Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

19

»Sie können ruhig an Deck gehen, Miss Pitt«, sagte Arthur Dorban liebenswürdig. »Aber es ist Ihnen natürlich nicht gestattet, mit irgendeinem der Leute in Verbindung zu treten, die ich leider habe einsperren müssen. Ich bin sicher, daß Sie nicht wußten, was Sie taten; sonst hätten Sie diese Schurken nicht unterstützt, die sich nur dem Arm der Gerechtigkeit zu entziehen suchten.«

Er stand, vor der Tür und machte keinen Versuch hineinzugehen. Seine Haltung war sehr höflich.

»Ich verspreche Ihnen, daß Sie weder von mir noch von einem anderen gestört werden sollen«, setzte er nachdrücklich hinzu.

Sie nickte dankbar, und er verließ sie wieder.

Sie ging an Deck auf und ab und versuchte ihre Fassung wiederzuerlangen. Allmählich gelang es ihr auch. Hollin saß oben auf der Treppe. Er hatte seinen Pistolengürtel umgeschnallt, und auf seinen Knien lag ein Gewehr. Zu seinem Erstaunen redete sie ihn an.

»Sie haben nichts zu befürchten, Miss«, sagte er, denn in gewisser Beziehung fühlte er sich selbst in nüchternen Augenblicken als Kavalier. »Ich werde dafür sorgen, daß Ihnen niemand zu nahetritt.«

»Wissen Sie, wohin wir fahren?«

»Habe nicht die geringste Ahnung. Der Chef sagt, daß wir einen spanischen Hafen anlaufen. Er wird alles für mich regeln. Immerhin werden mehrere tausend Pfund für mich dabei abfallen.«

Sie fragte ihn nicht weiter, welche Versprechungen Arthur Dorban ihm gemacht hatte, und ging wieder fort. Bei dem roten Ventilator blieb sie stehen und lehnte sich über die Reling. Sie konnte Bobbys Kabinenfenster sehen. Ihr Herz schlug schnell, und sie eilte wieder zu ihrer eigenen Kabine, um alle Schubladen nach den Gegenständen zu durchsuchen, die sie brauchte. Im Schreibtisch fand sie eine Rolle Bindfaden, schnitt mehrere Stücke davon ab und machte eine Schlinge an das Ende. Sie hatte sich nun einen Plan zurechtgelegt, wie sie vorgehen wollte.

Sie ging wieder zu Hollin zurück, zog einen Stuhl heran und setzte sich neben ihn. Er blieb auf dem Fußboden sitzen, schaute zu ihr auf und grinste.

»Ich bin hier auf Posten«, rühmte er sich. »Die ganze Mannschaft ist dort unten.« Er zeigte hinunter, wo mehrere Leute mit nicht gerade sehr vergnügten Gesichtern an der Reling standen, rauchten und leise miteinander sprachen. Einer wandte sich um und schaute düster zu ihm hinauf. »Wenn sie frech werden, weiß ich, was ich zu tun habe.«

»Das glaube ich auch«, sagte sie stockend. Aber er legte ihre Erregung anders aus.

»Sie brauchen wirklich keine Angst zu haben, ich schieße nur, wenn es absolut notwendig ist. Ich bin im Grunde ein sehr gutherziger Mensch, jeder kann alles von mir haben.« Er sah sie wieder an. »Besonders wenn mich Frauen um etwas bitten ...«

Als er dann wieder schmunzelnd auf das Vorderdeck hinunterschaute, führte sie ihr Vorhaben aus und hatte vollen Erfolg. Ihr Herz stand fast still, als sie die hintere Pistole aus seinem Gürtel zog. Er merkte es nicht, weil der Gürtel hinten auflag und er deshalb den Gewichtsunterschied nicht wahrnehmen konnte.

