Frank Wedekind
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Frank Wedekind

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Dritter Aufzug

Leonhard Burry sitzt an einem der Seitenschreibtische. Dr. Kilian geht aufgeregt auf und nieder.

Dr. Kilian: Ich bin ein Mensch, wissen Sie – wenn ich einen derartigen Zuchthäusler bloß riechen tue, dann kehrt sich mir mein Innerstes zu äußerst und mir wird Nacht vor den Augen! – Ein solch ein Mensch bin ich!

Burry (führt ein großes rotes Taschentuch, das zu seiner hochmodernen Kleidung in stärkstem Widerspruch steht, zur Nase und schneuzt sich mit dröhnendem Ton): Der Sterner ist heute ein internationaler Standesherr! Die europäischen Fürsten empfangen ihn in Audienz! Einen Einzug hält er nach seiner Begnadigung ins Deutsche Reich, als hätte er für uns einen neuen Weltteil entdeckt! Und seine Mitarbeiter will der Halodri, der verdächtige, mit einem Hundsfressen abspeisen?! – Ich werde ihm zeigen, wer der Koch im Hause ist!

Dr. Kilian: Ein solch ein Mensch bin ich! – Vom ersten Tag an, da der Zuchthäusler sein Maul hier auf der Redaktion so sperrangelweit aufreißen tat, sagte ich im stillen zu mir: Deutsches Reichsstrafgesetzbuch § 351! Um meinetwillen hätte der Georg Sterner dem Menschen gar nicht erst die Kassenschlüssel anzuvertrauen brauchen, um zu erfahren, daß er einen Räuberhauptmann als Geheimpolizisten angestellt hatte. Der Himmel muß wissen, was er beabsichtigte, daß er mich mit einem so verteufelt heikeln Rechtsgefühl in diese Gaunerbande hineinplatzen läßt!

Burry (schneuzt sich mit dröhnendem Ton): Ich habe eine furchtbare Influenza! Ich habe zwei Dutzend vollgeschneuzter Taschentücher in meinem Atelier oben zum Trocknen über die Dampfheizung aufgehängt. – Hat sich etwa schon je ein Mensch einen Till Eulenspiegel gekauft, weil ihn der Georg Sterner herausgibt?! – Wenn wir Mitarbeiter das Hundsfressen, das uns der Sterner vorsetzt, noch länger hinunterwürgen, dann sind wir einfach nicht wert, daß unsere Namen alle Wochen in allen fünf Weltteilen schwarz auf weiß gedruckt gelesen werden!

Dr. Kilian: Auf der Lateinschule war das schon so mit mir! Tat einer dem andern nur sein Löschblatt benutzen, oder spickte er ihm gar eine Vokabel aus dem Präparationsheft, gleich tat mich ein solch ein mordsmäßiger, gottsträflicher Zorn anpacken, daß sie mich ohnmächtig hinaustragen mußten! Ein solch ein Zuchthäusler! Hätte ich den Kerl doch schon hier zwischen diesen Händen und könnte ihm das Reichsstrafgesetzbuch in den Rachen stoßen, daß man es mit keiner Geburtszange wieder herauskriegen täte! Sag' mir nur einer, warum ich nicht Kriminalist geworden bin! Ich hätte unsere schöne Gotteswelt von diesen Kassendieben und Wechselfälschern gesäubert, daß wir ehrlichen Leute unser Geld nachher überall frei hätten umherliegen lassen können!

Burry (schneuzt sich mit dröhnendem Ton): Und einem Halodri, einem elendigen, wie diesem Sterner, der seinen Mitarbeitern das Blut aussaugt, damit er seiner Frau eine mit Diamanten besetzte Waschtischgarnitur kaufen kann, dem würden Sie am liebsten ein Nationaldenkmal in den Parkanlagen vor der Heiligengeistkirche errichten!

Dr. Kilian: Sie sind ein Lümmel!

Burry (ohne sich zu schneuzen): Da täuschen Sie sich aber gewaltig, wenn Sie mich für einen Lümmel halten! Nein, dieses Urteil gereicht Ihrer Menschenkenntnis wahrhaftig nicht zur Ehre! Soll ich Ihnen sagen, wie es sich in Wirklichkeit verhält? Soll ich Ihnen sagen, wer hier der Lümmel ist? – Nein, ich bin kein Lümmel; das bin ich gewiß nicht! Aber Sie selber! Sie sind ein Lümmel!

Dr. Kilian (wegwerfend): Sie sind ein Kamel!

Burry (ohne sich zu schneuzen): Und wissen Sie, was Sie sind?! Soll ich Ihnen einmal sagen, was Sie sind?! Soll ich es Ihnen vielleicht schwarz auf weiß geben, was Sie sind?! – Sie sind auch ein Kamel! – (Er schneuzt sich mit dröhnendem Ton.) Wissen Sie, was ich Ihnen sage?! Wenn Sie sich Zeit Ihres Lebens von dem Sterner mit einem Hundsfressen abspeisen lassen, dann sind Sie nicht wert, daß Ihr Name alle Wochen in allen fünf Weltteilen schwarz auf weiß gedruckt gelesen wird!

Dr. Kilian: Und wissen Sie, was ich Ihnen sage?! Gar nichts tue ich Ihnen sagen! (Ihn scharf ins Auge fassend): Ich lade Sie auf die Kirchweih!

Burry (schneuzt sich mit dröhnendem Ton und hebt das Taschentuch in der geballten Faust): Nehmen Sie das Wort zurück, oder ich schlage Sie nieder!

Dr. Kilian (flüchtend): Tun Sie um Gottes willen zuerst Ihr Taschentuch einstecken!

Burry (schneuzt sich mit dröhnendem Ton, verfolgt Dr. Kilian und hebt das Taschentuch in der geballten Faust): Nehmen Sie das Wort zurück!

Dr. Kilian (flüchtend): Tun Sie zuerst Ihr Influenza-Taschentuch einstecken!

Burry (schneuzt sich mit dröhnendem Ton, verfolgt Dr. Kilian und hebt das Taschentuch in der geballten Faust): Ich schlage Sie zum Krüppel, wenn Sie das Wort nicht zurücknehmen!

Dr. Kilian (flüchtend): Tun Sie Ihr vollgeschneuztes Influenza-Taschentuch beiseite! Ich will von Ihnen nicht krank werden!

Georg Sterner tritt rasch durch die Flurtür ein.

Sterner (sehr scharf). Was ist denn das?! Gehen Sie gefälligst auf die Straße hinunter, wenn Sie sich prügeln wollen!

Burry (taumelt in einen Sessel): Ich kann mich kaum auf den Füßen halten! Ich habe eine furchtbare Influenza!

