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12

Als sich die ›Polyantha‹ am frühen Morgen der felsigen, im blauen Nebel verschwimmenden Küste Spaniens näherte, sprang Penelope aus dem Bett, zog sich rasch an und ging an Deck.

Sie war erstaunt, auch Mr. Orford schon dort anzutreffen. Da der Morgen kühl war, hatte er einen Wintermantel angezogen und den Kragen hochgeschlagen. Seine Hände steckten in den Taschen, und er schaute düster und unzufrieden zur Küste hinüber.

Er fuhr zusammen, als sie ihn ansprach.

»Sind Sie schon so früh auf, Miss Pitt?«

Sie glaubte zu bemerken, daß er sie böse anschaute, und ihr Argwohn wurde noch vermehrt, als er mit dem Kopf nach dem Lande hinwies.

»Das ist nun so Ihre Idee«, sagte er vorwurfsvoll.

»Meine Idee? Ich weiß nicht, was Sie damit sagen wollen, Mr. Orford.«

»Wenn sich erst Gefühle in eine gute Organisation mischen, geht die Organisation zum Teufel«, erwiderte er bitter. »Ich dachte, Sie seien die Ursache, daß wir nach Vigo fahren, aber vielleicht irre ich mich auch.«

Sie sah ihn verwundert an, ohne ihn zu verstehen.

»Daß wir in Vigo anlegen, ist die größte Verrücktheit«, sagte er dann wieder und zuckte die Schultern. »Ich habe es schon erlebt, daß Leute wegen geringerer Anlässe ins Irrenhaus gesperrt wurden.«

»Ich dachte, die Maschinen seien nicht in Ordnung?« begann sie.

»Die Maschinen nicht in Ordnung?« fuhr er auf. »An Bord der ›Polyantha‹ ist nichts in Unordnung – merken Sie sich das! Die ›Polyantha‹ war niemals mehr auf der Höhe. Aber in dem verrückten Hirn dieses Jungen stimmt etwas nicht«, sagte er hitzig. »Man quält sich sechs Monate lang ab, eine Sache aufs glänzendste zu organisieren, und dann –« Er sah sie scharf unter seinen buschigen Augenbrauen an. »Vielleicht können Sie auch wirklich nichts dafür.« Er wandte sich plötzlich ab und ging weiter.

Und sie hatte ihm doch gerade heute morgen die ganze Wahrheit über Cynthia Dorban mitteilen wollen. Sie war aufgewacht und hatte an Borcombe, an Stone House und den geheimnisvollen Koffer denken müssen und hatte beschlossen, Mr. Orford ins Vertrauen zu ziehen. Aber er schien nicht in der Stimmung zu sein, sich etwas erzählen zu lassen.

Um neun Uhr lief die ›Polyantha‹ in den Hafen von Vigo ein. Die Stadt lag im Morgensonnenschein, und sie bot einen imponierenden Anblick. Im Hintergrund erhoben sich die Berge. Bei näherer Besichtigung sollte sie ihr später weniger anziehend erscheinen.

Ein kleines Motorboot wurde hinuntergelassen, und John half Penelope beim Einsteigen. Er hatte sich fein herausgeputzt, trug einen neuen, dunkelblauen Matrosenanzug und eine Mütze mit einem schwarzen Seidenband, auf dem in goldenen Buchstaben ›Polyantha‹ stand.

*

Sie hatten die Zollschranken passiert und gingen durch eine enge Gasse zur Hauptstraße.

»Warum haben Sie mir eigentlich gesagt, daß die Schiffsmaschinen repariert werden müßten?« fragte sie ihn plötzlich.

»Müssen sie denn nicht repariert werden?« erwiderte er mit geheucheltem Erstaunen.

»Sie wußten doch ganz genau, daß das nicht notwendig war. Sie stecken mit Mr. Mills unter einer Decke. Warum haben Sie die ›Polyantha‹ nach Vigo fahren lassen? Mr. Orford dachte zuerst, ich sei daran schuld.«

»Ich glaube, Sie tun dem armen Bobby unrecht. Er hat einen ganz besonderen Grund, Vigo anzulaufen, wenn die Geschichte mit den Maschinen nicht wahr sein sollte. Hier ist übrigens die Hauptstraße.« Mit diesen Worten schnitt er das Thema ab. »Hier können Sie alles kaufen, was Sie brauchen.«

Plötzlich kam ihr zum Bewußtsein, daß sie kein Geld bei sich hatte, und sie lachte.

