Wilhelm Walloth
Im Schatten des Todes
Wilhelm Walloth

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20.

Es war etwa eine Woche vergangen. Rascher als Karl erwartet hatte, erfolgte zwischen Herrn und Frau Körn eine entscheidende Aussprache.

»Du mußt selbst gestehen, Katharina,« sagte der 340 Direktor eines Abends, als er sich am Ofen die Finger wärmte, »daß wir uns gegenseitig nur unglücklich machen.«

»Glücklich jedenfalls nicht!« meinte sie ironisch.

»Und wir haben beide noch ein Recht auf Glück.«

»Ich habe mit dem Leben abgeschlossen,« versetzte sie, »ich erwarte nichts mehr.«

»Warum?« fragte er beklommen. »Dein Verstand, deine Bildung berechtigen dich noch Anforderungen an das Leben zu stellen.«

»Wie meinst du das?«

»Würdest du dich nicht glücklicher fühlen, wenn . . . nun, wie sag ich gleich? wenn du dich ganz deinen Forschungen hingeben könntest?«

»Gewissermaßen . . . allein? ohne dich?« fragte sie.

»Ohne, daß dir irgendwer drein zu reden hätte.«

»O ja! Du kommst mir entgegen. Trennen wir uns!«

Er zuckte freudig zusammen, ergriff die Ofenzange und wühlte in den glühenden Kohlen herum. »Trennen?« fragte er leise. »Sind wir nicht schon längst innerlich getrennt?«

»Nun, – tun wirs jetzt auch äußerlich!« versetzte sie, ihre Gemütsbewegung verbergend.

»Wie du willst . . . Wenn du meinst?« stotterte er von ihr abgewendet. Die Glimmerglasblättchen des Amerikanerofens beleuchteten eben sein bleichgewordenes Gesicht mit purpurner Glut. Sie beobachtete seine Züge, denen er einen gelinden, resignierten Schmerz aufzuzwingen suchte.

»Ich habs ja schon lange gewußt,« sagte sie mit tiefer Stimme, »daß du Emma Dorn liebst.«

341 Er erhob sich und wendete sich ihr zu. »Ein Wort von dir, Katharina,« entgegnete er mit tiefem Ehrenmannsbrustton, »und ich denke nicht mehr an sie.«

»Geh!« lächelte sie melancholisch. »Verstell dich doch nicht so.«

»Auf Ehrenwort!«

»Verpfände deine Ehre wo du willst; nur nicht in Sachen der Liebe. Übrigens, ich glaube dir ja, daß du, wenn ichs verlange, die Symptome deiner Liebesleidenschaft unterdrücken würdest. Was hätt ich davon? Von einer Tugend, dem heißen Blute künstlich abgerungen?«

»Katharina! ich bin kein Jüngling mehr!« hauchte er sanft.

»Nein,« versetzte sie. »Aber du gehörst zu jenen Männern, bei denen ein zweiter Tumult im Blute vielleicht stärker tobt als der erste.«

»O, o,« wendete er sanft ein, »du irrst.«

»Du hast im fünfzigsten Jahr dein Herz entdeckt,« fuhr sie fort. »Mich hast du nur aus Pflichtgefühl geheiratet . . . Wende nichts ein! ich weiß es! Jetzt hast du endlich den Prometheusfunken gefunden, der dich starre Thonstatue zum lebendigen Menschen umwandelt. Nun, ich stehe diesem Gotteswunder machtlos gegenüber, ich will dich nicht wieder zu leblosem Thon zurückgemodelt sehen, – ich trete zurück.«

Er war auf sie zu geeilt. »Katharina!« kam es dankbar über seine Lippen, – doch fiel er deshalb nicht aus der Rolle des schmerzbewegten Ehemannes.

342 Sie wehrte mit der Hand seinem Näherkommen ironisch ab. »Triumphiere nicht zu früh,« sagte sie mit einem Anflug leiser Verachtung. »Ich trete zurück, ja; wir trennen uns. Aber scheiden laß ich mich nicht.«

Er sah sie betreten an. Dann senkte er ergeben den Kopf.

»Nein,« fuhr sie bitter lächelnd fort; »diese kleine Rache mußt du mir schon lassen. Es ist ja wohl schon eine Erleichterung für dich, die Irrenhauskandidatin nicht mehr in deiner Nähe zu haben?«

Er seufzte. »Man fügt sich ganz deinem Wunsche!« sagte er mit präzeptoraler Würde.

»Und hofft im Stillen, ich würde später doch noch in die Scheidung willigen?« fragte sie spöttisch.

»Es ist nicht in Abrede zu ziehen, daß man auch daran denken könnte. Doch sei dem wie ihm wolle, – man fügt sich in die Umstände.«

»Man ist zufrieden mit dem Sperling in der Hand?« setzte sie ironisch hinzu. »Wenn man den Storch auf den Dach nicht haben kann.«

Er seufzte melancholisch lächelnd. Sie wendete sich ihrem Schreibpult zu und er entfernte sich. Er war zufrieden; denn er empfand es wirklich als große Erleichterung, die ewigen häuslichen Unbequemlichkeiten und Fehden los zu sein.

Katharina zog schon am andern Tag aus dem Haus; er nahm in ganz freundlicher Weise von ihr Abschied.

Bevor sie hinabging, sagte sie: »Unsere Ehe hat der Schöpfer nur deshalb veranlaßt, um der Welt 343 talentvolle Kinder zu schenken. Auf uns, die Eltern, nahm er gar keine Rücksicht.«

»Du bist eine Philosophin!« schmeichelte er ihr.

»Keine Halbverrückte mehr?« lächelte sie vorwurfsvoll.

Körn fuhr sich über die Augen. Katharinas Augen blieben trocken, aber sie hatten den eigentümlich starren Ausdruck niedergekämpften Herzeleids.

»Ich tauge überhaupt nicht zur Ehe«, sagte er, während er sie die Treppe herab an den Wagen führte. »Ich bin eine Gelehrtennatur; ich sollte immer für mich allein hausen.«

»Ich ebenfalls«, entgegnete sie und stieg in die Droschke.

Karl und Eduard begleiteten die Mutter in ihre neue Wohnung. Körn aber rief dem abfahrenden mit Schachteln und Koffern beladenen Wagen nach: »Im übrigen bleiben wir Freunde?« Ihre Antwort ward vom Gerassel der Räder verschlungen.

Als der Direktor in seine einsamen Zimmer zurückkehrte, befand er sich in einer seltsamen Stimmung. Sein Herz war freudig bewegt, er war frei!! frei von einer entsetzlichen Fessel. Doch schlich sich ihm in diese Freude das quälende Gefühl, ein Unrecht begangen zu haben. Erst als er sich in seine Schulhefte vertieft hatte, verschwanden diese leichten Gewissensbisse. Seine Wohnung kam ihm indessen auf einmal außerordentlich öde vor. Einmal passirte es ihm sogar, daß er, während er in seinen Heften herumwühlte, nach Katharina rief. 344 Er errötete, als ihm nun erst wieder ins Bewußtsein trat, daß sie ja nicht mehr hier weilte. Manchmal glaubte er, er müsse ihre pathetische Stimme hören.

In der Nacht träumte er von ihr: Sämtliche Wohnräume stellten die Sintflut dar; Katharina fuhr auf einem Besenstil mitten durch das Wasser, das mit unendlichem Rauschen aus der Badewanne stürzte; kleine Meerungeheuer umschwammen sie schäckernd. Entsetzlich, entsetzlich! dachte er im Traum; ich bin ein geschlagener Mann, ich muß diese Fessel bis ins Grab mit mir schleppen! Da spritzte ihm die Keifende Wasser ins Gesicht – er erwachte. O Gott! seufzte er; kann ich denn nie von ihr los kommen? Er lauschte, ob er nicht ihr altgewohntes Schnarchen vernehme, ob sie nicht, wie sonst, sich im Bette hin und herwerfe? Nichts dergleichen. Alles blieb still. Er schielte aufs andere Bett hinüber . . . Wie?! er sah im Mondlicht, daß es ja gar nicht aufgedeckt war. Jetzt erst durchzuckte ihn ein Freudeblitz! Du bist ja befreit! Sie kommt ja nicht wieder! Dann schlief er wonnetrunken von neuem ein.

Solche Zustände hatte er noch oft. Wenn er von der Schule nach Hause kam, begleitete ihn das peinliche Gefühl: jetzt wartet sie wieder auf mich! Dann mußte er über diese Zerstreutheit lächeln.

Erst nach ungefähr einer Woche besuchte er zwischen Licht und Dunkel Emma Dorn. Sie war allein, Luise war ausgegangen. Er saß neben ihr auf dem Sopha.

345 »Ich hätts nicht länger ausgehalten in dieser Ehe!« sagte er. »Ihnen darf ich ja alles anvertrauen! Ich bin ein anderer Mensch geworden, das Leben hat wieder Reiz für mich. Ich sehe in die Zukunft wie ein Jüngling im wunderschönen Monat Mai!«

»In welche Zukunft?« fragte sie beklommen. »Was erwarten Sie noch vom Leben?«

»Noch viel!« entgegnete er. »Ich hoffe, daß meine Frau doch in eine Scheidung willigt. Dann . . .«

»Dann?« flüsterte sie den schönen Kopf niederbeugend und mit der Hand nervös an der Sophaquaste spielend.

»Dann . . .« fuhr er mit weicher Stimme fort, »steht es mir ja frei eine neue Ehe einzugehen.«

»Ach so!« nickte sie sehr betreten.

Nach einer längeren Pause, in der man nur die alte Wanduhr ticken hörte, faßte er ihre mit der Quaste spielende weiße Hand.

»Emma!« Das klang gar nicht schulmeisterlich. Doch entbehrte die Art mit der er sie jetzt langsam aber sicher an seine Brust zog, entschieden nicht einer gewissen pedantischen Würde. Auch sein Kuß trug einen keinen Widerspruch duldenden Charakter schulmeisterlicher Herrscherlaune.

