann in Parteiuniform wolle mich sprechen. Er wollte aber nicht in mein Sprechzimmer kommen, sondern wartete im Garten im strömenden Regen. Es war Helmut. Er gab mir nicht die Hand, griff nicht an seine Mütze. Er sagte mir nur kurz, es sei ›unter maßgebenden Persönlichkeiten‹ etwas in Umlauf, was er nicht glaube, wovon er mich aber benachrichtigen müsse als ›ehemaliger Freund‹. Ich hätte Papiere, Akten und Protokolle über ihn (er nannte nicht den Namen, jeder mußte wissen, wer es war) verborgen. Ich solle sie ihm ausfolgen. Sie würden vernichtet werden. Ich würde keine Unannehmlichkeiten wegen dieser Aktenunterschlagungen haben. Ich weigerte mich auch jetzt.

 

Ich hatte die Papiere längst im Moor aus ihrem kleinen Versteck herausgeholt und bewahrte sie in einem kleinen Kassenschrank auf. Meine Frau wollte wissen, was ich draußen besprochen hätte. Ich antwortete ihr ausweichend. Wie als junger Mensch, der sein Tagebuch in Runen auf Holzbrettchen zu schreiben pflegte, wollte ich mein Geheimnis haben. Ich wollte mich meiner Frau, die ich mit allen Fasern meines Herzens liebte, ebensowenig ganz ausliefern, wie ich mich meiner Mutter hatte ausliefern wollen. Ich hatte nichts gelernt aus den trüben Erfahrungen meiner Jugend. Damals hatte ich meine Mutter mißtrauisch gemacht, ich hatte durch dieses Mißtrauen ihre Liebe verloren, ich habe dieses doch so unschuldige Geheimnis teuer bezahlt.

Ich glaubte an keine neue Revolution, die durch H. hätte aufflammen können. Sie war meiner Ansicht nach zu sinnlos. Sie konnte, davon war ich fest überzeugt, die Lage der breiten Volksschichten nicht verbessern. Es standen bei H. nur drei Punkte fest: der erste war der Führergedanke nach Art eines Mussolini, eines alleinherrschenden, ganz auf Gewalt gestellten Diktators, des Volkskaisers in brauner Uniform. Weil er aus Braunau stammte hatte er das Braun zu seiner Lieblingsfarbe gewählt und seine Million SA-Männer in braune Hemden und Uniformen eingekleidet. Der zweite war die Aufrüstung Deutschlands für den Revanchekrieg. Hatte aber schon der Sieg von 1918 den Alliierten, den Franzosen, Engländern, Amerikanern usw., keinen Segen gebracht, hatte sich der von ihnen angeblich bis zur Vernichtung geschlagene Feind, Deutschland, trotz der Niederlage in wenigen Jahren fast völlig erholt, was konnte dann ein neuer Weltkrieg mit neuen Hekatomben von Menschenopfern und Verwüstungen an dauernden Erfolgen bringen? War es nicht besser, an den Frieden vor dem Krieg zu denken als nachher? H., so unersättlich er war, konnte doch nicht ganz Europa verschlingen und den Rest der bewohnten Welt dazu? Der dritte Punkt war der Judenhaß. Ich konnte nicht glauben, daß die Befriedigung dieses Hasses gegen einen winzigen Volkssplitter die Sieger über den ›Judt‹ glücklich machen könnte. Aber H. rechnete besser. Er rechnete mit der ungeheuren Kraft der Lüge, des rücksichtslos angreifenden Hasses, er ging immer mit brutaler Gewalt vor, auch wenn er ohne diese sein Ziel hätte erreichen können, und baute auf drei Grundeigenschaften des Menschen, auf seine Bestialität, seine Schwäche und seine Feigheit. Diese Triebe bestanden vielleicht in jedem Menschen. In ruhigen Zeiten wurden sie von der Vernunft und dem Gesetz unterdrückt. In gefährlichen Zeiten wurden sie entfesselt und brachen sich Bahn. Ich, ein Arzt, ein Forscher, ein kaltblütiger Mensch, war der Unterseele im Krieg unterlegen und hatte bestialisch gehandelt. Wenn ein Mensch wie H. imstande war, Millionen sich bis zum Kadavergehorsam zu unterjochen, waren ihm dann noch Schranken gesetzt? Hatte er etwas anderes zu fürchten als den Tod?

Aber waren wir, die Menschen der Mitte, des Maßes, wirklich die Schwachen, wenn wir uns vereinigten? Die extreme Linke, Anbeterin der Gewalt ohne Opposition, einer brutalen Diktatur, genau wie die Rechte, schloß sich keineswegs uns, den gemäßigten Parteien, an. Sie ging mit der extremen Rechten zusammen. Die Kommunisten sahen nicht in H. ihren Feind, sondern in der gemäßigten Sozialdemokratie. Der Reichstag wurde aufgelöst und wieder gewählt Und wieder aufgelöst, weil die Kommunisten mit den Nationalsozialisten H.s gemeinsam eine Front, eine Sperrmajorität bildeten.

Es kam zur Wiederwahl des Reichspräsidenten. Der alte Marschall wurde wiedergewählt von den gemäßigten Parteien. Er erhielt eine hohe Majorität. Waren wir also gerettet? Waren wir in der Überzahl? Aber wir hatten nicht damit gerechnet, daß die geradlinige Energie des alten Ehrenmannes sich würde beugen lassen, wenn sein altes Vaterherz ins Zittern kam. Sein Sohn wurde durch einen Bestechungsskandal kompromittiert. Nur die äußerste Rechte konnte ihn und die Kaste des Marschalls retten. Nur A. H., der soeben geschlagene, konnte den Sieger retten! Der Präsident des Reiches war zuerst Vater und Offizier und Adeliger, dann erst Präsident und Augenzeuge, oberster Richter über den Parteien. Er scheute die Schande. Er gab nach. H. wurde Reichskanzler. Aber noch bestand die Verfassung. Die bürgerlichen Rechte waren nicht aufgehoben.

Nun ließ H. den Deutschen Reichstag in Brand stecken. Was bedeutete ihm und seiner Partei das Gebäude des Reichstags? Weniger als nichts. Denn das Parlament war von ihm stets mit Verachtung bedacht worden. Aber der Masse bedeutete es etwas als das Wahrzeichen der parlamentarischen Regierungsform, der Freiheit. Der neue Kanzler des Reiches brachte es, während die Flammen aus dem Gebäude aufschlugen, dazu, Entsetzen und Schauder im Bürgertum zu verbreiten. Er, der keine andere Freiheit kannte als die seine, warf sich ›kraft eignen Rechts‹ selber zum Verteidiger der Freiheit auf, zum Schützer der parlamentarischen Rechte, zum Hüter der Ordnung. Er, der Revolutionär, war für die alte liberale Tradition. Die Gefahr kam nach seinen Reden (vielleicht glaubte er auch an seine Phantasien) von der extremen Linken, den Kommunisten.

Angezündet hatten also den Reichstag die Kommunisten. Sie waren es und sie allein, die Revolution und Umsturz alles Alten und Guten und Freiheitlichen wollten. Sie mußte man unschädlich machen. Sie mußten sterben, damit Deutschland lebte. Er ordnete zuerst die Unterdrückung aller bürgerlichen Freiheiten an. Keine Arbeiterrechte mehr. Keine Versammlungen, keine Redefreiheit, keine Pressefreiheit. Kein Brief-, kein Telefongeheimnis mehr. Unbeschränkte Rechte der Polizei, die sofort zu schießen hatte. Der harmlose Gummiknüppel wich dem Revolver. Abschaffung des Rechtsweges.

Jeder dachte, dies würde nur eine kurze kritische Zeit hindurch dauern. Keine Maßnahmen gegen die Juden. Man versprach ihnen sogar, man würde ihnen Handel und Wandel gestatten wie bisher, wenn sie sich ruhig verhielten. Was hätten sie, eine winzige Minderheit, weniger als eins auf hundert, machen können? Sie verstummten wie alle, drängten sich aneinander wie alle und zitterten wie das ganze Land, die Anhänger der Terroristen ausgenommen. Neuwahlen fanden statt. H. hatte dem Reichspräsidenten versprochen, er würde keine veranstalten. Nun brach er zynisch-unschuldig sein Wort, wie er es 1923 den Generälen gegenüber gebrochen hatte. Sie ergaben für die Nationalsozialisten keine Majorität. Nur mit den zögernden, schlecht geführten Deutschnationalen zusammen hatten sie ein Prozent über die Hälfte aller Stimmen. Der Führer versprach jetzt treuherzig den Deutschnationalen ewigen Anteil an der Macht. Ein paar Monate später waren sie herausgedrängt. Damit hatte die kleine, aber vor nichts zurückschreckende Minorität H.s Übermacht über eine entzweite Majorität.

Wer hätte wagen dürfen, dem Deutschesten aller Deutschen Wortbruch vorzuwerfen? Er glaubte immer an das, was er sagte. Aber nur so lange, als er es sagte oder sich dessen erinnerte. Die Erinnerung aber wechselte und täuschte ihn, den armen. Er war wirklich arm, gesehen von einem Gesunden, einem Arzt. Meine Mutter, eine Frau aus dem Volk, hatte nie nach Ärzten gerufen. Sie machte Gelübde in der schwersten Not! Sie trat eine Prozession an, wie die zur Muttergottes von Altötting, also zu einer wundertätigen Frau.