Dr. Kilian (die Fäuste ballend): Ein solch ein Zuchthäusler!

Sterner: In Paris und London wird überhaupt nicht mehr geprügelt. Man ist dort vollständig sicher vor Prügeln! Deshalb erfreut man sich auch, wenn man in Paris lebt, in Deutschland eines größeren Ansehens als der angesehenste Deutsche.

Burry (schneuzt sich mit dröhnendem Ton): Ich wollte fragen, wie es sich denn nun eigentlich mit der Erhöhung von unseren Mitarbeitergehältern verhält.

Sterner: Mein lieber Herr Burry, ich kann Sie jetzt absolut nicht gebrauchen! Herr Doktor Kilian und ich haben die wichtigsten Dinge miteinander zu besprechen.

Burry: Auch gut! (Er schneuzt und erhebt sich.) Sie werden die Frage von mir nicht wieder hören. (Durch die Flurtür ab.)

Sterner: In meinem Palais in Paris käme der Burry mit dem Taschentuch nicht an meinem Türschließer vorbei.

Dr. Kilian: Ich bin ein Mensch, wissen Sie . . .

Sterner (unterbrechend): Einen Augenblick! (Er spricht am Mittelschreibtisch ins Telephon.) Sagen Sie Herrn Buchhalter Dürr, er möchte eben mit dem Hauptbuch herüberkommen. (Zu Dr. Kilian): Haben Sie im Strafgesetzbuch nachgesehen?

Dr. Kilian: § 351! – Ich bin ein Mensch, wissen Sie . . .

Sterner (unterbrechend): Wieviel steht denn darauf?

Dr. Kilian: Zehn Jahre Zuchthaus.

Sterner: Alle Wetter! So viel hätte ich gar nicht erwartet. (Da es klopft): Herein!

Der Buchhalter Titus Dürr, ein Hauptbuch unter dem Arm, tritt durch die Flurtür ein und bleibt Sterner gegenüber stehen. Dr. Kilian setzt sich an den vor dem Nebenzimmer stehenden Seitenschreibtisch.

Dürr (sich verbeugend): Herr Sterner wünschen?

Sterner: Fürchten Sie sich bitte nicht vor mir. Ich tue Ihnen nicht das geringste zuleide. Ich möchte nur zuerst gerne wissen, wieviel Kinder Sie haben.

Dürr: Bis jetzt sind es nur ihrer zwölf. Aber das dreizehnte ist auf dem Wege.

Sterner: Und die wollen Sie alle von Ihrem Gehalt ernähren?

Dürr: So gut es geht, Herr Sterner.

Sterner: Wenn es nun aber einmal nicht gut geht, würden Sie dann nicht fürchten, auf Abwege zu geraten?

Dürr: Das fürchte ich durchaus nicht, Herr Sterner.

Sterner: Aber ich fürchte es. – Ich würde mich an Ihrer Stelle doch lieber etwas im Zaum halten! – Sie waren bis vor einigen Wochen bei Brockschuß in Leipzig in Stellung?

Dürr: Ich war zwei Jahre bei Brockschuß in Leipzig.

Sterner: Brockschuß in Leipzig haben Ihnen bei Ihrem Weggang die glänzendsten Empfehlungen mitgegeben. Das mußte mir natürlich verdächtig vorkommen. Ich fragte deshalb bei Brockschuß in Leipzig an, warum er Ihnen bei Ihrem Weggange so glänzende Empfehlungen mitgegeben habe, und Brockschuß in Leipzig schreibt mir, man habe Ihnen die glänzenden Empfehlungen nur deshalb mitgegeben, weil Sie für die dortige Stellung zu unselbständig gewesen seien. Deshalb, sehen Sie, habe ich Sie für mein Geschäft in Dienst genommen. – Nun erzählen Sie uns mal, wodurch Ihnen unsere Geschäftsbücher so unüberwindliche Schwierigkeiten bereitet haben.

Dürr (schlägt sein Buch auf): Es hat sich bei Aufstellung meiner Bruttobilanz über die letzten zwei Jahre ergeben, daß 24 000 Mark an unserem Reinvermögen fehlen.

Sterner: Sind Sie denn auch nicht zu unselbständig, um diese Wahrnehmung vor Gericht zu beschwören?

Dürr: Ich muß sie sogar beschwören, sonst durfte ich meine Bruttobilanz nicht ins Hauptbuch eintragen.

Sterner: Auf sonstige Schwierigkeiten sind Sie aber nicht gestoßen?

Dürr: Bei Revision der Kontokorrentbücher fand ich dann einen erdichteten Gläubiger unter »Konto Schulze« aufgestellt. Dieser Schulze soll uns in zwei Jahren für 24 000 Mark Kleister geliefert haben.

Dr. Kilian (schlägt mit der Faust auf den Tisch): Ein solch ein Zuchthäusler!

Sterner: Um das zu beschwören, sind Sie auch nicht zu unselbständig?

Dürr: Unselbständig bin ich nur dann, wenn sich irgend etwas nicht in Zahlen ausdrücken läßt.

Sterner (zu Dr. Kilian): So, Herr Doktor, wollen Sie jetzt bitte in Aktion treten!

Dr. Kilian (erhebt sich): Endlich! Jetzt tun Sie einmal schauen, was ich für ein Mensch bin! (Durch die Flurtür ab.)

Sterner: Sie sollten sich aber wirklich etwas im Zaum halten, lieber Herr Dürr! In Paris hat ein Buchhalter immer nur zwei Kinder.

Dürr: Es wäre einem ja eigentlich gar nicht so sehr um die vielen Kinder zu tun. Aber ich leide halt infolge des vielen Sitzens an einer äußerst schweren Verdauung. Deshalb bin ich, wenn ich am Morgen in der Frühe erwache, immer so unruhig.

Dr. Kilian stößt den Buchhalter Vollmann mit einem Fußtritt zur Flurtür herein.

Dr. Kilian: Himmel, Herrgott, Teufel, Kreuz, Sakerment, Sakerment, Sakerment, Sakerment, Sakerment!

Vollmann (die Hände in den Hosentaschen). Ich habe dem Geschäft mindestens die dreifache Summe an Vorschüssen erspart! Zwei Jahre lang habe ich das Vermögen des Herrn Sterner wie ein Wachthund gegen die Raubanfälle seiner Mitarbeiter verteidigt!

Dr. Kilian (zieht einen Revolver aus der Hintertasche, prüft sorgfältig die Ladung, feuert zwei Schüsse gegen die Zimmerdecke und richtet den Revolver auf Vollmann): Die Hände aus den Hosen, oder ich tue Ihnen eine Kugel in die Beine jagen!

