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9

Der Matrose, der den ganzen Tag nichts tat, hieß Hollin, wie sie später von Bobby Mills erfuhr. Der junge Mann schien aber nicht gern über ihn und seine Untätigkeit zu sprechen.

»Warum trägt er eigentlich die Pistolen?«

»Das weiß ich auch nicht«, erwiderte Bobby höflich.

Jeden Abend erschien Hollin auf dem oberen Deck. Er hatte eine Zigarre im Mundwinkel und die Hände in den Hosentaschen. So ging er nach hinten und stieg dort die Treppe hinunter.

Keiner der Passagiere kümmerte sich auch nur im geringsten um ihn. Der alte Captain, der neben Mr. Orfords Stuhl stand, schaute ihm nach, als er vorbeikam, aber er sagte nichts. Sonst herrschte schärfste Disziplin an Bord. Der Steuermann grüßte militärisch, und alle Matrosen liefen, sobald die Pfeife des wachhabenden Offiziers ertönte. Nur der Steward John und der merkwürdige Hollin schienen sich nicht im mindesten darum zu kümmern. Aber John tat nichts, was man irgendwie als eine Beleidigung oder Ungezogenheit hätte auslegen können. Er mischte sich nur immer gern in die Unterhaltung.

Mr. Orford brachte den größten Teil des Tages schlafend in einem der großen, bequemen Deckstühle zu. Ein großer Sonnenschirm war über ihm aufgespannt. Mr. Stamford Mills dagegen beschäftigte sich viel in seiner eigenen Kabine.

Orford und Mills waren anscheinend die einzigen Passagiere an Bord der Jacht. Die Besatzung setzte sich aus dem Ersten, Zweiten und Dritten Offizier, dem Chefingenieur und seinem Assistenten, dem Zahlmeister, dem Funker, ungefähr zwölf Matrosen und dem Captain zusammen.

Die Ruhe an Bord wurde nur gestört, wenn der Funker einen Funkspruch brachte. Dann kamen schnell alle zusammen, und auch Mr. Orford wachte auf und erhob sich.

Einmal wurde nach einer solchen Konferenz der Kurs der ›Polyantha‹ geändert, und das Schiff, das bisher nach Westen gehalten hatte, wandte sich scharf nach Süden. Sie fuhren jetzt auch mit viel größerer Geschwindigkeit, wie Penelope wahrnahm. Der ganze Schiffsrumpf zitterte, und Sturzseen kamen über den scharfgeschnittenen Bug. Dann wurde plötzlich ohne ersichtlichen Grund Kurs nach Osten genommen, dann wieder nach Süden.

Früh am Nachmittag wurde ein Matrose in den Mastkorb geschickt, der den ganzen Horizont mit einem scharfen Fernglas absuchen mußte. Am Abend waren alle verdrießlich und schweigsam. Bobby Stamford Mills beantwortete Penelopes Fragen nur kurz. Mr. Orford saß stumm da und hatte die Hände über dem Bauch gefaltet.

Der einzige, der ein fröhliches Gesicht machte, war der Steward John. Er servierte ihr das Abendbrot und brachte danach noch Kaffee an Deck. Als sie sich zurückzog, fand sie ihn, wie er auf dem Deck kauerte, den Oberkörper an die Kommandobrücke gelehnt. Als sie erschien, erhob er sich.

»Kann ich Ihnen noch etwas bringen, bevor Sie sich zur Ruhe legen, Miss Pitt?«

»Nein, ich danke Ihnen, John.«

»Ich habe Ihnen etwas Mineralwasser hineingestellt. Und denken Sie daran, daß Sie Ihre Tür abschließen können. Wann wünschen Sie morgen früh den Tee? Ich fürchte allerdings, Sie müssen morgen zur Tür kommen und mir das Tablett abnehmen. Ich bin zwar ein vorzüglicher Steward, aber als Kammermädchen etwas schüchtern. Wie sind denn die anderen Passagiere gestimmt?«

»Sie sind sehr schweigsam. John, können Sie mir nicht sagen, wohin wir fahren?«

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Vielleicht durch den Panamakanal in die Südsee.«

»Wem gehört denn dieses Schiff?«

»Ich vergaß den Namen des Eigentümers – es ist ein französischer Herzog. Aber der Herr, der die Jacht gechartert hat, ist der edle Xenocrates.«

»Mr. Orford?« fragte sie erstaunt.