»Unglücklicherweise kennen mich die Geschäftsleute hier so wenig, daß sie mir keine Kleider auf Kredit geben werden«, sagte sie trocken.

»Haben Sie kein Geld?« fragte er schnell. »Aber natürlich, Sie können ja unmöglich Geld haben!« Er zog eine Brieftasche heraus und entnahm ihr ein Dutzend spanische Banknoten. »Mr. Mills gab mir das mit, falls Sie irgend etwas brauchten.«

Sie zögerte, bevor sie die Scheine nahm.

»Eine von diesen Banknoten ist reichlich genug. Wieviel sind denn eigentlich tausend Pesetas wert?«

»Roh gerechnet vierzig Pfund, und vierzig Pfund sind zweihundert Dollar. Ich werde dort an der Ecke warten, bis Sie wiederkommen. Drüben bei Manuel finden Sie die besten Kleider und alles, was Damen sonst noch nötig haben. Aber wenn Sie dieses Geschäft nicht befriedigt, haben wir noch einen anderen netten Laden um die Ecke, der Kathedrale gegenüber.«

Es war jetzt keine Zeit, ihm zu widersprechen. Sie ging zu Manuel und machte ihre Einkäufe. Sie war erstaunt, wieviel Dinge sie kaufen mußte, und noch erstaunter, daß sie die Notwendigkeit ihrer Anschaffung erst bei ihrem Anblick erkannte.

Sie kaufte zwei billige Kleider und verschiedene andere Sachen. Als sie wieder aus dem Laden trat, wartete John noch geduldig neben einer Droschke, die er offenbar inzwischen gemietet hatte.

Er nahm ihr die Pakete ab und brachte sie im Wagen unter.

»Ich fürchte, ich habe zuviel Geld ausgegeben«, begann sie, aber er schüttelte den Kopf.

»Bobby erwartet es nicht anders – außerdem sind tausend Pesetas keine tragische Summe.« Er sah sie nachdenklich an. »Würden Sie mich auf einer kleinen Fahrt begleiten?« fragte er dann. »Ich habe nämlich einen Besuch zu machen.«

»Sie kennen Vigo anscheinend sehr gut?«

»Ja, ich kenne mich hier leidlich aus. Ich möchte jetzt –«, er zögerte, »zum Friedhof fahren. Haben Sie etwas dagegen, Miss Pitt?«

»Nicht das geringste«, entgegnete sie schnell.

Sie wunderte sich über nichts mehr. Wahrscheinlich lag einer seiner Freunde in dieser weltverlassenen Stadt begraben. Aber sicherlich hatte die ›Polyantha‹ Vigo nicht angelaufen, weil der Steward John einer sentimentalen Pflicht genügen wollte.

Als sie durch die Straßen fuhren, zeigte er ihr verschiedene interessante Gebäude.

»Vigo hat nicht gerade besonders viele historische Bauten. Die meisten Kathedralen in diesem Teil des Landes sind durch Erdbeben zerstört und in einem abscheulich modernen Stil wiederaufgebaut worden.«

Er erzählte ihr auch, daß irgendwo auf dem Meeresboden im Hafen von Vigo eine große Menge Silber liege, die mehr als eine Million Pfund wert sei; vor langer Zeit habe ein englischer Admiral hier nämlich die spanische Silberflotte überrascht und die Hälfte der Schiffe versenkt, während die restlichen Schiffe gekapert wurden.

Schließlich kamen sie zu dem Friedhof, der in den Außenbezirken der Stadt lag. Es war ein großer, verlassener viereckiger Platz mit häßlichen eisernen Kreuzen und geschmacklosen Metallkränzen; umgeben war er von einer sehr hohen Mauer.

Ein alter Kirchhofwärter kam auf sie zu und schaute sie neugierig an. John redete ihn in fließendem Spanisch an, und der alte Mann führte sie einen schmalen Pfad entlang. Sie kamen zu einer Anlage, die von dem anderen Teil des Friedhofs durch ein Gitter abgetrennt war.