Hier war ein Wunder geschehen. Wie konnte ohne ein Wunder aus diesem Mann, dem stellungslosen Anstreicher aus Wien, der mächtigste Mann des Deutschen Reiches werden? Wo hörte die Lüge auf, wo begann das Wunder? Er selbst glaubte an Wunder, hörte Stimmen, dankte der Vorsehung. Gott sei mit ihm, schrie er, und Gott war mit ihm. Heute wie 1918. Mein Wort war fürchterlich und göttlich wahr geworden: er hatte sich geholfen, und Gott hatte ihm geholfen.

H. war jetzt nicht mehr der Mann mit der schmalen Gefreitenlitze an den Schulterklappen und dem angezweifelten Eisernen Kreuz Erster, er war der Höchste und bald darauf der Einzige im Staate. Er hätte schweigen können. Die Kommunisten waren vernichtet, ebenso wie die bürgerlichen Parteien, wie alles, ihn ausgenommen! Aber er ließ einen Journalisten einer amerikanischen Zeitung kommen und sagte ihm wörtlich: ›Als wir in jener Nacht des Brandes im Reichstag und im Berliner Schloß Hilfeschreie per Telefon, Draht und Rundfunk aus ganz Deutschland über die bevorstehende bolschewistische Verschwörung und Umwälzung erhielten, entschloß ich mich, rücksichtslos alle mir zur Verfügung stehende Gewalt, alle Sturmkräfte sofort einzusetzen. Die Enthüllungen, die zwei Stunden später gemacht wurden, haben mir recht gegeben. Allein in Berlin fand man bei der sofortigen Besetzung der öffentlichen Gebäude, einschließlich der Universität, der Bibliothek und zahlreicher Berliner Bezirksrathäuser und der Brandherde, Zündschnüre, mit Benzin durchtränkte Zündwolle und Explosivstoffe. Hätte ich nicht in jener entscheidenden Stunde für Ordnung und Frieden der bolschewistischen Inbrandsetzung Deutschlands entgegengehandelt, wären nicht nur der Reichstag und das Schloß, sondern sämtliche öffentlichen Gebäude Deutschlands und, wer weiß, vielleicht das ganze Abendland ein Schutthaufen. Die kommenden Gerichtsverhandlungen werden der Welt die Augen öffnen über die Sensationen der Nacht, die aus dem gefundenen Material hervorgehen, das bisher der Untersuchung wegen nicht enthüllt werden konnte. Das Beweismaterial garantiert die Aufdeckung eines bolschewistischen Weltkomplotts.‹ Soviele Worte, soviele Lügen. Soviel Angeben, soviel Phantasien. An diesen in der ganzen Welt verbreiteten Ausführungen, die besonders in England und Amerika die Angst vor dem ›bolschewistischen Weltkomplott‹ ungeheuer angefacht haben, ist nichts wahr. Der Führer hat niemals bewiesen, was er angekündigt hatte, er hat es nicht einmal versucht.

 

Wenn einer, mußte ich den neuen Herrn der Welt kennen. Ich mußte ihn fürchten, ich mußte ihn fliehen, da er der Starke war, ich der Schwache. Im Grunde meines Herzens lockte, reizte, bezauberte mich aber die Gefahr, und wenn es tragisch ist, sehend in sein Verderben gegangen zu sein, bin ich tragisch. Es ist aber nur tragikomisch.

Sofort nach der Machtübernahme war eine ungeheure Schlammflut von Denunziationen losgebrochen. Väter denunzierten ihre Söhne, Söhne ihre Väter, Frauen ihre Männer, in der Hoffnung, von dem neuen Regime Vorteile zu erlangen, oder einfach aus Rachsucht, Haß, aus der Niedrigkeit ihrer Natur. Das Niedere war jetzt in allen hochgekommen, und wer sich dem weißseidenen Pantoffel des Papstes in Rom oder dem Degenknauf eines Marschalls im alten Kaiserlich Deutschen Hauptquartier nicht hatte beugen mögen, küßte jetzt mit Wonne die Sohlen eines Menschen, den noch zahlreiche Menschen als Vaganten auf dem Straßenpflaster Wiens gekannt hatten. Aber gerade, daß er so klein gewesen war, daß er aus dem sumpfigen, brodelnden, stummen Urgrund der Masse hervorgekommen war, das machte ihn ihnen so teuer, und sie beteten ihn an. Er war nicht mehr, wie er sich anfangs gerühmt hatte, der Johannes eines kommenden Jesus, der Trommler eines kommenden Heroen, er war jetzt Jesus und Kriegsheld in einem. Sie beugten sich wollüstig zur Erde vor ihm, den das Wunder aus dem Nichts zum Herrscher gemacht hatte.

Ich kannte das Wunder an der Quelle. Denn ich hatte ihm den Glauben an sich als göttliches Wunder gegeben. Ich wußte, wir, meine Frau und ich, würden nie auf der Seite des Schwertes sein; meine Frau, weil sie in ihrer Verstandesklarheit und Güte nie dort gewesen war, und ich, der ich ein paar Monate in Blut gewatet hatte, weil ich jetzt zu einer anderen Arbeit – und nicht ohne Erfolg – zurückgekehrt war. Man hat mich in der Gegend geliebt, und selbst, als es sehr gefährlich war, mich zu verbergen, haben mir überzeugte Anhänger des Götzen das Asyl nicht nur nicht verweigert, sondern freiwillig angeboten. Es ist die gleiche Art von Menschen gewesen, ich sage es ausdrücklich, die die fürchterlichen Grausamkeiten in Konzentrationslagern und unterirdischen Gefängniskellern an armen hilflosen Gefangenen verübt hat und die dann ihr Leben aufs Spiel setzte, um mich zu retten.

Es ist mir damals zum erstenmal klargeworden, daß der Mensch etwas Fürchterliches ist, aber auch etwas Göttliches.

Als die ersten Gerüchte zu uns kamen, man ›fahnde‹ nach mir, der ich doch täglich von zwei bis vier meine Sprechstunden hatte, der seine Steuern regelmäßig bezahlte, der ein Telefon, ein kleines Auto besaß, glaubte ich, es handle sich um eine Namensgleichheit. Hatte es doch zwei Oswald Schwarz gegeben, warum sollte es nicht zwei meines Namens geben?

Ich traf aber Vorsorge, was die Papiere betraf. Ich hatte daran gedacht, sie Geheimrat von Kaiser als ›Geschäftspapiere‹ in verschlossenem Kuvert zu senden. Er hatte eine Unmenge ähnlicher Protokolle gesammelt, nur daß sie nicht gerade einen Gefreiten des Regiments List, A. H., angingen. Dann kam ich von dieser Idee ab. Er war alt, er konnte sterben, seine Frau würde die Papiere vernichten nach seinem Tode. Sie sollten nicht verlorengehen.

Dachte ich also daran, sie zu veröffentlichen, der Welt, wenigstens dem Ausland, zu zeigen, wie der Übermensch, der Halbgott noch vor fünfzehn Jahren gewesen war, wie er sich damals der Wissenschaft, wie er sich dem völlig unbefangenen Augenzeugen klinisch dargestellt hatte? Nein, auch das wagte ich nicht. Nicht aus Angst vor den Folgen, über die ich mir nicht klar war, sondern aus Achtung vor dem ärztlichen Berufsgeheimnis. So hielt ich mich an das ungeschriebene Gesetz ärztlicher Ehre. Er kannte keine Ehre. Ich konnte ohne Ehre nicht leben.

Meine Frau riet mir mit Tränen in den Augen, die Protokolle zu verbrennen. Nein, ich mochte mich auch dazu nicht entschließen. Ich wollte mir meinen Mut beweisen, indem ich sie behielt. Noch einmal und nicht zum letztenmal. Ich machte mich stark und führte die Tränen der armen Frau auf die Rührseligkeit zurück, die Frauen in der Hoffnung oft überfällt, und begnügte mich mit einer List, um die Papiere zu erhalten und mich doch nicht mit ihnen zu belasten. Ich sandte sie, mit einem anderen Namen als Absender, postlagernd an einen dritten Namen an ein Postamt in M. Auf der Post blieben solche Sendungen drei Monate unbeanstandet liegen, dann konnte ich hingehen, sie umadressieren und sie weitere drei Monate an einem anderen Postamt lagern lassen. Denn die Sache zweimal am gleichen Postamt zu tun, war gefährlich. Die Postbeamten waren fanatische Anhänger H.s. Aus freien Stücken horchten sie Telefongespräche ab, durchsuchten Briefe und Pakete und schämten sich nicht, die Verräter und Henker der Menschen zu werden, die mit ihrer beruflichen Ehrenhaftigkeit gerechnet hatten und von denen sie lebten.

Meine Frau atmete auf, als die Papiere aus dem Hause waren. Sie bewog mich, meinen Paß erneuern zu lassen, der auf die ganze Familie lautete, und außerdem einen Spezialpaß für sie allein ausstellen zu lassen und etwas Geld aus meinen Ersparnissen in der Schweiz zu deponieren.

Dies alles war in den ersten Monaten nach der Machtübernahme H.s noch leicht möglich und erlaubt. Die furchtbare Knechtschaft, die er nachher Schritt für Schritt unter dem Schweigen, ja, unter dem Beifall der Massen verbreitete und die bald jedes Maß überstieg, das Despoten der Vorzeit zur Knebelung jeglicher Freiheit angewandt hatten, ahnte damals noch niemand.