Überhaupt waren seine Zärtlichkeiten gemessen, ehrenmannhaft ernst. Man sah seiner Verliebtheit an, oder sollte ihr wenigstens ansehen, daß sie aus beamtenhaft sittlicher Grundlage aufwuchs. Hier erlebte man keinen äußerlichen Sturm der Leidenschaft, keine flatterhafte Sinnengier. Der 346 Lavastrom seiner Sinne floß mit christlich-germanischer Würde, mit präzeptoraler Erhabenheit dahin. Doch hatte Emma den Eindruck, als ob hinter dieser imposanten Strenge eine stille, gut versteckte Lüsternheit lauschte.

Was sie selbst anlangte, so mußte sie sich gestehen, daß sie den in vieler Hinsicht so naiven Mann, wenn er auch bereits fünfzig Jahre alt war, aufrichtig liebte. Sie liebte an ihm auch den etwas ans Komische streifenden Zug zum Steif-Würdevollen, das er dann wieder in einer weltmännischen Grazie ungeschickt zu verbergen suchte. Die Art seiner Zärtlichkeitsbeweise nötigte ihr oft jenes heimliche Lächeln ab, das gescheidte Frauen für die Schwächen geliebter Männer in Bereitschaft haben. Es erregte ihre Eitelkeit seiner schulmeisterlichen Würde kleine Niederlagen beizubringen.

Peter, der Kater, saß auf dem Sofarand und schaute mit Verwunderung zu, wie seine Herrin die Küsse eines Herrn erwiderte.

Hätte er reden können, so hätte er vielleicht mit seinem Lächeln des Mephistopheles Worte wiederholt: »Hab ich doch meine Freude dran!« Dann kratzte er sich sein graues Fell, daß die Haare stoben, eilte rasch davon ins Freie und schien zu denken: tout comme chez nous!

*

Katharina wohnte seit ihrem Abgange aus dem Haus des Direktors bei ihrem fast achtzigjährigen Vater, einige Straßen weiter nach der Stadt zu. Sie fühlte sich in mancher Hinsicht wohler als früher, 347 da sie sich nun ungestört ihren Liebhabereien hingeben konnte. Monatlich erhielt sie von ihrem ehelichen Versorger hundertundfünfzig Mark; im übrigen verspürte sie kein Heimweh nach ihrem Gatten, wie er es doch ab und zu nach ihr empfunden hatte. Sie fühlte sich gekränkt, beleidigt; ja sie sann, da sie einer sehr impulsive, auf ihre Fähigkeiten stolze Natur war, im Stillen auf Rache. Sie hatte ihm, wie sie glaubte, so gar viel zu verzeihen; er verstand sie nicht, er war ein Egoist, ein eingebildeter Schulmeister. Sie gehörte zu jenen Naturen, bei denen, wenn ihr geistiger Hochmut einmal verletzt wird, sich nicht gleich, sondern erst allmählich, ein Haß entwickelt, der gerade, weil er langsam wächst, mit der Zeit zu einem Riesen sich auswächst. Alle die Demütigungen, die sie sich hatte von ihrem Adolf gefallen lassen müssen, zerlegte sie sich nun in ihre Bestandteile, sezierte jede Stimmung, analysierte jedes böse Wort, jeden Blick, jede Geste. So ward er ihr jetzt erst recht verhaßt und sie suchte auch ihre Söhne, die vorläufig noch bei dem Vater wohnten, mit diesem Haß anzustecken.

Als Karl sie zum erstenmal nach der Trennung besuchte, konnte er nur mit Mühe seine Tränen zurückhalten. Auch sie war tiefbewegt, umarmte ihr Kind und brach schließlich in erleichternde Tränen aus. Die Mutter allein, einsam, gleichsam verstoßen! Der Gedanke erweckte im Gemüt Karls alle schlafenden Dämonen der Erbitterung.

»Besser als im Irrenhaus!« sagte sie, als der 348 Sohn sie fragte: ob sie denn dies Leben ertrage? »Und dahin hätten mich die Beiden gewiß noch gebracht!«

Karl meinte zwar, das wäre nicht möglich gewesen; wenn sie aber nichts entbehre, wenn sie sich in dieser Einsamkeit wohl fühle, müsse er die Trennung als ein Glück für sie betrachten.

»Ja, ich halte die Trennung von ihm für ein Glück,« versetzte sie. »Und doch ist in mir der Mensch, die Schriftstellerin, vor allem das Weib, die Mutter, so tief beleidigt, daß ich unbedingt noch auf Erden die Bestrafung dieses Egoisten erwarte. Ich bin ja sonst nicht rachsüchtig, – in diesem Falle kann ich nicht anders. Es muß eine Vergeltung auf Erden geben! ich muß ihn demütigen!«

»Nicht rächen, Mama!« wendete Karl beklommen ein. »Rache ist immer gemein.«

»Nein«, fuhr sie erregt fort, »Strafe ist notwendig! Gott selbst rächt die Übeltat; aber durch wen? Durch seine Menschen. Seien wir seine Werkzeuge. Daß er die Andre schöner findet als mich, – ach! das nehme ich ihm gar nicht übel! deshalb streb ich nicht nach Rache. Es liegen ganz andere tiefere Gründe vor. Aber siehst du, – wir wollen ihn gerade durch die Andre strafen. Das ist der wunde Punkt an ihm, seine Achillesferse. Hier packen wir ihn. Ich flehe dich an, liebes Kind, beobachte ihn, gib mir Nachricht, ob er, wie oft er mit Emma zusammenkommt; wo er mit ihr zusammenkommt. Wir sind nur getrennt, – ich willige nie in eine Scheidung. Kann ich ihm nur den geringsten 349 Fehltritt nachweisen, so stell ich Strafantrag wegen Ehebruchs.«

»Ich begreife deinen Gemütszustand, liebe Mama«, sagte Karl ablehnend und dennoch von dieser bösartigen Rachsucht wider Willen angesteckt. »Aber es widerstrebt mir als Kind, den eigenen Vater auszuspionieren. Überlaß ihn seinem Schicksal.«

Katharina wendete sich mismutig ihren Götheschriften zu. Karls Mund hatte übrigens anders gesprochen, als sein Herz. Freilich hielt er die Rache für gemein, aber trotzdem erwachte in seiner Brust das leise Streben nach Rache. Freilich mochte er als Kind den Vater nicht denunziren; aber hätte sich die Gelegenheit geboten, – er hätte vielleicht, wenn auch nach innerem Kampf, sie benutzt. Er belog sich selbst und die Mutter; wußte auch, daß er dies tat, und war sehr unglücklich darüber. Seine geheime Triebfeder war ganz dieselbe wie die seiner Mutter, – die Eifersucht! Nur, daß jede dieser beiden Eifersüchte einen anderen Weg ging. Hier begegneten sich Beide, doch wußte es nur der Sohn. Als Karl bemerkte, daß seine Mutter nicht ganz mit ihm zufrieden war, daß sie erwartet hatte, er werde viel schneidiger als Verteidiger der Mutter auftreten, trat ihm noch deutlicher als vorher das Häßliche des Hasses, das Niedrige der Rache, das Suchtartige der Eifersucht ins Bewußtsein. Er fühlte, daß er seine Mutter nicht mehr recht achten konnte. Es trat im Gespräch eine Pause ein. Sie war verlegen, er niedergedrückt.

350 »Nun«, sagte er endlich verstimmt, »ich will sehen, was sich tun läßt.«

»Es ist ja nicht schön von mir,« versetzte sie, »das Kind gegen den Vater zu hetzen, – verzeih mir! Trotzdem hätt ich von dir erwartet, daß du wärmer meine Partei ergreifst!«

»Ich fühle ja, daß man dir zu nahe getreten ist,« räumte er ein. »Laß mir nur Zeit. Er hat ja auch mich nie verstanden! Ich unternehme gewiß nichts gegen ihn, aber . . . genug!! Leb wohl, Mama!«

Er umarmte sie, die wiederum in Tränen ausbrach und verließ dann sehr niedergeschlagen das Zimmer.

Als er durch die dämmernden Straßen wandelte, dachte er über den menschlichen Charakter nach. Es ist doch wahrhaft entsetzlich, sagte er zu sich, daß selbst die Besten Schwächen und Fehler haben, daß Keiner ein durchaus edles Vorbild bietet. »Das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf.« Am traurigsten ists, wenn das Kind im Charakter seiner Eltern Fehler entdeckt. Es wäre endlich an der Zeit, daß wir eine Religion fänden, die die Menschen tatsächlich bessert! Das Christentum hat darin nichts geleistet, es verschleiert nur die Sünden und verzeiht sie. Wir brauchen eine Weltanschauung, die die Moral aus einer völlig natürlichen, ja naturwissenschaftlichen Grundlage aufbaut. Wir müssen das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens von Jugend auf – von Jugend auf! so tief beeinflussen, daß es sich 351 in den Kindern so nicht mehr weiter erben kann! Der Christ strebt tugendhaft zu handeln, weil es ihm Gott so vorschreibt; der wahre Gottsucher müßte unabhängig von einem äußeren Befehl, tugendhaft handeln, aus innerer Überzeugung. Wir müßten mathematisch beweisen können, daß schlecht zu handeln – dumm ist, gut zu handeln – klug.

Noch ehe er seine Grundsätze völlig zu Ende gedacht hatte, merkte er, daß seine Füße dem Zug seines Herzens gefolgt waren, – er befand sich in der Nähe von Emmas Wohnung.