Vollmann (zieht die Hände aus den Hosen und steckt sie in die Rocktaschen): Das ist nichts anderes als Ihre feige Rache für meine Verweigerung von Vorschüssen, die Sie jetzt an mir auslassen!

Dr. Kilian (richtet den Revolver auf Vollmann): Die Hände aus den Taschen, oder ich tue Ihnen eine Kugel in die Beine jagen!

Vollmann (zieht die Hände aus den Rocktaschen): Ich war in den zwei Jahren der einzige Mensch auf der ganzen Redaktion, der in Wirklichkeit für die Interessen des Geschäfts eingetreten ist!

Dr. Kilian (setzt sich hinter den vor dem Nebenzimmer stehenden Schreibtisch, hält den Revolver auf Vollmann gerichtet und nimmt das Tischtelephon zwischen sich und den Revolver. Zu Vollmann): Der leiseste Schimmer von einem Fluchtversuch und Sie tun eine Kugel in die Beine kriegen! (Spricht ins Telephon): Ach, Sie, liebes Fräulein, haben Sie doch bitte die Freundlichkeit und tun Sie mich möglichst rasch mit der Staatsanwaltschaft am Königl. Landgericht I verbinden. Amt I 36 74. Ach, Sie, liebes Fräulein, sagen Sie doch bitte dem Herrn Sekretär Meier, daß ich den Herrn Ersten Staatsanwalt Müller in einer äußerst wichtigen Angelegenheit dringend zu sprechen hätte! Dringend! Ja! – Eine äußerst wichtige Angelegenheit!

Vollmann (beginnt zu schlottern und bricht langsam in die Knie): Herr – Herr Doktor, lassen Sie es genug sein, Herr . . . Ist einer unter die Räder geraten, dann arbeitet er, – war er schuldig, war er unschuldig – nachher für achtzig Mark härter, als vorher für fünfhundert. Herr Doktor, lassen Sie mich nicht dahin kommen. Kein Recht hat man, kein Glück hat man. Der Sonntag ist Werktag, der Werktag ein Schindertag. Besser, Herr Doktor, gleich tot. Man ist nur mehr ein Stück Vieh, auf das von allen Seiten geschossen wird. Lassen Sie es genug sein, Herr Doktor! Lassen Sie es bitte genug sein! Sie sind Schriftsteller, Sie sind Künstler. Ihnen macht so was gar nichts. Ich habe eine Frau, Herr Doktor. Die Frau geht für mich durchs Feuer. Wenn die Frau an ihrem Manne irre wird, bleibt nichts von ihr übrig. Straße! Spital! Ich bitte, so dringend ich bitten kann: Lassen Sie mich nicht unter die Räder geraten!

Dr. Kilian (spricht ins Telephon): Ach so, liebes Fräulein! Der Herr Erste Staatsanwalt will also gleich selber ans Telephon kommen! Ich danke Ihnen recht schön. (Er nimmt ein aufgeschlagenes Buch vom Tisch und hält es zwischen sich und den Revolver. Zu Vollmann): Der Paragraph dreihundertundeinundfünfzig des deutschen Reichsstrafgesetzbuches lautet: (Liest.) Hat ein Beamter, welcher Gelder oder andere Sachen, die er in amtlicher Eigenschaft empfangen hat, unterschlägt, in Beziehung auf die Unterschlagung die zur Eintragung oder Kontrolle der Einnahmen oder Ausgaben bestimmten Rechnungen, Register oder Bücher unrichtig geführt, verfälscht oder unterdrückt oder unrichtige Abschlüsse oder Auszüge aus diesen Rechnungen, Registern oder Büchern vorgelegt, so ist auf Zuchthausstrafe bis zu zehn Jahren zu erkennen.

Vollmann (hat sich zitternd erhoben und wendet sich zu Sterner zurück, so daß er Dr. Kilian nicht sehen kann): Gott im Himmel, Herr Sterner, sind Sie denn irrsinnig?! Leute ins Zuchthaus bringen, ist das ein Geschäft?! Ich zahle Ihnen das Doppelte zurück. Ich zahle Ihnen fünfzigtausend Mark zurück, wenn Sie mich nur erst eine Sekunde nachdenken lassen!

(Dr. Kilian knallt einen Schuß gegen die Zimmerdecke, worauf Vollmann mit einem Aufschrei zu Boden stürzt.)

Dr. Kilian: Wo täten Sie Zuchthäusler, Sie elendiger, das Geld hernehmen, mit dem Sie Ihre gestohlenen vierundzwanzigtausend Mark zurückzahlen wollten?!

Vollmann (seine Beine befühlend): Gott im Himmel sei Dank, ich bin nicht getroffen! (Er erhebt sich.) Ich habe eine Schwiegermutter. Meine Schwiegermutter hat Arterienverkalkung. Meine Schwiegermutter hat ein Vermögen. Meine Schwiegermutter leistet Ihnen Bürgschaft. Dann zahle ich zehn Jahre lang monatlich die Hälfte meines Gehalts an Sie ab.

Dr. Kilian: In erster Linie tun Sie jetzt einmal eine Bescheinigung unterzeichnen, daß Sie uns vierundzwanzigtausend Mark gestohlen haben!

Vollmann: Haben Sie sie vielleicht schon aufgesetzt? – – Vielleicht gelingt es mir, meine Schwiegermutter zu einem einmaligen Darlehen zu überreden.

Dr. Kilian: Ein solch ein Zuchthäusler wie Sie, tut ein solch ein Mitleid gar nicht verdienen! (Er nimmt ein Schriftstück vom Tisch.) Ihre Bescheinigung lautet: (Liest.) Ich unterzeichneter Bertold Vollmann bescheinige hiermit, der Verlagsfirma Georg Sterner vierundzwanzigtausend Mark veruntreut zu haben und verpflichte mich, von heute ab monatlich Mark zweihundert, in Worten zweihundert Mark bis zur vollständigen Tilgung meiner Veruntreuung zurückzuzahlen.

Vollmann: Geben Sie her, Herr Doktor! Geben Sie her! (Er unterzeichnet den Schein und gibt ihn zurück.) Vielleicht stirbt meine Schwiegermutter nächstens. Dann war die ganze Aufregung überflüssig.

(Es läutet am Tischtelephon.)