In diese Zeit fiel ein anonymer Brief, der mich warnte. Nun habe ich anonyme Briefe niemals ernst genommen und hatte meine besonderen Gründe dafür. Meine Frau hatte kurz nach dem Tode meiner Mutter einen anonymen Brief erhalten, worin ihr geschrieben wurde, sie solle sich ja keine Hoffnungen auf mich machen, ich hätte meiner Mutter auf dem Sterbebett versprochen, keine Jüdin zu heiraten. Diese anonyme Nachricht hatte unglücklicherweise meine arme Frau dazu bewogen, mir durch Jahre eine kalte abweisende Miene zu zeigen, sich mit Gewalt von mir fernzuhalten, bis wir uns endlich doch am Totenbett ihres Vaters ausgesprochen haben. Ich kann mir nur eine Person denken, welche diesen Brief geschrieben haben kann, Angelika, die unsere Ehe verhindern wollte. Welches Interesse konnte sie aber jetzt daran haben, mich zu veranlassen, unverzüglich ins Ausland zu gehen? Ich dachte an Helmut, aber Helmut ging geradeaus und hätte einen anderen Weg gefunden. So ist er später zu uns gekommen, und ihm verdanke ich, daß ich lebe. Es war, wie ich später erfahren habe, niemand anderer als jener unfähige Arzt mit den Kriegsprüfungen, von dem mir vor Jahr und Tag der Geistliche von S. erzählt hatte, daß er händeringend am Bett einer Frau im Wochenlager gesessen habe, die er so unwissenschaftlich umgebracht hatte. Er war noch in der Gegend, in der kleinen Stadt T., ein fanatischer Anhänger H.s, ein Arzt, der nichts dazulernte, nicht umlernte, nicht an sich zweifelte und dessen Patienten mir zuströmten. Oft wies ich sie ab, sie ließen sich aber in ihrer Angst um Gesundheit und Leben nicht abhalten, und ich konnte es nicht verhindern, daß sie sich mir gern anvertrauten, ihm aber ungern. Er wollte mich forthaben. Er wußte, es lag gegen mich manches vor, aber nichts gegen das geschriebene Gesetz.

Im Chaos der entfesselten Leidenschaften gab es kein Gesetz mehr. Es gab keine Freiheit mehr, keine ordentliche gerichtliche Prozedur, die das Interesse des Staates und des Angeklagten in gleichem Maße vertrat, Objektivität, Gerechtigkeit, Freiheit waren nicht mehr.

Er hat es sogar sehr gut mit mir gemeint. Ich fühlte aber mein Gewissen rein, und die Gefahr muß mich gereizt haben wie damals, als ich als Kind in die Au-Kaserne eindrang ganz ohne Ziel und Zweck, im Drang, eine Gefahr zu bestehen und um mir von einem blöden Pferd die Rippen zertrümmern zu lassen, dem ich nichts Böses zutraute. War ich doch mit Brot in der Hand gekommen.

 

Eines Tages im Sommer 1913 kam mein Vater spät abends und sagte, er müsse unter vier Augen mit mir sprechen. Er liebte meine Frau nicht, schon deshalb, weil er, ein überzeugter Nationalsozialist, in ihr die Jüdin sah, aber er hatte Großvatergefühle für seinen Enkel und seine Enkelin. Meine Frau wollte bei der Unterredung dabei sein, und sie hatte ein Recht darauf. Aber ich wollte ihm nicht widersprechen, denn sonst wäre er gegangen. Das wollte ich nicht und bat sie, uns allein zu lassen. Er nahm mich also auf die Landstraße hinaus, wo mit abgeblendeten Lichtern noch mein kleiner Wagen stand, und wir gingen ein paarmal den Weg am See entlang, der von meinem Haus bis nach T. führt, hin und zurück, vermieden aber, den Weg nach S. zu nehmen, wo wir viel mehr Bekannte hatten als in T.

Er machte nicht viel Worte. Er sagte mir, er wisse aus bester Quelle, man werde demnächst bei mir eine Hausdurchsuchung vornehmen, man werfe mir die Ehe mit der Jüdin, meine Mitgliedschaft bei der Deutschen Friedensgesellschaft, meine liberalen Reden in der (längst aufgelösten) Demokratischen Partei vor. Aber ich sei in der Gegend als Arzt allgemein beliebt, ich hätte sogar in der Partei Fürsprecher. Seine Frau und selbst Angelika hätten alles mögliche für mich getan, und ich verdanke es ihnen und meinem Kameraden Helmut, daß man mich in Ruhe gelassen habe. Andere, denen weit weniger vorzuwerfen wäre, seien in Konzentrationslagern.

Nun gab es seit dem Antritt H.s als Reichskanzler, Führer der Partei und Diktator des ganzen Reiches in allen Gegenden des Landes Konzentrationslager in alten Fabriken, verlassenen Militärbaracken, auf leerstehenden verfallenen Burgen. (Auf einer solchen Burg hatten einst die zwei jungen Rathenaumörder durch Selbstmord geendet, und heute erklärte man sie zu Nationalheroen und pilgerte mit Kränzen zu ihrem Grab, einem nationalen Heiligtum.) Man führte die Lager als ›Staatsnotwendigkeit‹ ein unter der humanen Begründung, man wolle Menschen, die sich vor der ›Machtübernahme der Partei‹ mißliebig gemacht hätten, vor dem gerechten Zorn des Volkes schützen und ihnen das Leben retten. Es war die Sicherungshaft ohne Justizverfahren, ohne Staatsanwalt und Anklage, wie man sie als Staatsnotwehr im Kriege gekannt und damals gegen Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht angewandt hatte. Es bedurfte zur Einlieferung in ein solches Lager keines Gerichtsbeschlusses, es genügte die Polizei. Es gab keinen Verteidiger, weil es keine Anklage gab. Die Lager waren mit Stacheldraht umgeben, der hohe, sofort tödliche elektrische Ströme führte. Sie waren von Mauern umgeben, von Maschinengewehren geschützt, ein Wachtturm erlaubte eine ununterbrochene Überwachung des Lagers. Hinter den Stacheldrähten lebte eine große Anzahl Menschen, von ein paar Hundert bis zu Zehntausenden, hermetisch von der Umwelt abgeschnitten. Man erzählte sich flüsternd grauenhafte Berichte über die Behandlung der Gefangenen. Ich hatte sie bis dahin nicht glauben wollen. Ich fragte meinen Vater danach, der als guter Nationalsozialist ein solches Lager besucht und sogar zeitweise Hilfsdienste dort geleistet hatte.

Er antwortete mir nicht, faßte nur meinen Arm, und zwar so fest, daß er mir weh tat, und sagte mir endlich, darauf komme es nicht an. Ich solle nicht abwarten, bis meine Feinde meiner Freunde Herr geworden wären. Man lebe besser in der Schweiz als im Lager, das sei seine bescheidene Meinung. Auf alle Fälle steckte er mir ein Banknotenbündel von Schweizer Scheinen zu, die er noch aus den Zeiten des Weltkrieges gespart hatte. ›Nun, im Dritten Reich brauche ich das Geld nicht mehr‹, sagte er. ›Wie schade, daß du dieses Judenweib geheiratet hast! Verzeih das harte Wort, es trifft ihre Rasse, nicht sie persönlich, sie kann ja nichts dafür. Warum hast du deiner Mutter nicht gehorcht? In diesem einen Punkt hat die bigotte Bißgurne – sei mir nicht böse, wenn ich so spreche, aber sie hat mir mein ganzes Leben versauert und dir das deine auch –, in diesem Punkte hat sie dir doch gut geraten. Aber geschehen ist geschehen. Viktoria ist in ihrer Art eine Ausnahme. Sie hat nicht die Judenfarbe, sondern ist blond wie Gretchen. Vielleicht ist sie eine Bankertin und hat ein paar Tropfen anständiges Blut, und deine Kinder wären dann nicht Halbjuden, sondern nur Vierteljuden. Was ich tue, und ich tue und riskiere ungeheuer viel, tue ich aber nur deinetwegen. Du hast meine unscheinbare Art immer mißachtet, nun siehst du, ich und Heidi und Angelika sind dort, wo es richtig ist. Wir sind zünftig, und bei euch sieht es anders aus. Nun höre meinen Rat. Du fährst noch heute mit deinem Wagen in die Schweiz zur Erholung. Das ist erlaubt. Jeder hat seine Freiheit im Dritten Reich, das weißt du. Am besten, du kehrst vorerst gar nicht nach Hause zurück. Du fährst allein, deine Frau kommt dir nach. Ihr trefft euch in Basel oder sonst in der Schweiz, und ich schreibe dir poste restante, ohne Unterschrift, denn du kennst meine Schrift. Ich gebe dir Nachricht. Die Kinder laßt bei mir, Heidi wird sie betreuen. Es ist ja eigentlich doch auch mein Blut, und ich bürge dir für sie. Warte ab. In ein paar Monaten oder Jahren ist vielleicht mehr Ruhe eingekehrt im Lande, und wenn ihr euch still haltet, nicht mehr muckst und eurer Arbeit zünftig nachgeht, wird man euch anderen kein Haar krümmen. Du sollst übrigens Papiere über den Führer haben? Ich kann es nicht glauben. Du bist viel zu klug, um etwas Kompromittierendes bei dir zu behalten, und es wäre Wahnsinn, sie in die Schweiz mitzunehmen, denn das weißt du gut, unser Arm reicht weit.‹