In Karls Gewohnheit lag es, zuweilen das kleine Gartenhäuschen – nicht zu besuchen, sondern – nur sehnsüchtig zu umschleichen, den Kopf zu recken, einen Blick durchs Fenster zu werfen und dann, den Garten wieder zu verlassen, ohne die Geliebte gesprochen zu haben. Als er das heute tat, erblickte er sie am großen Fenster, das auf die Vorhalle hinausführte. Sie malte. Verschwommen durch die Glasscheiben schimmernd leuchteten ihm zwei Köpfe entgegen, – antike Köpfe mit langen Hälsen, übergroßen Augen. Die Künstlerin bemerkte ihren stillen Beobachter nicht, der ihr, in das dichte vergilbte Weinlaub geduckt, wohl zehn Minuten lang zusah. Er wußte, daß sie zuweilen Kopien für Kunsthandlungen anfertigte und zerbrach sich deshalb nicht weiter den Kopf, aus welchem Grunde sie gerade altgriechische Charakterköpfe malte. Neben ihrem Stuhle lag ein einfarbiges Original, – mehr konnte er nicht sehen. Wahrscheinlich, 352 dachte er, will sie sich durch diese Kopie für ihren altgriechischen Roman Sokrates begeistern! sie ist wirklich ein kleiner weiblicher Michel Angelo; sie könnte in der Malerei beinah gerade so Gutes leisten wie in der Dichtkunst. Allerdings zum wahrhaft Großen und Vorzüglichen, das fühlte er, reichte ihr Talent in beiden Künsten nicht aus; es blieb achtbares Mittelgut. Nun ward es dunkler. Die Malerin erhob sich, um ihre Farben einzupacken, Karl schlich sich auf einem kleinen Umweg vom Fenster hinweg, zur Vorhalle hinaus. Seine Sehnsucht war stärker als je in ihm erwacht.

In der folgenden Nacht konnte Karl nicht schlafen. Unruhig wälzte er sich im Bett. Er wußte, daß sein Vater im Pult Emma Dorns Romanmanuskript liegen hatte, um es durchzukorrigieren. Diese Blätter ließen ihm keine Ruhe mehr. Es wahr ihm als konzentriere sich Emmas ganze Seele in diesem Werk; der Drang erwachte in ihm, das Manuskript zu sehen, zu befühlen, zu lesen, an die Lippen zu drücken. Er erhob sich und schlich sich scheu, wie ein Dieb, aus dem Zimmer.

Er begriff sich selbst nicht, es schien ihm, als ob er in einem somnambulen Zustand gegen seinen Willen handle. Heute abend war Emma beim Vater gewesen. Karl hatte mit ihr am Tisch gesessen und hatte sehen müssen, wie ihr seines geistreiches Lächeln, wie der einschmeichelnde Zauberklang ihrer Stimme dem Vater galt! Ihn beachtete sie nur wenig, höchstens, daß sie ihm zuweilen einen mütterlich-gönnerhaften Blick zuwarf. Aus 353 diesem Blick las der Jüngling eine leise Gefallsucht, einen leisen Triumph. Es war ihm vorgekommen, als ob in ihrem Aug ein süßes Bedauern, ein schmerzliches Mitleid aufdämmerte, durch das sie aber seine Liebesglut eher hätte verstärken, als abschwächen wollen. Und dieses kokette Mitleid, das er aus ihrem Auge las, flößte ihm beinahe ein wenig Haß ein. Er war ganz erstaunt über dies Gemisch von Liebe und Haß in seinem Busen und hätte es nicht für möglich gehalten, daß diese sich widerstreitenden Empfindungen sich doch so innig durchdringen können, wenn er es jetzt nicht in der eigenen Seele erlebt hätte.

Nun stand er mit klopfendem Herzen, notdürftig bekleidet, vor der Zimmertüre. Sollte er öffnen? Leise hob er die zitternde Hand, leise drückte er die Türklinke nieder. Die Türe ging geräuschlos auf, er befand sich im Arbeitszimmer des Vaters. Aus den durchsichtigen Glimmerglasblättchen des amerikanischen Ofens lugte ein wenig rote Glut und warf einen behaglichen Purpurstreifen weit über den bunten Teppich bis an den großen Schreibpult. Karl tastete sich bis an den Pult und zog langsam die unterste linke Schublade heraus. Er wußte: dort lag das Manuskript. Gleich erkannte er den blauen Umschlag. Er ergriff das Heft und trat ans Fenster, um die Aufschrift beim Schimmer des Mondlichts zu entziffern.

Was willst du eigentlich? fragte er sich. Ein Kunstwerk zerstören? Bist du ein Vandale? Nein, das brachte er nicht übers Herz, obgleich sich in 354 seine Liebe zu ihr das bittere Gefühl der Zurücksetzung mischte, das herzzernagende Gefühl, als ob sie ihn im Stillen – belächele, ihn für einen grünen Jungen halte. Er drückte das Heft an die Lippen, er benetzte es mit seinen Tränen, er wollte die Blätter mitnehmen, um sie unter sein Kopfkissen zu legen. Dann faßte ihn wieder eine grimmige Wut. Er schleuderte das Heft zu Boden, hob es wieder auf und wollte es in die glühenden Kohlen des Ofens schleudern.

Plötzlich hörte er ein Geräusch wie von Schritten im Nebenzimmer. Er blieb stehen. Ja! – dort näherten sich knarrende Schritte der Türe. Nun schlüpfte er rasch hinter die breite gelbe Gardine des Fensters. Jetzt ward die Tür etwa zwei Finger breit geöffnet . . . . rötlichgelber Lampenschimmer quoll ins Arbeitszimmer. Von seinem Versteck aus erkannte er seinen Vater, der im grünen Schlafrock aus dem Schlafzimmer kam. War das nur ein Traum? Des Vaters Lippen umschwebte ein zärtliches Lächeln, dasselbe jugendlich-galante Lächeln, das ihm schon während des ganzen Abends am Teetisch die schulmeisterliche Würde geraubt hatte. Karl hatte da mit Erstaunen bemerkt, daß sein Papa genau dieselben Menschlichkeiten unter seiner präzeptoralen Maske verbarg, wie die Andern; sein Erzeuger war durch diese »Schwächen« – so wars der Jüngling zu nennen gelehrt worden und so nannte ers – noch einige Zoll in seiner Achtung gesunken, denn seiner naiven Anschauung nach mußte ein gereifter Mann der 355 Wissenschaft über solche Anwandlungen erhaben sein.

Jetzt kam der Direktor, die kleine Nachtlampe in der Hand, näher. Er schritt an ihm vorbei, nach dem Salon zu. Was hatte er dort zu tun? Warum lächelte er so geheimnisvoll? Karl schlüpfte hinter der Gardine heraus, dem Vater nach in das Eßzimmer. Dort blieb er an der Türe des Salons lauschend stehen. Horch – eine leise weibliche Stimme! Die Stimme Emmas? Karl hatte doch geglaubt, sie sei etwa um zehn Uhr gegangen! Allerdings erinnerte er sich, daß der Vater davon gesprochen; es regne in Strömen, sie solle noch warten. Also hatte sie offenbar dem Rat des Vaters gefolgt, hatte sich überreden lassen die Nacht hier zuzubringen auf dem Divan des Salons!

Karl bebte am ganzen Körper, als er jetzt zu hören glaubte, daß der Vater die Lampe auf den Tisch stellte. Horch! Zärtliches Geflüster?! Karl sah und hörte nichts mehr; ihm war als sänke er in dunkelgrünen Wellen unter, er rang nach Atem, er taumelte gegen den Türpfosten. Mitten in diesem sinnverwirrenden Rausch tauchten plötzlich rote Flecken in seinem Geist auf, – die roten Tintenflecken, die er einst . . . wie Blut . . . hatte von des Vaters Pult fließen sehen. Er taumelte auf, eilte ans Fenster. Dort vom Garten des Regierungsgebäudes, das über der Straße lag, grillte jetzt häßliches Katzengejammer herüber, ein klägliches Gewimmer! . . . dann wieder tiefe nächtliche Stille . . . .. Aber was war das? auch hier an der 356 Fensterscheibe rannen diese widerlichen roten Tropfen herunter? Er suchte sich vorzulügen, es seien Tintenflecken; seine Phantasie aber sah – Blut! Er bebte, schlüpfte wieder ins Dunkel des Zimmers zurück. Wieder dies jammervolle Katzengestöhne! oder war es Säuglingsgewimmer? Er hatte keine Ahnung, wie lange er schon hier war; nun schlug eine Uhr mit ruhigem, edlem Ton, – er wollte zählen . . . er verwirrte sich. Du solltest wieder zu Bett gehen, dachte er; ging aber nicht, sondern malte sich in überhitzter Phantasie aus, wie sein Vater gegen Emma zärtlich war. Ein wilder Krampf zog sein ganzes Inneres jäh zusammen.

Jetzt kam der Direktor wieder, sorgsam alle Türen verschließend, die Lampe in der Hand, zurück. Karl hätte sich verbergen können, aber er tat es nicht, ein dämonischer Trotz hielt ihn mitten im Zimmer fest. »Du bist ein Übermensch!« raunte ihm eine Stimme zu; »bäume dich auf gegen dein Schicksal!«

Der Direktor schlurfte näher, diesmal ein noch innigeres Lächeln um die Lippen. Wie kleinlich kam er dem Sohn jetzt vor; das war ja ein Heuchler, der öffentlich Tugend predigte . . .! Sein alter Haß gährte mit erneuter Gewalt aus. Er blieb stehen, – sein Vater stieß fast auf ihn.

»Du?« stotterte er. »Was sucht man hier? warum ist man nicht im Bett?«

»Ja, warum ist man nicht im Bett?« gab der Sohn höhnisch zurück.

Diese Antwort entfachte des Vaters helle 357 Entrüstung. Er stellte die Lampe auf den Pult. Nun entdeckte er auch in der Hand des Sohnes das Romanmanuskript.

»Wie kommst du dazu?!« fragte er. »Gib das Heft her!« Er griff danach, – der Sohn schleuderte das Heft weit von sich zu Boden.

»Infamer Junge!« knirschte Körn und versetzte dem Sohn eine schallende Ohrfeige.

