Wilhelm Walloth
Im Schatten des Todes
Wilhelm Walloth

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3.

Bald hatte Karl die Wohnung der Schriftstellerin erreicht. Das kleine Gartenhäuschen lag, rings umgeben von hohen Häuserwänden, mitten in Büschen 46 und Bäumen. Erst gings durch die öde, finstre Torhalle des Vorderhauses, dann tat sich das Paradies des Gärtchens vor den schwärmerischen Blicken des jungen Mannes auf. Fräulein Dorn hauste hier allein mit ihrer Freundin Luise, wie eine verzauberte Prinzessin. Nun stand er vor der äußeren, vergitterten Glastüre; rings grüngelbrote Büsche, dahinter nüchterne Häuserwände, an denen sich nur teilweise wilder Wein emporrankte. Auch das Gartenhäuschen war von wildem Weinlaub umwoben, das bereits in allen Farben zu schimmern anfing. Das Schlafzimmerfenster stand offen; er konnte gerade das eine Bettkissen sehen und wenn er sich auf die Zehen stellte, auch noch ein Stück des Waschtischs. Ihn überlief ein eigenes behagliches Frösteln; die Nähe zweier schönen Damen wirkte auf sein jugendliches Herz. Alles, das leise Wispern hinter der Türe, das Schlürfen, das weiche Kleiderrauschen, deutete auf die graziöse Bewegung süßer Körper, auf die sanften, hohen Stimmen aus lieblichen Lippen.

Als er an der Vorplatztüre die Klingel in Bewegung setze, hörte er bereits das behagliche Brummen des Petroleumöfchens, auf dem die Damen ihr sehr einfaches Mittagessen kochten. Gleich darauf erschien Luise Ebhardt, die Klavierlehrerin.

»Sie?« lächelte die kleine, zarte Gestalt, die ein wenig auf dem linken Bein hinkte, was ihr etwas rührend Hilfsbedürftiges gab. Mitten im Satz brach sie ab, um schleunigst in die Küche zu trippeln, da sich der Petroleumherd allerlei Extravaganzen erlaubte.

47 »Sie sehen ja ganz verstört aus?« rief sie aus der Küche mit jener weichen Stimme einer ewig Leidenden, ewig Entsagenden.

»Bin ich auch!« brummte der Jüngling und eilte gleich in das freundlich ausgestattete Zimmer, in dem ein gedecktes Tischchen zum Mahle einlud. Karl dachte: man merkt doch gleich, daß hier weibliche Hände schalten, denen männlicher Zerstörungstrieb nicht wieder die mühsam aufbauende Arbeit verwirren darf. Die ganze müde Poesie verschämter Dürftigkeit, die ihre Leiden der Welt gegenüber sogar für Freuden auszugeben sucht, ruhte über diesem aus besseren Zeiten stammenden Hausrat, der nur mit Mühe den alten Glanz aufrecht zu erhalten suchte. Emma stammte aus einem alten Adelsgeschlecht; sie ließ ihr ›von‹ weg vor ihrem Namen, aber über dem ausgesessenen Sopha hing noch das in Gyps gegossene Wappen. Oft spottete sie über den Raubritterhelm über dem verschnörkelten Schild! Weit da hinten irgendwo in Pommern sollte sogar noch die Ruine ihres uralten Stammschlosses ragen. Überall hier Einfachheit, aber mit Geschmack; künstliche Blumen, schöne Farben, Bilder. Aus dem Nebenzimmer leuchtete ein purpurner Bettvorhang verheißungsvoll herüber.

Peter, der fette, grauschwarze Kater sprang ihm sofort entgegen und ließ sich streicheln. Er war der Sohn des Hauses, das Kind der beiden Damen, das auf alle Weise verwöhnt und verhätschelt ward. Nachts schlief das wundervoll gezeichnete Tier stets bei Emma im Bett, drückte sich in ihren Arm hinein 48 und schnurrte dankbar. Ein großer Teil der Unterhaltung zwischen den Fräulein drehte sich um das Wohl und Weh Peters. Wenn er nicht zur rechten Zeit abends zum Fressen kam, füllte tiefe Besorgnis die zarten Gemüter, ob der Tapfre nicht etwa in ehrenvollem Streit um eine liebreizende Kätzin sein edles Leben eingebüßt habe. Kam er dann zerzaust und zerkratzt, so ward er mit Zärtlichkeit überhäuft, eingesalbt und verbunden wie ein echter Ritter. Um dieser ewigen Besorgnis ein Ende zu machen, gingen die Damen mit dem Gedanken um, sich an einen Tierarzt zu wenden. Emma behauptete, Peter gebe Antwort auf Fragen, sei überhaupt ein Genie. Karl nahm das Tier auf den Arm und strich ihm über das sammetweiche Fall. Nun trat Emma aus dem Arbeitszimmer ihrem Besuch entgegen. Sie war etwas phantastisch gekleidet. Ein langes, weißes Gewand, oben weit ausgeschnitten, so daß Hals und Schultern herausleuchteten, umhüllte ihren stattlichen Gliederbau; weite Bauschärmel ließen ihre vollen, schönen Arme bis an den Ellbogen erblicken. Nicht immer traf Karl die moderne »Sappho« (wie sie sich selbst oft scherzweise nannte) in solchem Glanz; zuweilen widmete sie sich, während auf ihrem Schreibtisch ihre Romanmanuskripte trauerten, dem prosaischen Geschäft des Strümpfestopfens. Das war dann eine geisterfrischende Abwechslung, eine gesunde Erholung. Manchmal schwang sie auch das glühende Bügeleisen; noch öfter den Pinsel, denn sie wollte ursprünglich Malerin werden. Heute jedoch hatte 49 sie eben erst die noch von heiliger Begeisterung und dem Blute der Gelehrten tropfende Feder hingelegt. Ihre Augen hatten noch einen ganz verlorenen Ausdruck, sie fuhr sich mehrmals mit dem Handrücken an die gedankenträchtige Stirn; dann begrüßte sie den Besucher mit einem freundlichen mütterlich-schwesterlichen Lächeln, das aber doch eine Spur von Koketterie in sich barg. Ihr rechter Mittelfinger trug noch einen pikanten Tintenfleck, den sie jetzt mit dem Taschentuch abzureiben versuchte, wobei sie sagte: »Ich bin wieder wie Macbeth gekleidet in die Farbe meines Handwerks! O diese mechanische Beschäftigung des Kritzelns! Wenn das nur nicht wär! – Die Schultern tun mir wieder weh, der Schreibkrampf bildet sich immer deutlicher aus.«

»Sie sollten eine Schreibmaschine anschaffen?« meinte Karl.