Ich sah ein, er hatte mit seinem Plan nicht unrecht, dennoch wollte ich klüger sein als er. Wir kehrten aber noch einmal in mein Haus zurück. Er ließ mich aber nicht mehr allein. Ich rief den erwähnten Arzt in T. an, von dem ich wußte, er habe wenig zu tun und könne sofort meine Kranken übernehmen, unter denen sich kein schwerer Fall befand. Die Kassen hatte ich in letzter Zeit ohnehin an einen nationalen Arzt abgeben müssen. Er wußte von meinem Entschluß, bevor ich ihn ausgesprochen hatte, die Braunen hielten zusammen und hatten keine Geheimnisse voreinander. Er war von großer Freundlichkeit und wünschte mir Erholung, denn ich hatte von einem Erholungsurlaub gesprochen. Meine Frau stand neben dem Telefon, mein Vater auch, und sie hörte sich alles leichenblaß, aber gefaßt an. Sie sagte meinem Vater, dem diese Unterredung peinlich war, ins Gesicht, sie sei heute zu jedem Opfer bereit, wenn es mir und den Kindern nützen könnte, also auch zur Scheidung. Auf die Kinder könne sie aber nicht verzichten. Ich sagte ihr, ich würde mich von ihr niemals trennen, jetzt noch weniger als früher. Mein Vater wurde ungeduldig. Es wurde also besprochen, meine Frau sollte nur zwei oder drei Tage warten, und dies aus zwei Gründen. Sie hatte eine Mittelohrentzündung hinter sich, fieberte noch leicht und war heute noch nicht reisefertig, und zweitens mußte sie zuerst die Sicherheit haben, daß ich über die Grenze war.

Mir war unheimlich zumute. Etwas von dem Zermalmenden, das ich schon viele Jahre nicht mehr gefühlt hatte, war über mich gekommen, aber ich sah, wie ruhig sie war, wie sehr sie in diesen schwierigen Augenblicken meiner Mutter glich, die desto gefaßter gewesen war, je schwerer das Leben wurde. Ich fügte mich ihnen beiden, meinem Vater und meiner Frau, ich würde im Hotel zum Grauen Bären in Bern absteigen, sie solle mir dorthin Nachricht geben, und ich würde in allem Vorsorge treffen, daß wir dort eine Zeitlang ruhig leben könnten, bis Ordnung, Recht und Gesetz in Deutschland wiedergekommen wären. Ich nahm meinen Vater bis nach M. mit, setzte ihn dort ab, führ weiter bis in den Vorort G., kam aber gegen Morgen noch einmal in die Stadt zurück, ging zum Postamt, holte mir die Papiere und legte sie ganz ungezwungen in eine Falte des Verdecks. An der Grenze fielen sie nicht weiter auf, ich überschritt, erleichtert und froh aufatmend, die Grenze gegen Mittag und fuhr nach Basel. Am Nachmittag ging ich in die Eidgenössische Zentralbank, wo ich mein Geld deponiert hatte. Ich mietete ein Safe in meinem Namen und in dem meiner Frau und hinterlegte dort die Papiere. Dann fuhr ich friedlich nach Bern wo ich im ›Grauen Bären‹ abstieg. Alles war so schnell vor sich gegangen, daß ich kaum richtig zu mir kam. Hier war alles ruhig, und es schien mir, als habe ich mich übereilt, meine Angst sei übertrieben gewesen, und ich hätte ruhig als ein unschuldiger und makelloser Mensch meinem Beruf weiter nachgehen und in meiner Heimat bleiben können.

Ich erwartete mitten in dieser friedlichen Umgebung der freien Stadt und der freien Schweizer Bürger in steigender Angst Nachrichten von daheim und vor allem die Depesche, die mir die Ankunft meiner Frau melden sollte und die nicht kam. Ich hatte ein Zimmer mit Doppelbett genommen und einen Strauß schöner Blumen gekauft, aber ich hatte schon trübe Vorahnungen.

Ich war verzweifelt, bevor ich noch den Boden unter den Füßen verloren hatte, und damit habe ich mich selbst verraten. Ein Telegramm kam. Der Liftboy brachte es mir und hielt die Hand ausgestreckt um ein Trinkgeld. Ich überflog das Telegramm, und zermalmt las ich: ›deine frau steuerhinterziehung provisorisch in haft stop steuerbelege nirgends aufzufinden – stop kehre zurück, keinerlei gefahr. kinder gesund stop gruß heil h! vater.‹

Ich sackte auf meinem Stuhl zusammen, und der Boy brachte mir Wasser. Ich überlas nochmals die Unglücksbotschaft.

Ich merkte, daß etwas nicht stimmte. Mein Vater hätte meine Frau mit Namen genannt, und der Verdacht der Verhaftung wegen Steuerhinterziehung war so absurd, daß ich sofort auf die Idee kam, die Geheime Staatspolizei wolle mich über die Grenze locken, um die Papiere in die Hand zu bekommen. Aber sofort darauf klagte ich mich selbst an, fiel mir in den Rücken, daß ich nur einen Augenblick zögern konnte, meine geliebte Frau zu retten! Ich mußte zurück. Sofort. Blind. Ohne Überlegung. Ich durfte niemals, sagte ich mir, meine Frau und meine Kinder im Stich lassen.

Ich packte in Eile und stürzte so schnell aus dem Hotel, daß ich versäumte, das Zimmer zu kündigen, über den Wagen in der Garage eine Verfügung zu treffen und meine Abreise dem Portier zu melden.

Nun ist mir etwas wirklich Tragikomisches begegnet. Ich hatte ein offenes Taxi genommen und fuhr in schnellem Tempo zur Bahn. Als ich in die Bahnhofsgegend kam, sah ich ein anderes offenes Taxi entgegenkommen, ebenfalls in schnellem Tempo, und in diesem saß – meine Frau. Ich schrie auf und winkte, gerade als die beiden Wagen aneinander vorbeifuhren. Aber die Frau blickte nicht auf, wandte sich nicht um. Sie konnte doch meine Stimme im Augenblick nicht überhört haben? Die Erklärung war viel einfacher, und ich hätte sofort daraufkommen können: Erstens war das Gehör meiner Frau durch die Mittelohrentzündung geschwächt, zweitens hatte sie Watte im Ohr, drittens war sie nicht darauf gefaßt, meine Stimme im Straßenlärm zu vernehmen. Das, was die einfachste Überlegung war, was die klare logische Vernunft mir hätte eingeben müssen, war, den Wagen umkehren zu lassen, unverzüglich ins Hotel zurückzukehren und mich dort zu überzeugen, ob es wirklich meine Frau war, die ich gesehen hatte. Aber ich wollte es nicht glauben. Ich konnte die Kraft zu dem glücklichen Glauben nicht aufbringen. Ich war glaubenslos geworden, und in diesem wichtigsten Augenblick rächte es sich an mir. Meine Mutter hatte recht gehabt.

Ich setzte meine Fahrt fort, ließ den skeptischen Psychiater in mir sprechen, der bei sich selbst die Diagnose stellte, es sei eine Halluzination, ein Wachtraum, ein Wunschtraum gewesen, der mir meine Frau hier vorgespiegelt hatte, während sie in einem der Gefängnisse der Geheimen Staatspolizei war. Der nächste Zug nach Deutschland ging in zwölf Minuten. Ich löste das Billett, aber vorher rief ich nun doch, ohne an ein gutes Geschick zu glauben, das Hotel an. Ich fragte: »Ist keine Dame gekommen, die mich sprechen wollte?« – »Nein, Herr Doktor, niemand ist gekommen.« Nun hat es, wie ich später erfahren habe, der unglückliche Zufall oder das Schicksal gefügt, daß meine Frau den gleichen Gedanken gehabt hatte wie ich, nämlich – Blumen zu kaufen. Dies hatte sie ein paar Minuten aufgehalten. Und so trat sie im gleichen Augenblick über die Schwelle des Hotels, in welchem ich den Expreßzug bestieg, der mich nach Deutschland zurückbrachte.

In M. nahm ich einen Wagen und fuhr nach Hause. Mein Haus war verlassen, die Siegel angelegt. Das erste war, meinen Vater aufzusuchen. »Was tust du denn hier?« rief er mir erblassend zu, und selbst Angelika zitterte vor Schrecken. »Warum sind Sie nicht in Bern geblieben?« flüsterte sie. »Wo ist meine Frau?« fragte ich. »Sie ist längst fort«, antwortete Heidi. Ich hätte gern noch meine Kinder gesehen und wartete auf sie, als ein paar SS-Männer in ihren schwarzen Uniformen ins Zimmer traten, die zwei Frauen höflich grüßten, auf mich zukamen, mich in ihre Mitte nahmen und mich bei meinem Namen ansprachen. Ich ging und begegnete den Kindern, denen man nicht mehr erlaubte, mir einen Kuß zu geben. Die SS nahm mich in einem riesigen neuen Mercedeswagen nach München mit. Die Fahrt, die ich vorhin im Verlauf einer Fünfviertelstunde in einem klapprigen Taxi zurückgelegt hatte, machten wir jetzt in etwas über dreißig Minuten.