»Dies ist der englische Kirchhof, Miss Pitt«, erklärte John. »Aber es liegen hier mehr Amerikaner als Engländer begraben.«

Die kleine Anlage war sehr sorgfältig gehalten. Penelope sah überall Blumen. Die Kreuze und Grabsteine waren einfacher als auf dem spanischen Friedhof.

»Wollen Sie mich bitte einen Augenblick entschuldigen«, sagte John leise. Der Ausdruck seines Gesichtes hatte sich vollkommen verändert.

Sie wußte, daß er allein zu sein wünschte, und trat einige Schritte beiseite. Sie sah, wie er zu einem Grab ging, auf dem nur ein glatter Stein stand. Er beugte sich nieder, pflückte das vertrocknete Blatt eines Rosenstrauches ab und stand dann barhäuptig und unbeweglich am Fuß des Grabes. Er hielt den Kopf gesenkt, und sein Blick war zur Erde gerichtet.

Plötzlich schaute er wieder auf und winkte Penelope.

»Ich hatte eigentlich nicht die Absicht, Sie hierherzuführen«, sagte er. »Es ist das Grab meiner Mutter.«

Sie sah auf den Stein und las:

Mary Tyson –

das nächste Wort war schon unleserlich –

im Alter von 46 Jahren.

Dritte Tochter des Lord John Medway.

Er beugte sich nieder, pflückte eine Rose und legte sie behutsam auf den Rasen, der den Grabhügel bedeckte. Dann faßte er schweigend ihren Arm und führte sie zurück.

Erst als sie wieder in der Stadt waren, gab er ihr eine Erklärung. »Wir haben viele Jahre in dieser Stadt gelebt. Mein Vater war arm, aber er fühlte sich in dem Klima von Vigo wohl. Ich kann mich kaum auf ihn besinnen, ich war erst sechs oder sieben Jahre alt, als er starb. Meine Mutter und ich lebten noch zwölf Jahre zusammen.«

Als sie durch die Hauptstraßen fuhren, erhob er sich, lehnte sich zum Wagen hinaus und gab dem Kutscher eine Anweisung. Die Droschke passierte eine lange, enge Straße, und auf ein Zeichen Johns hielt der Kutscher vor einem kleinen Laden.

»Hier haben wir gewohnt.« John zeigte nach oben. »In der zweiten Etage. Die Wohnung scheint leerzustehen. Ich bin gespannt, ob der alte Gonsalez noch lebt.«

Er trat auf den Gehsteig und schaute durch das Fenster. Dann öffnete er die Ladentür und ging hinein. Nach ein paar Minuten kam er schon wieder zurück.

»Der alte Mann ist vor vier Jahren gestorben«, sagte er dann. Er hielt einen großen Schlüssel in der Hand. »Aber ich habe die Erlaubnis, mir das Haus anzusehen. Die Wohnung ist nicht vermietet. Der alte Gonsalez hatte meine Mutter sehr gern und schwor, die Räume nicht wieder zu vermieten, wenn wir einmal fortgehen sollten. Und er hat sein Versprechen auch gehalten.«

Er schloß eine Seitentür des Hauses auf, und Penelope folgte ihm in einen langen, engen Gang. Dann stiegen sie eine steile, gewundene Treppe hinauf.

»Hier sind wir.«

Das Treppenpodest bekam durch ein kleines Fenster etwas Licht.

»Dies war unser Speisezimmer«, erklärte er, als er eine Tür öffnete.

Der Raum war leer und sehr staubig. Spinnweben hingen in den Ecken, und das kleine Gitter im Kamin war ganz vergraben unter Schutt und Asche. Aber die Wände waren mit Eichenholz getäfelt, und die Decke zeigte schöne Stuckarbeit.

»Das ist maurischer Stil. Das Haus wurde von einem Kaufmann aus Malaga gebaut, der maurische Künstler herbrachte, um die Decken verzieren zu lassen.«

Er führte sie von Zimmer zu Zimmer und machte hier und dort halt, um ihr etwas Besonderes zu zeigen, das die Erinnerung an seine Mutter in ihm wachrief.

Es kam ihr gar nicht zum Bewußtsein, daß er bei ihr ein ziemliches Interesse für sein früheres Leben voraussetzte, denn sie interessierte sich wirklich sehr für alles.