»Ja, wenn so was kein Geld kostete, Sie kleiner Mann.«

Wenn sie besonders guter Laune war, redete sie ihn stets ›kleiner Mann‹ an. Karl hatte Emma dadurch kennen gelernt, daß ihm vor einem Jahr ihr Roman »Gold!« in die Hände gefallen war. dieser von eigentümlicher Anschauungskraft zeugende, sehr freigeistig geschriebene Roman hatte die Phantasie des jungen Schwärmers derart erhitzt, daß er der Dichterin sofort einen begeisterten Brief schrieb. Sie lud darauf hin den Enthusiasten, den sie für einen älteren Gelehrten hielt, ein, sie zu besuchen. Wie überrascht war sie, einen 50 neunzehnjährigen Gymnasiasten zu ihren Bewunderern zu zählen. Da sie aber gleich merkte, daß dieser Jüngling ein ungewöhnliches Talent und eminente kritische Schärfe besaß, brach sie den Verkehr nicht ab, im Gegenteil, sie suchte ihn zu fördern, suchte Karl Körn zu ihrem Schüler zu machen. Sehr rasch war der Schüler ihr geistig über den Kopf gewachsen, sodaß sich ihrer schwesterlichen Zuneigung noch eine tiefe Achtung vor dem ›göttlichen Funken‹ beimischte, der in diesem schmächtigen Menschenleib wohnte.

Emma hatte sich in früheren Jahren der Malerei gewidmet, wozu sie ein recht hübsches Talent besaß. Nebenher hatte sie kleine Skizzen für Zeitungen verfaßt. Ihr erster großer Roman brachte ihr dann ein so anständiges Honorar, daß sie die nichts eintragende bildende Kunst aufgab, um sich ganz der Schriftstellerei zuzuwenden, die ihr wenigstens soviel einbrachte, daß sie gerade so leidlich leben konnte. Der Liebe und Ehe gegenüber verhielt sie sich durchaus ablehnend, obwohl ihr in ihren Romanen die Liebesscenen recht gut gelangen.

Karl stand noch immer betreten mitten im Zimmer.

»Setzen Sie sich doch,« rief sie, ihr prächtiges schwarzes Lockengewirr ordnend; »was bringen Sie denn, kleiner Mann?«

»Ich bringe nichts,« sagte er sich setzend, »eher will ich was holen.«

»Hier ist nicht viel zu holen.«

»O doch! . . . Trost!«

»Das soviel Sie wollen! Wo fehlts denn?«

51 »Ich will Sie aber nicht im Essen stören,« entschuldigte er sich verlegen, als Luise mit der Suppe kam.

»O, gar nicht,« sagte Emma. »Wir fangen ruhig an, sehen Sie! Wir leben fast vegetarisch, – bei diesen hohen Fleischpreisen. Wollen Sie n wenig mitessen? Sehr gutes Sauerkraut?«

Karl war schon an dem Fräulein aufgefallen, daß sie zuweilen ohne jeden Grund nicht ganz bei der Wahrheit blieb; er hatte doch schon oft Fleischspeisen auf ihrem Tisch stehen sehen! Luise widersprach auch sofort. Emma errötete lachend: »Mein Gott, ich bin Dichterin! ihr dürft meine Aussprüche nicht so genau nehmen.«

»Ja,« versicherte Luise, »du hast oft einen sonderbaren Hang . . .«

»Hysterisch!« lachte Emma.

»Gestern,« fuhr Luise fort, »hat sie mir eine lange Geschichte von einem Herrn erzählt, der uns oft besucht. Denken Sie, heute hat sich herausgestellt, daß die Geschichte erfunden war.«

Die Dichterin lachte noch reizender. »Ja,« meinte sie, »in mir steckt ein seltsamer Drang Andere zu mystifizieren, ihnen einen Bären aufzubinden.«

»Und endlich,« nahm ihr die Andere das Wort aus dem Mund, »hat sie mir weis machen wollen, sie habe dieses alte Bild, das oben hängt, gemalt. Es stammt doch aus dem siebzehnten Jahrhundert.«

»Nun, laß jetzt meine Unarten ruhen,« lächelte die Freundin;»man muß mich nehmen wie ich bin. Talente haben immer einen kleinen Charakterdefekt.

52 »Biete dem Herrn Karl rasch einen Teller voll Kraut an, das wird ihm lieber sein, als deine Herabsetzung deiner Freundin.«

»Auf mich wartet das Essen zu Hause,« entschuldigte sich der Schüler.

»Ach so . . . nun . . . um vom Sauerkraut auf die Dichtkunst zu kommen, – was halten Sie von der neuesten Lyrik, Sie kleiner Mann?«

Karl ereiferte sich sofort. »Garnichts. Mir kommts immer vor als dichten diese Herren nicht aus innerstem Herzensdrang, sondern – nach der Litteraturgeschichtsordnung!«

»Wie? Was heißt das?«

»Ja . . . die Leuten sagen sich, so oder so ist früher gedichtet worden; jetzt muß etwas Neues kommen. Gut, machen wir was Neues! Und dann strengen sie ihre Gehirnklöße an und geben dem armen abgequälten Pegasus die rostigen Sporen, bis er sich aus Verzweiflung überschlägt oder nach hinten und vornen ausschlägt, sodaß der Dichter zum philisterhaften Sonntagsreiter wird, den die Buben ob seines Hopsasa auslachen.«

Emma lachte. Er fuhr zitternd vor Eifer fort: »Kurz – ich merke dieser ganzen modernen Lyrik den überhitzten Gehirnkrampf ihrer Verfasser an, unter dessen Hochdruck ihre Lieder entnebelten.«

»Entnebelten ist gut!« ließ Emma einfließen, während er fortfuhr: »Das sind nur scheinbar freie Seelenergüsse; im Grund sinds Litteraturprofessorenmachwerke.«

»Sie gehen streng ins Gericht,« versetzte Emma, 53 die bereits mit Luise tüchtig dem Essen zugesprochen hatte. »Sie scheinen heute mehr als sonst erregt.«

»Wohl wahr!« seufzte Karl und drückte seine Büchermappe auf den Knieen herum.