Plötzlich erhob sie sich mit einer Entschuldigung und ging wieder nach hinten. Ihre Knie zitterten. Mit bebenden Fingern befestigte sie die Schnur am Pistolengriff, und als sie an den roten Ventilator kam, ließ sie den Bindfaden nach unten hängen. Es dünkte ihr fast eine Ewigkeit, bis sich eine Hand aus dem Fenster streckte und die Waffe nach innen zog. Sie war einer Ohnmacht nahe und mußte sich am Geländer festhalten.

Nach einer Weile ging sie wieder zu Mr. Hollin. Er wandte sich nach ihr um, aber glücklicherweise hatte er nichts von alledem bemerkt, was sie eben getan hatte.

»Sie fühlen sich wohl ein wenig seekrank?« fragte er so stolz wie jemand, der nicht unter diesem Übel zu leiden hat. »Sie sehen so blaß wie der Tod aus, mein Fräulein. Setzen Sie sich doch wieder!«

»Ja, das will ich tun«, erwiderte Penelope.

»Nehmen Sie einen guten Rat von mir an. Lassen Sie sich nicht mit diesem John ein; das ist ein Verbrecher, ein ganz gemeiner Kerl, der seinen besten Freund verrät. Er war gerade im Begriff, das auch mit mir zu machen. Er wollte mich in einem offenen Boot auf dem Meer aussetzen, und vorher hat er mir doch versprochen, mich nach Südamerika mitzunehmen. Und ich sollte so viel Geld bekommen, daß ich mein ganzes Leben lang von den Zinsen leben könnte. Was halten Sie von einer solchen Gemeinheit?«

»Ich glaube nicht, daß er so etwas getan hätte.«

»Sie glauben es nicht?« fuhr Hollin böse auf. »Da sieht man mal, wie wenig Sie von ihm wissen. Ich kann Ihnen nur sagen – aber was ist denn das?« Er war mit der Hand an das leere Pistolenfutteral gekommen. »Nun machen Sie keine Tricks mit mir, mein Fräulein! Wo ist die Pistole?«

»Was für eine Pistole?« fragte Penelope, und es gelang ihr, Erstaunen zu heucheln.

»Ich möchte einen Eid darauf leisten, daß ich sie in meinen Gurt gesteckt habe!«

Er schaute sie argwöhnisch an, aber er sah ganz deutlich, daß sie keine Waffe von der Größe verstecken konnte. Er wandte sich wieder um.

»Ich habe sie doch bestimmt in meinen Gürtel gesteckt! Aber vielleicht täusche ich mich auch.«

»Haben Sie etwas verloren?« fragte sie unschuldig.

Aber in diesem Augenblick fielen mehrere Schüsse. Hollin eilte die Treppe hinunter.

Arthur und Cynthia unterhielten sich gerade darüber, welchen Weg sie von Cadiz aus nehmen wollten, als sie ein dröhnendes Geräusch hörten. Jemand trat heftig mit dem Fuß gegen die Tür, und sie konnten leicht feststellen, woher der Lärm kam.

»Wenn Sie beide nicht ruhig sind, dann werde ich Sie an Händen und Füßen fesseln«, drohte Arthur, aber er sprang hastig zur Seite, als eine der Türfüllungen splitterte und die Tür aufflog. Er zog sofort seinen Revolver und schoß, ohne zu zielen. Aber sein Schuß und der andere klangen wie einer, und er fiel zu Boden.

Cynthia gab den dritten Schuß ab, aber ihre Hand zitterte, und die Kugel verfehlte ihr Ziel. Im nächsten Augenblick ergriff John sie an der Schulter und übergab sie Bobby, der sie entwaffnete.

»Schnell in die Kabine mit ihr!« rief er.

Sie stießen sie in die Kabine, die sie eben verlassen hatten. John fand den Schlüssel zu den Handschellen auf Mr. Dorbans Kabinentisch, wo auch Schachteln mit Munition standen. Gleich darauf waren sie wieder frei. John kam gerade zur rechten Zeit, um dem wütenden Hollin in den Weg zu treten, der den Gang entlanglief. Mit philosophischer Ruhe ergab sich der Mann in die veränderte Situation, als ihm die Waffen abgenommen wurden.