Sie gaben mir auf meine Fragen keine Antwort. In M. lieferten sie mich im Polizeipräsidium ein, und ich bekam eine Einzelzelle, nachdem man mir meine Papiere, Geld, Uhr, Paß, Schlüssel, auch den neuen zum Safe, Schnürsenkel und Hosenträger weggenommen und mich von oben bis unten visitiert hatte bis zu der Brandsohle in meinen Halbschuhen, als hätte ich hier etwas Wichtiges verstecken können. Ich verbrachte eine Nacht, die ich nicht zu schildern vermag.

Ich werde auch die nun kommende Zeit nur in ganz kurzen Zügen berichten können. Es gibt Erlebnisse, die so fürchterlich sind, daß man unter Anspannung seiner ganzen Energie vielleicht die Kraft aufbringen kann, sie zu erleben, wenn man eben muß. Die Kraft aber, sie in ihrer ganzen Grauenhaftigkeit nochmals im Geiste darzustellen, wozu einen niemand zwingen kann, sie fehlt mir. Wenigstens heute bin ich dazu nicht im stande.

In den nächsten Tagen begann die Marter mit geistigen Peinigungen. Man verhörte mich, ununterbrochen, stundenlang, fast tagelang. Die Ankläger lösten sich ab. Wenn sie nicht mehr weiterkonnten, traten andere an ihre Stelle, nur ich durfte mich nicht rühren. Ich sagte die Wahrheit. Ich gab alles zu, ich verteidigte mich nur mit wahrheitsgetreuen Angaben. Aber ihnen schien es auf etwas anderes anzukommen. Sie glaubten, ich würde zusammenbrechen, aber ich blieb Herr meiner selbst.

Ich erzählte, was im Reservelazarett P. im Jahre 1918 vorgefallen war. Ich gab zu, daß ich stenografische Aufzeichnungen über die Tatsachen gemacht habe. Die offiziellen Akten hatte ich aber nicht mitgenommen. Wenn sie fehlten, mußte sie jemand anders beiseite geschafft haben, vielleicht jemand im Kriegsministerium oder ein Offizier der Reichswehr, der sich für H. als Agitator interessiert hatte. Man hörte mir zu, schrieb, fragte von neuem. Alle paar Stunden ließ man mich austreten. Der Drang, meine Bedürfnisse zu verrichten, war so stark, daß sie mir nachgeben mußten. Wäre es auf sie angekommen, hätten sie mir nicht einmal diese drei Minuten Ruhezeit auf dem Abtritt gegönnt. Diese entsetzliche Qual wiederholte sich dreizehn Tage hindurch. Ich aß nichts mehr und magerte zum Skelett ab. Ich schlief nicht. Ich hörte auf zu denken, ich wurde ein Tier und mußte doch den Menschen spielen. Dann brachen sie eines Tages unvermittelt das Verhör ab, transportierten mich mit anderen ins Konzentrationslager von D. und brachten mich in einer der Holzbaracken unter.

Ich hatte beschlossen, der Versuchung zum Selbstmord zu entgehen. Ich wußte jetzt, und das war ein Grund für mich zu leben, daß meine Frau gerettet war. Sie war in Sicherheit. Ich mußte daher alles aufbieten, um mich nicht noch ein zweites Mal zu verraten und mich auf irgendeine Manier ohne viel Qual aus dem Weg zu räumen. Vielleicht hätten sie nichts dagegen gehabt. Ich weiß es von anderen. Sie hatten mir die Hosenträger wiedergegeben, ich hatte dünne, aber zähe Schnürsenkel in den Schuhen, ich hatte Taschentücher. Ein Mensch mit großer Willenskraft kann sich erwürgen, er kann sich erhängen, auch ohne Schemel und Fensterklinke. Er braucht dazu kein Licht. Er muß nur den festen Willen dazu haben, muß ein Spartaner sein.

Ich beschreibe dieses Lager nicht, es war wie alle anderen. Ich werde die Geschichte keines meiner Unglücksgefährten auch nur mit einem Wort streifen, sie ist wie die meine. Ich würde sonst kein Ende finden. Einer hat mir gleich nach der Ankunft gesagt: »Mach dich gefaßt, Mensch!« Es schien, daß ich ihn von früher kannte, wir waren ja alle Menschen, vielleicht von der Deutschen Friedensgesellschaft her, ich kann es nicht sagen. Ich hatte das Vermögen verloren, an etwas anderes zu denken als: ›Laß dich jetzt durch nichts zum Selbstmord bewegen! Halte aus! Vielleicht siehst du deine Frau und deine Kinder wieder! Sie leben, du wirst sie wieder sehen. Laß dir unter keinen Umständen dein Geheimnis abpressen! Gib die Akten nicht preis! Gib das Geheimnis nicht preis! Halte aus! Laß dich also zum Selbstmord durch nichts bewegen ...‹ Dieser ganz enge Gedankengang lief seine kreisförmige Bahn, und ich dachte tatsächlich bald an nichts anderes mehr. Ich sah und hörte so gut wie nichts. Ich hockte auf der Pritsche und beschwor mich selbst.

Ich glaube, ich hatte dadurch instinktiv das einzige Mittel, um alles lebend auszuhalten, gefunden, ich hatte meinen geistigen Horizont eingeschränkt, ich hatte mir suggeriert, was ich zu denken hatte, und ich hatte die Übermacht des Arztes, wenn ich so sagen darf, in meinem eigenen Fall wirken lassen. Ich stand als Augenzeuge neben dem Häftling. Ich befahl mir und gehorchte mir. Mir stand Schreckliches bevor. Ich mußte mit mir im Reinen sein. Ich durfte mir nicht widersprechen, denn jeder Widerspruch brachte mich zur Verzweiflung, und die Verzweiflung war nur ein anderes Wort für Tod.

Die Nacht kam langsam heran. Als es neun Uhr geworden war, wurde es in den Zellen der Holzbaracken, wo ich und so viele andere jetzt lebten, immer lebendiger statt ruhiger. ›Mach dich gefaßt, Mensch!‹ sagte ich nun selbst zu mir. Ich höre die Schlösser klirren und den knarrenden Schall von groben Stiefeln auf den sandbestreuten Wegen. Sie waren an meiner Zelle vorbeigegangen. Mir war zumute wie als Kind, als der Judenkaiser lange die Einstichstelle gesucht und mich gekitzelt hatte, so daß ich vor Angst hätte heulen und vor Kitzel hätte lachen mögen. Aber jetzt war zum Lachen keine Zeit. Die Wände waren dünner, als ich gedacht hatte, man hörte alles, als geschähe es hier. Es war nicht einer, der schlug, es waren ihrer mehrere. Nachher erfuhr ich, es waren ihrer meist drei. Sie taten es im Takt, im Sprechchor. Ich hörte. Wenn ich die Finger in die Ohren steckte, hörte ich es noch deutlicher. Es schwoll an, und kein Ende des Jammerns. Ich dachte nur an eins, sie sollten aufhören, sie sollten aufhören nebenan. Es war besser, sie kamen zu uns, zu mir! Wenn sie mich umbrachten, war es mein Schicksal. Mit Willen wollte ich mich nicht ergeben. Ich wollte aushalten. Aber an mir, an meiner Haut wollte ich das Schauerliche herunterleben, nicht an meinem Ohr und an dem tobenden Schlag meines Herzens. Aber was vermochte ich mit aller meiner Spartanerkraft gegen das würgende Ekelgefühl, das unwillkürliche Zittern, gegen die Darmkrämpfe, gegen die Harnflut, die ich nicht zu beherrschen vermochte. Während ich in einer Ecke meine Notdurft verrichtete, steigerte sich das Jammerschreien nebenan zu einem fessellosen tierischen Geheul. Es war schauerlicher als das Heulen des Tigers. Es war schauerlicher als die Schmerzensschreie der Menschen, die in den Stacheldrähten der Westfront an ihren oft leichten Wunden einen furchtbar langen und schmerzzerrissenen Tod starben, weil ihnen niemals jemand unter dem Kugelregen nahezukommen vermochte. ›Hören sie denn gar nicht mehr auf?‹ Dieser Gedanke war jetzt der einzige. Selbst jener andere, den ich mir vorher so gut eingehämmert hatte, verschwand daneben.

Jetzt hörten sie auf. Vielleicht konnte das Opfer nicht weiter. Es stöhnte nur und rollte dumpfe Töne. Es war aber noch unmenschlicher anzuhören als der spitz durchbohrende Aufschrei von vorhin. Noch ein Schlag zischte durch die Luft. Aber jetzt hatte das Opfer nebenan keine Kraft mehr zum Schrei und keine zum Stöhnen, es war still, die Schläger fluchten und husteten, vielleicht war es mit ihm zu Ende. Jetzt traten sie ein, ein Mann mit einer Laterne ging ihnen voran. Sie hatten jeder einen Ochsenziemer in der Hand, das dicke Ende in der Faust, das dünne mit den letzten Wirbeln schwirrte probeweise durch die Luft. Aus der Nebenzelle hörte man, wie sich der Mann wieder regte, er röchelte, und die hölzerne Bettstelle knarrte unter ihm, er wälzte sich hin und her. Jetzt kam die Reihe an mich. Ich dachte zuerst, sie würden mich ausfragen, sie würden versuchen, durch Angst etwas aus mir herauszupressen. Ich war froh, wenn man in einer solchen Lage von froh sprechen konnte, daß sie es nicht taten.

