Wilhelm Walloth
Im Schatten des Todes
Wilhelm Walloth

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9.

Direktor Körn saß gegen fünf Uhr in seinem Arbeitszimmer und las den Roman ›Finstere Dämonen‹. Das Werk ergriff ihn. Er hatte eine solche Darstellungskraft überhaupt keinem Frauenzimmer zugetraut. Er las schon zwei Stunden hindurch. Aber mit echt deutscher Nörgelsucht strebte er den starken Eindruck, den das Buch in seiner Seele hervorgebracht, zu zerstören. Er wäre ja kein deutscher Schulmeister gewesen, wenn er sich innerlich eingestanden hätte: Das ist echte Poesie! Als sein Sohn Karl eintrat, hielt er diesem sogleich einen ästhetisch kritischen Vortrag über das Werk, in dem er allerlei kleine Stylunebenheiten zu großen Fehlern aufzubauschen, überhaupt die ganze Handlung als unmöglich hinzustellen suchte.

Karl widersprach, da er deutlich merkte, daß dem Vater das Werk stark imponiert hatte, mit Heftigkeit. Der Direktor führte allerlei ästhetische Gesetze ins Feld, – Karl verlachte diese alten Regeln. Der Direktor tadelte immer erboster, verrannte sich immer mehr in unhaltbare Theorien und Angriffe. Karls Haß fing von Neuem an zu 178 gähren. Er sah wieder einmal nicht den Vater vor sich, sondern den pedantischen Silbenklauber, den verbissenen Schultyrannen, der darüber empört war, daß ein nicht akademisch gebildetes Geschöpf eine gewandte Feder zu führen, Geist und Phantasie zu zeigen wagte; der es nicht einsehen wollte, daß ein einziger Geistesblitz aus eigenem Hirn, tausend aus anderer Leute Gehirn übernommene aufwog. Der Vater glaubte: weil er mit den Gedanken eines Aristoteles, eines Göthe, Schiller, Kant hausieren ging, sei er selbst ein Göthe oder Kant. Diese eigentlich dummdreiste Anmaßung empörte den Sohn deshalb noch mehr, weil sie sich jetzt auf ein Werk seiner verehrten Emma Dorn erstreckte.

Karl hörte ihn eine Weile schweigend an. Dann fragte er plötzlich: »War Bismarck ein Menschenkenner oder nicht?«

»Einer der größten!« gestand Körn verblüfft zu.

»Nun Bismarck behauptet, das deutsche Nationallaster sei der Neid!«

Mit diesen Worten verließ er das Zimmer, auf diesen kräftigen Abgang innerlich stolz.

Körn errötete. Er mußte sich gestehen, daß er dem Roman unrecht getan, daß er ihn absichtlich herunterzureißen gesucht hatte.

Er ließ den Sohn durch das Dienstmädchen wieder hereinrufen und begann hoheitsvoll: »Vor allen Dingen ist dein Betragen höchst unschicklich. Man ist durchaus nicht neidisch, wie du auf so schroffe Weise andeuten zu wollen schienst. Man gesteht gerne zu, daß das Werk große Vorzüge hat und 179 von vielem Talente zeugt. So – und jetzt geh und beurteile mich nicht nach deinen Einbildungen.«

Karl ging, ohne zu entgegnen. Der Direktor war mit sich selbst und mit seiner Verteidigung höchst unzufrieden und ärgerte sich über die ganze Welt. Daß der Roman so vorzüglich war, machte ihm einen dicken Strich durch die Rechnung. Das Buch war auch garnicht so unmoralisch, als er erwartet hatte. Es kamen nur ein paar derbe Ausdrücke vor, die aber durch den ganzen Zusammenhang gerechtfertigt wurden.

Er wollte weiter lesen, draußen klingelte es. Das Dienstmädchen meldete: »Fräulein Emma Dorn.«

Der Direktor fuhr fast von seinem Sitz in die Höhe. »Wie? hast du recht gehört?« fragte er betreten.

Das Mädchen gab eine Karte ab, die der Direktor überflog. Mittlerweile war Katharina aus dem offenen Nebenzimmer eingetreten und sagte: »Ists wirklich Fräulein Emma Dorn?«

»Sie ists; hier liest man es.«

»Wahrscheinlich handelt sichs um Karl,« meinte die Frau. »Laß mich dann rufen; ich möchte das Fräulein auch gerne kennen lernen, – schon weil sie so viel für unser Kind getan hat. Schließlich bekommst du auch vielleicht eine andere Meinung von ihr.«

»Eine andere? ob bessere?« versetzte Körn pedantisch. »Aber es mag sein. Man lasse bitten!« wendete er sich zum dienstbaren Geist. Die Frau Direktor verschwand, der Direktor räusperte sich in 180 seiner präzeptoralen, gravitätischen Weise, legte seine Züge in würdevolle Staatsbeamtenfalten und überlegte, ob er dieser Würde einen freundlichen oder feindlichen Beigeschmack geben sollte.