Dr. Kilian (ins Telephon sprechend): Hier Dr. Kilian. Wer dort? – – Ach Sie sind es selber, Herr Staatsanwalt. – Ja, ich habe Sie angerufen. Ich wollte Sie anfragen, Herr Staatsanwalt, ob Sie vielleicht heute abend um neun Uhr – Wie? – Ja: Heute abend um neun Uhr in das neueröffnete Pilsner-Bürgerbräu-Restaurant mit dem Herrn Justizrat Pinkas zusammen zu einer Partie Skat kommen täten. – So? Ist es Ihnen recht? – Justizrat Pinkas hat schon zugesagt. – Schönsten Dank. Meine Hochachtung – – (Er knallt einen Schuß gegen die Zimmerdecke und nimmt das aufgeschlagene Buch vom Tisch auf. Zu Vollmann): Der Paragraph siebenundsechzig des deutschen Reichsstrafgesetzbuches lautet: (Liest.) Die Strafverfolgung von Verbrechen verjährt, wenn sie mit einer Freiheitsstrafe von einer geringeren als zehnjährigen Dauer bedroht sind, in zehn Jahren. – Zehn Jahre tun Sie Zuchthäusler aber notwendig brauchen, um bei monatlicher Abzahlung von zweihundert Mark Ihre Veruntreuungen an uns zurückzuerstatten. Tun Sie also nur einen einzigen Monat aussetzen, dann erfolgt unverbrüchlich sofortige Anzeige bei der hohen Staatsanwaltschaft und Sie wandern ins Zuchthaus!

Vollmann: Das kann ich Ihnen aber sagen, Herr Doktor! Wenn nur ein Wort von dem bekannt wird, was ich hier unterschrieben habe, dann können Sie sehen, wie Sie wieder zu Ihrem Gelde kommen! Bevor ich vorher vergeblich die ganze Welt nach einem neuen Verdienst absuche, um schließlich doch eingelocht zu werden, lasse ich mich schon lieber gleich heute einsperren.

Dr. Kilian: Das glaube ich Ihnen, daß Ihnen das so passen könnte! So daß wir schließlich noch schuld wären, daß Sie keine Arbeit finden! Nein, verehrter Freund, dafür ist schon gesorgt! (Er nimmt ein Schriftstück vom Tisch.) Hier haben wir Ihnen ein Zeugnis ausgestellt. (Liest). Die unterzeichnete Verlagsfirma Georg Sterner bescheinigt hiermit, daß Herr Bertold Vollmann zwei Jahre lang zu ihrer größten Zufriedenheit als Buchhalter bei ihr tätig war, daß Herr Vollmann während dieser zwei Jahre nicht den leisesten Grund zu Klagen gegeben hat, und daß die Firma deshalb gerne die Pflicht erfüllt, Herrn Bertold Vollmann für alle etwaigen weiteren Dienstübernahmen die glänzendsten Empfehlungen mitzugeben.

Vollmann (nimmt das Zeugnis in Empfang, faltet es zusammen und steckt es ein). Meinen verbindlichsten Dank!

Dr. Kilian: Sie, Dürr! Sind Sie so gut und tun Sie den Zuchthäusler durch den Hausflur bis auf die Straße hinausführen. Geben Sie fein Obacht, daß keiner von unseren Überröcken verschwinden tut!

(Vollmann und Dürr durch die Flurtür ab.)

Nachdem sie draußen sind, treten Kuno Konrad Laube und Freiherr von Tichatscheck, beide mit Mappen unter dem Arm, durch die Flurtür ein.

Sterner (hat sich erhoben, zu Dr. Kilian): Sie haben das reizend gemacht. Wenn Sie nach Paris kommen, können Sie bei meiner Frau wohnen.

Laube: Ich komme, Herr Sterner, um Ihnen zu Ihrer unverhofften Begnadigung meine herzlichsten Glückwünsche auszusprechen.

v. Tichatscheck: Ich finde, es war eine bezaubernde Liebenswürdigkeit von unserer Regierung, daß sie uns unseren lieben Verleger gesund und wohlbehalten zurückgegeben hat.

Sterner: Ich habe der Regierung einfach ein Schuldkonto bezahlt, das im Reichstag nicht zur Sprache gebracht werden durfte.

v. Tichatscheck: Gestatten Sie mir, Sie gleichfalls zu Ihrer Begnadigung zu beglückwünschen. Um so etwas durchzusetzen, muß man freilich auch die nötigen Verbindungen mit den maßgebenden höheren Persönlichkeiten haben!

Sterner: Das hat mein Schwiegervater besorgt. Mein Schwiegervater ist durch die Aufführung seiner Theaterstücke mit sämtlichen Hoftheaterintendanten befreundet.

Laube: Ein schönes Stück Geld hat Sie Ihre Begnadigung natürlich gekostet! Aber Sie haben es ja jetzt Gott sei Dank!

Sterner: Ich bin gar nicht stolz darauf. Ich war diesen Frühling drei Wochen mit meiner Frau an der Spielbank in Monte Carlo und habe nie mehr als fünf Francs gesetzt.

v. Tichatscheck: Dazu gehört ein außerordentlicher Mut. Ich bin darin ein eigentümlicher Mensch. Ich würde lieber täglich nur eine Knackwurst essen, als daß ich einmal weniger als hundert Mark auf eine Farbe setzte!

Sterner: Dafür sind Sie auch von Adel! Haben Sie mir eine hübsche Zeichnung für den »Till Eulenspiegel« mitgebracht?

Laube: Ich habe Ihnen nämlich auch eine hübsche Zeichnung für den »Till Eulenspiegel« mitgebracht.

Sterner: Das ist riesig nett von Ihnen. (Er nimmt beiden die Zeichnungen ab und betrachtet sie.) Wundervoll! Unbezahlbar! (Er zeigt sie Dr. Kilian.) Sehen Sie doch nur mal her! – Warum stehen denn keine Witze darunter?

v. Tichatscheck: Auf meiner Zeichnung war leider kein Platz mehr für einen Witz übrig.

Laube: Es fallen uns leider keine Witze mehr ein. Sobald Sie uns am finanziellen Ertrag des »Till Eulenspiegel« beteiligen, werden uns auch wieder die glänzendsten Witze einfallen.

v. Tichatscheck: Wenn man wie Sie als internationaler Standesherr fortwährend durch ganz Europa saust, dann muß man doch auch seine getreuen Mitarbeiter an seinem fabelhaften Glück etwas teilnehmen lassen.

Sterner: Sie sind wohl verrückt geworden! Sie sind wohl nicht bei Trost! Was fällt Ihnen denn ein! Sie überschätzen den Ertrag des »Till Eulenspiegel« in der wahnsinnigsten Weise!

Dr. Kilian (immer noch hinter dem Seitenschreibtisch sitzend, hat sich eine halblange Bauernpfeife gestopft und raucht): Tun Sie sich doch nicht unnötig aufregen, lieber Herr Sterner, das ist bald erledigt. (Er spricht ins Telephon): Sie, Fräulein, sein Sie so gut und sagen Sie doch dem Herrn Dürr, er möchte eben mit dem Vorschußkonto herüberkommen.