Dieser Schlag wirkte wie eine Erlösung. Mit einem Ächzen, als wälze sich ein Alp von seiner Brust, packte er den Vater am Hals und schleuderte den Überraschten mit aller Gewalt gegen den eisernen Ofen. Ein metallner Krach! – dann Stille! Karl wachte aus dem entsetzlichen Traum, der ihn bisher geknebelt, auf. Der schwere Ofen war durch den Anprall des Körpers zur Seite gewichen . . . Dort an der rechten Ecke des Ofens hatte ein Mensch gehangen, der jetzt langsam herunterrutschte ins Zimmer. Der Ofen zischte, – es roch nach verbrannten Haaren. Ein Schüttelfrost überfiel den Jüngling. Er starrte den Körper an, der mit dem Kopf auf der Ofenkante, im Zimmer lag. Der rotgesäumte Schlafrock war unter ihm ausgebreitet. Karl ergriff die Lampe und taumelte auf den regungslosen Körper zu. Ja! er erkannte das bartumrahmte Gesicht . . . es war jetzt sehr bleich . . . die Augen waren geschlossen, der Mund, dem ein leises Stöhnen entquoll, geöffnet. Hatte er das getan? Nein! Das hatte eine fremde Person in ihm verrichtet . . . . er war manchmal ein Anderer . . . .

Horch! jetzt schrillte wieder das häßliche 358 Katzengeschrei von der Straße herüber. Nun blickte er sich um. Der Direktor hatte die Türen des Salons und Eßzimmers geschlossen . . . es schien Niemand von dem Fall gehört zu haben. Was sollte er tun? Leute wecken? Das konnte Verdacht erregen. Sich wieder ins Bett legen und den Verwundeten seinem Schicksal überlassen? Das brachte er nicht übers Herz. Nun ward ihm allmählich auch immer klarer, daß er das getan hatte, kein Anderer! und mit diesem Bewußtsein wichen alle früheren Wahnvorstellungen aus seiner Seele, – die schauderhafte elende, nackte Wirklichkeit grinste ihm ins Auge. Er eilte an die Zimmertür seines Bruders.

»Eduard mach auf!« Er hörte nicht; Karl klopfte; das Bett krachte.

»Ja, was ist denn?« gab endlich eine schläfrige Stimme zurück.

»Steh auf . . . ich glaub, es ist ein Unglück passirt.«

»Ach wo! Unsinn.«

»Kein Unsinn! Steh auf! ich hab einen dumpfen Fall gehört.«

»Ach, – du träumst.«

»Nein, komm doch! hilf mir doch!«

Endlich öffnete Eduard die Tür und lallte schlaftrunken: »Laß mich doch in Ruh! Es werden Mäus gewesen sein.«

»Unsinn! Mäus!« rief Karl. »Ich glaub, den Vater hat n Schlaganfall getroffen; komm mit mir ins Studirzimmer.«

»Schlaganfall?« lallte Eduard, schlüpfte aber doch in die Hosen, wobei er in seiner Schlaftrunkenheit 359 fast das Nachttischchen umstieß und folgte dem Bruder.

»Du bist ein Phantast!« ächzte er mit weinerlicher Stimme. »Einen im besten Schlaf zu stören! Siehst Gespenster.«

Die lange gelbe Löwenmähne hing ihm phantastisch ins blödblickende Gesicht, als er dem Bruder voraneilte. Trotz seiner ungeheuren Erregung überkam Karl ein krankhafter Reiz zum Lachen, als er die hagere Gestalt Eduards vor sich her taumeln sah.

»Nu was hast du denn?« fragte der Musiker, sich entrüstet umwendend.

»Deine Haare,« lachte Karl, »die Hosenträger . . . deine Augen . . .«

Er krümmte sich vor Lachen, aber das Lachen tat ihm weh, seelisch und körperlich; es war eigentlich mehr ein unnatürliches Weinen, der höchste Ausdruck eines übermenschlichen Schmerzausbruchs. Dies ahnte Eduard nicht, fühlte sich beleidigt und packte den krampfhaft Lachenden zornig an den Schultern. »Willst du eine Maulschelle?« fragte der entrüstete ›Gott‹.

»Ja, ja, gib mir eine!« lachte Karl, »damit ich zu mir komme.« Dann setzte er auf einmal, seinen Freund Konrad nachäffend hinzu: »Diverse Schnäpse!«

»Mensch! bist du verrückt?« schrie Eduard, eilte schwankend weiter, stieß die Tür zum Studirzimmer auf und rief: »Mensch, wenn du mich umsonst geweckt hast, gibts Prügel.«

Karl stand am ganzen Leib bebend hinter ihm und fragte: »Was siehst du?« Dann kam wieder 360 der lächerliche Drang über ihn, die Phrase: »Diverse Schnäpse!« vor sich hin zu flüstern.

»Was ich seh? was ich seh?« keuchte Eduard schläfrig. »Nichts seh ich. Du hast wieder mal phantasiert. Unsinn! – nichts regt sich. – So schweig doch! was hast du nur immer mit deinen »Diversen Schnäpsen«! Ich hätt wirklich gute Lust, dir eine runterzuhauen. Einn aus dem besten Schlaf zu wecken . . . wo ich heut soviel komponirt hab, daß mir der Schädel brummt.«

»Eh du mir eine runterhaust,« murmelte Karl»sieh da hin!«

»Da?! was ist da?«

»Am Ofen!«

»Halt n Ofen!«

»Diverse Schnäpse!«

»Jetzt sei mal endlich still . . . Donnerwetter!«

Der letzte Ausruf galt seiner Verwunderung darüber, daß der matte Strahl der Lampe ganz am hintersten Ende des Zimmers eine ihm rätselhafte Masse am Boden erleuchtet hatte. Er trat näher und blieb dann entsetzt stehen.

»Wa . . . was ist . . .« stammelte er. »Der Papa . . .?«

»Wer?« fragte Karl, der nur dadurch seine Sinne mühsam zusammenhalten konnte, daß er sich beständig an seines Freundes ulkige Gewohnheitsphrase klammerte.

»Um Gotteswillen!« schrie jetzt Eduard auf, »es ist so! er ist wohl ausgeglitten! er hat ja den ganzen Ofen mitgerissen!«

»Entsetzlich!« stöhnte der Andere.

361 »Geh auf die Bodenkammer!« rief Eduard. »Ruf das Dienstmädchen . . . Oder nein . . . erst wollen wir ihn ins Bett tragen oder warte . . . ruf lieber doch das Mädchen.«

Karl schoß zur Tür hinaus und weckte das neben den Speicherräumen schlafende Mädchen. Dann zog er sich hastig an, um den Dr. Müller herauszuschellen.

Indessen hatte Eduard mit Hilfe des Dienstmädchens den Vater zu Bett gebracht. Sie hatten ihm kalte Umschläge gemacht.

Mitten in ihrer Arbeit störten sie Schritte; Emma war durch das Laufen und das beständige Brausen der Wasserleitung aufgeschreckt worden.

»Wie? Sie hier?« rief der erstaunte Komponist, Schriftsteller und Sänger, als er Fräulein Dorn wie eine weiße Geistererscheinung aus dem Salon in der Küche auftauchen sah.

>Was ist denn passirt?« fragte sie, die Anrede des Verwunderten ganz überhörend.

»Kommen Sie nur,« sagte er ernst, der gerade den Wasserhahn zu drehte und das nasse Tuch auswand; »gut daß Sie da sind, wir können jetzt weibliche Hilfe brauchen.

»Aber was ist denn?« stieß sie entsetzt heraus.

Er sah ihr mit einer tragischen Miene in das erbleichende Gesicht: »Papa ist gestürzt.«

Sie griff wankend nach dem Türpfosten. »Gestürzt?« entfuhrs ihr. »Wie dann? wo dann?«

Eduard eilte mit dem tröpfelnden Tuch ins Schlafzimmer; sie folgte bebend.

362 Ein halbunterdrückter Schrei entrang sich ihren Lippen, als sie das geliebte Haupt totenbleich auf dem Kissen erblickte. Die Nachtlampe goß ihren trübroten Schimmer über diese starren Züge, während schon das erste Frührot durch die Ritzen der Fensterläden schielte. Eine dunkle Ahnung, daß sie dies Unheil mitverschuldet, umkrampfte ihr Herz. Ganz aufgelöst im Schmerz näherte sie sich dem Bett. Er schlug langsam die Lider auf; aus diesem Blick glomm ein tiefer Seelenschmerz.

Sie beugte sich, ihre ganze Fassung zusammenraffend, über das bleiche Gesicht des Direktors. Er war völlig zu sich gekommen, fühlte sich aber noch sehr matt. Die hellen Tränen rannen ihm über die Wangen, als er Emmas Gesicht so nahe über dem seinen erblickte. Ihre geisterhaft weit aufgerissenen Augen suchten liebevoll fragend nach Trost, nach Hoffnung in seinen müden traurigen Blicken.

»Aber was ist dir denn zugestoßen?« fragte sie, ihm zärtlich über die Wangen streichend.

»Nichts«, flüsterte er; »ein kleiner Unfall.«

Im Anfang, als wieder die Welt vor seinen Blicken aufzudämmern und er sein eigenes Ich wieder zu ahnen begann, hatte er den ganzen Vorfall völlig vergessen.

Erst allmählich erinnerte er sich an den Wortwechsel mit Karl – und empfand nun ein tiefes Grauen vor dem eigenen Kind, gemischt mit Reue. Er hatte ihn doch vielleicht nicht richtig behandelt, sagte er sich.

363 »Du bist ausgeglitten?« fragte sie ängstlich.

»Ja«, lispelte er. »Man sorge dafür, daß Karl nicht in meine Nähe kommt. Man will ihn nie mehr sehen! nie mehr!«

Sie blickte ihm mit erschrockenem Gesichtsausdruck ins Auge. »Karl – wie so?« stammelte sie.

»Genug,« fuhr er fort. »Ich kann nicht viel reden, mir wird übel.« Er mußte sich erbrechen, dann verfiel er einen traumhaften Betäubungszustand.

Als der Arzt kam, ließ er sofort aus der nächsten Brauerei Eis holen, das dem Kranken auf den Kopf gelegt ward. Dann hieß er alle Personen aus dem Zimmer gehen, setzte sich neben das Bett, drückte den Elfenbeinknopf seines Stockes gegen die Lippen und beobachtete angestrengt den Schlummernden. Darauf erhob er sich, ging ins andere Zimmer und verschrieb Brom-Ammonium. Emma fragte ihn, was er von dem Fall denke.