Die Tür ging auf. Er erhob sich. Unwillkürlich verrieten die soeben noch so strengen Mienen eine gewisse Neugier, als die üppige Gestalt vor seinen Blicken auftauchte, – die prickelnde Neugier der Jugend, die mit schaudernder Wonne die Geheimnisse des Lasters zu erforschen bestrebt ist. Sie mußte trotz ihrer Befangenheit lächeln; dann stieg, als sie in seiner Miene erriet, was in ihm vorging, ein entschiedener Ärger in ihr auf, den sie natürlich unter der Maske der Liebenswürdigkeit verbarg. Doch bald entdeckte sie, als ihre eigenartige Schönheit auf ihn zu wirken begann, eine gewisse Scheu, wenn nicht gar Angst in seinen Zügen. Das versöhnte sie.

Er verbeugte sich und stammelte: »Bitte, nehmen Sie Platz.«

Diese leidenschaftlichen Augen, von denen er so geheimnisvoll angeblitzt wurde, erfüllten ihn wirklich mit einem wonnigen Grausen. Ihre Kleidung war geschmackvoll phantastisch. Sie trug eine blaue, oben weit ausgeschnittene Seidenbluse, die einen herrlichen Hals offen ließ. Die Ärmel waren sehr kurz, sodaß, vom Ellbogen an, die schön gerundeten Arme sichtbar waren. Dieser Arm mit dem zierlich-weichen Gelenk bewegte sich mit graziöser Nervosität. Ihre Hand, die klein aber fest erschien, spielte oft reizend mit der Halskette, oder 181 begleitete ihre Worte mit ausdrucksvoll-anmutigen Gebärden.

»Was steht zu Diensten?« fragte er etwas verwirrt und sich mit der Hand über den schön gepflegten Backenbart streichend, genau so wie er es in der Schule tat, wenn er im Augenblick nicht weiter wußte.

»Ich komme,« sagte sie lächelnd, »Sie um eine Freundlichkeit zu bitten, die Sie eigentlich sich selbst erweisen würden.«

»Mir selbst?« gab er zurück, diesmal wirklich so außer Fassung, daß er seine imponirende Beredsamkeit gar nicht finden konnte.

»Ja. Sie vermuten wohl, um was es sich handelt.«

»Wie? . . . wirklich nicht . . .«

»Sie wollen Ihren Herrn Sohn aus dem Gymnasium werfen, wenn jene Anklage erhoben wird?«

»Ach, jetzt verstehe ich. Aber ich bitte Sie! das ist doch eine Angelegenheit . . . die . . .«

»Die mich eigentlich nichts angeht, – wollen Sie sagen? Eine Familienangelegenheit! Ich fühle selbst, daß ich mich hier in Ihr Familienleben dränge. Vielleicht ist das taktlos? Nun, verurteilen Sie mich, – aber, bitte, erst wenn Sie mich gehört haben. Also, ich hege großes Interesse für das Talent Ihres Sohnes. Sie haben ihm zwar verboten mich zu besuchen, aber . . . leider wurde dadurch sein Vertrauen zu mir nicht erschüttert. Ich habe mir nun vorgenommen, einerlei was die Welt hiervon denkt, – dies Vertrauen zu rechtfertigen. Ich halte das für meine Pflicht.«

182 »Ihre Pflicht?«

»Ja, deshalb weil ich Ihrem Sohn nützen zu können glaube. Ich werde ihm auch dann zu nützen suchen, wenn er mir völlig aus den Augen geschwunden ist, d. h. wenn er Ihr Gebot, das ich verstehe und sogar billige, buchstäblich erfüllt. Es ist mir sogar sehr lieb, wenn er es erfüllt. Trotzdem . . . kurz, hören Sie mich nur an. Meine Teilnahme für Ihren Sohn hat mich zu dem beleidigten Dichter geführt.«

»Wie? Sie hätten . . .?« stammelte Körn überrascht.