»Finden Sie wohl selbst hinunter?« fragte er schließlich. »Ich möchte hier noch fünf Minuten allein sein mit meinen Gedanken. Ich muß mir über gewisse Dinge klarwerden, und ich wüßte keinen Ort in der Welt, wo das besser geschehen könnte als hier.«

Sie nickte, denn sie glaubte ihn zu verstehen. Ruhig ging sie nach unten.

Als sie zu dem Podest der ersten Etage gekommen war und gerade den Fuß auf die nächste Treppe setzen wollte, hörte sie unten im Flur Stimmen.

»Sie können sich die Räume ansehen. Ja, es sind wirklich hübsche Zimmer, aber im Augenblick besichtigen sie gerade ein Herr und eine Dame. Mein Vater wollte die Etage ja nicht vermieten, aber ich denke anders darüber.«

»Sie haben vollkommen recht.«

Penelope fuhr erschrocken zusammen, denn sie erkannte die Stimme Mr. Arthur Dorbans.

»Wollen wir nach oben gehen?« fragte Cynthia.

Penelope lehnte sich zurück, damit man sie von unten nicht sehen konnte. Dann rannte sie wieder die Treppe hinauf und trat atemlos in den Raum, wo John auf der Fensterbank saß. Er hatte die Hände über den Knien gefaltet und den Kopf nachdenklich gesenkt. Er sah schnell auf, als sie hereinkam.

»Unten sind Leute – ich möchte sie nicht sehen«, rief sie atemlos.

»Wer ist es denn?«

»Mr. und Mrs. Dorban!«

»Dorbans sind hier?« Er eilte zur Tür, öffnete sie und lauschte auf dem Podest. Die Dorbans kamen schon die Treppe herauf. Er winkte Penelope schweigend, und sie stiegen leise zum dritten Stock empor.

»Kein Geräusch«, flüsterte er. »Lehnen Sie sich an die Wand.«

Sie hörte jetzt Cynthia sprechen.

»Aber warum sollte er ausgerechnet in dieses kleine, unansehnliche Haus kommen, Arthur?« fragte sie vorwurfsvoll. »Und wie hätte er überhaupt hierhergelangen können?«

»Es gibt viele Gründe, die ihn dazu bestimmen könnten, und viele Wege, auf denen er hierhergelangen kann«, erwiderte Arthur. »Und ich wette um mein Leben, daß ich mich nicht irre. Heute morgen ist eine Jacht in den Hafen eingelaufen, wir werden sie später einmal ansehen.«

»Entschuldigen Sie einen Augenblick«, unterbrach sie der Spanier, der sie begleitete. »Ich möchte nur der Dame und dem Herrn sagen, daß Sie hier sind.«

Offensichtlich waren sie jetzt auf dem Podest der zweiten Etage angekommen. Der Spanier öffnete die Tür zur Wohnung, kam aber bald wieder zurück.

»Sie sind fortgegangen«, sagte er unangenehm berührt. »Auch der Schlüssel ist verschwunden. Und ich hatte dem Matrosen doch gesagt, er solle ihn mir zurückgeben.«

»Was für ein Matrose war das denn?« fragte Arthur rasch.

Nun gingen sie alle drei hinein. John schaute vorsichtig über das Geländer und sah, daß niemand mehr auf dem Podest stand.

»Schnell!«

In kürzester Zeit eilten sie die Treppe hinunter. Als John unten die Tür zuwarf und abschloß, hörten sie oben Stimmen und schnelle Fußtritte. Er sagte etwas auf spanisch zu dem Kutscher, und der Wagen flog in einem halsbrecherischen Tempo durch die Straßen bis zu dem kleinen Kai. Der Kutscher hatte kaum gehalten, als John schon aus dem Wagen sprang und die Pakete in das kleine Boot warf, das unten vertäut war.

Er drückte dem Mann eine Banknote in die Hand und eilte die schmalen Stufen hinunter. Penelope hob er in das Boot. Während sie mit größter Geschwindigkeit durch den Hafen fuhren, schaute er sich von Zeit zu Zeit um, und plötzlich sah er, was er erwartet hatte. Eine zweite Droschke hielt neben der ersten. Penelope erkannte den Mann, der heraussprang.

»Ist das Arthur Dorban?«

Sie nickte.