Ich kann nicht sagen, daß sie entmenschte Gesichter hatten. Sie waren abgearbeitet, sie schwitzten, aber es war, wie wenn sie Holz gehackt hätten. Tatsächlich war es ihre Arbeit. Sie selbst unterlagen einer harten Disziplin. Hätten sie sich geweigert, man hätte an ihnen getan, was sie an anderen zu tun hatten. ›Leg dich hin, los!‹ sagte der mit der Laterne zu mir. Er hatte das Licht auf den groben Wandtisch gestellt und betrachtete mich mit einer Art wüster Neugierde. Ich wollte mich hinlegen, aber etwas sträubte sich in mir dagegen. Ich wäre lieber stehend geprügelt worden. Es war fürchterlich, wie schwer es mir wurde, mich selbst zu bezwingen, mich auf ein Lager zu betten, auf ein Lager, oft der Trost des Kranken. Die Lage des Schlafes, des Todes, der Freude, der Geburt. Wie schwer bezwang ich mich, diese Menschen in ihrem Dienst nicht um Gnade anzuflehen, die sie mir gar nicht erweisen konnten. Jetzt hatte ich begriffen, welch ungeheure Macht die Angst vor körperlicher Qual auf einen Menschen auszuüben vermag. Abhärtung, stoische Todesverachtung gelten nicht. Den Tod kann man verachten. Die Torturen nicht. »Er ist ein ganz Weiser«, sagte einer der Henkersknechte spottend, während er in meinen Akten blätterte und sie ganz nahe ans Licht der Laterne hielt, »es ist ein Doktor aus Zion, ein Weiser aus Zion.« – »Komm, mach schnell, wir haben zu tun, es warten noch viele auf uns, bevor wir schlafen gehen!«

Ich lag und krampfte mich mit den Händen fest. Ich wollte den Atem anhalten. Ich nahm es mir wenigstens vor. Ich hatte eine besonders wunde Stelle, nämlich dort, wo die drei Rippen gebrochen waren. Ich legte mich so, daß sie diese Stelle nicht sofort treffen konnten. Ich hielt den Atem an. Aber bei dem ersten entmenschten Schlag schrie ich tierisch auf, ich konnte nichts halten, den Atem nicht, nichts. Ich wollte die Rippenstelle schonen. Als aber der ganze übrige Teil des Rückens durchpeitscht war und wie Feuer, wie Hölle, wie sägende, weißglühende Schneide brannte, wälzte ich mich doch so, daß ihren Peitschenenden diese Stelle, die ihnen bisher entgangen war, gegenüberlag, und sie hieben alle drei zu, im Takt, wie Drescher auf der Tenne dreschen, mit aller Kraft, keuchend, und sie waren es, die schrien, die im Takt einstimmig im Sprechchor brüllten: »Hoch die Weisen von Zion.« Bei ›Ziii – ‹ schlugen sie, das heißt, der eine von rechts, der andere von links, der dritte brachte seine Hiebe an, wo er konnte. Mir rann der Schweiß vom Gesicht, Tränen aus den Augen, Blut von den Lippen. Die Haut meines Körpers aber blutete nicht. Sie hieben so geschickt, daß die Haut nirgends platzte. Als sie müde wurden, hieben sie etwas schwächer, aber sie hatten die Ziemer umgedreht, so daß sie mit dem knorpligen Teil zuschlugen und den dünnen in der Hand behielten. Sie schlugen nicht mehr nur den Oberkörper, sondern auch die Beine, peitschten über die Fußsohlen hin. Es mußten 50 bis 60 Schläge sein. Ich zählte sie nicht. Der vierte Mann, der mit der Laterne, den Protokollen, der Dichter des Sprechchors der Weisen, er zählte sie.

Ich wußte aus Büchern, mehr als hundert solcher Hiebe erträgt ein Mensch in reiferem Alter nicht. Aber bevor er an diesen Schlägen stirbt, wird er ohnmächtig. Ich wurde es nicht. So mußten sie wohl den Befehl bekommen haben, mich so schwer zu prügeln wie nur möglich, aber mein Leben zu schonen.

Ich dachte, wenn ich überhaupt an etwas denken konnte, an die Papiere. Ich preßte die Zähne mit solcher Wut zusammen, daß sie knirschten, und dachte, ich würde, wenn sie mich nicht erschlagen würden, vielleicht doch später Herr über ihn. Ihm, dem alles gelang, würde wenigstens das eine nicht gelingen, mich meiner Aufzeichnungen zu berauben.

Nun brannte aber der Schmerz noch heftiger, und ich merkte, ich erbrach mich, und es wurde mir nun doch sehr schwach, und es wurde mir plötzlich schwarz vor den Augen.

Aber es war nicht der Tod, die Knechte waren hinausgegangen und hatten uns im Dunkel gelassen. Ich hatte das Gehen der Tür nicht gehört.

Hätte ich wenigstens jetzt Ruhe gehabt! ›Hören sie denn gar nicht mehr auf?‹ Denn die Pein ging weiter, es brannte meine Haut, es zitterte alles an mir, ich lag in der Nässe, zermalmt, ich hielt mir die Ohren zu und hörte doch das Zischen der Ochsenziemer, das Klatschen auf der Haut, die Hilferufe des Opfers, das Knarren auf der Pritsche, auf der es sich hin und her warf, die höhnenden Rufe ›Siegreiche Weltrevolutiiion!‹, wobei immer auf das › – iiion‹ ein Peitschenschlag kam. So machten sie sich etwas Abwechslung in ihrem Dienst. Sie hörten gar nicht mehr auf. Ich bin eingeschlafen unter ihren Sprechchören, ihrem Peitschen, unserem Jammern und Stöhnen. Ich habe geschlafen. Tief. Das sollte eine große Seltenheit sein, sagten mir Unglückskameraden. Sie wußten vielleicht nicht, daß ich im Polizeipräsidium 13 schlaflose Nächte hinter mich gebracht hatte.

Ich sah am nächsten Morgen, als ich von der Baracke auf den zerpeitschten Beinen hin und her humpelte und bemüht war, möglichst leicht zu atmen, weil ich in der Nacht etwas Blut gespuckt hatte, zwei von den Knechten von gestern. Es waren Menschen, wie man sie täglich sieht, wie ich deren eine große Zahl als Arzt in S. behandelt hatte. Ich hatte sie nie in ihrem Wesen, ihrer Natur gekannt, mir war das Fürchterliche in ihnen verborgen geblieben. Wäre ihr Führer, ihr Idol, ihr Abgott, der süßlich brutale Götze, eines Tages nicht erschienen, sie wären kleine Beamte, Dreher in einer Fabrik, Fischer, Forstbeamte, Torfstecher, Unteroffiziere geblieben. Ein leibhaftiger Satan hatte sie verwandelt, und vielleicht begriffen sie sich selbst nicht mehr, wenn sie nach all dem zu Frau und Kind und zum Bier zurückkehrten. Bestialisch darf man sie ebensowenig nennen wie einen Geisteskranken. Man würde den Tieren Unrecht tun. Vielleicht auch den Henkersknechten. Sie hatten wahrscheinlich nicht einmal das Gefühl des Schändlichen. Sie hatten nur kein Gewissen, keine Vernunft mehr bei ihrem Tun. Man hatte eben nur das Unterste aus ihnen herausgeholt. Man schlug mich noch oft, aber das Zermalmende der ersten Nacht kam nicht wieder. Es kamen auch neue Verhöre. Man wollte nicht meinen Tod. Man erinnerte sich, daß ich im Weltkrieg, ohne dazu gezwungen zu sein, als Frontkämpfer gedient hatte. Sie fragten immer wieder nach den Protokollen, aber sie spotteten nicht mehr, und wenn sie mich schlugen, taten sie es mit eins, zwei, drei, schlicht und sachlich. Das war eine Auszeichnung. Von Zion schwiegen sie.

 

Ich fühlte mich sehr elend, aber mein Widerstand war nicht gebrochen. In meiner Mißhandlung trat eine Pause ein, man brachte mich in eine Krankenbaracke, obgleich andere, denen es noch jämmerlicher erging, in den großen Baracken blieben und alles ertragen mußten. Ein paar Tage später bekam das Lager einen Besuch, es war Helmut, der einen hohen Rang in der SS bekleidete und der eine Mission ausländischer Journalisten durch das Lager führte. Man hatte uns neue Wäsche gegeben, das Essen war reichlicher geworden, wir sollten nicht wie Tote auf Urlaub aussehen, sondern vielmehr dem neuen Deutschland, dem Dritten Reich mit seinen Erziehungsmethoden, seiner Menschlichkeit Ehre machen. Helmut zeigte den Fremden alles, die elektrische Zentrale, das Krematorium, in welchem man die Leichen verbrannte, um dann die Asche in verlöteten Zinkurnen den Angehörigen zu senden mit einer Rechnung über 35 Mark Kosten, er zeigte ihnen die Küchen in ihrer mustergültigen Sauberkeit, er zeigte ihnen ein paar elende Feiglinge von Häftlingen, die erklärten, die Behandlung sei nicht gar zu schlecht, und sie wünschten nur, man solle sie bald entlassen, da sie sich gebessert und den Führer aus ganzem Herzen lieben gelernt hätten. Helmut kam mit seinem Stab auch zu uns in die Krankenbaracke. Er erblickte mich sofort, als habe er gewußt, wo ich liege. Aber in seinem Gesicht regte sich keine Fiber, er machte nur eine vage kreisförmige Handbewegung, wie um den Journalisten zu sagen: ›Seht euch nur um, wir haben nichts zu verbergen. Wir machen die elenden Marxisten, Demokraten, Juden und Katholiken zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft‹ Er hütete sich wohl, ihnen die Lagerordnung oder die Ochsenziemer oder die winzigen Bunkerzellen zu zeigen, in welche man unsereinen stehend einsperrte, halbe, ganze Tage, halbe Wochen lang. Einen Menschen ohne Licht zu lassen, in tödlicher Einsamkeit, in erstickender Hitze, nicht fähig, sich das Leben zu nehmen – und immer stehen zu müssen, bis die Knie sich wundreiben an den Betonmauern, ist das nicht das beste Mittel, ihn zu einem guten Deutschen zu machen? Aber ich gewöhnte mir dank meiner Willensstärke die Empörung ab, da diese mir das Leben noch mehr verbittert hätte. Ich trug spartanisch, was mir niemand abnahm. Man wird stumpf. Durch diese Stumpfheit schont man den Rest Hoffnung, und er schützt einen davor, sich selber zu zerfleischen – zum Beispiel durch Reue.