»Seien Sie mir nicht böse deshalb!« bat sie mit einem so kokett schalkhaft flehenden Augenaufschlag, daß ihm vor der Stirn ein süßer Schwindel vorbeizog. »Es geschah aus gutem Herzen. Ich konnte es nicht mit ansehen, daß ein hochbegabter Mensch, einer Albernheit wegen um sein Vorwärtskommen in der Welt gebracht worden sollte.«

»Ich muß gestehen,« brachte der Direktor heraus, »Sie haben da sehr eigenmächtig gehandelt. Es muß doch auf den Herrn Dr. Simmer einen seltsamen Eindruck machen, wenn . . .«

»Ach was!« schnitt sie ihm in humoristisch-ärgerlichem Ton das Wort ab. »Wenn ich, die ich fast die Mutter Ihres Sohnes sein könnte, ein gutes Wort für ihn einlege? Ich möchte wissen, wer das sonderbar findet! Gibt es denn in der Welt nur niedrige, kleinliche Interessen?«

»Nun ja, nun ja,« lenkte Körn ein. »Wie dem nun auch sei . . . Ich für mein Teil glaube Ihnen 183 gern, daß Sie aus edelster Teilnahme für mein Kind gehandelt haben; ich muß auch gestehen, ich kann es nicht in Abrede ziehen, daß . . . daß Ihr Schritt . . . vielmehr, daß Sie diesen Schritt besser tun konnten, als sonst irgend jemand. Ich selbst konnte doch als Vorgesetzter des Beleidigten . . . Sie verstehen? Gerechtigkeit ist mir das oberste Gesetz! Es ist mir daher beinahe willkommen, daß Sie . . . den Mut . . . Nun – Tatsache ist die . . . Sie haben mir da einen Stein vom Herzen genommen! gewiß . . . gewiß; ich danke Ihnen! Aber . . . was war denn das Resultat dieser kühnen Unternehmung?«

»Ich darf sagen,« fuhr sie innerlich über seine geschraubten Schulmeisterredensarten lächelnd fort, »das Resultat war so günstig wie nur möglich. Ihr Sohn soll den beleidigten Dichter besuchen und um Verzeihung bitten, dann wird die Klage nicht erhoben!«

Körn atmete erleichtert auf. So war der Sohn gedemütigt und alle Gefahr für den Vater, ohne daß er sich etwas zu vergeben brauchte, abgewendet. In diesem Augenblick erinnerte der Direktor sie auffallend an ihren Kater Peter; ganz ein veredelter, stolzer Katerkopf, dachte sie.

»Sie haben da Wunder gewirkt!« sagte er mit der gewinnenden Freundlichkeit, die ihm, wenn er wollte, zu Gebot stand. »Nochmals meinen herzlichsten Dank. Ich sehe übrigens aus Ihrem ganzen Verhalten, daß ich mich in Ihnen geirrt habe. 184 Mein Gott! man hinterbrachte mir allerlei törichte Gerüchte über Sie . . .« Er errötete.

»Ich weiß,« unterbrach sie den Verlegenen. »Ein alleinstehendes Fräulein, besonders wenn es dichtet, – da sind die Klatschmäuler gern in Bewegung. Das war ja auch ein Grund, warum ich mich Ihnen persönlich vorstellen wollte . . . damit Sie sehen, mit wem Ihr Sohn verkehrte.«

»Ich hatte es schon gesehen!« rief er. »Aus Ihrem neuesten Roman, – sehen Sie, hier liegt er. Einer Seele, die solch ein Werk schaffen kann, darf man nichts Unlauteres zutrauen. Hier zerschellt jede Verdächtigung. Wirklich, eine außergewöhnliche Leistung!«

»Und die unmoralischen Wendungen . . . stoßen Sie nicht ab?«

»Die gehören hinein. Alle großen Dichter vermeiden die Zimperlichkeit und nennen das Kind beim rechten Namen. Für Kinder ist ja so etwas nicht geschrieben; ein reifer Mensch wird keinen Anstoß daran nehmen. Ich gratuliere Ihnen zu dem Werk.«

»Ich danke Ihnen!« sagte sie; »für Ihr Urteil, wie für das Schwinden Ihres Vorurteils.«

Der Direktor drückte auf die Glocke. »Wir wollen sofort dem Sünder den Erfolg Ihres Besuchs bei dem Beleidigten mitteilen,« sagte er.

Das Dienstmädchen trat ein und bekam den Auftrag Karl hierher zu rufen.

Emma hatte bemerkt, daß sie einen starken Eindruck in der Seele des Schulmanns zurückgelassen. 185 Seine Bewunderung ihres Romans berührte sie nicht tiefer; sie traute dem Gelehrten kein feineres ästhetisches Verständnis zu; aber, daß er offenbar das Weib, das schöne Weib, in ihr bewunderte, das freute sie, das reizte sie alle Künste der Gefallsucht spielen zu lassen, um ihn noch mehr in Verwirrung zu bringen. Welche Macht ist doch das Weib in der modernen Gesellschaft! dachte sie; wenn auch meist eine sehr dumme, schädliche Macht. Sie ist die stille Nebenregierung im Staat; sie ist der glühende Moloch, dem die Jugend ihre Ideale opfert, das Mannesalter Gesundheit, Geld und Gut, das Greisenalter die letzte Kraft.