Sterner: Fragen Sie sich doch nur einfach, wer den »Till Eulenspiegel« geschaffen hat, Sie oder ich? Bedenken Sie doch, was ich aus jedem von Ihnen gemacht habe! Was wären Sie denn heute, wenn ich Sie nicht vom Straßenpflaster aufgelesen hätte? Hungerleider wären Sie! Landstreicher! Selbstmordkandidaten! Ich habe aus jedem von Ihnen eine Weltberühmtheit gemacht!

Titus Dürr (tritt mit dem Vorschußkonto unter dem Arm durch die Flurtür ein): Herr Sterner wünschen?

Dr. Kilian: Tun Sie doch bitte eben nachschlagen, wieviel Vorschuß Herr Kuno Konrad Laube von uns erhalten hat.

Dürr (nachschlagend): Herr Kuno Konrad Laube hat an Vorschüssen erhalten – – – zehntausend Mark und neunzehn Pfennige.

Laube: Das ist ein Irrtum! Das kann ganz unmöglich stimmen! Das ist gänzlich ausgeschlossen! Ich habe nicht mehr als zwölfhundert Mark Vorschuß von Ihnen.

Dr. Kilian: Gott sei Dank haben wir Ihre Quittungen. (Zu Dürr): Jetzt tun Sie nachschlagen, wieviel Vorschuß Herr Freiherr von Tichatscheck von uns erhalten hat.

Dürr (nachschlagend): Herr Freiherr von Tichatscheck hat an Vorschüssen erhalten – – zwanzigtausend Mark und fünfundsiebzig Pfennige.

v. Tichatscheck: Das finde ich aber hervorragend komisch! Ich hatte geglaubt, ich hätte doch mindestens fünfzigtausend Mark Vorschuß erhalten!

Sterner (zu Dürr): Sie sind wirklich von einer bedauernswürdigen Unselbständigkeit! Sie können gehen!

Dürr: Ich wollte mir nur noch zu fragen erlauben, ob der alte Klubsessel, der oben im Zeichenatelier steht, auch noch mit ins Geschäftsinventar aufgenommen werden soll.

Dr. Kilian: Ja, was meinen Sie, lieber Herr Sterner? Was ist es mit dem alten Klubsessel?

Sterner (nervös zu Dürr): Ihre Unselbständigkeit ist aber wirklich kaum zu ertragen! – Lassen Sie ihn herunterbringen. Dann werden wir sehen, was sich damit tun läßt.

Dürr (sich verbeugend): Sehr wohl, Herr Sterner. (Durch die Flurtür ab.)

Dr. Kilian (zu v. Tichatscheck und Laube): Nun tun Sie gefälligst erst einmal Ihre Schulden zurückbezahlen, bevor Sie bei uns Anspruch auf Erhöhung Ihrer Honorare erheben!

Laube: Sie sind von einer Kollegialität, Herr Doktor, für die Sie den Fensterkreuzorden am hänfenen Strick verdienen!

Dr. Kilian: Wenn Sie Schwindler mir noch einmal einen Orden in Aussicht stellen, dann tu' ich Sie auf die Kirchweih laden.

Sterner: Übrigens habe ich Ihre Witze von jetzt an überhaupt gar nicht mehr nötig. Wenn ich nur Ihre Zeichnungen bekomme. Und Ihre Zeichnungen dürfen Sie ja kontraktlich an keine andere Zeitung verkaufen.

v. Tichatscheck: Sie möchten von nun an wohl gern Ihre eigenen Witze unter unsere Zeichnungen setzen?

Laube: Sie leben augenscheinlich in der Überzeugung, daß durch Ihre unverhoffte Begnadigung auch Ihre Witze besser geworden sind!

Sterner: Ich habe letzten Sommer im Kanton Wallis in der Schweiz einen geborenen Witzbold gefunden. Ich habe ihn natürlich sofort engagiert. Er trifft in einigen Tagen hier ein.

v. Tichatscheck: Ich hege nur die Befürchtung, daß die Witze dieses freundeidgenössischen Witzboldes den Lesern des »Till Eulenspiegel« ein wenig kindisch, altbacken und abgeschmackt erscheinen werden.

Sterner: Das hängt einzig und allein von dem Thema ab, das man ihm stellt. Stellen Sie ihm zum Beispiel ein sensationelles Thema, dann werden die Witze, die er Ihnen darüber macht, in ganz überraschender Weise sensationell.

Laube: Ich bin aufs höchste darauf gespannt, was dieser biedere schweizer Witzbold zu Ihrer fürstlichen Hofhaltung in Paris sagen wird.

Sterner: Er sagt überhaupt nichts. Er ist taubstumm. Wenn man ihm ein Thema stellt, dann lacht er erst eine Weile wie besessen. Dann schreibt er seinen Witz mit einer Kreide auf eine Schiefertafel. Für gewöhnlich führt er übrigens ein völlig unzugängliches Traumleben. Was wollen Sie, meine Herren! Es ist doch nun einmal eine anerkannte Tatsache: Je niedriger das Gemütsleben eines Menschen ist, um so glänzender sind seine Witze.

Dürr (durch die Flurtür eintretend): Ich bitte höflichst um Entschuldigung, Herr Sterner. Wir haben den Klubsessel jetzt hier. Können wir ihn vielleicht hereinbringen?

Sterner: Ja, bitte.

(Dürr und ein Bureauangestellter tragen einen Klubsessel herein und stellen ihn mit der Vorderseite gegen die Rampe auf den Teppich. Der Sessel ist scheinbar noch ganz neu und scheint auch ein straffgespanntes Sitzpolster zu haben. Setzt man sich aber hinein, dann sinkt man bis auf den Fußboden hinab, so daß die Füße in der Luft schweben.)

Dürr (setzt sich hinein und erhebt sich wieder): Sehen Sie!

Sterner (setzt sich hinein und erhebt sich wieder). Höchst eigentümlich!

Dr. Kilian: Das ist doch wohl derselbe Sessel, der die ganzen zwei Jahre lang oben im Zeichenatelier gestanden hat?!

v. Tichatscheck: Das ist derselbe Sessel! Wenn der erzählen könnte!

Dürr: Die Modellmädel sind so rücksichtslos mit ihm umgegangen. Sie haben ihn gänzlich zusammengehauen.

Laube: Mit den Mädeln ist man eben auch nicht viel rücksichtsvoller umgegangen. Sie haben ihn im Lauf der Jahre einfach durchgesessen.

Dr. Kilian: Sie taten ihn bei den jeweiligen Sitzungen mit Vorliebe als Podium benutzen.

v. Tichatscheck: Wer aus der Redaktion hat den Sessel nicht in schöner Erinnerung!