»Schütten Sie Ihr Herz aus,« ermutigte sie ihn und legte ihrer Freundin einen Löffel voll Kraut vor. »Hats zu Haus wieder was gegeben?«

Emma kannte die häuslichen Verhältnisse ihres Gastes. Er schwieg. Dann hob er den jugendlichen Professorenkopf und richtete seinen nervenleidenden Blick in Emmas gesundleuchtendes Auge.

»Sie kennen doch die scharfe Kritik, die ich den Gedichten eines ›Eduard Märzler‹ in der Litterarischen Wacht angedeihen ließ?«

»Gewiß,« bestätigte sie lächelnd. »Sehr schneidig, sogar grob. Aber wahr!«

»Nun . . .« brummte der Jüngling finster vor sich hin, »der Dichter ist mein Lehrer . . . Dr. Georg Simmer.«

Emma ließ die Gabel ins Kraut fallen und schlug mit einer burlesk-frommen Miene die Augen zur Decke auf.

»Ihr Lehrer . . .?« lachte sie. »Der Dr. Simmer? Sieht ihm ähnlich! dieser reaktionäre Zionswächter. – Ja, geschieht ihm recht! Aber woher wissen Sie . . .?«

»Vom Redakteur der Litterarischen Wacht.«

»Ach so? Das ist ja hochkomisch!«

»Ja – die Sache hat aber auch eine sehr ernste Seite.«

»Wieso?«

54 »Der Dichter . . . will mich verklagen.«

Wiederum ließ Emma die Gabel fallen, während Luise mitten im Kauen inne hielt und die sanften Augen erschrocken erst auf Emma, dann auf Karl richtete.

»Sie . . . verklagen?« stammelte Emma. »Der Lehrer – den Schüler?«

»Ja – und mein Papa will mich, sobald mir eine Anklageschrift zugeschickt wird, aus der Schule schmeißen.«

»Das wäre ja schrecklich!« lispelte die Klavierlehrerin. Emma sagte anfangs garnichts. Sie kaute ruhig weiter, ward nur ein wenig bleicher und hüstelte leise vor sich hin.

»Kann mirs denken,« sagte sie endlich, »daß Ihr Vater Ihnen nicht helfen mag. Er will den Brutus spielen, – muß es beinahe. Und der starre Theologe . . . ich kenne ihn besser als Sie wissen! Dieser ehrsüchtige Streber! hm! Der konnte Sie ja nie leiden.«

»Nein,« bestätigte der Jüngling, »nie! Er verzeiht mir meine atheistische Weltanschauung nicht; meine politischen Ansichten sind ihm ein Greuel, und daß ich mir als Neunzehnjähriger erlaube zu dichten, das hält er für eine Frechheit. Nun gar so eine Kritik! Ich bin in einer schlimmen Lage. Was soll ich anfangen, wenn ich aus der Schule fliege?«

»Wir wollen sehen, was sich tun läßt . . .,« beruhigte ihn Emma, während Luise ihm einen mitleidigen Blick zuwarf. »Ich will Ihnen was sagen . . . 55 so peinlich mir das ist . . . ich werde dem Doctor Simmer schreiben, er möge doch die Anklage zurücknehmen. Oder . . . wenn das nicht hilft . . . ich mach ihm einen Besuch.«

Karl war aufgesprungen. »Wenn Sie das für mich tun wollten, Fräulein Dorn!« stammelte er exaltirt.

»Man soll doch im Leben so viel als möglich Nutzen stiften?« lächelte sie. »Bleiben Sie nur ruhig sitzen; ich werd doch ein solches Talent nicht verkommen lassen? Aber so beruhigen Sie sich doch! Sie wissen ja, wie sehr ich Ihre Arbeiten schätze, – daß ich noch Hohes von Ihnen erwarte. Sie müssen Ihr Examen machen; denn ohne Titel oder Stellung erreicht man heutzutag nicht viel. Aber ich bitt Sie! was haben Sie denn? ich glaub gar, Sie fangen an zu weinen? Lieber Karl . . . das ist krankhaft; das müssen Sie sich abgewöhnen. Wie wollen Sie denn mit Ihren überzarten Nerven durch das rauhe Leben kommen? Sie brechen ja zusammen! Mensch, so flennen Sie doch nicht gleich bei jeder Gelegenheit! Man fürchtet sich ja ordentlich vor Ihrer Sensibilität.«

Karl suchte sich zu beherrschen, konnte aber nicht verhindern, daß seine Gemütsaufregung entschieden einen pathologischen Eindruck hervorrief.

Die weichherzige Luise tadelte die Freundin, daß sie des jungen Mannes Herzensweichheit stets so schroff zurecht wies und wendete sich sanft zu dem mühsam nach Fassung Ringenden. »Laß doch, Emma, den Herrn Körn sich ausweinen. Wenn das 56 krankhaft ist, so machst dus mit deinem Tadel auch nicht besser. Du sagst doch selbst, Karl sei ein Genie? Genies sind ja stets so exaltirt, das weißt du doch; das kommt von der großen Phantasie, der intensiven geistigen Lebensdurchdringung . . .«

Emma lachte. »Sehen Sie, Karl, Luise hat schon viel von Ihnen gelernt. Geistige Lebensdurchdringung! Das Wort stammt aus Ihrem Wortarsenal. Nu – ich kanns im allgemeinen nicht leiden, wenn Männer so leicht in Tränen zerfließen; aber sie hat recht: Genies sind keine Männer. – Jedes große Kunsttalent hat mehr vom Weib als vom Mann; es gebiert ja auch! Also tun Sie Ihren Gefühlen keinen Zwang an!«

»Sie spotten mit Recht über mich,« sagte Karl, seine Tränen trocknend. »Aber bedenken Sie: man bringt mir zu Hause wenig Herzlichkeit entgegen. Mein Vater zeigt mir stets nur den Pädagogen; meine Mutter versteht mich nicht recht; sie hat überhaupt so große Eigenheiten . . . kurz, an ihr habe ich keinen richtigen Anhalt. Sie jedoch haben schon so viel für mich getan und nun . . . retten Sie mir vielleicht gar . . . das Leben . . .«

»Das Leben?« lächelte sie ungläubig.

»Meinen Sie,« fuhr er fort, »ich hätts ausgehalten aus der Schule gejagt, vor Gericht gestellt, bestraft zu werden?«

»Wenn mein Schritt erfolglos bleibt, kann das Alles noch kommen,« wendete sie ein.