»Sie halten also etwas von dem Talent meines Sohnes?« unterbrach jetzt Körn das Schweigen.

»Wenn er sich so weiter entwickelt,« versetzte Emma, »wenn er nicht etwa stehen bleibt, – wie das bei solchen Genies leider oft der Fall ist, erwarte ich das Höchste von ihm.«

»Ja« meinte der Vater, »ich habe kürzlich seine Novelle in der Litterarischen Wacht gelesen. Wirklich sehr gut! Wenn nur sein Charakter fügsamer wäre! Ich glaube, er liebt mich nicht!« setzte er sinnend hinzu.

Emma ward von diesem Gefühlsausbruch bewegt. »Dasselbe behauptet er – von Ihnen!« sagte sie.

»Was? Unsinn!« brummte Körn. »Was bildet sich der Mensch ein! ich werd mein Kind nicht lieben?«

»Vielleicht zeigen Sie ihm Ihre Liebe nicht; oder nicht auf die richtige Weise? Solche Talente wollen auf besonders seine Weise behandelt sein.«

186 »Da haben Sie recht«, gestand Körn zu.

»Solche überempfindliche Naturen,« fuhr sie fort, »ziehen sich gleich trotzig in sich selbst zurück, wenn man sie im Geringsten rauh anfaßt.«

»Ja, aber das muß doch auch manchmal geschehen!« warf er ein. »Wenn Tadel notwendig ist.«

»Es kommt darauf an: wie getadelt wird,« sagte sie mit ganz leisem Vorwurf, aus dem Körn erkannte, daß sich sein Sohn bei Emma beschwert hatte.

»Ja, es ist wahr,« gestand er ein, »wir verstehen uns schwer, ich und Karl. Ich bin ein Feind jeder Art von Sentimentalität; mein Sohn ist nun aber einmal, wie es scheint, – eine Schmachtlappennatur und verlangt, daß man ihn wie ein Frauenzimmer behandelt.«

»In seinem Alter, Herr Direktor!« entschuldigte sie. »Jeder deutsche Jüngling macht eine Wertherperiode durch. Versetzen Sie sich in seine Lage! Die alten religiösen Vorstellungen hat er über Bord geworfen; nun sucht er nach einer neuen Weltanschauung, findet keine die ihm genügt und verfällt deshalb einem schwärmerischen Weltschmerz, einer unbestimmten Sehnsucht. Infolge seiner – ich darf wohl sagen: genialen Veranlagung wird nun diese Schwärmerei, diese Sehnsucht nach dem Unendlichen, die selbst die Nüchternen einmal ergreift, bei ihm ins Ungemessene gesteigert. Sein überzartes, ja krampfhaft sensibles Nervensystem hält diesen Kampf kaum aus; es erbebt wie die Saiten einer morschen Harfe im Sturm, es verlangt nach einem 187 liebevollen, weichen Entgegenkommen . . . Findet ers nicht, dann steh ich nicht dafür, daß die überspannten Saiten nicht reißen . . .«

»Sollte hier nicht viel mehr Strenge am Platz sein?« wendet der Pädagoge ein. »Festigkeit, die allein auch ihn fest machen kann?«

.,Um Gotteswillen nicht!« versetzte sie. »Durch Strenge machen Sie ihn immer trotziger, höhnischer, kälter; stürzen ihn in Verzweiflung, wohl gar . . . in Verbrechen!«

»Verbrechen!« stieß Körn ärgerlich heraus. »Wie kommen Sie darauf!«

Sie schwieg einen Augenblick. »Wissen Sie nicht,« begann sie dann, »daß Genie, Wahnsinn und Verbrechen – miteinander verwandt sind?«

Er schüttelte misbilligend den Kopf. Dann sagte er: »Schließlich muß doch er sich in diese Welt fügen! nicht umgekehrt. Sein Eigensinn müßte gebrochen werden, seine Gefühlsseligkeit durch strenge Zucht ein Rückgrat erhalten.«