Laube (setzt sich hinein und erhebt sich wieder): Sonderbar! – Der Sessel müßte seine Lebenserinnerungen aufzeichnen. Wir illustrieren sie dann und lassen sie kapitelweise im »Till Eulenspiegel« erscheinen.

Sterner: Mir fällt noch etwas Besseres ein. Ich stelle den Sessel als Petentenstuhl neben meinen Schreibtisch. So, sehen Sie! (Er rückt den Klubsessel mit der linken Seite an die Stirnseite des Mittelschreibtisches.) Wenn jetzt jemand etwas von mir will, dann biete ich ihm den Sessel zum Sitzen an. Dann fährt der Betreffende zuerst mit den Füßen in die Luft, und dann muß er sich mit den Händen festhalten, wenn er aufrecht sitzen will. Ich schraube meinen Schraubstuhl noch etwas höher. (Er tut es.) So, sehen Sie! Dann sitze ich ganz hoch und der Petent sitzt ganz unten. (Da es klopft, zu Dürr): Sehen Sie doch mal nach, wer da kommt.

Dürr (öffnet die Flurtür und spricht ins Zimmer zurück): Herr Bouterweck ist draußen. Ob Herr Sterner zu sprechen seien?

Sterner: Ich lasse bitten!

Dürr (die Tür haltend): Herr Sterner lassen bitten. (Er läßt Max Bouterweck eintreten und nickt dem Bureauangestellten zu, mit dem er das Zimmer verläßt.)

Sterner: Ich bin untröstlich, Herr Bouterweck, aber ich habe heute tatsächlich nicht einen Augenblick Zeit für Sie.

Bouterweck (hinkt mühsam mit einem steifen Bein, indem er sich auf einen Krückstock stützt): Was? Sie haben wieder keine Zeit? Sie ließen mir doch, als ich vorgestern hier war, sagen, daß Sie heute um sechs Uhr für mich zu sprechen seien! Es ist jetzt sechs Uhr! Ich kann Ihnen versichern, daß mir dieser zweimalige Weg von meiner Wohnung hierher nicht leicht geworden ist.

Sterner: Ich weiß, Sie haben Unglück gehabt. Sie haben ein Bein gebrochen. Es ist wirklich bedauerlich, daß Ihnen solch ein Unfall gerade in dem Augenblick begegnen muß, wo Sie anfangen, etwas Erfolg zu haben. Aber das ändert nichts daran, daß ich jetzt in die Oper muß. Die »Meistersinger« beginnen um halb sieben!

Bouterweck: Um so besser! Dann betrachte ich unsere Beziehungen damit als erledigt. (Er will gehen.)

Sterner: Hm – entschuldigen Sie, meine Herren. Ich muß einen Augenblick mit Herrn Bouterweck allein sprechen.

Dr. Kilian (legt den Revolver auf den Seitenschreibtisch): Den Revolver, lieber Herr Sterner, tue ich Ihnen auf alle Fälle hier lassen. (Geht auf Sterner zu und drückt ihm die Hand.) Aus Wiedersehn.

Sterner: Ich danke Ihnen. Es fehlt jetzt wirklich nur noch, daß wir Brüderschaft trinken.

(Dr. Kilian, Laube und von Tichatscheck durch die Flurtür ab.)

Sterner (setzt sich auf seinen Schraubstuhl und bietet Bouterweck den Klubsessel an): Wollen Sie bitte Platz nehmen.

Bouterweck (ohne sich zu setzen): Danke. Was ich Ihnen zu sagen habe, ist rasch gesagt. Die Folgerungen, die Sie aus unserem Vertrag ziehen, gehen darauf hinaus, daß ich Ihnen meine gesamte Arbeit auszuliefern habe, ohne daß mir meine Arbeit zeit meines Lebens einen Pfennig Verdienst einträgt. Ich kann mir aber das Recht nicht verkümmern lassen, mir durch meine Arbeit, die jetzt überall geschätzt wird, meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Ich fordere Sie daher auf, meine Arbeit freizugeben oder einen anderen Vertrag mit mir zu schließen.

Sterner: Ich schneide mir in mein eigenes Fleisch, wenn ich Ihre selbständigen Arbeiten fördere. Denn sobald Sie mit selbstständigen Arbeiten Ihr Brot verdienen, schreiben Sie nichts mehr für den »Till Eulenspiegel«.

Bouterweck: Ich hoffe, daß das, was ich für den »Till Eulenspiegel« schrieb, ewig das schlechteste bleiben wird, was ich in dieser Welt geschrieben habe!

Sterner: Danken Sie, lieber Gott, daß es eine Zeitung gab, die Ihre Gedichte verwenden konnte! Sie wären sonst verhungert!

Bouterweck: Das stimmt! Aber die Entwürdigungen, die ich dabei über mich ergehen lassen mußte, werde ich schwerlich jemals vergessen!

Sterner: Warum erregen Sie sich denn so! Sehen Sie Laube! Sehen Sie Tichatscheck! Sehen Sie Burry! Die sind durch ihre Arbeit am »Till Eulenspiegel« Weltberühmtheiten geworden!

Bouterweck: Odol und Maggi sind auch Weltberühmtheiten und bleiben es voraussichtlich länger als Künstler, die sich über alles, was himmelhoch über ihnen steht, lustig machen und dazu millionenmal ein und dieselbe Grimasse zeichnen! – Wenn Sie meinen Kontrakt nicht ändern, dann kommt der Kontrakt für mich von heute ab nicht mehr in Betracht!

Sterner: Glauben Sie denn nicht, daß wir über alles das versöhnlicher sprechen könnten, wenn Sie sich einen Augenblick setzen wollten? Ich gebe ja gerne zu, daß Ihr Kontrakt Ihrem heutigen Ruf nicht mehr entspricht. Aber Sie können mir doch unmöglich zumuten, daß ich all die Vorteile, die er mir bietet, so ganz ohne weiteres aus der Hand gebe.

Bouterweck (umhergehend): Ich kann mich nicht setzen! Dazu bin ich zu aufgeregt! – Ich warne Sie nur davor, mich auch jetzt noch zu unterschätzen! Sie könnten es noch einmal bitter bereuen!

Sterner: Ich wüßte in meinem ganzen Leben nichts, was ich jemals bereut hätte!

Bouterweck: Sie hielten mich, weil ich kein Glück hatte, einfach für einen Dummkopf und verfuhren mit mir wie mit einem Dummkopf. Sobald man Erfolg hat, ist es gar kein großes Kunststück mehr, sich seiner Haut zu wehren! Wenn ich heute aufschreibe, was ich mit Ihnen alles erlebt habe, dann brauchen Sie sich von keinem ihrer Künstler mehr ein Familienwappen malen zu lassen!