»Ich hätte mir den Herrn gern etwas näher angesehen«, meinte John nachdenklich. »Ich glaube jetzt auch, daß wir den ganzen Plan des guten Mr. Orford über den Haufen geworfen haben.« Er lachte leise vor sich hin, obgleich ihm nicht danach zumute war.

Das Motorboot hielt unter dem Fallreep der Jacht. Penelope eilte vor ihm die Treppe in die Höhe.

Oben standen Bobby, der Captain und Mr. Orford, die auf ihre Rückkehr warteten.

»Wir hatten eine unglückliche Begegnung in der Stadt«, sagte John ohne weitere Einleitung.

»Sie haben doch nicht etwa Dorban getroffen?« fragte Mr. Orford aufgeregt.

»Ich habe ihn nicht gesehen, aber Miss Pitt. Augenblicklich schaut er sich nach einem Bootsmann um, der ihn zur ›Polyantha‹ rudern soll. Das nehme ich wenigstens an«, setzte er vorsichtig hinzu. »Es wäre wohl am besten, wenn wir den Hafen in größter Eile wieder verließen.«

»So, sind Sie auch der Meinung?« brummte Mr. Orford grimmig. »Ich möchte Sie aber erst fragen, ob Sie ohne Hollin fahren wollen?«

»Ohne Hollin?«

»Ja. Er hat das Schiff fünf Minuten nach Ihnen verlassen und ist in einem kleinen Boot an Land gerudert. Wir bemerkten es erst, als er schon beinahe an Land war. Wahrscheinlich ist er jetzt vollständig betrunken und macht einen entsetzlichen Krawall im Hafen.«

Sie sahen einander bestürzt an. Der Captain machte einen Vorschlag.

»Es ist besser, wenn ich jetzt die Anker lichte und draußen auf See warte. Sobald es dunkel geworden ist, können wir ein paar Leute in einem Motorboot an Land schicken, um Hollin an Bord zu bringen. Soviel ich verstehe, dürfen wir ihn nicht im Stich lassen.«

»Und was soll dann geschehen?« fragte Mr. Orford.

Der alte Captain zuckte die Schultern.

Bobby verließ die anderen, ging zum Achterdeck und nahm ein Fernglas, das dort an einem Haken hing. Er schaute zum Kai hinüber und bemerkte dort eine kleine Gruppe aufgeregter Menschen.

Der Captain wollte gerade zur Kommandobrücke hinaufsteigen, als Bobby sich umdrehte.

»Einen Augenblick, Captain Willit«, sagte er. »Ich glaube, dieser kleine Zwischenfall wird sich von selbst erledigen. Unsere vorschnellen Freunde haben vor, an Bord zu kommen.«

Orford sah Bobby überrascht an und nahm ihm das Fernglas aus der Hand. Dann seufzte er tief auf.

»Der Herr hat sie in unsere Hände gegeben«, sagte er fromm. »Die Schafe kommen alle zum Stall, Willit.«

Der Captain sah ihn verwundert an.

*

Der Bootsmann ruderte mit allen Kräften, und eine Viertelstunde später waren Mr. Dorban und seine Frau am Fallreep der ›Polyantha‹ angelangt.

»Jawohl, mein Herr, Sie können den Captain sprechen«, sagte der nichtsahnende Matrose. »Wollen Sie an Bord kommen?«

Cynthia ergriff die ausgestreckte Hand und schwang sich auf die Plattform.

»Glaubst du, daß das klug ist, Cynthia? Wenn er nun wirklich hier ist?«

Cynthia sah ihn verächtlich an.

»Ich fürchte nur, daß er nicht an Bord ist«, sagte sie bedeutsam.

Arthur folgte ihr widerstrebend.

Cynthia hatte Mr. Orford noch nicht gesehen und war bei dem Anblick dieses liebenswürdig aussehenden Mannes etwas verwirrt. Er hatte seine Schiffsmütze über das rechte Auge in die Stirne gezogen und rauchte eine große Zigarre.

»Sind Sie der Captain?« fragte sie freundlich.

»Nein, das bin ich nicht.« Mr. Orford war es unangenehm, zu lügen. »Ich bin der Eigentümer.«

»Dann können Sie mir sogar noch besser helfen als der Captain. Dies ist mein Mann, Mr. Arthur Dorban. Wir haben allen Grund zu der Annahme, daß sich ein gewisser Herr an Bord dieses Schiffes aufhält – Ihnen ist natürlich ganz unbekannt, wer er ist.«

Sie hielt plötzlich inne. Ihre Selbstbeherrschung verließ sie einen Augenblick, denn sie hatte drüben ein junges Mädchen in einem Deckstuhl sitzen sehen, das die Besucher interessiert betrachtete.