»Daß er sich ohne Weiteres in die Welt füge sollten Sie doch nicht verlangen,« meinte Emma. »Dazu ist er viel zu bedeutend. Eine solche Herrschernatur will sich die Geister unterwerfen und es gelingt ihm ja auch, sich überall Respekt, ja Furcht zu verschaffen. Er meint es deshalb doch gut mit den Unterworfenen; er sucht sie zu sich hinanzuziehen. Sie sehen das ja an seinem Freund Konrad Stern und an Andern, die er beherrscht und für deren geistiges Leben er Opfer bringt. Er hat diesem Konrad schon mindestens für fünfzig Mark 188 Bücher geschenkt. Seinen Eigensinn brechen Sie nie durch Strenge, weil er eine notwendige Bedingung seiner Veranlagung ist. Jeder hat die Fehler seiner Tugenden. Seine übermäßige Gefühlsseligkeit wird sich im Treiben der Welt schon von selbst verlieren; rauben können Sie ihm sie nicht. Durch Strenge wird er sich nur noch mehr in sich selbst zurückziehen, wird Sie für hartherzig halten und – einen entschiedenen Haß gegen Sie hegen!«

Körn sann vor sich hin. Er mußte sich gestehen, daß ihm, weil er seine Frau nicht mehr liebte, auch deren Kinder gleichgültiger geworden waren. Die Kinder intriguirten ja auch gegen ihn, standen stets im Streit auf Seiten der Mutter.

»Ich danke Ihnen,« sagte er jetzt. »Ich glaube, Sie haben in Manchem recht; ich habe ihn vielleicht bisher falsch behandelt.«

»Ich habe stets die Beobachtung gemacht,« bemerkte sie, die Worte Karls verwendend, »daß sich gerade die Menschen, die durch Bande des Bluts direkt auf einander angewiesen sind, am allerwenigsten verstehen. Wir können einen Gegenstand, der uns zu nahe vorm Auge steht, nicht so gut erkennen, wie einen, der weiter von uns weggerückt ist.« Er gab ihr recht und sie fuhr fort: »Auch scheint es in der Natur der Liebe zu liegen, daß sie, wenn sie Liebe bleiben soll, ihr Objekt frei wählen muß; sobald sie aus Pflicht in Tätigkeit zu treten gezwungen werden soll, – verwandelt sie sich in Haß.«

Körn hatte gerade noch Zeit sie mit einem ganz 189 bestürzten Blick zu prüfen, als Karl eintrat. Meint sie mein Verhältnis zu meiner Frau? fragte er sich, wendete sich aber sofort dem Sohn zu und sagte, in einem zwischen schulmeisterlicher Strenge und väterlicher Milde schwankenden Ton: »Komm näher.«

Emma erkannte sofort an diesem Ton, daß Körn niemals völlig den Schulmeister im Verkehr mit dem Sohn ablegen konnte und daß daher hauptsächlich das Familienzerwürfnis stammte.

Karl war beim Anblick Emmas zurückgeprallt. Dann faßte er sich und trat errötend näher, wobei auf seinen sonst so professoral-ältlichen Zügen eine kindliche Freude leuchtete. Als er sie nun begrüßte, war dies junge Greisenantlitz wirklich hübsch und frisch, gestand sich Emma.

»Fräulein Dorn«, fuhr der Direktor, wieder in seinem Lehrerton fort, »hat für dich gehandelt. Sie hat bei Herrn Dr. Simmer persönlich ein gutes Wort für dich eingelegt, das du eigentlich nicht verdienst. Aber, wie dem nun auch sei, – man ist dem Fräulein zu großem Dank verpflichtet.« Der Vater beobachtete dabei scharf das Benehmen seines Sohns, konnte aber nichts entdecken, was ihm das Verhältnis der Beiden hätte verdächtig erscheinen lassen. Karl war nach seinem Erröten allerdings bleich geworden, aus seinem Blick sprach aber vollkommene Unbefangenheit, in seinem Verhalten zeigte sich sogar die süße Jugendtölpelei des Unerfahrenen.

Emma begrüßte ihn mütterlich-gönnerhaft; ihr gutmütiges Lächeln flößte dem Schulmann, zu seinem 190 eignen Erstaunen ein merkwürdig inniges Gefühl ins eingetrocknete Herz, es blitzte ihm wie ein neues Verständnis für weibliche Reize durch die Seele. Es kam ihm vor, als sei diese Jahre hindurch sein Busen eine staubige Apothekerschublade gewesen, in deren muffigem Dunkel die Liebesgefühle wie vertrocknete Kräuter geschlummert; jetzt war unterm Einfluß eines warmen Taues, eines erquickenden Sonnenstrahls, in den vergilbten Blättern, den abstrakten Begriffen, wieder ein geheimes konkretes Leben erwacht.

Über sich selbst ärgerlich, setzte er nun seinem Sohn auseinander, daß der Beleidigte persönliche Abbitte verlange. Zu seiner Überraschung schwieg Karl.