Ich dachte, ich müsse nun bald zurück in die große Baracke, auf die Pritsche, unter die Ochsenziemer, zu Gewaltmärschen von 15 bis 17 Stunden. Aber es schien sich etwas geändert zu haben. Entgegen meiner Erwartung beließ man mich weiter in der Baracke und verprügelte mich nicht mehr, erpreßte nicht mehr Geständnisse durch Torturen, und von den Papieren wurde nicht mehr gesprochen. Eines Nachts kam ein SS-Mann, der aus meiner Gegend stammte, nahm mich beiseite und sagte mir, ich hätte seinem Kinde, einem Knaben von zwei Jahren, einmal das Leben gerettet (ich erinnerte mich aber seines Jungen nicht mehr), und er wolle mir zum Dank eine wichtige Mitteilung machen. Einmal in jedem Monat würde der große Dynamo im Zentralgebäude revidiert und geölt. Auf fünf Minuten erlösche dann das Licht, und die Stacheldrähte verlören den elektrischen Strom.

Nun konnte das eine Finte des Lagerkommandos sein, das mich auf einfache Weise forthaben wollte.

Man gab vielen Häftlingen in aller Seelenruhe den Rat, durch Selbstmord zu enden, und stellte ihnen sogar Stricke zur Verfügung. Ich hätte dann den Vorzug gehabt, durch elektrischen Strom, binnen einer Sekunde also und ohne Entschluß zum Selbstmord, ohne langes Leiden zu sterben, durch unglücklichen Zufall. Andererseits war es aber auch durchaus möglich, daß sich meine Angehörigen, Heidi und Angelika und mein Vater, um meine Freilassung bemüht und daß sie viel Geld gezahlt hatten, denn Geld hatte immer Kurs bei der Partei, besonders wenn es große Summen waren. Im Grunde konnte ich es doch nicht glauben. So schwankte ich bis zum Abend. Dann aber begann der übliche Prügeldienst, die Schmerzenschreie erschollen von den Baracken her, und ich sagte mir, ich tue besser daran, es zu wagen. Allen Maßnahmen zum Trotz war es schon mehr als einem Häftling gelungen zu entkommen. Die Krankenbaracke war weniger scharf bewacht als die anderen, wer dort lag, war meist so nahe am Rande des Grabes, daß er aus eigner Kraft das Bett nicht verlassen konnte. Ich war weitaus der Gesündeste und Stärkste unter allen, und das machte meinen Entschluß leicht. Ich wußte, man konnte mich nicht mehr lange hier halten. Die Wache machte um acht Uhr die Runde. Gegen zehn Uhr stand ich auf, zog meine Kleider an, machte mich auf den Weg und schlich zu dem Stacheldrahtgürtel. Die Sache war einfach. Wenn das Licht im Kommandantenhaus und im Wartturm erlosch, war die Möglichkeit da, daß die Stacheldrähte nicht mehr geladen waren. Ich lag, mit dem Bauch an das von Rauhreif bedeckte Gras angepreßt, stundenlang da, und das Geschrei der armen gemarterten Kreaturen verstummte nicht in dieser Winternacht. Als die Uhr im Kommandantenhaus elf Uhr schlug, erlosch das Licht. Es kann sogar sein, daß es etwas früher erloschen ist. Ich war trotz der Kälte und Aufregung etwas eingeschlummert und hatte vielleicht die einzige Minute verpaßt. Aber ich wollte heraus. Ich warf mich mit aller Gewalt mit dem Rücken in den Stacheldraht, um die Drähte auseinanderzubekommen. Sie zerfetzten mir den Nacken, die Ohren und die Hände, aber sie hatten unter der Wucht meines Körpers etwas nachgegeben, und man konnte hindurchschlüpfen. Geladen waren sie nicht. Sonst wäre ich tot gewesen, verbrannt im elektrischen Schlag. Es war stockdunkel, ich mußte mich durchfühlen, ich mußte mit dem Kopf durch die Drähte hindurch und hielt die Hände vor die Augen. Auf Schmerzen durfte ich nicht achten. Ich war jetzt ganz klar. Ich war Augenzeuge meiner selbst. Ich sah mich an einer ähnlichen kalten, klaren Vorfrühlingsnacht die Stacheldrahtverhaue an der Westfront durchdringen und spürte, wie die ineinandergewundenen, mit spitzen Zacken gespickten Drähte sich an mich klammerten, wie sie an mir zerrten und mich halten wollten.

Ich war schon mit dem Kopf draußen, da kam es mir unmöglich vor, weiterzukommen. In jedem Augenblick konnte das Licht, der Strom wieder eingeschaltet sein. Mit einer letzten Anstrengung riß ich mich durch. Ich zerrte, mich mit den Händen an den Boden klammernd, die Schulter und den Körper nach. Jetzt war ich jenseits der Drähte, blutend an den Händen, blutend an der Stirn und vom Nacken her, von den Ohren, von den Knöcheln.

 

Ich mußte warten, bis die stärkste Blutung vorbei war. Dann aber merkte ich, ich war so geschwächt, daß mir die Augen zufielen. Ich lag wieder da, den Bauch an das Gras angepreßt, da flammte das Licht auf. Fetzen von meinem Anzug hingen noch in den Drähten. Es wehte kühl, die Sterne schimmerten klar, es schienen mir andere Sterne zu sein, ich glaubte, andere Luft zu atmen als drinnen im Lager. Ich raffte mich auf, tat die ersten Schritte mit Mühe, nach und nach kam mir wieder etwas Kraft, und ich ging, mich vorsichtig im Schatten haltend.

Eine Runde kam vorbei. Ich verbarg mich hinter einem Baum. Der Posten sah mich nicht und ging, abwechselnd pfeifend und an seiner Zigarette ziehend, weiter. Mich wunderte es, daß er mich nicht sah. Ein einigermaßen geübter Blick hätte auch in der mondlosen Nacht einen Mann erkennen müssen. Nun stand mir noch das Schwerste bevor. Eine dichte Wand aus Holzpfählen führte rings um das Lager. Ich war früher ein guter Turner gewesen, als gesunder Mensch wäre es mir nicht unmöglich erschienen, ein solches Hindernis zu überwinden. Jetzt war ich viel zu schwach, mein Herz tobte, von meinen Lippen kam Blut, und die schlecht zusammengewachsenen Rippen schmerzten mit jedem Atemzuge. Nun war meine Lage aber viel schlechter als vorhin. Ich konnte nicht mehr in die Krankenbaracke zurück, da der Stacheldraht wieder geladen war. Ich ging die Wand entlang, völlig ruhig – und völlig verzweifelt zugleich.

Ich machte die Runde, einen Kilometer nach links, einen Kilometer nach rechts. Plötzlich sah ich eine kleine Tür. Es gab solche Einlaßpforten für die Wachmannschaft. Was nützte sie mir, wenn sie verschlossen war? Aber ich entsann mich meines Unglaubens in Bern. Ich trat näher, rüttelte an ihr: dann kam das große Wunder – zum erstenmal in meinem Leben, als ich am wenigsten darauf gefaßt war, zeigte es sich –, die Tür gab nach, ich war aus dem Lager. War ich gerettet? Noch lange nicht.

Ich wußte, wo das Lager war. Es befand sich keine fünf Stunden von S. Freilich mußte ich vermeiden, die großen Straßen zu begehen. Ich tat sogar besser daran, nur während der Nacht zu gehen und am Tage mich zu verstecken. Selbst dann war die Gefahr groß, daß sie mich fingen und entweder sofort mit dem Gewehrkolben totschlugen oder mich im Lager zu Tode marterten, um den anderen Häftlingen ein abschreckendes Beispiel zu geben.