»Er bleibt nicht erfolglos,« meinte er. »Wer kann Ihnen widerstehen?«

57 Sie lachte. »Meinen Sie? Nun warten wirs ab. Aber reden Sie mir nicht von so dummen Sachen, wie: Sie wollten die Welt verlassen. Sie sind der Welt erst noch große Dienste schuldig, eh Sie sie verlassen dürfen.«

»O,« fiel er ihr ins Wort, »ich zweifle eben mehr als je an meinem Talent.«

»So?« wies sie ihn zurecht, »und Ihr letztes Gedicht in der ›Litterarischen Wacht‹? Das zeugt von einer Zunahme Ihres Talents.«

Sie stand auf, schritt ins Nebenzimmer und kam mit einem gelben Heft in der Hand wieder zurück.

»O, bitte,« rief er, »nicht etwa vorlesen! Ich kann meine Seelenergüsse nicht anhören.«

»Sie wunderlicher Kauz! na, Luise, dann lies es für dich. Nur hüten Sie sich, daß Sie in Ihrer Prosa Ihren Styl nicht gar zu bilderreich gestalten, das macht oft den Eindruck des Illuminierten oder Überladenen.«

»Ja,« gab er zu, »das merk ich selbst; ich möchte halt neue Empfindungen, neue Anschauungen bringen; da greif ich wohl oft fehl?«

»Sie verfallen dann in denselben Fehler, den Sie an den Modernen tadeln . . .«

Er gab ihr recht. Die beiden Fräulein hatten indes abgespeist. Luise trug die Schüsseln hinaus, um sie zu spülen, denn sie besorgte die Haushaltungsgeschäfte fast allein. Karl hatte sich erhoben.

»Ich wollt Ihnen noch was mitteilen, . . .« begann er zögernd.

»Nun?«

58 »Meinem Papa ward von Dr. Simmer Ihr letzter Roman überbracht.«

»So? und liest ihn Ihr Papa?«

»Jedenfalls. Dr. Simmer hat ihn gelesen.«

»Aha! hat ihm natürlich nicht gefallen?«

»Ist natürlich sittlich entrüstet.«

»Ja; er gehört ja auch zu den Sittlichkeitsfanatikern.«

»Er soll ihn ein geradezu verruchtes Buch genannt haben.«

Emma lachte: »Mein armes Werk, wie hat man dich falsch verstanden! Verrucht! Aber nur weiter, was sagt er noch, der strenge Prediger in der Wüste?«

»Sie wollten da die neue Moral der Immoralisten der Menschheit preisen und die abscheulichen Sitten des alten Heidentums wieder einführen.«

»Das freut mich,« frohlockte Emma, »das freut mich ungemein, daß sich die Philister und Pharisäer die Nase an meinem Buch wund stoßen. Jetzt erkenne ich erst, wie hoch sittlich mein Werk ist.«

»Wenn diese zerstoßenen Nasen,« lächelte Karl, »sich nur nicht in der Apotheke des Staatsanwalts ein Pflaster aufkleben lassen!«

»Wie? Sie meinen, – Dr. Simmer wolle mein Werk denunzieren?«

Karl zuckte höhnisch-verächtlich die Schultern. »Sie wissen doch,« sagte er, »diese Wächter von Thron und Altar führen zwar stets das Wort von der christlichen Nächstenliebe im Mund, – in der Hand schwingen sie aber oft das Richtschwert und die Brandfackel.«

59 »Allerdings – was ist diesen heiligen Furien die Kunst! Ich bin auf alles gefaßt.« Dann setzte sie gereizt hinzu: »Nun will ich Ihnen aber doch von Ihrem Dr. Simmer einiges erzählen . . .«

Luise, die gerade eingetreten war, legte sich ins Mittel.

»Aber Emma,« bat sie leise.

»Na, schaden könnts ihm nicht,« stieß sie trotzig heraus, »wenn er doch einen richtigen Begriff bekäme von diesen Moralpredigern.«

»Das wird uns Schülern nichts Neues sein!« meinte Karl trocken. »Wir erzählen uns von einigen unserer Staatspädagogen manche erbaulichen Dinge.«

»Nun,« fuhr Emma errötend fort, »dann kann ich Ihnen auch sagen, daß mir einer Ihrer Lehrer früher sehr eifrig nachgestellt hat.«

»So? wer denn?«

»Nicht Ihr Vater! weiter sag ich nichts! Ich würde ja von diesen menschlichen Schwächen gar kein Aufhebens machen, wenn die Herren auch Nachsicht mit den Schwächen Anderer hätten. Ihre Lehrer verfolgen meine litterarische Tätigkeit schon seit Jahren. Die Herren glauben, wer nicht vom Staatsstempel wissenschaftlich geaicht wurde, dürfe keine Feder führen. Sie wissen, daß man schon Artikel gegen mich losgelassen hat im Tageblatt. Einer hat mir sogar einmal auf der Straße ein Schimpfwort nachgerufen . . . Ich zöge ja am liebsten ganz von hier weg, aber ich kann von der Schriftstellerei allein nicht leben, ich muß Stunden geben, 60 Theaterkritiken schreiben, ein wenig malen, – so bleibt mir nichts anderes übrig als hier auszuharren. Nur werd ich in eine andere Vorstadt ziehen, weit weg von den Wohnungen dieser Herren.«

Sie sah trotzig und traurig zugleich durchs Fenster. Karl trat einen Schritt näher an sie heran, mit der linken Hand die Ecken seiner Schulhefte nervös umbiegend.

»Sie haben recht, wenn Sie diese Herren Lehrer nicht leiden können,« platzte er naiv heraus. »Mein Vater ist auch nicht besser als die anderen, heut morgen hat er erst über Sie geschimpft.«

Verlegen brach er ab, als sie ihm ungehalten den Kopf mit den sich verdüsternden Zügen zuwendete.