Sterner: Schreiben Sie bitte über mich, was Sie schreiben wollen! Dem sehe ich mit der allergrößten Seelenruhe entgegen!

Bouterweck: Das überrascht mich gar nicht! Warum sollen Sie auch bei Ihren Geschäften nicht Ihre Ehre aufs Spiel setzen? Für das Geld, das Sie mit solchen Geschähen verdienen, können Sie sich überall Ehren die Hülle und Fülle kaufen!

Sterner: Ich pfeife auf Ihre Theorien! Ich glaube nur an Tatsachen! So oft ich jemals an etwas anderes geglaubt habe, bin ich noch immer betrogen worden!

Bouterweck: Ich pfeife auf Ihre Tatsachen! Ich glaube nur an Menschen! Und an Sie kann ich nicht glauben! Wären Sie ein geborener Betrüger, dann wüßte ich mit Ihnen zu rechnen. Sie betrügen aber nur, weil Sie zu dumm sind, um ehrlich handeln zu können. So oft Sie versuchten, ehrlich zu sein, sind Sie noch immer betrogen worden. Deshalb halten Sie Treubruch und Betrug für die Grundlage aller Geschäfte!

Sterner: Das sind spitzfindige Haarspaltereien, zu deren Erörterung mir jetzt die nötige Zeit fehlt. Ich erkläre mich gern bereit, Ihren Vertrag durch einen anderen abzulösen. Aber dazu müssen wir doch endlich einmal ruhig miteinander sprechen. (Auf den Klubsessel deutend): Setzen Sie sich doch bitte. Ich habe die Überzeugung, daß sich unsere Unterredung dann um vieles vernünftiger und versöhnlicher gestalten wird.

Bouterweck (so stark wie möglich betonend): Ich verbitte mir aber von vornherein jede irgendwie denkbar mögliche Art von Unverschämtheit von Ihnen! Ich habe gar keine Lust, mich zu ärgern! Und ich bin heute nicht mehr der wehrlose Mensch, mit dem Sie vor vier Jahren zu tun hatten.

Sterner (mit schlichter Höflichkeit): Das weiß ich. Nehmen Sie bitte Platz.

Bouterweck (setzt sich in den Klubsessel, versinkt darin und streckt sein steifes Bein in die Luft).

Sterner (mit dünnem Lächeln): Ach, entschuldigen Sie!

Bouterweck (rasch): Oh, das macht nichts. (Nachdem er sich mühsam aus dem Sessel herausgearbeitet und wieder auf den Füßen steht, mißt er Sterner mit einem nachdenklichen Blick, spuckt aus und sagt mehr für sich): Pfui Teufel! Pfui Teufel! – Mit dem habe ich in dieser Welt nichts mehr zu schaffen! (Durch die Flurtür ab.)

Sterner (sich die Hände reibend): Jetzt fühlt er sich wieder beleidigt! (Er dreht den Klubsessel nach vorn, so daß seine Vorderseite wieder der Rampe zugewandt ist und prüft mit dem Fuß das Polster.) Darauf fällt – noch mancher Theoretiker – – herein!

Wanda Washington tritt aus dem Nebenzimmer ein. Sie ist eine hübsche junge Frau von zweiundzwanzig Jahren, brünett mit schönen seelenvollen Augen und dem Ausdruck unendlicher Güte im Gesicht. Sie ist sehr elegant, aber etwas abenteuerlich gekleidet.

Sterner (grob): Ich bitte anzuklopfen, bevor man eintritt!

Wanda: Du hast selber »herein« gerufen!

Sterner: Ich habe dir verboten, mich hier zu stören! Ich will nicht, daß mein Verkehr mit dir bekannt wird!

Wanda: Was tut denn Max Bouterweck noch hier bei dir? Ich glaubte, ihr wäret längst miteinander fertig. Er schwor mir Stein und Bein, daß er nie einen Fuß mehr über deine Schwelle setzen werde! Jetzt hat er sich natürlich mit dir ausgesöhnt, um mich bei dir zu verleumden!

Sterner: Ganz recht! Er nannte dich das Unglück in Menschengestalt! Er sagte, daß er erst von dem Augenblick anfing, Glück zu haben, als er dich los geworden war! Er erzählte mir, deine sämtlichen früheren Liebhaber hätten die gleiche Erfahrung an dir gemacht!

Wanda: Ich habe so viel mit Gegenwart und Zukunft zu tun, daß ich für die Vergangenheit wenig Zeit übrig habe! Mit Bouterweck war ich so tief unglücklich, ja, mehr als unglücklich; ich war dumm, dumm, wie nur ich es sein kann! Was ich mit Bouterweck ausgestanden habe all die Monate, das habe ich nie, nie zuvor gelitten!

Sterner: Laß mich mit deinen Unglücksgeschichten in Ruhe! Warum soll ich die anhören?!

Wanda: Weil ich endlich den Augenblick für eine offene Aussprache zwischen dir und mir für gekommen erachtet zu scheinen halte! – Woher denn in deinem Benehmen plötzlich diese mir unbegreiflich scheinende Veränderung? Ich beschwöre dich, laß mich's wissen! Ich habe dir in den letzten Tagen fünf Briefe geschrieben und sie zerrissen. Einer, der sechste, wird aufbewahrt. Den darfst du später jederzeit von mir verlangen!

Sterner: Ich werde den Teufel tun! Zerreiß nur bitte den sechsten auch!

Wanda: Schau, Liebster, ich hatte nie, nie die Absicht, dich in meine Netze zu locken! Aber für mich ist ja jeder Tag, den du nicht bei mir warst, aus dem Leben gestrichen! Als wir beide uns gefunden hatten, war mein Glück so unendlich groß, daß ich am selben Tage noch zwölf von Gefühlen strotzende Briefe in die Welt setzte!

Sterner: Na? Und?

Wanda: Dein jetziges Benehmen hat einen Abgrund zwischen uns eröffnet! Es ist ja sonnenklar, daß unser Verkehr, wie er sich in der letzten Zeit zuspitzte, dich nur noch gereizter, mich nur noch unglücklicher machen mußte. Ich bitte dich daher, mir rückhaltlos zu sagen, wie du fühlst und was du zu tun gedenkst!

Sterner: Das sage ich dir mit dem größten Vergnügen! Übermorgen kommt meine Frau mit meinen Kindern von Paris hierher!

Wanda (weinend): Das ist mir ein Faustschlag ins Gesicht! Du triffst mich damit ins Innerste meines Wesens! Wenn ich dir jemals sagte, daß ich dich mit einer andern Frau teilen könne, dann war's gelogen, schändlich geprahlt, von meinem armseligen Überrest von Stolz! – – Aber du sollst mir nicht fluchen, so wie du mir jetzt vielleicht fluchen möchtest! Bevor noch deine Familie von Paris hier eintrifft, mache ich meinem Leben ein Ende.