Nun legte sich Emma ins Mittel. »Ich kann mir denken,« sagte sie, »daß es Ihnen widerstrebt einen Mann um Verzeihung zu bitten, dessen Weltanschauung und Kunstansicht nicht die Ihrige ist . . .«

»Sehr widerstrebt mir das!« fiel ihr der junge Mann ins Wort.

»Dann bedenken Sie,« fuhr sie fort, »daß Sie, wenn Sie auch sachlich vielleicht im Recht waren, doch zu scharfe Ausdrücke gebraucht haben. Man kann alles sagen, was man auf dem Herzen hat; nur darf man nicht in jugendlichem Überschwang sich hinreißen lassen, einen anders Denkenden, oder einen mittelmäßigen Poeten gleich für einen Verbrecher zu halten, der öffentlich gebrandmarkt werden müßte . . .«

»Hörst du, was Fräulein Dorn sagt?« rief der Direktor.

191 »Ich halte nun aber den Herrn Dr. Simmer für einen Heuchler!« platzte Karl naiv heraus.

Der Direktor gab zwar im Stillen seinem Sohn nicht unrecht, sagte aber: »Heuchler! Woher weißt du das? Meinst du, deine Menschenkenntnis sei unfehlbar? Und wenn er es wäre, – was geht das dich an? Er ist es aber nicht. Er ist streng religiös.«

»Überdies,« gab Emma begütigend zu bedenken, »ist er Ihr Lehrer.«

»Sonderbare Logik!« flüsterte Karl lächelnd.

»Gar keine sonderbare Logik!« tadelte Körn. »Du bist ein undankbarer Mensch. Herr Dr. Simmer hat dir Manches beigebracht; du hast ihm viel geistige Anregung und Belehrung zu verdanken . . .«

»Er hat mir beigebracht, daß 2×2=5 sei,« rief Karl erregt, »Dinge, die ich erst mit großer Anstrengung und furchtbaren Seelenkämpfen wieder aus dem gesunden Geistesorganismus ausstoßen mußte.«

»Ach,« fiel ihm der Vater streng ins Wort. »laß diese Philosophie! – Dr. Simmer hat seine Pflicht getan und du hast Wichtiges bei ihm gelernt. Das ist nicht in Abrede zu ziehen und ich verlange von dir, daß du ihn um Verzeihung bittest.«

Emma warf ihm einen herzlich bittenden Blick zu.

»Gut!« sagte der Angefahrene barsch. »Ich tus!«

Emma erhob sich. »Recht so, Herr Karl!« wendete sie sich herzlich an ihren jungen Freund. »Wir müssen Alle von unsern Idealen und Grundsätzen 192 im Leben die Hälfte aufgeben. Sonst kommen wir nicht durch.«

»Ich habe so ein Vorgefühl davon!« lächelte Karl schmerzlich ironisch. »Was soll der junge Bergsteiger tun, wenn sogar sein Führer, um zum Gipfel zu kommen, auf allen Vieren kriecht?«

Emma unterdrückte ein Lächeln. Sie fand diesen satirischen Vergleich wieder mal prächtig und sah im Geist den Direktor mühsam die Gletscherwand des Staatsdienstes hinaufkriechen. Dem Direktor gefiel die Andeutung weniger . . . denn er hatte allerdings viel Idealismus und Mannesstolz opfern müssen, um diesen bescheidenen Berggipfel einer Direktorstelle zu erreichen.

»Ich nehme mein Verbot zurück,« sagte er zu Karl. »Du darfst Fräulein Dorn besuchen. Es wird mir übrigens auch eine Freude sein, das Fräulein öfter bei mir zu sehen.«

»In der Tat?« lächelte sie.

»Ja, gewiß,« bestätigte er. »Warten Sie . . . Karl, ruf die Mama! Meine Frau wird Sie auch gerne kennen lernen.«

»Sehr angenehm,« beteuerte Emma, indes Karl ging.

Gleich darauf trat die Frau Direktor im rotgeblümten wollnen Hauskleid ein, entfaltete ihre ganze Liebenswürdigkeit und dankte dem Fräulein dafür, daß sie sich ihres im Leben so unpraktischen Sohnes so herzlich angenommen.

»Das tut man ja gern,« versicherte Emma;»für einen solch talentvollen Menschen!«

193 »Mein Gott,« sagte Katharina mit einem gelinden Seitenhieb, »mein Kind findet so wenig tieferes Verständnis zu Hause; da muß es wohl auswärts eine Aussprache suchen.«

»Das wird schon besser werden,« wendete das Fräulein ein.