Mit hochrotem Gesicht brachte er dann noch hervor: »Mein Papa gilt im Staatsdienst als großer Pädagog, – er kann aber seine eignen Kinder nicht erziehen. Mich behandelt er ganz verkehrt, auch meinen Bruder versteht er nicht und was spielen sich oft für Szenen bei uns zwischen meiner Mutter und ihm ab! Er hat, vielleicht ohne es zu wollen, statt Liebe, Haß in mein Herz gesät.«

»Ach gehen Sie,« unterbrach ihn Emma. »Haß! Sie können doch ihren leiblichen Vater nicht hassen!«

»Leider ists so,« fuhr er, finster vor sich niederschauend, fort. »Und es ist seltsam, – je näher zwei Menschen miteinander verwandt sind, desto intensiver treten alle Haßgefühle zwischen ihnen auf. Man fühlt die ›Bande des Bluts‹ als eine furchtbare Fessel; man möchte auseinander, wie 61 zwei sich völlig Fremde, wie zwei Galeerensträflinge, und wird durch das unselige Verhängnis der Verwandtschaft gewaltsam wieder aneinander geschmiedet.«

Emma, die solche Ausbrüche für Übertreibungen jugendlicher Überspanntheit hielt, sagte lächelnd: »Ach, das meinen Sie gar nicht so schlimm; im Hohlspiegel Ihrer Phantasie verzerrt sich gleich jede Empfindung.«

»Meinen Sie?« höhnte er leise. »Nun, dann will ich Ihnen nur noch mitteilen, daß mir mein lieber Papa – verboten hat, Sie zu besuchen!«

Sie zuckte zusammen.

»So . . .?« lispelte sie;»aus welchen Gründen?«

»Aus ganz unsinnigen!« beschwichtigte er ihren aufsteigenden Zorn. »Sprechen wir nicht weiter davon.«

»Hat er etwa an meinem Lebenswandel etwas auszusetzen?« fuhr sie immer entrüsteter fort. »Glaubt er, ich verderbe seinen Sohn? Doch warum sich erregen! ich bin es ja längst gewohnt, falsch beurteilt zu werden.«

»Das ist das Schicksal aller Talente,« tröstete er sie. »Ich komme selbstverständlich doch zu Ihnen; nun erst recht.«

Emma sah, erregt atmend, mit starren Augen durchs Fenster auf die bunten Farben des herbstlich leuchtenden Hausgartens. Luise trat zu der Niedergedrückten hin, schlang zärtlich ihren Arm um ihre Schulter und flüsterte: »Liebe Emma! ist das meine welt- und menschenverachtende Sappho?«

62 »Luise,« entschuldigte sie ihre Melancholie, »ich setze mich gewiß leicht über alle Angriffe weg, das weißt du. – Aber das geht doch zu weit. Wie leicht kann es kommen, daß man auch deinen Klavierschülern und Schülerinnen unser Haus verbietet . . . Von was sollen wir dann leben? Der Direktor Körn ist eine sehr einflußreiche Persönlichkeit; nach seinem Urteil richten sich die besten Familien der Vorstadt und Stadt. Er kann uns einfach matt setzen, uns das Brot entziehen!«

Luise verstummte erschrocken.

»Es ist deshalb besser,« wendete sich Emma mit einiger Schärfe an Karl, »Sie besuchen uns nicht mehr.«

Karl zuckte zusammen, als habe ihn ein Schlag auf die Stirn getroffen.

»Das ist doch Ihr Ernst nicht, Fräulein?« stammelte er erbleichend, die Schulter vor Qual hin und her bewegend.

»Doch! vollkommener Ernst. Wenn Sie mich achten,« fuhr sie fort, »wenn Sie mir echte Freundschaft entgegenbringen, wollen Sie nicht meinen und meiner Luise Untergang. Auch in Ihrem eignen Intresse liegts, daß Sie Ihre Besuche einstellen.«

Karl rang zusammenschauernd nach Fassung.

»Aber – Fräulein,« brachte er mühsam heraus, »wissen Sie denn, was Sie mir da antun? Sie rauben mir die Lebenslust, die Sonne! Sie werfen mich in einen dunklen Kerker! O warum hab ich Ihnen überhaupt was vom Verbot meines Vaters gesagt!«

63 »Das ist nun geschehen,« lächelte Emma bitter. »Und Sie müssen sich als braver Sohn danach richten.«

»Nein, nie!« rief er. »Ich komme nach wie vor. Und wenn Sie mich hinauswerfen, – ich . . .«

Seine Stimme versagte. Beide Fräulein empfanden mit Beschämung, daß der Verzweiflungsausbruch des sensibeln Jünglings aus tiefstem, zerrissenem Herzen drang.

»Er hat ja hinzugesetzt,« stotterte er, mit den Tränen kämpfend, »ich verbiete dirs, aber du wirst doch hingehen.«

»Was hat er?« fragte Emma erstaunt.

»Ja, ich beschwörs! so hat er gesagt.« Er wiederholte die Phrase.

»Merkwürdig!« flüsterte Luise.

»Seltsam, höchst seltsam,« sagte Emma sinnend.

»Also,« flehte er, »nicht wahr? ich darf kommen? Sie verbieten mir nicht Ihr Haus?«

Emma schwieg. Luise blickte fragend auf die Freundin.

»Sagen Sie: Ja!« bat er leise. »Oder – Sie werden es bereuen.«

»Bereuen? was heißt das?«

»Ich sage Ihnen: Sie bereuen es.«

»Wenn Sie in einem solchen Ton reden, – möcht ich Sie erst recht bitten, Ihre Besuche einzustellen.«

»Fräulein Emma!«

Luise hatte Mitleid mit dem Leidenschaftlichen. »Herr Körn,« sagte sie, »kann ja seltner kommen. Du würdest auch manche Anregung verlieren, wenn 64 er gar nicht mehr käme. So streng hat das sein Vater auch wol gar nicht gemeint; das beweist ja sein Nachsatz. Also – verbieten wir dem Herrn Karl nicht völlig unsre Wohnung.«

Emma schwieg immer noch, vor sich hinstarrend. Luise drang noch einmal in sie.

»Ich lehne jede Verantwortung ab,« lächelte endlich Emma. »Wenn Sie hier um Ihr Seelenheil und Ihre Tugend kommen, – meine Schuld ists nicht.« Alle lachten.

»Ich laß es darauf ankommen,« sagte Karl freudig erregt. »Ich danke Ihnen. Ich werde von Ihrer Erlaubnis keinen zu häufigen Gebrauch machen; nur hie und da, auf einen Sprung. Ich hätts ja sonst nicht ausgehalten. Ich hab mich so daran gewöhnt, Ihnen all mein Wol und Weh mitzuteilen, – sonst hab ich ja niemand, der mich versteht.«

»Nun denn,« versetzte Emma mit resigniertem Lächeln, »ich überlaß es Ihnen. Ich lade Sie nicht ein, ich werfe Sie nicht hinaus.«

Sie reichte ihm die Hand; doch nicht mehr so herzlich wie sonst. Es lag eine müde, kühle Gleichgiltigkeit über ihrem ganzen Wesen. Karl empfand das schmerzlich und bereute heftig seine vorschnelle Mitteilung des väterlichen Verbots.