»Mein Gott«, flüsterte Cynthia, »sieh doch hin, Arthur!«

El Slicos Gesicht verfärbte sich.

»Wir wollen machen, daß wir fortkommen«, erwiderte er leise. Er wandte sich um, aber ein stämmiger Matrose vertrat ihm den Weg, und Mr. Orfords höfliche Worte brachten den beiden zum Bewußtsein, in welcher Lage sie sich befanden.

»Ich rate Ihnen, sich ruhig zu verhalten. Ich möchte keine Schießerei hier an Bord haben, besonders nicht im Hafen einer befreundeten Nation.« Er sah Cynthia und Arthur kühl an. »Gehen Sie durch die Tür links und steigen Sie die Treppe hinunter. Ich werde unten mit Ihnen sprechen. Wenn Sie aber irgendwelchen Spektakel machen, wird es Ihnen schlecht gehen, obgleich es mir leid täte, wenn Sie mich zu scharfen Maßnahmen zwingen sollten. Aber nun gehen Sie – bitte etwas plötzlich, schnell!« Seine Stimme war jetzt hart und drohend geworden.

Arthur Dorban war sich als erster über die Situation klar. Ohne ein Wort zu erwidern, ging er zu dem Salon.

Cynthia folgte ihm ein wenig verwirrt.

Mr. Orford schloß die Tür des Salons hinter sich und lud seine Gäste ein, Platz zu nehmen.

»Nun wollen wir uns einmal richtig aussprechen, Mr. Dorban. Sie suchen nach jemandem, und dieser Jemand ist auch an Bord. Es ist auch noch jemand anders hier, den Sie nicht erwartet haben – aber das ist ein Zufall, daß sie sich auf dem Schiff befindet.«

»Vermutlich wissen Sie, daß Sie sich der Seeräuberei schuldig machen und daß Sie –«

Mr. Orford unterbrach Arthurs Protest durch eine hochmütige Geste.

»Es ist schon sehr lange her, daß ich mich an Gesetze hielt. Ja, mein Herr, ich bin mir durchaus bewußt, daß ich im Augenblick mindestens drei Gesetze breche, aber kommt es denn darauf an?«

»Was haben Sie mit uns vor?« fragte Cynthia, die sehr blaß geworden war.

»Ich möchte Sie nur einladen, an unserer schönen Fahrt teilzunehmen. Wir sind gerade auf dem Weg zu den Südsee-Inseln.

Ich werde Ihnen sogar meine eigene Kabine geben, obwohl ich das nur sehr ungern tue. Wir sind hier auf der ›Polyantha‹ sehr gut eingerichtet, und meine Luxuskabine gefällt mir sehr gut.«

»Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß unser Verschwinden bemerkt werden wird«, sagte Arthur Dorban. »Ich habe die Polizei verständigt, daß ich an Bord der ›Polyantha‹ gehen würde, und der britische Vizekonsul –«

»Sie haben niemanden benachrichtigt«, erwiderte Mr. Orford höflich. »Dazu hatten Sie ja gar keine Zeit. Ihr Zug kam um elf Uhr an, und jetzt ist es zwölf. Ich habe mir das überlegt, während ich eben die Treppe herunterstieg. Es dauerte einen Tag, bis Sie nach London kamen, dann reisten Sie über Paris nach Madrid. Und diese Reise mußten Sie sogar im Flugzeug machen. Ein Zug nach Vigo geht von Madrid früh am Morgen ab. Aber der hatte keinen Anschluß. Ich kenne alle Verbindungen ganz genau. Sie haben vergeblich versucht, mich zu bluffen.«

»Was werden Sie denn mit uns tun?« fragte Cynthia.

»Sie werden in Ihrer Kabine bleiben, und wenn Sie sich ruhig verhalten, werden Sie eine prächtige Reise haben. Wenn Sie das aber nicht tun –« Er schüttelte traurig den Kopf, als ob die Folgen für ihn selbst entsetzlich wären.