»Wo ist Dorban?« fragte Bobby.

»Ich werde nach ihm suchen. Bewache du so lange die beiden, Bobby.«

John öffnete schnell die Kabinen, in denen der Captain und Mr. Orford eingeschlossen waren, und eilte dann nach oben. Arthur Dorban war nirgends zu sehen, auch auf dem Bootsdeck war er nicht zu entdecken. Nur die beiden Steuermannsmaate hielten sich auf der Kommandobrücke auf. Zwischen den beiden Schornsteinen auf dem rechten Achterdeck erhob sich eine kleine Kabine, in der die Funkstation untergebracht war. Instinktiv eilte John dorthin und fand dort auch Dorban, der eben hinaushinkte, als John zur Tür kam.

»Sie kommen zu spät, mein Freund. Ich habe Ihren Funker veranlaßt, eine Botschaft abzusenden, die sehr unangenehme Folgen für Sie haben wird.«

John stieß ihn beiseite und ging hinein.

»Sie ist schon abgegangen«, sagte der Mann. »Er hat gedroht, mich zu erschießen, wenn ich ihm nicht gehorchte.«

»Wie lautete der Spruch?«

»Ich habe dem Kriegsschiff mitgeteilt, daß Sie an Bord sind.«

»Welchem Kriegsschiff?«

Er eilte an Deck und beschattete die Augen mit der Hand, um besser sehen zu können. Der Funker zeigte auf eine schwere graue Wolke am Horizont; es war schwer, die Umrißlinien des ebenfalls grauen Kriegsschiffes davon zu unterscheiden.

Sie gingen wieder zurück.

»Wir bekommen jetzt Antwort«, sagte der Funker, als er wieder an seinem Gerät saß.

»Was funken sie?« fragte John.

»Drehen Sie hart nach Backbord bei und halten Sie eine Meile von uns entfernt. Wir kommen an Bord.«

Der Captain stand am Steuer, als John auf die Brücke trat. Er sah eben noch, wie Dorban von zwei Matrosen gefesselt und die Treppe hinuntergebracht wurde. John erklärte in einigen Worten die Lage.

»Wir werden ihm aus dem Wege fahren«, sagte der Captain. »Das Schiff gehört zur Mynthic-Klasse; die fahren so langsam, daß sie uns nicht überholen können.«

Er gab schnell seine Befehle, und die ›Polyantha‹ legte sich zur Seite, als sie eine vollständige Wendung machte und in entgegengesetzter Richtung weiterfuhr. Als sie kaum eine halbe Meile weit waren, kam eine neue drahtlose Nachricht. Der Captain brummte, als er sie las.

»Sie wollen das Feuer auf uns eröffnen, wenn wir nicht sofort stoppen.«

Er telefonierte zum Maschinenraum.

»Holen Sie aus den Maschinen heraus, was Sie können, Mackenzie! Wir müssen einen Rekord machen!«

Kaum hatte er das gesagt, als eine Rauchwolke von dem Kriegsschiff emporstieg. Sie hörten das Donnern des Geschützes, und gleich darauf erhob sich eine Wassersäule an der Stelle, wo das Geschoß eingeschlagen hatte. Die zweite Granate kam ihrem Ziel schon näher.

»Wir bieten ihnen ein zu großes Ziel. Wenden Sie nach links«, sagte er zu dem Steuermann.

Jetzt waren drüben zwei Geschütze in Tätigkeit. John sah die Mündungsfeuer und hörte das Heulen der großen Granaten. Aber sie richteten keinen Schaden an. Das Schiff fuhr mit größter Geschwindigkeit und war bald aus der Feuerzone entkommen. Das Kriegsschiff stellte das Feuer ein. Gleich darauf wurde ein eiliger Kriegsrat im Salon abgehalten. Penelope sah durch ein Deckenlicht hinunter, wie alle um den großen Tisch saßen und eifrig auf den Karten suchten.