»Ja.«

»Kennen Sie ihn näher?«

»Ich kannte ihn nicht, bis ich ihm hier an Bord begegnete. Sie wollen mich noch etwas fragen? Wahrscheinlich möchten Sie erfahren, warum sich ein Mann mit meinen überragenden Talenten und meiner Unterhaltungsgabe in einer so untergeordneten Stellung auf Mr. Orfords Jacht befindet?«

»Ja, das kommt mir allerdings sonderbar vor.«

»Das ist es auch. Sie wären eine blasierte alte Jungfer, wenn Sie anders darüber dächten. Ich weiß nur nicht recht, wie ich Ihnen meinen Posten hier erklären soll. Aber nehmen Sie einmal an, ich sei ein armer schottischer Student, der sich während der Ferien auf See das nötige Geld verdient, um seine Kolleggelder zu bezahlen. Klingt das nicht ganz glaubhaft?«

»Nein, ganz und gar nicht«, erwiderte sie. Aber es schien ihr, als hätte sie sich jetzt lange genug mit ihm unterhalten. Sie sagte ihm gute Nacht und verschwand in ihrer Kabine.

Er hörte noch, wie sie zuschloß, als er zum Wellendeck hinunterging. Eine dunkle Gestalt, die im Schatten auf einem Poller gesessen hatte, erhob sich rasch.

»Steck die Pistole weg, alter Freund«, sagte John mürrisch. »Mach, daß du zu Bett kommst. Warum hast du dich noch nicht hingelegt?«

»Weil ich nicht eher zu Bett gehe, als bis du dich auch gelegt hast«, erwiderte der andere mit rauher und heiserer Stimme. »Hier ist keiner mehr als der andere. Ich kenne meine Stellung hier genau. Ich habe mir die Sache überlegt, und ich werde dir einmal sagen, wie es noch kommt. Die Sache kostet den alten Kerl zwanzigtausend Pfund, keinen Penny weniger. Ich will zwanzigtausend ausgezahlt haben, und ihr sollt mich in Südamerika an Land setzen.«

John nahm ein Etui aus seiner Hosentasche und zündete sich eine Zigarette an.

»Du bist verrückt!« sagte er dann kurz und wandte sich zum Gehen.

»Sag mal, Kollege, wer ist denn eigentlich diese Schürze hier?«

»Was willst du wissen?« John drehte sich plötzlich wieder zu ihm um.

»Ich meine dies Weib da oben in der Kabine. Ich habe gesehen, wie sie vorige Nacht an Bord kam. Wer ist sie denn? Ein hübsches Mädchen, das muß ich sagen!«

»Hollin«, sagte John ruhig, »willst du wirklich nach Südamerika? Wenn das der Fall ist, sprichst du nie wieder über diese Dame. Hör gut zu. Wenn du ihr noch einmal eine Kußhand zuwirfst, dann wirst du mir trotz deiner beiden Pistolen nicht entkommen. Du wirst nicht einmal wissen, woher die Kugel pfeift, die dir den Schädel einschlägt! Denk daran!«

»Wozu machst du denn einen solchen Krach mit mir? Habe ich mich nicht die ganze Zeit wie ein Gentleman benommen? Habe ich nicht Crawley kaltgemacht, als er dich fassen wollte?«

»Du bist ein Lügner«, erwiderte John gleichmütig. »Es war überhaupt kein Grund vorhanden, Crawley niederzuschlagen.«

Penelopes Kabine lag in gleicher Höhe mit dem Boden des Vordecks, und durch zwei Luken konnte man das Wellendeck überschauen, wo die beiden miteinander sprachen. Die Fenster waren offen, und sie stand dort, stützte die Ellenbogen auf und schaute auf das blaugrüne Meer hinaus, das hell vom Mond beschienen wurde. Sie hatte die Stimmen gehört, und plötzlich vernahm sie deutlich die Worte:

»Es war überhaupt kein Grund vorhanden, Crawley niederzuschlagen.«

Wer mochte dieser unglückliche Mann sein? Und was hatten diese beiden Menschen, die so ganz verschieden waren, miteinander zu schaffen?

Kurz darauf war alles ruhig, und nachdem sie sich noch einmal vergewissert hatte, daß ihre Tür fest verschlossen war, ging sie zu Bett. Sie schlief gleich ein.