Gefahr sei wohl nicht vorhanden, meinte der Arzt, doch einige Tage werde er liegen müssen.

Mittlerweile war es Tag geworden und Karl eilte in die Wohnung seiner Mutter, um sie wahrheitstreu zu benachrichtigen.

Die Mutter, die schon in aller Frühe an ihren Götheforschungen saß, nahm den Bericht mit tiefem Ernst hin.

»Also das Frauenzimmer war bei ihm?« forschte sie mit rollenden Augen.

Karl erzählte dann kleinlaut, daß er sich nicht länger habe halten können, die Entrüstung habe ihn zu weit getrieben! Die Mutter war allerdings 364 bestürzt, aber sie faßte die Tat als Ritterdienst des Sohnes auf.

»Sogar vor Gericht«, meinte sie, »würde es dir zur Entschuldigung dienen, daß du für die Zurücksetzung, die Entehrung der Mutter Rache genommen hast. Das kann wohl kein guter Sohn mit ansehen, ohne sich zu vergessen. Ich werde eine Klage wegen Ehebruchs einreichen.«

Der Sohn bereute der Mutter alles gestanden zu haben; so weit, bis zu einem Prozeß sollte es nicht kommen! Aber es war zu spät.

»Ich bitte dich, Mama,« flehte er, »unterlaß das! Er ist genug bestraft . . . dadurch, daß er nun den Haß des eigenen Sohns erkannt hat.«

»Nun gut,« beruhigte sie ihn. »Ich werde abwarten. Ich werde beobachten, ob er nach seiner Genesung noch weiterhin mit diesem Frauenzimmer verkehrt. Für sein bisheriges Treiben ist er freilich hart gestraft. Neue Schuld wird neue Sühne heischen.«

»Wird er nicht Strafantrag gegen mich stellen?« fragte der Sohn.

»Wie kann er das?« versetzte die Mutter. »Du müßtest dann den Mund auftun . . . Und dann hätte auch ich kein Erbarmen.«

»Ja, du hast recht!« unterbrach er sie; »das wird er sich selbst sagen. Und . . . willst du ihn nicht besuchen?«

Katharina kämpfte mit sich selbst. Sie zog sich an, um zu ihm zu gehen, setzte sich auf einen Stuhl und überlegte, ob sie nicht doch bleiben sollte. Dann zog sie sich wieder aus.

365 »Nein!« sagte sie. »Wenn er am Sterben läge oder gar keine Hilfe hätte . . . So aber ist ja sie bei ihm, – ich gehe nicht. Er kann mich ja rufen lassen, wenn er mich braucht . . . wenn er Sehnsucht nach mir hat,« setzte sie mit schmerzlich-ironischem Lächeln hinzu.

Karl mußte ihr beistimmen. Schließlich suchte die Mutter wieder in ihrem altbewährten Heilmittel, in Tränen, Erleichterung. Karl wußte nicht: galten die Tränen dem Vater? oder beweinte sie ihr eigenes Schicksal?

Er verließ sie, um wieder die Wohnung des Vaters aufzusuchen. Eine peinliche Unruhe trieb ihn beständig hin und her. Er mußte immer irgend etwas tun und wußte doch nicht was. Jede Beschäftigung ward ihm gleich zum Eckel. Auch die Nahrung eckelte ihn an, er konnte keinen Bissen hinunter bringen. Dabei fror er unaufhörlich. Die Glieder zitterten ihm vor innerem Frost, die Zähne schlugen ihm aufeinander, er befand sich im Zustand eines heftig Fiebernden. Eduard war erstaunt darüber, daß sein Bruder gar nicht einmal darnach verlangte den Vater zu sehen. Er forderte ihn dazu auf, aber Karl betrat das Zimmer des Kranken nicht.

Als Emma ihm mitteilte, daß sein Vater eine sonderbare Äußerung getan, merkte der junge Mann, daß seine Neigung zu dem Mädchen mit einem Schlag verflogen war, ja einem tiefen Widerwillen Platz gemacht hatte.

»Er will Sie nicht sehen!« sagte sie bekümmert.

366 »So?« gab er gequält zurück. »Was hat er denn gegen mich?«

»Ich weiß nicht!« Sie wendete ihm betreten den Rücken zu . . . sie ahnte, was er von ihr dachte – oder wußte, und fühlte sich auch sehr schuldig.

Karl war wirklich versucht, ihr empört zuzurufen: »Du bist ja schuld an dem ganzen Vorfall!« Doch zog er vor zu schweigen.

Wie gern wäre er in das Schlafzimmer gegangen und hätte sich dem Mißhandelten zu Füßen geworfen, ihn um Verzeihung angefleht! Emmas Mahnung hielt ihn zurück. Vorsichtig prüfend erkundigte er sich nach dem Ereignis, auf welche Art eigentlich der Vater gestürzt sei? Er merkte bald an den Antworten, die er erhielt, daß sein Vater bis jetzt verschwiegen hatte, wer freventlich Hand an ihn gelegt. Ob er auch fürderhin schwieg? Jedenfalls konnte er dem Mißhandelten nie mehr ins Gesicht sehen, er konnte nicht mehr unter einem Dach mit ihm wohnen. Er hatte Furchtbares verübt. Auch wenn der Vater bald wieder hergestellt war, – er fühlte, daß kein rechtlich denkender Mensch ihm jemals verzeihen könne. Für eine solche Tat gab es kein Verzeihen und niemals konnte er sie wieder gut machen.

So tief vorher sein Haß in ihm gewühlt, so intensiv fraß sich nun das Schuld- und Reuegefühl in sein Herz ein. Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen –: er hatte bisher in einem entsetzlichen Wahn gelebt; der Vater meinte es doch gut mit ihm! Seine Eifersucht war ja kindische Einbildung, 367 seine Liebe zu Emma blöde Jugendeselei . . . Und wegen solch kindisch-phantastischer Wahngebilde hatte er sich hinreißen lassen, das was jedem normalen Menschen das Heiligste ist, die Vaterliebe, mit Haß zu vergelten!

Er konnte jetzt sein Tun gar nicht mehr begreifen! Er konnte nicht einmal mehr daran denken, ohne einen solchen Schauder ja Eckel vor sich selbst zu empfinden, daß ein heftiger Selbstvernichtungstrieb in ihm erwachte. Wie von einem dunkeln Erlösungsdrang beseelt, ging er in sein Schlafzimmerchen und entnahm der Schublade des Nachtkästchens seinen alten Revolver. Draußen vorm Fenster pustete die Dampfröhre der Druckerei . . . es kam ihm vor, als sei das ein Riesenrevolver, der einen großen Rauchbüschel ausstieß.

»Vorm Tod noch machst du poetische Vergleiche!« sagte er zu sich. »Was wird dein Gehirn träumen, wenn die Kugel es zerreißt? O! diese letzten Halluzinationen?!« Er mußte lächeln . . . vielleicht träumte er von einer reichbesetzten Tafel? oder von schönen Mädchen, die ihm goldene Becher reichten? Ja, er hätte so gern noch zum Ende die glühendsten Freuden des Lebens ans Herz gedrückt! So jung sterben . . . ohne Etwas geleistet zu haben!

Ob wohl sein Vater ihm selbst den Revolver in die Hand drücken würde?

Jetzt brach die Sonne ein wenig durch den Novemberhimmel. Hinaus, hinaus! In der freien Natur stirbt sichs leichter als hier im engen Zimmer. Man soll deine Leiche nicht finden!

368 Mit solcher Hölle im Busen verließ er gegen Mittag ohne Mantel das Haus.

Gerade als er dann im Vorplatz angekommen war, bemerkte er Frau Rechtsanwalt Meyer. Sie war elegant zum Ausgehen gekleidet. Offenbar mit sich selbst kämpfend, stand sie unschlüssig an der Haustüre. Ihr Gesicht hatte einen gequälten Zug, wie bei einem Schlafenden, der von bösen Träumen gepeinigt wird. Manchmal murmelte sie erregt Unverständliches vor sich hin. Karl dachte: sie wird wieder eine Auseinandersetzung mit ihrem Willy gehabt haben, vielleicht will sie jetzt ihre Drohung ausführen? ihm davonlaufen?

Er grüßte. Sie bemerkte es gar nicht. Sie sah ihn ganz befremdet an und murmelte etwas vor sich hin wie in einem nachtwandlerischen Zustand. Jetzt schoß sie plötzlich, als verfolge man sie, zur Türe hinaus. Er folgte ihr und war nun doch, als er ins Freie trat, ärgerlich darüber, daß er keinen Mantel angezogen hatte. Er sah aus wie ein besserer Handwerksbursche in seinen etwas zu eng gewordenen Kleidern.

Vom grauen Himmel herab fing es leise zu schneien an; vereinzelte, verlorene Flöckchen wehten herab, als hätten sie Angst die Erde zu berühren; ein scharfer Wind fegte durch die Straßen, so daß alle Schirme schief gehalten werden mußten und oftmals Hüte über die Schienen der Trambahn rollten.

Mit dem Ahnungsvermögen des Unglücks sagte er sich: Diese Frau, die in sich versunken da vor 369 dir herwandelt, hegt denselben Vernichtungsdrang in sich, wie du! . . . ihr geht auf derselben Bahn! Er wußte ja auch, daß sie schon seit einiger Zeit schwer unter dem Mistrauen ihres Gatten litt. Sie hatte ihm erst vor drei Tagen, als eine tiefe Schwermut sie ergriffen, gesagt, sie halte dies Leben nimmer aus. Dazu kam noch, daß auch Karl sie für schuldig hielt, da er dem Charakter des Kommerzienrats keine Großmut zutraute. Am Ende geht sie zum Kommerzienrat? dachte er; sie hat sich elegant herausgeputzt, das tut man doch nicht, wenn man ins bessere Jenseits spazieren geht?