In der Zwischenzeit ging John zu dem Bootsmann, der auf der Plattform des Fallreeps der ›Polyantha‹ hockte und auf die Rückkehr seiner Passagiere wartete.

»Der Herr schickt Ihnen dies«, sagte John auf spanisch. »Er bleibt bis zum Mittagessen an Bord.«

»Vielleicht kann ich noch einmal zurückkommen?« fragte der glückliche Mann, denn John hatte ihm einen reichlichen Lohn gegeben.

»Nein, wir werden den Herrn selbst zur Küste zurückbringen«, erwiderte John ernst.

Der Bootsmann gab sich damit zufrieden und ruderte zurück.

Kurz darauf schickte der Captain mehrere Matrosen an Land. Sie hatten eine doppelte Aufgabe: Einmal mußten sie sich nach Hollin umsehen, und außerdem war das Gepäck der Dorbans an Bord zu bringen. Die praktische Cynthia hatte die Anregung dazu gegeben, und als sie eingestand, daß ihr Gepäck noch auf dem Bahnhof war, bestätigte sie damit zugleich unfreiwillig Orfords Behauptung.

»Es hat keinen Zweck, ohne Kleider auf diese schreckliche Reise zu gehen«, sagte sie zu ihrem Mann, als sie allein in ihrer Kabine waren. »Haben sie dich durchsucht?«

Er nickte.

»Sie haben nichts gefunden – ich hatte noch Zeit, meine Pistole unter das Sofa zu schieben. Selbst Orford, der dabeistand, hat nichts gesehen. Und wie ist es dir gegangen?«

»Sie schauten in meine Handtasche und fanden die Gepäckscheine. Sonst habe ich nichts bei mir. Arthur, er ist an Bord!«

»Natürlich ist er an Bord«, erwiderte Mr. Dorban gereizt. »Du bildest dir doch nicht ein, daß sie uns gefangengesetzt hätten, wenn er nicht hier wäre? Ich hielt es gleich für einen Unsinn, das Boot zu verlassen. Wir sind blind in eine offene Falle gegangen.«

Aber Cynthia hörte nicht auf seine Vorwürfe. Die Anwesenheit Penelope Pitts regte sie ungeheuer auf. Sie hatte sich schon damit beruhigt, daß Penelope tot sei. Als sie sie jetzt aber lebendig und obendrein noch an Bord der ›Polyantha‹ wiederfand, wäre sie beinahe in Ohnmacht gefallen.

»Was macht sie denn hier?« fragte Arthur Dorban, der ihre Gedanken offenbar erraten hatte.

»Das mag der Himmel wissen. Was für ein tragischer Zufall!«

Arthur zupfte nervös an seinem kleinen, schwarzen Schnurrbart.

»Glaubst du, daß sie alles weiß?«

»Wäre sie wohl vor uns davongelaufen, wenn sie alles wüßte? Es ist übrigens gar nicht verwunderlich, daß sie hier an Bord ist. Sie ist einfach auf See aufgefischt worden. So erklärt sich auch, daß das Motorboot leer gefunden wurde. Aber daß sie ausgerechnet hier mit ihm zusammenkommen mußte!«

Cynthia saß auf dem breiten Diwan. Sie hatte die Hände um ihre Knie gelegt und blickte nachdenklich vor sich hin.

»Es hätte eigentlich nicht besser kommen können«, sagte sie schließlich.

Arthur Dorban war dabei, seinen Koffer auszupacken, und schaute erstaunt auf.

»Wie meinst du das?«

»Ich meine, daß wir mit Penelope und ihm an Bord desselben Schiffes sind. Natürlich ist auch Bobby Mills hier. Aber wer mag nur dieser korpulente Mann sein?«

Arthur Dorban richtete sich auf und sah sie an.

»Wird nicht auch Hollin hier an Bord sein? Du besinnst dich doch darauf, was man uns in London über ihn erzählte? Wenn das wahr ist –«

»Ich habe auch schon an ihn gedacht«, erwiderte sie langsam. »Siehst du nicht, wie gut sich noch alles für uns lösen kann, wenn Hollin nur halb soviel hält, wie er zu versprechen scheint? Wo ist deine Pistole?«

Er zog sie unter dem Sofa hervor; sie nahm sie ihm aus der Hand, hob ihr Kleid hoch und versteckte sie darunter.


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