»Glauben Sie?« warf Katharina hin. »Ach! mein Mann kommt vor lauter Erziehung anderer Kinder nicht zur Erziehung der eignen . . .«

»Das ist wie in den Pfarrhäusern,« stimmte er lachend ein. »Die Kinder der Pfarrer und Lehrer misraten besonders oft. Es ist wahr, die Schule verschlingt dermaßen mein Interesse, daß ich mich leider gar wenig dem Hause widmen kann. Ich bin erst Beamter, dann Vater; ich will mir nicht nachsagen lassen, ich bevorzuge meine Kinder.«

»Du bist halt gar zu pflichtgetreu!« meinte seine Frau mit leiser Ironie und dankte dann noch einmal dem Fräulein, indem sie ihr das Versprechen abnahm, baldigst ihren Besuch zu wiederholen.

Emma versprach dies und verabschiedete sich dann.

Körn hatte, während sie zur Türe hinausgingen, die beiden Frauengestalten unwillkürlich verglichen, – hier Emma, ein wandelndes Paradies. – dort seine Frau, die Wüste Sahara. Er suchte diesen Eindruck eifrig in sich zu bekämpfen, oder wenigstens abzuschwächen, – er war ja ein so gewissenhafter Ehrenmann. Auch als Männchen suchte er ein pflichttreuer Mustermensch zu bleiben. Doch merkte er, daß es weit leichter ist in rein geschäftlichen, rein materiellen oder geistigen Fragen die abstrakte 194 Vernunft, den kategorischen Imperativ walten zu lassen, als in Herzensangelegenheiten. Wo das Reich der Phantasie, des Gefühls anfing, da hörte die stramme sittliche Selbstzucht auf. Hier gab es keine sichtbaren Vorgesetzten, keine sichtbaren Regeln oder Ministerialerlasse, – hier herrschten unbegrenzte Möglichkeiten, hier konnte ihm keine Regierung hineinreden.

Als Katharina wieder zurückkam und versicherte, Fräulein Dorn habe ihr einen sehr angenehmen Eindruck hinterlassen, nickte er stumm.

»Sie ist in der Tat liebenswürdig,« sagte er; »auch sehr begabt und, wie es scheint, tugendhaft.«

»Du hast dir ein ganz falsches Bild von ihr gemacht,« tadelte sie. »Das geht dir oft so mit deinen spießbürgerlichen Vorurteilen.«

»Man hat sich allerdings in ihr getäuscht,« gab er zu. »Es ist nicht in Abrede zu stellen, sie besitzt gute Eigenschaften.«

»Und ist so hübsch!« setzte sie lauernd hinzu.

Er antwortete hierauf nicht, sondern trommelte mit der Feder auf dem Pult herum, was ihr auffiel.

»Findest du das nicht?« fragte sie, den Kopf zu ihm hinwendend.

»Was?« fragte er, als ob er es überhört hätte.

»Tu doch nicht so!« sagte sie. »Du hast mich verstanden.«

»Wieso? Was denn?«

»Ach – ich habe doch gemerkt, daß du kein Aug von ihr ließest.«

»Aber Katharina!«

195 »Du hast sie doch ganz begeistert angestarrt. Leugnest du?«

»Begeistert starren ist überhaupt nie meine Sache.«

»Nun dann – lüstern.«

»Pfui! ich verbitte mir das! hörst du?«

»Daß sie hübsch, sehr hübsch ist,« fragte sie, »hättest du nicht bemerkt?«

»O . . . ja,« zögerte er mit der Antwort. »Recht nett.«

»Nett, nett!« tadelte sie. »Das ist doch kein Ausdruck! Ich finde sie entzückend. Diese flammenden Augen, diese edelgeschwungene Stirn . . .«

Er machte: »Hm – ja!«

Dabei grauste ihm vor der knochigen Gestalt seiner Katharina dermaßen, daß ihn geradezu eine körperliche Schwäche anwandelte. Sie trug heute wieder jenen Rosenknospenkranz von Wimmerln um den eingefallenen Mund, der ihm schon seit langer Zeit so widerwärtig an ihr war. Ihre Schillernase leuchtete auch ziemlich rötlich, ihre Haare wurden bedenklich dünn. Doch über diese Äußerlichkeiten würde er ja schließlich weggesehen haben, wenn nur ihre Seele nicht völlig die frühere jugendliche Anmut eingebüßt hätte. Nur andern Menschen gegenüber tauchte noch etwas von ihrer früheren Liebenswürdigkeit auf; ihn behandelte sie fast nur noch als Feind. Und merklich tat es einen Ruck in seiner Seele –: die Worte Dr. Müllers zuckten durch sein Gedächtnis! . . . Wenn man seine Frau in eine Anstalt bringen könnte? Eine weite blühende Aussicht öffnete sich vor seinen trunkenen Blicken.