Sterner: Das ist eine glänzende Idee! Ich bitte dich dringend darum. Meine Frau hat sowieso schon wenig Lust genug, hierher zu kommen.

Wanda: Wundert dich das?. Mit deiner kraftvollen Natur richtest du deine Frau erbarmungslos zugrunde! Du kannst keine andere Frau brauchen als eine, wie ich es bin! Eine Frau, der nie ein Mann genügt hat, der nie einer genügen wird! Eine Frau, der die Liebe der ganzen Welt nicht zu viel wäre! (Mit Inbrunst). Eine Frau, die alles erträgt und ewig unersättlich bleibt!

Sterner: Wenn ich für meine Frau zu anspruchsvoll bin, dann nehme ich mir soviel Frauen dazu, wie meine Ansprüche erfordern. Aber ich will das verkörperte Mißgeschick nicht länger zur Geliebten haben!

Wanda (ihre Tränen trocknend): 's ist doch was Schönes drum! Nie habe ich besser gewußt, wieviel du mir warst, als in diesen Tagen der Zwietracht. Georg, du hast mir Blut zu lecken gegeben! Die Milchsuppe schmeckt mir nicht mehr. Mein Verhältnis zu dir war das Gebot meiner innersten unverfälschten Natur! Mein blinder Instinkt, mir das zu verschaffen, wonach mein Wesen verlangt und was kein Mensch auf Gottes Erde so zu erfüllen vermochte wie du!

Sterner: Sagtest du nicht, du wolltest deinem Leben ein Ende machen?

Wanda (empört): Georg, wenn du den Mut hast, ehrlos zu handeln, dann habe wenigstens die Barmherzigkeit, es aufrichtig einzugestehen!

Sterner: Aufrichtiger als ich mit dir kann kein Mensch mit dem andern reden!

Wanda: Früher hat man wenigstens patentierte Mörder zu Henkern gewählt! Jetzt wirken und gedeihen die Pfuscher auch auf diesem Gebiete!

Sterner: Ich und Pfuscher? (Er nimmt den Revolver vom Seitenschreibtisch, prüft die Ladung und gibt ihn Wanda.) Hier ist ein tadelloser Revolver. Es sind noch zwei Kugeln drin. Aber schieß nicht aus Versehen in die Luft!

Wanda (den Revolver nehmend, lächelnd): Weißt du übrigens, Liebster, daß aus deinem Benehmen eine eigentümliche Stimmung spricht? Etwas Ungewisses, Weiches, etwas, das meine Seligkeit ausmachen könnte, wenn es sich dabei um weniger traurige Dinge handelte? – Daß ich mich damit nicht von neuem an dich hängen will, kannst du dir wohl denken! Ich bin keine Bettlerin! Wenn ich auch zugrunde gehe, bereuen, daß ich dir gehörte, kann ich nicht! Ich bedaure nur deine schlechte Menschenkenntnis, die dich veranlaßt, das einzige Geschöpf, das treu zu dir gehalten hat, zu vernichten. Laß dir sagen, was der Augenblick in mir zeitigt: daß ich als deine Freundin gehe, wie ich als deine Freundin kam.

Sterner: So geh doch nur zum Henker!

Wanda: Glaub an den Ernst meiner Worte! Es ist spät! Es ist furchtbar spät! Es ist die letzte Stunde in meinem Leben! Aber noch ist es uns möglich, wenn wir nur großherzig genug sind, ohne Streit und Häßlichkeit zu scheiden. Ich bitte dich bei allem, was menschlich ist: Nimm vor meinem Ende noch den furchtbaren Druck von mir, den das Häßliche auf mich ausübt! Für mich ist das Leben mit der Minute aus, wo du mir verloren bist. Ich bitte dich noch einmal: Tu', als wäre ich schon tot!

Sterner: Tu', was dir beliebt. Ich muß in die »Meistersinger«. Die Oper hat schon um halb sieben angefangen! (Rasch durch die Flurtür ab.)

Wanda (allein in Tränen aufgelöst): Schade! Sehr, sehr schade! Er hat ihn nicht mehr von mir genommen, den Druck der Häßlichkeit. – Nach Schmerzen Zänkereien? Nadelstiche nach Todeswunden? – Nein! – Schon besser, ich trachte, die Sache möglichst rasch zu Ende zu bringen! (Sie spannt den Revolver und hält ihn sich mit beiden Händen gegen die linke Brust.) Aber wenn ich mich hier erschieße, dann stürze ich vornüber zu Boden. Dann liege ich mit dem Gesicht nach unten. Dann hat niemand Mitleid mit mir! Nein, ich werde sterbend in diesen Sessel sinken. Dann drückt mir der erste, der mich findet, einen Kuß auf die Lippen. (Sie stellt sich rücklings dicht vor den Klubsessel und hebt wieder mit beiden Händen den Revolver vor die Brust. Dabei sinkt sie langsam in die Knie, bis sie den Sitz des Sessels berührt und fährt dann rasch wieder in die Höhe. Lächelnd): Ich bekomme wieder einmal einen meiner seltenen Schüchternheitsanfälle. Wollte schon umsinken und hatte vergessen loszudrücken. Noch steckt die Kugel im Lauf. Der Lauf der Dinge ist manchmal sonderbar. (Sie läßt sich wieder, den Revolver gegen die Brust pressend, langsam niedersinken. Wie sie eben den Sitz berührt, fährt sie mit den Füßen in die Luft und fällt tief in den Sessel hinein. Mit Händen und Füßen strampelnd und um sich schlagend): Eine Menschenfalle! – Zu Hilfe! Zu Hilfe! – Wie komme ich hier wieder hinaus! (Den Revolver wegschleudernd): Verfluchtes, vermaledeites Mordgewehr! (Sie hat sich bis zur sitzenden Stellung emporgerafft und fällt wieder tief in den Sessel hinein.) Sind denn gar keine Redakteure im Haus? – Redakteure! – Zu Hilfe! – Das ist eine gottverfluchte Redaktion! (Sie hat sich emporgerafft und fällt wieder zurück.) Was zwingt mich albernes dummes Tier auch, mich umzubringen! Hundert Jahre will ich alt werden! – Endlich! (Sie springt auf die Füße und betrachtet den Sessel mit scheuem Entsetzen.) Jetzt ist er wieder ganz heil! – Matt bin ich wie eine Fliege. Jetzt, Georg, bringe ich mich nicht mehr um. Der Sessel hat mir das Leben gerettet!


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