Aber ihr Weg führte nicht auf den Weg des reichen Musiknarren, sie eilte auf die Landstraße, die nach Mosach führte; dort ergoß sich ein Nebenfluß der Isar durch die öden Fluren. Jetzt flog ihm der schwarze Filzhut vom Kopf, Karl lief ihm nach . . . dadurch kam er ganz in die Nähe der hübschen Frau. Als sie die letzten Häuser der Stadt erreicht, holte er sie ein. Er ging neben ihr her, sie befand sich jedoch in einem so merkwürdigen Zustand stumpfer Teilnahmlosigkeit, daß sie ihn gar nicht beachtete. Es war, als sei sie ganz allein auf der Welt; mit so inniger Heftigkeit strebte sie nach ihrem letzten Ziel, daß sie gar keine Zeit fand, irgend Etwas zu beachten. Beide sprachen kein Wort, Beide fühlten, auch ohne weiter Notiz von einander zu nehmen, daß sie zusammen gehörten. Endlich brach er das Schweigen.

»Wie sonderbar das anmutet! hier dieser Wirtsgarten. Statt froher Biertrinker lacht der schneidende 370 Nordwind über die vor Nässe schwarzen Tische und Bänke. Dort steht über der Tür des Bretterverschlags: »Herrenbad«; da: »Damenbad«. Hu! das schwarze Wasser da unten . . . wie das wirbelt! Wollten Sie jetzt ein Bad nehmen?« Er lachte bitter.

Diese Anrede brachte die Frau zu sich. Sie blieb stehen und starrte in die dunkle Flut, die unheimlich unter der Brücke hinrauschte, um hinter den Planken der Badeanstalt brausend zu verschwinden.

»Was will ich denn? was will ich denn?« murmelte sie verstört, ihren grauen Mantel fester um die Hüften drückend.

»Ja, wahrscheinlich dasselbe was ich auch will!« sagte er mit wildem Galgenhumor. »Das Leben ist Ihnen n bischen zu schwer geworden, gelt? wollens abschütteln? Geht mir auch so! Schütteln wir gemeinsam.«

Sie sah ihn, wie aus einem entsetzlichen Traum erwachend, an.

»Ach, Sie sinds?« stammelte sie, ihn jetzt erkennend. »Warum folgen Sie mir?«

»Nun, ich kann mir denken, was Ihnen fehlt,« fuhr er mit unheimlicher Aufgeräumtheit fort. »Das ewige Mistrauen Ihres Manns . . . nicht wahr? Das hat Ihnen die Sinne verrückt und so verschiedenes Andere.«

Sie nickte und lispelte wieder: »Ja, was will ich denn? was will ich denn?«

Er drückte sich den schwarzen Filzhut über die Stirn. »Nun,« fuhr er fort, »Sie haben mir ja vor einigen Tagen Andeutungen gemacht . . . Ich weiß 371 genau, was in Ihnen vorgeht . . . auch von Otto . . . Was in mir vorgeht? nu! das ist ja gleich! das brauchen Sie nicht zu wissen. Genug, ich hab einen Fluch auf mich geladen . . . ich kann nach so was nicht mehr weiter die Welt verunzieren. Geht wirklich nicht; sie speit mich aus. Aber sagen Sie doch: wie wollen denn Sie die Reise machen? ins Jenseits hinüber aus der Welt des Scheins.«

Er hatte mit dem eigentümlich gleichgiltigen, müden Humor der Verzweiflung gesprochen. Sie blickte mit stumpfem Weh im Aug, frierend, in sich zusammenschaudernd, in die graue Weite. Der eisige Wind pfiff über die unendliche kahle Wiesenfläche und trug den schrillen Aufschrei eines fern heranrollenden Bahnzugs herüber. Man sah am Horizont die weiße Dampfwolke der Lokomotive wie einen Ballon hinschweben.

»Sie wollten gewiß ins Wasser springen?« fragte er mit selbstpeinigendem Sarkasmus die verstört ins Weite starrende Frau. »Tun Sie das nur nicht! das ist höchst ungemütlich bei der Temperatur. Nein! Da gibts ein viel einfacheres Mittel . . .«

»Einfacheres Mittel?« lallte sie geistesabwesend.

»Freilich, ein schnelleres!« fuhr er fort, »die moderne Technik hat weit raschere Mittel die Seele vom Leib zu trennen, als das Wasser. Überhaupt spaziert man rascher und bequemer aus der Welt, als in die Welt. – Sehen Sie?«

Er griff in die Tasche und holte den matt blinkenden Revolver heraus. Kaum hatte sie das Instrument erblickt, dessen schwarze Mündung ihr 372 drohte, so malte sich auf ihren Zügen ein solcher Ausdruck des Schreckens, daß er schmerzlich auflachen mußte. Er steckte die Waffe wieder ein. »Mir scheint, s ist Ihnen doch nicht sehr ernst mit dem Sterben, was?« stieß er zitternd heraus.

»Ich . . . weiß nicht,« stammelte sie. »Ich kanns nicht.«

»Na,« sagte er, »sehen Sie dort die Kreuze über die langweilige Mauer herüber winken? Suchen wir die Ruhestätte der Abgeschiedenen auf. Vielleicht lernen Sie aus dem Anblick der Toten die Welt verachten! Oder das Leben wieder lieben? Je nachdem! Hören Sie? . . . dort wehen eben die Akkorde eines Posaunenchorals über die Mauer. Die Musici blasen schläfrig; wahrscheinlich sinds elende Dilettanten; oder werden sie jämmerlich für ihre Künste bezahlt. Hören Sie! . . . Jetzt weht uns der Wind die abgerissene Stimme des Pfarrers herüber. Was wird er sagen? »Er war Gatte und war ein guter Gatte . . . er war Vater und war ein guter Vater . . . er war Sohn, Schwager, Bruder, Onkel, Tante . . . alles sehr gut!« Kommen Sie! – Die Predigt könnte mir zwar den letzten Rest von Lebensmut aus dem Leibe treiben, – doch Ihnen gibt sie vielleicht neue Kraft? was?«

Sie schritten den Feldweg entlang, der langen, grauen Mauer des Mosacher Kirchhofes zu. Die Posaunenakkorde waren verstummt; traumverloren, wie aus den Hallen der Ewigkeit wehten die abgerissenen Phrasen der Predigt herüber, ihr hohles Pathos mischte sich kalt und dumpf mit den Stößen 373 der kalten Winde. Jetzt ein salbungsvolles Amen! Dann wieder ein paar unreine Posaunenakkorde.

Jetzt hatten sie den Kirchhof erreicht und traten in die neue Leichenhalle ein. Der breite architektonisch reich geschmückte Sandsteingang ward von der einen Seite durch große Glasscheiben ähnlich wie bei Aquarien erhellt. Hinter diesen riesigen Glasscheiben lagen die Toten in ihren Särgen, mit duftenden Blumen den Symbolen des Lebens geschmückt, von oben beleuchtet, als seien es seltene Sehenswürdigkeiten.

»Sehen Sie,« dozierte Karl in seinem ihm eigenen professoralen Ton, »hier haben Sie das Wachsfigurenkabinett des Tods. Ist das ein schauerlicher Anblick? Im Gegenteil! Man möchte sich gleich auch so hinlegen! Da ein Alter; er scheint – Anwaltsschreiber gewesen zu sein. Jetzt schreibt er keine Protokolle mehr ab. Dort ein Jüngling; auch ein Bruder Studio, der jetzt den Würmern einen Salamander reibt. Da eine brave Hausfrau; im Jenseits kann sie wohl die Erfahrungen der Küche und des Putzlumpens nicht mehr verwerten? Dort eine Jungfrau; hoffentlich kann sie die aufgespeicherten Zinsen ihrer Jugend jetzt ruhig genießen. – Wie lieblich der Anblick der Kinder! die haben mal den Kopf zur Türe in die Kinderstube des Lebens hereingesteckt und sich schlauer Weise gleich wieder davongemacht; das Spielzeug war ihnen nicht nett genug.«

Emiliens Todesfurcht war in der Tat geschwunden. Der friedliche Anblick dieser im tiefsten Schlummer 374 versunkenen Gesichter wirkte geradezu ansteckend auf ihr Gemüt.

»Unwillkürlich«, fuhr Karl fort, »suchen wir hinter diesen starren Masken der Toten noch das Leben. Wir glauben, wir müßten aus diesen gebrochenen Augen das große Rätsel enträtselt leuchten sehen und wie wenig doch bieten sie uns! Auch das Seziermesser des Arztes sucht vergebens hier nach den Quellen des Daseins; die fließen im Übersinnlichen . . .«

»Wie wird der letzte Augenblick sein?« murmelte sie.

»O vielleicht gar nicht so übel!« belehrte er sie. »Der Lebenstraum wird sich da wohl phantastischer weiterspinnen, wir sehen uns vielleicht in einen prachtvollen Zaubergarten versetzt . . . überall Pfauen, schillernde, farbenbrennende Pfauen . . . denken Sie, wie herrlich! hinter glühenden Rosen auch noch edelsteinfunkelnde Pfauen? Dann tuts einen Ruck! sehen Sie, so einen inneren Knacks, – Nacht ists!«

Beide verließen die Leichenhalle und wandelten träumerisch stumm die lange graue Kirchhofmauer hinab. Es dunkelte schon. Die weite Wiesenfläche, über die der scharfe Wind klagend strich, verlor sich im unheimlich Ungewissen; nur am fernen Horizont dämmerte noch ein rötlich-grauer Streifen, von dessen mattem Silberglanz ferne Baumwipfel, Fabrikschornsteine und Häuserdächer sich finster abhoben. Von der Landstraße ächzten schläfrig die Achsen mehrerer Lastfuhrwerke herüber.

An der Ecke der Mauer blieb Karl stehen. Er 375 hatte schon seit zehn Minuten eine Gestalt beobachtet, die quer über die Wiese eilte.

»Sehen Sie dort!< sagte er leise . . . »Wer kommt da?«

Nun richtete auch Emilie ihre Augen auf die schwarze näher kommende Gestalt; es war ein Weib. Sie lief mehr als sie ging. Beide standen einige Zeit beobachtend, denn sie hatten den Eindruck, als ob die Person auf sie zu eilen, sie suchen, ihnen Zeichen geben wollte.