»Ich glaube wahrhaftig,« sagte er, »du fügst zu 196 deinen übrigen recht peinlichen Eigentümlichkeiten noch die entsetzliche Schrulle einer unbegründeten Eifersucht?«

Sie schwieg einen Augenblick. Dann wendete sie ihm ihr unschönes aber ehrliches Gesicht zu und lächelte. »Nein, Eifersucht kenne ich nicht. Du hast jede Freiheit in diesem Punkt, . . . Narrenfreiheit. Ich weiß, daß ich dich nicht mehr fesseln kann, hab auch garnicht das Bedürfnis danach; darüber bin ich hinaus. Zwei im Ehegefängnis eingeschlossene Unglückliche denken nur noch an die Freiheit. Nimm sie! zerstreue dich! ich hab ja dann vielleicht vor deinen Schrullen und Launen Ruh und kann meinen Götheforschungen ungestört obliegen.«

»Immer wieder diese Forschungen,« murmelte er.

»Wie? Was?« höhnte sie bissig. »Ja, du wärst freilich froh, wenn du nur so einen gewandten Styl schriebst wie ich. Die Gelehrsamkeit allein macht den Gelehrten nicht; man muß sie auch in eine schöne Form bringen können.«

»Ach was verstehst du davon!«

»Natürlich! Davon versteht nur der akademisch Gebildete etwas. Nun gut. Schweigen wir darüber. Ich wollte nur sagen: in Dingen der Liebe bin ich völlig modern, d. h. vorurteilsfrei; weit mehr als du! Du möchtest ja auch frei sein in diesem Punkt, dich hemmt aber – der Schulmeister; dir lähmen allerlei anerzogene, alberne Ehr- und Rechtsbegriffe die gesunde Logik. Ich kenne dich hierin besser als du selbst.«

197 »Nun,« wendete er betreten ein, »es muß doch auch da gewisse Sittengesetze geben . . .«

»Die man ja im Stillen selbst für unsinnig hält!« fiel sie ein, »und nur deshalb anerkennt, weil man sich durch die allgemeine zur Macht erhobene Dummheit dazu gezwungen sieht.«

»Du bist wirklich unberechenbar,« sagte er ernst. »In vielen Dingen so streng, so tadelsüchtig; in andern wieder . . . mehr als tolerant! Soll das noch gesund sein? Daß du eine Untreue mir so leicht verzeihen würdest, – ich rede nur so, denn du kennst ja meine festen Grundsätze! – das könnte man füglich als Moral-Irrsinn bezeichnen. Es scheinen mir wirklich in deinem Kopf alle sittlichen Begriffe verwirrt.«

»Die moderne Zeit,« sagte sie überlegen, »kennt keine Moralbegriffe mehr. Sie fragt nur, was ist nützlich, was ist schädlich. Eine Handlung, die weder Nutzen noch Schaden stiftet, ist erlaubt.«

»Und,« fragte er, aber merkwürdig mild, ohne jede Spur von Entrüstung, »wenn mir außer meinem Weib ein anderes gefällt, das bringt keinen Schaden?«

»Wenn dein Weib nichts dagegen einzuwenden hat?« gab sie zurück.

»Das gäbe schöne Verhältnisse!« bemerkte er ironisch. »Nein – ich denke, ich mache keinen Gebrauch von deiner liebenswürdigen Erlaubnis.«

»Wie du willst!« Sie wandte sich, zu gehen.

»Ich wandle auf dem Pfad der Ehrbarkeit ruhig weiter, wie bisher!« rief er mit verdächtigem Pathos hinter ihr her. »Ich begreife dich nicht, begreife 198 mich selbst nicht, daß ich deine perversen Auseinandersetzungen so ruhig mit anhöre.«

»Vielleicht weil sie dir im Stillen gefallen?« lächelte sie, unter der Tür.

»Jetzt ists aber genug!« sagte er entschieden, indes immer noch ohne eigentliche Heftigkeit.

Sie verließ lachend das Zimmer. Dies Lachen wollte ihm beinahe heimtückisch erscheinen.

In Wahrheit war ihm die Wendung, die das Gespräch genommen, aus verschiedenen Gründen nicht unangenehm. Die Freiheit, die ihm seine Frau zu lassen versprach, reizte ihn. Er konnte ihr nicht schroff widersprechen, er mußte sich gestehen, daß diese Art ihrer geistigen Minderwertigkeit ihm sehr willkommen war und daß er in Versuchung geraten werde, von ihrer Erlaubnis Gebrauch zu machen.

Wenn sie nur nicht geheime böse Absicht dabei hatte!? –


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