Schon seit einiger Zeit tönte sehr mangelhaftes Klavierspiel aus dem anstoßenden Zimmer, und unterbrach zuweilen das Gespräch der Beiden in widerwärtiger Weise.

»Zum Teufel,« rief Karl ganz laut, »welcher Stümper hackt denn da so polizeiwidrig auf dem 65 Ohrenfolterkasten herum?« Während Emma, ein Gelächter unterdrückend, sich an ihren Schreibpult begab, eilte Karl bis an die Türe des Nebenzimmers. Zu seiner großen Überraschung sah er da ein reizendes junges Mädchen von etwa siebzehn Jahren am Klavier sitzen. Das hübsche Kind hatte seine brüsken Worte gehört, es errötete stark, nahm die Hände von den Tasten und wendete ihm, mittelst eines burschikosen Schwungs auf dem Drehstuhl, ihr kleines, blasses Gesichtchen zu.

»O . . . Sie, Fräulein Natalie?« rief Karl, den im Anfang das grelle Sonnenlicht geblendet hatte.

Es war die Tochter des Rechtsanwalts Meyer, der im dritten Stock über Körns wohnte. Der Primaner, der ihr fast täglich auf der Treppe begegnete, pflegte sie wenig zu beachten. Natalie wendete ihm jetzt ihren reizenden, kleinen Kopf mit den hilfeflehenden Augen zu. Sie war ganz weiß gekleidet; ihr Kopf hob sich eigenartig vom Goldgrund des sonnigleuchtenden Fensters ab. Zum erstenmal merkte er, daß dies Geschöpfchen eigentlich sehr nett war. Ein Rokokogesichtchen. Das feine Näschen, die zarten Wangen, die naiven Lippen glänzten in köstlicher Unschuld aus schwarzen, die halben Wangen bedeckenden Haarwulsten heraus, als wäre das Gesichtchen soeben mit besonderer Sorgfalt in der königlichen Porzelanfabrik hergestellt worden. Diese schwarze, düstre Umrahmung, die nur einen kleinen Teil des Gesichtchens sehen ließ, war äußerst effektvoll und doch ganz unbeabsichtigt. Die Verhüllung gab dem Antlitz eine 66 gewisse süße, jungfräuliche Mütterlichkeit, man glaubte unwillkürlich, man müsse eine Puppe auf dem Schoß der Kleinen finden, man faßte sofort ein behagliches Vertrauen zu der Seele, die aus diesen kindlich-ernsten Augen lächelte.

»Ach ja,« sagte die Reizende weinerlich, »nicht wahr, schrecklich! Mama wills absolut haben, ich soll Klavierspielen, hab doch gar kein Talent dazu, wahrhaftig nicht! gelt? schrecklich! Sie fühlen das auch?«

Karl lachte laut.

»Ich glaube, das würde selbst ein Kamerun-Neger fühlen,« meinte er.

Sofort führte das süße Mütterlein das Schnupftuch an die Augen und lispelte wieder ihr »Schrecklich!«

»Nu, zu weinen brauchen Sie deshalb nicht!« lachte Karl; »S ist ja bis jetzt noch kein Verbrechen, die Ohren seiner Mitmenschen zu martern . . .«

»Ja, wissen Sie,« lächelte sie unter Tränen, »meistens spiel ich auch gar nicht; Fräulein Luise macht mirs leicht, – ich spring meistens im Garten herum, und nur zuweilen, wenns gar nicht anders geht, klimpere ich ein wenig da auf den Tasten.«

»Nun, die Tasten bedaure ich gar nicht,« sagte er galant, »daß sie sich von so zierlichen Fingern müssen berühren lassen.«

»Ach Sie!« machte sie ärgerlich, mit reizender Schulterbewegung. Dann stand sie auf, als jetzt Luise eintrat.

»So,« sagte die Lehrerin freundlich, »für heut genug . . .«

67 Dann wendete sie sich an Karl: »Fräulein Natalie hat heut ausnahmsweis ihre Stunde früher gelegt; da mußte sie sich mit dem Sauerkraut in meine Aufmerksamkeit teilen! Na, der Schaden ist nicht groß; sie hätte auch im andern Fall nicht mehr gelernt. Nicht wahr, Herr Karl, Sie wohnen ja auch im Haus des Herrn Rechtsanwalts, nicht?«

»Ja.«

»Würden Sie nicht mal mit der Frau Rechtsanwalt sprechen, daß das Klavierspielen ihrer Natalie gar keinen Zweck hat?«

»Nu ja, das will ich schon ausrichten.«

»Dagegen hat das kleine Wesen ein recht hübsches Maltalent,« fuhr Luise fort. »Die Eltern sollten sie zu Emma in die Lehre schicken.«

Emma trat herzu und bestätigte das. Sie zeigte ein Blatt, auf dem Nata (wie sie in der Familie gerufen wurde) sich ganz hübsch verewigt hatte.

Indessen hatte sich die Kleine angezogen. Karl erbot sich, sie zu begleiten; sie nahm an. So wanderte er bald mit seinen Schulbüchern unterm Arm neben ihr her.

Er hatte eigentlich immer von dem Mädchen den Eindruck großer Verschlossenheit erhalten. Wenn er ihr auf der Haustreppe begegnet war, hatte sie stets so verträumt vor sich niedergeschaut; war ihm immer so eilig entwischt wie ein verscheuchtes Rebhuhn. Dabei hatte sie manchmal ein eignes Lächeln, das ihn an das Lachen ihrer Mutter erinnerte; sie zog, gerade wie die Frau Rechtsanwalt, die Lippen so wunderlich schief zur Seite und blickte ihn von 68 unten nach oben schelmisch-treuherzig-trotzig dabei an. Diesmal behielt sie auch lange ihre träumerische Verschlossenheit bei. Sie nahm sogar einen leisen Trotz an, eine gewisse pikante Abwehr, eine jungfräuliche Kühle. Karl empfand ihre Nähe mit einem süßen Unbehagen, als umwehe ihn die noch herbe, kühle Frühlingsluft eines Märzmorgens. Mit Mühe brachte er aus ihr heraus, daß sie eben gerade ›unbändig‹ für ihre englische Lehrerin schwärmte. Dann kamen sie auf den Roman zu reden, den sie gerade las. Er fragte danach; es war Scheffels Ekkehard. Er lobte das Buch. So waren sie auf einmal in die Litteratur geraten. Ihn überraschte dabei ihr richtiges, aber meist ablehnendes Urteil. Sie habe, erzählte sie ihm dann, auch Gedichte von ihm in der ›Litterarischen Wacht‹ gelesen.