Ich machte also den Weg bis in meine Gegend nicht in jener einen Nacht. Ich begann schon vom Vormittag des zweiten Tages an so großen Hunger zu empfinden, daß ich Birkenrinde kaute, vertrocknete Gräser und Farnkräuter. Hier und da lag etwas Schnee. Damit stillt man aber nur den Durst. Dennoch nahmen meine Kräfte nicht so rasch ab, wie ich gefürchtet hatte. Endlich sah ich im Morgengrauen das Moor vor mir. Ich kam vom Walde her, wo sich das kleine Elektrizitätswerk befand und wo jetzt noch Licht leuchtete. Der Motor schnurrte. Es roch nach Moos, nach Benzin und Öl. Sollte ich eintreten, den Maschinisten um ein Stück Brot, um eine Decke bitten? Ich hörte ihn in dem Steinschuppen hin und her gehen, und der Duft frisch gebrühten Kaffees bereitete mir große Qualen. Ich beherrschte mich aber und ging weiter. Zu den ersten und begeistertsten Anhängern H.s hatten die armen Torfstecher gehört, deren mit Teerpappe gedeckte Baracken ich als Junge bei meiner Wanderung im Moor gesehen hatte. Sie kannten mich als Arzt. Ich hatte einer alten Frau dort geholfen. Ich machte mich auf den Weg zu ihnen. Sie nahmen mich auf, als ich pochte, sie mußten ahnen, woher ich kam, da aller Wahrscheinlichkeit nach die ganze Gegend wußte, wohin man mich gebracht hatte. Sie taten aber anfangs, als wäre ich zu einem Krankenbesuch gekommen, und sprachen ganz unbefangen mit mir.

Ich habe etwas später vieles verstanden, was mit meiner im Grunde gar nicht so wunderbaren Rettung aus dem Konzentrationslager zusammenhing. Die Torfstecher waren aber nicht im Spiel. Sie hatten den Arzt nicht vergessen, sie nahmen die Gefahr auf sich, selbst auf unabsehbare Zeit ins Lager zu kommen, als sie mich im Ehebett, das noch warm war, schlafen ließen, als sie mich ernährten, mich in ein landesübliches Gewand steckten und mich am nächsten Abend nach S. begleiteten. Ich hatte den Plan gefaßt, mich meinem Vater und Angelika zu zeigen und sie um weitere Hilfe zu bitten. Das Haus meines Vaters war aber dunkel und verlassen. Ich habe meine Kinder nicht gesehen.

Die Torfstecher warteten draußen, sie waren nicht sehr erstaunt über mein Mißgeschick, sie nahmen mich wieder mit sich, wir gingen auf den kleinen Wegen durch das noch kahle Moor, an den zugefrorenen Osterseen wieder vorbei, wir setzten uns an das Torffeuer in der Hütte, tranken Kaffee, aßen Brot und berieten alles in Ruhe. Nachts brachen wir auf, und sie geleiteten mich auf kleinen Pfaden über das Gebirge an die österreichische Grenze. Sie konnten und wollten ihr Leben riskieren, ihre Freiheit. Ich hatte ihnen alles gesagt. Sie halfen mir, bemitleideten mich aber nicht. Geld konnten sie mir so gut wie gar keines geben. Alles, was ich bekam, war eine Silbermark. Es war rührend, daß sie sagten (es waren Vater und Sohn), zu danken hätten sie, sie seien mir das Geld ›übers Jahr› schuldig geblieben bei meiner Hilfeleistung ›für die Alte‹.

In dem winzigen österreichischen Weiler jenseits der Reichsgrenze war kein Postamt. Ich mußte weiter ins Land, immer in Angst, einem österreichischen Gendarmen zu begegnen, der mich nach meinen Papieren fragen konnte. Endlich kam ich in ein größeres Dorf. Ich ging auf die Post, gab ein Telegramm an meine Frau in Bern auf, bezahlte es mit der Silbermark. Ich gab ihr an, wo ich war. Ich war sehr ungeschickt im Schreiben, ich stotterte, die vielen Martern hatten mir die Stimme verschlagen, und der Blutverlust, die lange Wanderung, der Hunger hatten mich hergenommen. Ich brauchte lange Zeit, um zu begreifen, daß ich nicht mehr im Lager war. Zwei Tage später kam meine Frau und löste mich aus dem Dorfwirtshaus aus, wo man mich auf Treu und Glauben, ohne einen Pfennig Geld, mit zerfetzten Kleidern aufgenommen hatte. Man ahnte wohl, daß ich geflohen war, man sah die Schrammen und Narben an meinem Gesicht und den Händen. Man lieh mir Kleider, einen Mantel, ein grobes, aber sauberes Hemd. Es waren gute Leute. Aber was mir unbegreiflich war, auch hier liebte man H. Man sehnte sein Kommen herbei, man wollte unter seiner Herrschaft leben. Sie sahen mich und mußten mein Schicksal sehen. Und dennoch sahen sie es nicht in ihrem fanatischen Glauben an H. Es ließ mich fast verzweifeln, als ich erfahren mußte, wie unbelehrbar die Menschen waren. Aber auch ich war immer noch nicht am Ende, ich hatte auch meiner Frau zuviel zugetraut – oder ich hatte in ihr etwas gesehen, das sie nie gewesen ist, und es erwartete mich noch eine bittere Nachricht.

Wir fuhren nach ein paar Tagen der Erholung in die Schweiz. Es war mir sofort sonderbar vorgekommen, daß meine Frau unseren gemeinsamen Paß mitgebracht hatte, den mir die Polizei in M. abgenommen hatte. Sie hatte alle Schlüssel, selbst den zum Safe in der eidgenössischen Bank von Basel. Ich wollte auf der Durchreise zur Bank, aber meine Frau sagte, ich müsse zuerst nach Hause, das heißt nach Bern. Meine Kinder erwarteten mich da. Das war eine Lüge, und zwar eine sehr ungeschickte. Viktoria hat ebenso schlecht lügen gelernt wie ich. Die Kinder waren mit meinem Vater und Heidi in M. Man hatte ihnen als halbjüdischen Kindern in S. das Leben unmöglich gemacht, obwohl es doch die Kinder eines geachteten Arztes und die Enkel eines sehr beliebten Holzfabrikanten ›deutschen Blutes‹ waren. In einer großen Stadt war es leichter, unterzutauchen. Mein Vater, Heidi und Angelika hatten das Opfer gebracht. Deshalb hatte ich die Villa meines Vaters leer vorgefunden. Warum wollte mich meine Frau so schnell aus Basel fort haben? Ich fragte sie, als sie kurz vor dem Betreten des Hotels ›Zum Bären‹ ihre Lüge mit den Kindern eingestehen mußte. Weil es in Basel angeblich von Spionen und deutschen Geheimagenten wimmele und ich in Bern besser aufgehoben sei.

Ich wartete aber nur ein paar Tage ab, um nach Basel zu fahren und die Papiere aus dem Safe zu holen.

Meine Frau hinderte mich unter tausend Vorwänden. Sie war leidend, das Kind, das sie bei meiner Abreise in die Schweiz vor bald einem Jahr erwartet hatte, hatte sie nicht geboren. Da sie bei der leisesten Anspielung auf diese traurige Sache fassungslos zu weinen begann, fragte ich nicht, weshalb ich nicht fahren sollte.

Sie hatte auch andere Geheimnisse vor mir. Sie traf sich mit Leuten, die ich nicht kannte und die mir nicht gefielen, sie hatte Geld zur Verfügung, von dem ich nicht wußte, woher es kam. Anfangs dachte ich, sie hätte sich einem anderen Mann angeschlossen. Warum sollte ich, der nun so vieles verstand, dies nicht verstehen? War ich denn nicht schon wie ein Toter gewesen, ohne Aussicht, wieder jemals frei umherzugehen? Hatte ich ein Recht, sie zu hindern, wenn sie den Rest ihres Lebens mit einem anderen Mann, vielleicht einem ihres Blutes, teilen wollte? Ich hätte ihr dies verziehen, ich wäre, wenn sie mir etwas Derartiges gestanden hätte, ihr sogar dabei behilflich gewesen, so gut ich konnte. Ich war in meiner Verblendung auf dem Punkt, ihr jetzt die Scheidung anzubieten, die sie mir vor einem Jahr angeboten hatte.

Sie weinte, es war ihre einzige Methode, mir zu antworten, darin glich sie ganz meiner Mutter. Endlich nahm ich heimlich den Safeschlüssel aus ihrem Schlüsselbund, fuhr nach Basel und öffnete den Safe. Die Papiere waren nicht da. Nur ein paar Banknoten, eine Menge zusammengeheftete Zeitungsausschnitte, ich weiß nicht mehr, aus was für Blättern und über welchen Vorgang. Ich kehrte wie betäubt heim, nachdem ich mich noch vergewissert hatte, ob es auch wirklich mein Safe war, den man ausgeraubt hatte. Meine Frau erwartete mich am Bahnhof. Diesmal weinte sie nicht. Sie sagte mir die Wahrheit. Helmut hätte sich mit ihr in Verbindung gesetzt. Sie hätte mich nur gegen die Herausgabe der Dokumente retten können, und was ich in dem Lager zuletzt erlebt hätte, sei abgekartetes Spiel gewesen. Die Stromleitung sei absichtlich unterbrochen worden, die Wache habe absichtlich beide Augen zugedrückt. War es nicht gut? War ich nicht gerettet? »Ich habe meinen ersten Mann durch seine eigene Schuld verloren«, sagte sie mir auf meine Vorwürfe mit kalter Stimme, »ich hatte keine Kinder von ihm und bin darüber hinweggekommen. Du hast nicht das Recht zu dem gehabt, was du getan hast. Du hast schlecht und ich habe recht gehandelt. Wir werden die Kinder herkommen lassen oder nach Paris, und du müßtest glücklich sein, daß es so gekommen ist.« Sie hatte recht, aber ich war nicht glücklich.


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