»Das ist der Augenblick, in dem sich meine Organisation bewährt«, sagte Mr. Orford, der seit langer Zeit wieder einmal vergnügt dreinschaute. »Hier ist der Punkt, Captain.« Er bezeichnete mit dem Bleistift eine Stelle auf der Karte. »Dorthin habe ich einen Tanker beordert. Er wartet auf uns, um uns mit Brennstoff zu versorgen. Ich habe das Tankschiff gechartert, es fährt unter amerikanischer Flagge.«

»Ich bin nicht wegen des Brennstoffs beunruhigt«, erwiderte der Captain. »Wir haben noch genug für weitere zehn Tage. Ich habe viel schwerere Sorgen. In vierundzwanzig Stunden werden wir hier von Torpedobootszerstörern angehalten werden. Sie haben außerdem ein Flugzeug in Gibraltar, das sie ausschicken werden; ich sehe nicht, wie wir ihnen entkommen könnten.«

»Lassen Sie sie uns doch ruhig anhalten«, meinte Orford. »Das einzige Zeugnis gegen uns sind die beiden Leute, die wir an Bord haben.«

»Und Mr. John – und die junge Dame«, verbesserte ihn der Captain.

»Sie haben recht«, nickte Mr. Orford. »Aber wenn sie uns eingeholt haben, werden wir nicht mehr an Bord sein.«

»Aber wo wollen Sie denn bleiben?« fragte der Captain. »Wir können doch nicht zur spanischen Küste zurückfahren?«

»Wir werden einfach an Bord des Tankers gehen und mit ihm nach Boston, Massachusetts, fahren. Niemand wird etwas davon wissen. Den Kapitän kenne ich persönlich, und die Mannschaft werde ich schon irgendwie beruhigen können.«

Der Captain biß sich nachdenklich auf die Lippen.

»Wenn der Tanker wirklich dort ist –«

»Der ist bestimmt dort«, entgegnete Mr. Orford etwas ungehalten. »Ich habe so disponiert.«

John ging nach oben, um Penelope die Lage zu erklären.

»Ich fürchte, wir können Ihnen an Bord des Tankschiffes nicht dieselben Annehmlichkeiten bieten wie hier, aber Sie haben dann wenigstens ein festes Reiseziel. Wir fahren nach Boston und werden in zehn Tagen dort ankommen. Dann sind alle Schwierigkeiten für Sie zu Ende, und Sie kommen nach allem doch wieder heil nach Kanada zurück!«

Sie lächelte ein wenig traurig.

»Ich hatte nicht erwartet, auf diese Weise wieder nach Kanada zurückzukommen. Aber solange wir überhaupt noch irgendwo hinkommen –«

Sie fühlte sich sehr unzufrieden und wußte eigentlich selbst nicht, warum, bis sie erkannte, daß seine Worte sie verletzt hatten. Er nahm einfach an, daß sie nur wünschte, nach Kanada zurückzukehren. Von dieser phantastischen Heirat, die Mr. Orford plante, erwähnte er überhaupt nichts. Es war so absurd, aber sie hatte doch ihre Einwilligung gegeben. Sie mußte ihre Gedanken erst wieder sammeln.

»Es ist eigentlich sehr schade«, gestand sie. Sie hätte sich die Zunge abbeißen können, daß sie das gesagt hatte.

Glücklicherweise schien er ihrem Gedankengang jedoch nicht gefolgt zu sein.

»Ich werde mich an Bord des Tankers ganz wohl fühlen. Bitte, machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen. Ich habe die ›Polyantha‹ allerdings sehr liebgewonnen, und es tut mir leid, daß ich sie verlassen muß.«

»Trotz der vielen Aufregungen und geheimnisvollen Dinge, die Sie erlebt haben?« fragte er lächelnd.

Sie nickte.

Die Organisation Mr. Orfords klappte so genau, daß sie morgens um zwei Uhr schon das Tankschiff trafen. Die außerordentlich ruhige See machte es möglich, direkt neben ihm anzulegen.


 << zurück weiter >>