»So?« sagte er lächelnd, »von mir? Haben sie Ihnen gefallen?«

In ihrer träumerisch-verschlossenen Weise sagte sie sehr ehrlich: »Nicht alle . . .«

»Das freut mich!«

»Wie?«

»Daß Sie so offen das heraussagen, freut mich. Ich kann nämlich Lob gar nicht vertragen.«

»Ei was?«

»Nein. Ich bin zu mißtrauisch, halte auch zu wenig vom Urteil meiner Nächsten.«

»Es wird ja auch,« meinte sie, »gar zu viel gedichtet. Zu was die vielen schönen Verse?«

»Ganz meine Meinung!« lachte er. »Wir haben genug davon. Alle Gefühle sind durchgefühlt, die 69 Welt will Taten. Wissen Sie, Fräulein, was ich tun möchte?«

»Nun?«

»All dies Dichten und Malen und Musizieren hat im Grund nur dann einen Sinn, wenn es die Welt veredelt. Das ist die eigentliche Mission der Kunst auf Erden. Sie erreicht dies auch; aber sehr, sehr langsam. Deshalb möcht ich dem Fortschritt Flügel geben.«

»Wie wollen Sie das anfangen?« fragte sie gespannt.

>Ich möchte eine neue Religion gründen!« sagte er.

Sie sah ihm mit strahlenden Augen ins Gesicht. »Ach!« rief sie, plötzlich ein ganz anderes Wesen annehmend, »da begegnen wir uns; das war ja auch schon längst mein Ideal.«

»Was?« versetzte er mit überraschtem Blick. »Sie haben auch so wunderlich verrückte Einfälle?«

Sie lachte: »Noch viel verrücktere! Sie kennen mich gar nicht; ich bin ganz anders als ich scheine! Sehen Sie, mir genügt unsre Religion auch nicht. Ich finde nicht, daß sie die Menschen gesünder, edler macht; im Gegenteil! Das Christentum ist vielleicht daran schuld, daß heutzutage so viel Nervöse, Entartete herumlaufen.«

»Ganz meine Ansicht,« stimmte er freudig ein. »Das Mittelalter mit seiner Askese, seinen Folterkammern, seinem Hexenwesen, Ketzerverbrennung, Judenverfolgung, hat die Menschheit geistig und körperlich ruiniert. Es ist ewig zu beklagen, daß sich unsere Kultur nicht auf dem Griechentum weiter 70 entwickelt hat, sondern auf dem mit rohem Germanentum durchtränkten Judentum. Unsere Gymnasien wollen diesen Fehler verbessern; sie sind aber nur die matte Sehnsucht eines kranken Geschlechts nach Freiheit und Schönheit. Sehen Sie, meine Religion soll nun nicht auf Dogmen aufgebaut werden; ich würde ein Gefühl zum Gott ernennen; erraten Sie?«

Sie sah ihn groß an und sagte: »Die Liebe!«

»Nein,« fuhr er fort, »die Schönheit.«

»Stellen Sie die Schönheit so hoch?«

»Sie müssen wissen, was ich darunter verstehe. In der Natur liegt ein entschiedener Drang, das Schöne darzustellen. Wir sehen das am niedersten Gras, an der Zeichnung und Farbengebung der Schmetterlinge, der Käfer, bis es im menschlichen Körper, schließlich im Geist, siegreich seine Fahne aufpflanzt. Der schöne Geist ist der unmittelbare Ausfluß aus der großen Geistessonne. Das wahrhaft Schöne ist auch das wahrhaft Gute. Ein vollkommen schöner Mensch empfindet seine Schönheit gleichsam als innere Melodie; er kann daher nichts Böses tun; diese innere Melodie ruft ihm immer zu, daß er ein Abdruck Gottes ist.«

»Aber,« ließ sie schüchtern einfließen, »es kann doch nicht Jeder schön sein?«

»Es könnte Jeder schön sein,« sagte er. »Ursprünglich war jedes Wesen schön. Erst durch einen Abfall von der Natur wurden wir häßlich und damit sündhaft. Meine Religion will die Menschen wieder schön machen, auf daß sie gut werden.«

71 Er hatte sich ganz in Begeisterung hineingeredet. Als Beide das Wohnhaus erreicht hatten, blieb Natalie am Thor einen Augenblick stehen.

»Eine neue Religion?« sagte sie schwärmerisch, »ja! arbeiten Sie nur auf dies Ziel los. Wie gern möcht ich Ihnen dabei helfen!«

»Das können Sie,« meinte er. »Im Stillen können Sie meine erste Anhängerin sein.«

Sie nickte lächelnd. »Ich werde Ihnen Anhängerinnen werben,« fuhr sie heiter fort. »Wer weiß, vielleicht kommt doch einmal eine Zeit, in der ich an Ihrer Seite wirken kann . . .«

Sie schritten durch die stets windige Thorhalle in den Hof, die Treppe empor. Die Frau Rechtsanwalt wartete schon auf ihre Tochter. Als sie das Mädchen in Begleitung Karls die Stiege heraufkommen sah, zog sie sich wieder von der Glastüre zurück. Sie lächelte. –

Als Karl gegangen war, schritt Emma mit erregten Schritten im Zimmer auf und ab. Dann eilte sie in die kleine Küche, wo Luise eben die Teller in warmem Wasser abspülte.

»Hör mal, Freundchen,« sagte sie aufgebracht, >dagegen reagier ich, das laß ich mir nicht so ohne weiteres gefallen.«

Luise stellte gerade einen nassen Teller auf das Spülbrett. »Was?« fragte sie, »das Verbot?«

»Ja,« gab Emma zurück, »das ist eine Impertinenz. Dieser Schulmeister kennt mich ja gar nicht, hat seine Weisheit aus einfältigem Stadtklatsch gezogen. Es ist die alte Geschichte, – die Leute trauen stets 72 ihrem eigenen Urteil weniger, als dem anderer Leute.«

»Freilich,« sagte Luise, eine Schüssel abtrocknend, »und wie du selbst einmal schriebst: Der Spürsinn der Dummen in Bezug auf die Schwächen ihrer Mitmenschen, grenzt ans Geniale.«

»Nun also,« fuhr Emma vor Erregung zitternd fort, »ich werde alle Hebel in Bewegung setzen, diesen Schultyrannen persönlich kennen zu lernen . . .«

»Das wird nicht schwer sein,« meinte die Freundin.