In der Nacht wachte sie plötzlich auf. Das Schiff lag so schräg, daß sie aus der Koje gefallen wäre, wenn das silberne Gitter sie nicht daran gehindert hätte. Entsetzt stand sie auf, aber gleich darauf lag die ›Polyantha‹ wieder richtig. Sie schob die Vorhänge zurück, die die Fenster bedeckten, und blickte hinaus. Fern am Horizont sah sie einen Lichtschimmer. Während sie ihn noch betrachtete, hörte sie ein Rasseln und Klingeln. Sie war zuerst darüber bestürzt, bis sie sich daran erinnerte, daß sich die Kommandobrücke über ihrer Kabine befand und daß sie den Schiffstelegrafen gehört hatte.

Sie stieß das Fenster auf. Die Stimme des Captains drang zu ihr.

»Dort ist das Schiff – wir haben seine Signale seit zwei Stunden aufgefangen. Glauben Sie, daß man uns drüben gesehen hat?«

»Nein, der Scheinwerfer hat uns nicht erreicht. Wieviel Uhr ist es?« fragte Mr. Orford.

»Fast zwei. Wir haben noch anderthalb Stunden bis Tagesanbruch, und wir fahren jetzt sechsundzwanzig Knoten die Stunde. Wenn sich der Captain drüben nicht in den Kopf setzt, uns zu folgen, werden wir bei Morgengrauen außer Sicht sein.«

Ein tiefes Schweigen folgte, und Penelope nahm an, daß die Leute oben ins Kartenzimmer gegangen waren.

Aber plötzlich ertönte Mr. Orfords Stimme.

»Was war das?«

»Ein Flugzeug«, entgegnete der andere kurz. »Ich habe es schon vor einer Stunde gehört. Sind alle Lichter an Bord gelöscht, Simson?«

»Die Hauptlichtleitung ist abgeschaltet.«

»Sind auch die Navigationslichter aus?«

»Jawohl, Sir.«

»Schauen Sie auf beiden Decks nach, ob jemand von der Wache raucht.« Dann sprach er plötzlich mit veränderter Stimme: »Maschinenraum – sind Sie da, Ferly? Ist es möglich, daß irgendwelche Funken aus den Kaminen kommen? Ergreifen Sie alle nötigen Maßregeln, um das zu verhüten.«

Plötzlich hörte das Geräusch der Schiffsmaschinen auf, und Penelope vernahm einen Laut, ähnlich dem Summen einer Kreissäge, die Hartholz schneidet. Allmählich verstummte dieses Surren wieder, und nach einer weiteren langen Pause hörte sie Schritte über ihrem Kopf.

»Dieser Funkspruch der Admiralität ist soeben aufgefangen worden, Sir«, sagte jemand.

»Wie lautet er?« fragte der Captain brummig.

Der Mann wußte den Inhalt anscheinend auswendig, denn auf der Brücke waren alle Lichter gelöscht.

»An alle Schiffe, die über den Ozean fahren, vom Kap Dungeness bis Kap Land's End. Bitte berichten Sie sofort durch Funk an die Admiralität, ob Sie das Wrack eines Flugzeuges gesichtet haben.«

»Dieser verdammte Hollin und seine Kappe! Ich wußte doch, daß dieses Schwein uns alles verderben würde!«

Penelope ging zurück und setzte sich auf die Bettkante. Nun wußte sie, warum die Maschinen angehalten hatten. Das Schiff hatte die Richtung wieder gewechselt. Wovor fürchteten sich diese Leute? Warum mußten alle Lichter gelöscht werden?

Die ›Polyantha‹ hatte ein Geheimnis – und dieses Geheimnis war mit Hollin und seiner Mütze verknüpft. Sie schüttelte den Kopf und ging dann zu Bett. Als sie gerade wieder am Einschlafen war, rasselte und klingelte oben der Maschinentelegraf aufs neue, und sie merkte, daß das Schiff mit höchster Geschwindigkeit weiterfuhr.

Dann schlief sie ein und erwachte erst wieder, als es am nächsten Morgen an ihre Tür klopfte.

»Würden Sie heute Kondensmilch nehmen?« fragte Johns Stimme. »Unserer Kuh ist nämlich nicht ganz wohl.«


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