Nun murmelte Karl: »Natalie!« Emilie schrak zusammen, . . . Ja, es war ihr Kind! Sie erkannte sie jetzt am Gang, an einer Geberde der winkenden Hand; die Gesichtszüge konnte sie noch nicht enträtseln.

Beide blieben unwillkürlich stehen. Sie hätten ja auch fliehen, ihr düstres Vorhaben rasch ausführen können. Aber sie schämten sich diesem blühenden, näherkommenden Leben gegenüber; es kam ihnen wie ein schweres Unrecht vor, im Angesicht dieser vertrauungsvoll Anmutigen etwas Häßliches zu tun. Sie warteten, bis das Mädchen immer näher herangeeilt war. Jetzt konnte man schon ihre hastigen Atemzüge hören, jetzt dämmerten die zarten Formen ihres mütterlich-kindlichen Gesichtchens aus dem Grau-Grün der Dämmerung auf.

»Mama, Mama!« rief sie.

Bald darauf stand das Mädchen nach Atem ringend vor den Beiden und suchte mit so verzweiflungsvollen Blicken in ihren Zügen zu lesen, daß sowohl er als sie, von einer Art Schamgefühl ergriffen, nicht wußten, was sie tun oder sagen sollten.

376 »Aber Mama!« stammelte das Kind, dem die Tränen in die Augen drangen, »so spät? Wohin gehst du denn? Ich bin dir von Ferne nachgegangen, ich habe so Angst gehabt . . . um deinetwillen . . . Dann hab ich dich aus den Augen verloren . . . und . . . hier in dieser Einsamkeit? was tust du denn hier?«

Sie streifte mit einem vorwurfsvollen Blick aus ihren schwarzen Augen erst Karl, dann die Mutter. Emilie empfand, daß ihr Kind sie völlig durchschaut und alles erraten hatte. Dies Bewußtsein brachte einen gewaltsamen Umschwung in ihr hervor. Sie schloß des Kind heftig in die Arme, drückte es an die Brust und schluchzte laut auf: »Fort, fort von hier!«

»Mama? Mama?« fragte das Mädchen mit rührendem Vorwurf in der Stimme.

»Ach, du ahnsts ja nicht,« fuhr die Mutter fort, »ich kann dir nicht alles sagen, was mich so weit getrieben . . . Aber nun ists vorbei! Dein Anblick läßt mich ja das Schlimmste wieder ertragen. Ja, ich will dulden, – dir zu lieb! Ich will dir nie mehr so einen Schmerz antun. Wie schön von dir, daß du mir nachgeeilt bist! Du hast mich vor einem großen Unrecht bewahrt, das dank ich dir ewig. – Ja, ja, sein Schicksal soll der Mensch tragen.«

Der Anblick der beiden weinenden Frauen, wie sie sich in Zärtlichkeiten erschöpften, löste auch in Karls Brust den starren Krampf der Selbstsucht! Ja, rief er sich zu, Selbstsucht wars, die dich aus der Welt trieb, denn dadurch, daß du deinem Gewissen entfliehen willst, machst du dein Unrecht, deine vielen 377 bisher begangenen Fehler nicht gut. Nicht feige davonschleichen sollst du, sondern nun erst recht kämpfen! Alle deine Fähigkeiten mußt du ins Spiel setzen, um vor dir selbst wieder gerechtfertigt dazustehen!«

Besonders der Anblick dieses reizenden, unschuldigen Mädchens wars, was ihm wieder die Lust ins Herz flößte, dem Leben von neuem die Stirne zu bieten. Wer weiß! vielleicht wird doch noch was aus dir? vielleicht erringst du doch noch die Siegespalme! Mit Erstaunen fühlte er, wie merkwürdig ein edles Menschenantlitz auf den Menschen wirken kann. Schönheit ist doch das höchste Geheimnis, dachte er; in der Schönheit wirken metaphysische Kräfte. Vielleicht begeistert sie uns deshalb so tief, weil wir ahnen, daß wir so vor unsrer Geburt waren, so nach dem Tod wieder werden? Sie ist ein Wink aus dem Jenseits, ein Abglanz aus einer höheren Welt; sie streift das Irdische von unsern Blicken und deutet auf eine Welt des Übersinnlichen.

Als nun Natalie die Arme von der Mutter löste und mit weit aufgerissenen Augen auf ihn zu schritt, konnte er sich nicht länger beherrschen. Ihr fragender Blick las zu tief in seiner Seele, seine Augen brannten von Tränen und er flüsterte: »Sie haben uns Beiden das Leben wieder gegeben!«

Sie zuckte zusammen. »Also doch?« murmelte sie; »auch Ihnen?!«

»Ja. Wir standen dicht am Grab; aber Ihre Erscheinung hat mich belehrt. Ich sehe jetzt ein, daß die Theosophen recht haben, wenn sie den 378 Selbstmord in mißlichen Lebenslagen als Torheit verwerfen. Das erlöst nicht, das verstrickt nur tiefer in Schuld.«

»Von der Mama ahnte ich schon lange, daß sie mit so schrecklichen Gedanken umgeht,« lispelte sie traurig. »Aber Sie? wie kommen Sie auf einen so gräßlichen Gedanken?«

»Davon . . . vielleicht ein andermal!« erwiderte er düster. »Wollen wir gehen? nach Haus zurück?«

Schweigsam wandelten die drei Menschen neben einander her, über die dunkle Ebene, auf die nun dichter, immer dichter, ein geheimnisvoller weicher Schneeschleier nieder sank. Der Sturm hatte sich gelegt. Fern herüber brauste der Straßenlärm der großen Stadt, deren Tausende von Lichtern den Horizont mit einer silberbleichen Glorie umsäumten«

Als die drei sich auf der Treppe des ersten Stockwerks trennten, blickte Natalie dem jungen Mann ernst in die Augen. »Haben Sie denn Ihre Lebensaufgabe ganz vergessen?« sagte sie leise.

Er lächelte wehmütig. »Sie haben recht! Lassen Sie mir nur Zeit. Durch Nacht zum Licht. Nur wer die Tiefen kennen gelernt, darf auf den Höhen wandeln.«

Sie reichte ihm die kleine, kindliche Hand. Dann folgte sie ihrer voraneilenden Mutter treppaufwärts nach.

Karl stand noch eine Zeit lang in tiefen Gedanken. Er fühlte, daß eine große Veränderung in ihm vorgegangen war: eine alte Liebe war in ihm erloschen, und eine neue, edlere, tiefere, hob leise 379 erwachend ihr Haupt. Mit Bewunderung sah er in Natalie das was ihm selbst nur allzusehr fehlte: sie hatte die Mutter gerettet, er beinahe den Vater ins Verderben gestürzt. Der Blick auf diese Gestalt verlieh ihm den Wunsch und die Kraft sich zu demütigen, vom Vater Verzeihung zu erflehen; nichts als Verzeihung! und dann hinzugehen, um zu arbeiten. Ohne die Beihilfe des Vaters, auf den er alles Recht verloren, und ohne die Mutter in Anspruch zu nehmen, von der er ohnehin nichts erwarten konnte, – ohne die Hilfe irgend eines Menschen wollte er allein sich seinen Platz in der Welt erobern. Das soll deine Strafe sein! rief es in ihm; so büße deine Schuld! das ist die einzig richtige Sühne; sie allein hat Wert und löscht alles Schwarze aus deinem Schuldbuch aus.

Zuerst aber Demütigung und Abbitte vor dem schwer Beleidigten. Sollte ers tun? gleich jetzt? Er kämpfte heftig mit sich selbst: ein tiefes Bedürfnis nach Verzeihung, nach Frieden, trieb ihn mächtig zum Vater, – einerlei wie der ihn empfangen würde; und doch fing auch sein Stolz an zu leiden, sich zu bäumen. Er zitterte am ganzen Leib, sein Gesicht war sehr bleich und zuckte krampfig, als er nun in die Wohnung eintrat und auf die Tür des Vaters zuging. Der gekrümmte Finger bebte ihm: er konnte die Tür nicht berühren, sie schien ihm glühend zu sein und hinter ihr lauerte die Hölle. Die Ohren rauschten ihm wie im leichten Fieber, eine peinliche Traumseligkeit, die ihm allerlei verworrene Bilder schuf, umflorte sein Bewußtsein; 380 Bilder längst entschwundener Jugendtage, die sich aber garnicht recht auffassen ließen, so zart, silberglänzend, nebelbleich, flossen ihre trunkenen Farben ineinander.

Horch! jetzt hüstelte es hinter der Tür, die so teilnahmlos hart, kalt, ihn anstarrte. Er dachte, die Tür müsse sich in Nebel verwandeln und dann in Nichts zerfließen, um ihn einzulassen. Sie blieb aber eigensinnig hartes undurchdringliches Holz. Wie eckelhaft ihm der weiße Ölfarbenanstrich vorkam!

Wieder raschelte es hinter der weißen harten Wand. In diesem rauschartigen Traumzustand öffnete er, ohne zu klopfen, erschrak über das Öffnen, und wollte die Tür wieder schließen. Da rief es: Herein!.

Er öffnete zaghaft, wäre aber am liebsten gleich wieder umgekehrt, denn sobald sein Vater ihn erblickte, sank er mit entsetzter Geberde, als wollte er fliehen, in die Kissen des Sessels zurück.

Karl ließ seinen schwarzen Hut fallen vor Grausen. Er stand gebückt mit einer demütig schmerzvollen Miene da, während der alte Körn ihn mit krassen Augen anstarrte.

»Was will man von mir?!« tönte es dem Sohne kalt, angstvoll entgegen.