»Desto besser. Und dann . . . werd ich mich rächen.«

»Rächen?« Luise hielt im Abtrocknen der Schüssel inne und sah ungläubig in das erglühende Gesicht der Freundin.

»Ja . . .«

»Ist das nur eine von deinen berühmten Mystifikationen?« fragte Luise lächelnd.

»Nein, es ist mein völliger Ernst.«

»Also – so rachsüchtig ist meine Sappho? ja, wie willst du dich denn rächen?«

»Das weiß ich noch nicht. – Aber ich werds!«

Luise stellte die Schüssel hin und umarmte lachend die Freundin.

»Ach, Sapphochen,« scherzte sie, »große Dichterin, du bist reizend, wenn du so in Wut gerätst!«

Emma entzog sich ihr schmollend.

»Nein, mir ists ernst,« wies sie die Andere zurecht. »In welchem Ruf mag ich hier stehen!«

»Also rächen willst du dich?« wiederholte Luise.

»Ich werde seine Schwächen auskundschaften, werde ihn auf irgend eine Art blamieren!«

73 »Ich sehe dich schon in der Rolle der pathetischen Rächerin,« frohlockte die sanftere Luise, »so etwa als Elektra! Übrigens, du hast dem armen Karl den Kopf gründlich verdreht, – hast du das nicht bemerkt?«

»Kinderei,« meinte die Schriftstellerin.

»Na na,« lächelte die Klavierlehrerin, »ob das nur so ne Kinderei ist? Der Mensch scheint mir von intensiven Leidenschaften durchwühlt zu werden.«

»Nun,« gab ihr die Freundin sinnend recht, »ich werde kaltes Wasser ins Feuer gießen. Aber meine Rache an seinem Vater geb ich nicht auf. Fühlst du dich denn nicht mit mir beleidigt?«

Die Klavierlehrerin ward ernst.

»Du,« fuhr die Dichterin fort, »mußt noch mehr auf deinen Ruf sehen als ich. Denk doch, wenn du Stunden verlörst!«

Sie konnte aus zwei Gründen nicht weiter reden; Peter, der Kater, war ihr vom Küchenschrank aus auf die Schulter gesprungen und draußen an der Glastüre schellte die neue vierzehnjährige Klavierschülerin. Luise streifte die Ärmel über ihre zarten Arme, um zu öffnen, Emma ging, mit dem Kater auf dem Rücken, an ihren Schreibpult. Dort sann sie längere Zeit, immer den Kater auf dem Rücken, vor sich hin. Die Gefühle, die sich im Busen ihres jungen ›Kollegen‹ zu regen begannen, behagten ihr gar nicht. Luise hatte recht. Sie mußte hier einen tüchtigen Dämpfer auf die hochschwingenden Saiten drücken.

Jetzt setzte sich Luise mit der ›höheren Tochter‹ 74 vors Klavier; Emma sah von ihrem Stuhl aus gerade das krampfhaft-starr auf die Noten geheftete Kindergesicht.

Welch öde, nüchterne Nachmittagstimmung! Die Dichterin fand nicht den richtigen Schwung, um an ihrem neuen Roman weiter zu schaffen. Und doch! in dieser Öde lag auch etwas. Die Nüchternheit enthält auch ihre grau-melancholische Poesie; in diesem schlaffen Unvermögen, diesem Gefühl müder Gleichgiltigkeit gegen die Schläge des Schicksals, lag eine süße, wollusttrunkne Todessehnsucht. Draußen vorm Fenster weinte Blatt auf Blatt von den schwermutgebückten Sträuchern auf die feuchte Erde; das Weinlaub am Spalier nahm eine hektische Fieberröte an.

Dort im Nebenzimmer hackte die Hand der Vierzehnjährigen stümperhaft eine Etüde herunter. Wie unvollkommen doch das Leben ist, dachte Emma seufzend; überall nur Halbes, nur Bruchstücke. Wird es auf fernen Sternen einst besser werden?

Sie sah gerade zwischen den hohen, finsteren Häuserwänden ein kleines Stückchen blauen Himmels. Die sterbensmüde Herbstsonne lächelte wehmütig herunter in das verkümmerte Hausgärtchen, das zwischen den Wänden des philisterhaften Geschäftshauses schlummerte, wie die Leiche eines Kinds im Sarge. Und sie sollte ja arbeiten, schreiben fürs tägliche Brot. Auf! spanne deine Gehirnfibern an, arme Seele, suche nach Bildern, ermattete Phantasie! Wie unglücklich sie sich heute fühlte! . . . was den 75 Lesern ein Fest sein sollte, – ihr ward es zur qualvollen Arbeit.

Es war ihr ganz recht, daß es jetzt draußen schellte und sie ein Kollege, Friedrich Schnätz, besuchte. Das brachte sie in bessere Stimmung. Schnätz schrieb Schauerromane fürs Volk, schreckliches Zeug, für das er aber im Monat drei- bis vierhundert Mark bekam. Er sah heruntergekommen aus, etwa wie ein Advokatenschreiber, hatte dachstubenmäßige Manieren, war mehr Geschäftsmann als Künstler und schimpfte neidisch auf alle Emporkömmlinge der Poesie. Er hatte sich eine eigne Theorie zurechtgelegt: er schreibe für den ›normalen‹ Geschmack, die Kunstdichter für den perversen. Alle höhere Kunst sei abnorm. Später kam noch ein pensionierter Amtsrichter, Meißel, der sich auch der Poesie ergeben. Er trug als Lebensaufgabe ein vorsintflutliches Epos mit sich herum, in dem er die Planeten, Fixsterne und Milchstraßen nur so aus der Tasche zog, als könne man sie sich sofort warm aufs Butterbrot streichen oder als Zigarren unter der Nase verdampfen.

Emma braute einen starken Kaffee, ließ Kuchen holen und machte auf reizende Weise die Wirtin. Besonders der arme Schauerromanfabrikant sprach dem Kuchen so stark zu, als habe er seit drei Tagen nichts mehr in den Magen bekommen. Der Kaffee machte ihn immer reizbarer, immer verbissner und schließlich entdeckte er, daß nur Sudermann ein wenig Talent besaß, weil er eine ›brillante‹ Technik hatte . . . Sonst war die ganze moderne 76 Litteratur für ihn nicht mehr wert, »als dieser Kaffeesatz«!


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