Und seltsam! in seine Zerknirschung und in das Mitleid, das ihn jetzt angesichts des Leidenden beschlich, mischte sich dem Sohn ein Gefühl von Stolz, als er im Blick seines Opfers neben der Angst einen Zug von Achtung entdeckte, von jener Achtung, die wir – immerhin noch sehr atavistisch 381 fühlenden Menschen vor körperlicher Überlegenheit, vor rascher Gewalttat, empfinden. Es erfüllte den Jugendstarken mit einer traurigen Art von Triumph, daß hier ein Mensch vor seiner Faust gezittert hatte. So konnte er, als der Vater nocheinmal angst- und respektvoll seine Frage wiederholte, nicht mit der soeben noch tiefgefühlten Reue erwidern; der Klang seiner Stimme verriet einen gewissen Trotz als er nun hervorstieß:

»Nichts; Abschied nehmen . . .«

Erst als der Vater verwirrt vor sich hinmurmelte: »So? Abschied nehmen? Wohin?« – verflog dies Gefühl von Triumph sehr rasch und machte wieder qualvollen Empfindungen Platz.

»Ich wollte dir eigentlich meinen Anblick ersparen . . .«

Der Direktor nickte finster. »Dabei hätte man bleiben sollen!«

»Ich geh auch gleich wieder . . . Nur mein Gewissen wollt ich erleichtern.«

Um des Vaters finstre Lippen kräuselte es sich wie leiser verächtlicher Hohn, als er jetzt vor sich hinflüsterte: »Gewissen? Hat man doch noch so etwas in sich?« Dann blickte er lang, in düstere Träume versunken, zum Fenster hinaus, auf die puffende Dampfröhre.

Karl, der noch demütig an der Tür stand, schritt weiter ins Zimmer hinein und lispelte bewegt: »Vater!«

Da wendete der Direktor den Kopf und lehnte den Gefühlsausbruch seines Kindes mit den Worten ab: »Man glaube nicht durch solche Komödie Geld von mir erschwindeln zu können!«

382 Karl blieb erschrocken stehen. »Geld?« rief er, »ich brauche kein Geld. Deshalb bin ich doch nicht gekommen!«

»Man will ja fort? Man muß doch leben? Wovon?«

»Das laß meine Sorge sein!« rief Karl mit aufsteigendem Ärger. »Überhaupt . . . ich verstehe dich nicht! Ich komme her, um . . . mein Unrecht . . . zu bereuen, und du . . . redest von Geld?!«

Der Vater ließ sich nicht beirren. »Wieviel wirst du monatlich brauchen?« fragte er streng.

»Garnichts werd ich brauchen! Ich habs doch gesagt! Keinen Heller nehm ich von dir!«

Der Alte hörte das nicht ungern. »Nun gut. Dann sieh, wie du durchkommst. Ich bin selbst in keiner glänzenden Lage . . . Der abgesonderte Haushalt meiner Frau . . .«

»Dazu die Bedürfnisse der Neuen . . .« ergänzte höhnisch der Sohn.

»Man halte seinen unverschämten Mund!« donnerte der Direktor, besann sich aber sofort erschrocken, daß man diesen Menschen nicht reizen dürfe. Ärger und Angst verbarg er unter einem mürrischen Ton. »Zudem weiß ich noch nicht, . . . wenn gewisse Dinge offenkundig werden, . . . ob ichs vermeiden kann, mich pensionieren zu lassen . . .«

»Das wäre das Vernünftigste«, murmelte Karl.

Das Vernünftigste?! Wenn er, der große Pädagog, den selbst der Minister ehrte, sein Amt aufgab?! Der Direktor setzte sich im Sessel empor. »Wie lautete das?« zischte er empört durch die Zähne.

383 In Karl arbeitete es; sein Reuegefühl war völlig geschwunden und hatte dem Haß wieder Platz gemacht. »Hier steht ein Probestück deiner Erziehungskunst! bist du stolz darauf? Schuldig bin ich, maßlos schuldig! Aber bin ichs allein?«

»Hast du, als Kind, mir meine Schuld vorzuhalten?«

»Aber ich darf doch Gerechtigkeit verlangen!«

»Gerechtigkeit? Verblendeter! Gerechtigkeit verlangt man? wo man die Hand gelegt hat an seinen Vater?!«

»Ja, aber warum hat man das getan?«

»Seis hierum oder darum! Für so etwas gibts keine Entschuldigung. Wer die Hand aufhebt gegen seinen Vater, auf dem ruht des Himmels gerechter Fluch!«

»Ach so? des Himmels? an den du selbst nicht mehr glaubst.«

»Was erlaubt sich der Mensch?!«

,.Oder doch? War das auch im Einklang mit dem Himmel . . . in jener Nacht . . .? Man hatte wohl Dispens aus Rom?«

Da richtete sich der Vater, bleich, mit rollenden Augen, in voller Höhe im Sessel empor; sein Schuldbewußtsein vergrößerte nur seine Wut; fast war ihm, als könne er durch erkünstelte Entrüstung die Schuld vertilgen.

»Elender!« schrie der kranke Mann und hob die matte Hand wie zum Fluch. »Mir aus den Augen, Verfluchter!« Und mitten in seiner halb unechten Wut empfand der verwöhnte Freund der Griechen mit Beschämung die Banalität seines 384 Kulissengeschreis. Aber er konnte es nicht ändern. Doch fuhr er nochmals mit beiden Händen in die Luft: »Dein Ende mit Schrecken ist nah!«

Und ein Schrecken fuhr in der Tat dem Jüngling ins Gebein, als er so den erschöpften Vater in der Haltung eines Gekreuzigten vor sich sah. Schon wieder das?! Sein Traum von neulich fiel ihm wieder ein!

»Das kann schon sein!« stammelte er zitternd mit gebrochener Stimme. Dann schrie er wieder im Trotz: »Und du? du hast zum Ende den Anfang gemacht! Warum? Warum?!« Und schleunigst stürzte er aus dem Zimmer ins Freie.

Er hatte noch gesehen, wie der Vater zurücksank, hörte das Stöhnen des Beleidigten noch hinter der Tür. Ein kalter Schauer durchrieselte ihn, ein heftiger Krampf umkrallte ihm schmerzhaft die Kinnbacken und schnürte ihm die Kehle zu.

Das also war der Erfolg seiner guten Absichten! Wer führt mich denn durch dieses Leben? fragte er sich entsetzt. Ein Gott? oder – ein Teufel? Ich dachte es so gut zu machen! Wer hat es böse gemacht? Ich liebe ihn doch, trotz alledem! und er nicht auch mich? Warum nur kann ich mit dem Mann nicht ruhig verhandeln? Warum, selbst wenn ich die kindlichsten Vorsätze hege, mengt stets die Leidenschaft, der innere Widerspruch sich ein?

Unter solchem Hadern mit seinem Geschick hatte sein hastiger Gang ihn hinausgeführt in den Nymphenburger Park. Wie kläglich ihn die frierenden nackten Statuen anblickten, so mitleiderregend. Auf der 385 kalten Schwärze des Kanalwassers spiegelte sich ein weißer Schwan; überall keine Farben mehr in der Natur; graue, trübe Ode. Müde an Leib und Geist sank er auf eine Bank. Von den nahen schon tief beschneiten weißen Alpen her blies ein eisiger Wind und zauste ihm Haar und Röckchen.

Und vorgebeugt, halb liegend auf der Bank, schrieb er zitternd vor innerer Glut und äußerem Frost in sein Taschenbuch die folgenden Verse, mit denen er gleichsam einen Strich unter sein bisheriges Leben machte, unter die öde trübe Jugendzeit im Vaterhaus.

Du alte Erde, kannst du es noch tragen,
Das ungemessne alte Menschenweh?
Brichst du noch nicht, vom eignen Gram und Ekel
Verzehrt, in dich zusammen? Denn sieh an,
Wie schmachbeladen, blutbesudelt, traurig,
Dein Kleid (gewoben aus den morschen Leibern
Vergangner Völker) deine Schultern schmückt.
Du alte Mutter, die an eignen Kindern
Den Hunger stillt, wie kannst den reinen Blick
Der Sonne und des Mondes du ertragen,
Die strafend auf dein überschminktes Antlitz
Herunterschauen? Stirbst du nicht vor Scham?
Bist du so sehr vom Laster schon durchfressen,
Daß du dich schmückst mit deinen Eiterbeulen,
Als wie mit Ordenssternen? Oder hoffst
Du noch auf Heilung deiner bösen Krankheit?
Des Himmels Regen wäscht dich nicht mehr rein!
Denn deine Gräber füllt er nimmer aus,
Die dich durchlöchern, wie Geschwür und Beulen; 386
Die blut'gen Stellen, wo der Mord den Fuß
Hinsetzte, löscht er nimmermehr hinweg;
Die Stellen, wo sich Völker, Heere würgten,
Sie bleiben, dir ein ewig Schandmal, stehn.
Voll Abscheu weisen drauf die reinen Sterne
Und möchten sich des Abends von dir wenden,
So zittern sie vor Schreck am schwarzen Himmel.
Dein Winterschnee umheuchelt dich umsonst
Mit Unschuldsfarbe, – Heuchelei kriecht weiter,
Untreue bricht noch stets die heil'gen Schwüre,
Und Freundschaft, Liebe, bleibt ein hohler Name.
Auf deinem Rücken geht der Edle einsam
Noch immer! Stets muß noch die Tugend
Um die Erlaubniß betteln, rein zu bleiben,
Verdienst muß noch vor Schurkerei erzittern,
Noch tragen hohle Köpfe Ehrenbinden,
Und große Häupter sieht man ohne Kranz,
Mit Kot beworfen, sich zur Erde beugen
Und demutsvoll die Toren darum bitten,
Auch ihnen doch ein Plätzchen da zu gönnen,
Wo s freilich besser wäre nie zu sein.

*

Lang saß er noch versunken und starrte trüb in das schwarze Gewässer; bis endlich die Hoffnung wieder ihr Haupt erhob, der unverwüstliche Menschentrieb.

Wo s besser wäre nie zu sein? Aber sind wir nicht? und müssen sein? Müssen wir auch immer elend sein?!

Noch sah er ihn nicht vor sich, den Weg zum Heil; aber der Wille ihn zu suchen wuchs in ihm empor und der starke Glaube: ich werd ihn finden und zu neuen Ufern der Menschheit ein Führer sein!

 


 


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