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10.
Dunkle Existenzen

Es begab sich, daß in der Nacht des großen Coups der neugierige Herr Lane aus Cawdor Street 76 über den erschöpften Zustand seiner bescheidenen Schatzkammer in beträchtliche Aufregung geriet. Für Herrn Lane war der Unterschied zwischen Reichtum und Armut eine Frage von Schillingen. Sein Geschäftsbetrieb war bescheiden. Bleirohre und Telephondrähte, gelegentlich ein Fußabstreicher, der draußen vergessen war, während das Dienstmädchen die Halle scheuerte – derlei Gegenstände bezeichneten Umfang und Ausdehnung seiner Beute. Den Höhepunkt seiner Laufbahn erreichte er vielleicht, als er einen Überzieher von einem Kleiderständer entfernte, während ihm eine wohlwollende alte Dame in der Küche unten dicke Butterbrote strich.

Herr Lane war erst kürzlich von einem kleinen Aufenthalt im Wormwood Scrubbs-Gefängnis zurückgekehrt. Es war nur eine unbedeutende Affäre – etwas Roßhaar, aus einem Eisenbahnpolster entwendet –, die Herrn Lane auf zwei Monate zum Privatisieren gezwungen hatte. Und dieselbe Geschichte brachte ihm auch Unheil in der Nacht jenes großen Coups.

Denn der Ruhm des Eisenbahndiebstahls hatte ihn zu ehrgeizigeren Versuchen angestachelt. Vorwärts getrieben durch seine erschöpfte Börse und gestützt von dem Prestige seiner neuerlichen Heldentaten, entschied er sich für einen Einbruch. Das war eine kühne und leichtsinnige Abweichung von seiner eigentlichen Linie, aber er nahm sich nicht die Zeit, lange nachzugrübeln über die mangelnden Fähigkeiten, die sich bei einem Berufswechsel herausstellen, und ebenso unterließ er es, die ungünstigen Bedingungen eines bereits überfüllten Arbeitsmarktes in Betracht zu ziehen. Man hat wohl recht mit der Annahme, daß Herr Lane der nötigen logischen und abwägenden Begabung entbehrte, um eine Frage bis in ihre letzten Konsequenzen durchzudenken. Denn er war in intellektueller Beziehung das Gegenteil von genial und deshalb schlecht ausgerüstet für die introspektive oder psychologische Prüfung der Umstände, die seine Entscheidungen herbeiführten. In seinen Selbstgesprächen legte der neugierige Herr Lane kurz und bündig den Fall folgendermaßen dar:

»Mit Bleiröhren is nix zu machen, wenn einer nich einen Kumpan hat, der wo hilft; Telephondrähte sind so in Holz eingepackt, daß es ekliger wie die schlimmste Arbeit is, auch nur für zwei Groschen loszumachen. Werde mal bei Jonesens mein Heil versuchen.«

So beobachtete er denn ›Jonesens‹ im strömenden Regen von einem günstig gelegenen Torweg aus. Er bemerkte mit Befriedigung, wie die ›Arbeiter‹ einer nach dem andern weggingen; er sah mit Freuden, daß ›Jones‹ selbst sich entfernte; und als ein paar Minuten später der sonderbare alte Mann, den er für eine Art Hausbesorger hielt, herausgewatschelt kam, das Tor hinter sich zuschlug, sich überall umguckte und in halblautem Selbstgespräch durch den Regen davonstapfte, da erkannte der Beobachter in der Beseitigung dieser letzten Schwierigkeit eine besondere Gunst der Vorsehung.

Er wartete noch eine halbe Stunde, weil aus irgendeinem Grunde die sonst so menschenleere Straße ärgerlich belebt war. Erst kam ein verspäteter Kohlenwagen und ein jämmerlich durchnäßter Kohlenmann, der kläglich seine Ware ausrief. Dann erschien ein kleiner Junge, dem Gehege des elterlichen Hauses entronnen, der mit Begeisterung und Ausdauer durch die große Pfütze watete, die sich auf der unebenen Straße gebildet hatte. Nemesis in Gestalt einer schrillstimmigen Mutter erwischte den Bengel und führte den erwartungsvoll Heulenden unter ihre schwere Hand zurück. Nun die Bahn frei war, verlor Herr Lane keinen Augenblick. Die Methode, mit der sich Herr Lane Zugang zum Hauptquartier der ›Stadtbande‹ verschaffte, entbehrte jeder Verfeinerung. Er kletterte auf gut Glück über das Hoftor in der stillen Hoffnung, daß niemand ihn beobachte. Wäre er ein ausgebildeter Einbrecher mit einiger Erfahrung gewesen, so hätte er zunächst gründlich nach geeigneten Fenstern gesucht. Nun und nimmer hätte er die Tür zum ›Büro‹ gewählt. Doch als blutiger Anfänger und überdies im Bewußtsein, daß er seine größten Taten achtlos offen gelassenen Türen verdankte, probierte er es auch mit dieser Tür, und zu seinem Entzücken gab sie nach.

Wieder hätte der gelernte Handwerker irgendeine Falle vermutet und sich zurückgezogen; aber Herr Lane erkannte in der Tatsache, daß der Alte die Tür abzuschließen vergessen hatte, nur einen weiteren Beweis jener gütigen Vorsehung, die sich für ›Glückskinder‹ besonders anstrengt, und hielt verwegen seinen Einzug. Er entzündete einen Kerzenstumpf und sah sich um.

Die Merkmale jenes Reichtums, durch den ein ›Unternehmer‹ sich auszuzeichnen hat, waren hier nicht bemerkbar. Nicht einmal ein Läufer lag im Gang, und an den Wänden hingen weder Bilder noch sonstiger Schmuck. Auch das ›Büro‹, ein kleines Zimmer neben dem Gang, erwies sich nicht als ertragreicher. Das unverrückbare Inventar, soweit überhaupt vorhanden, hatte offenbar der vorhergehende Mieter zurückgelassen; jedenfalls war es dick mit Staub bedeckt.

»Bah!« sagte der neugierige Herr Lane empört, und seine Worte erweckten ein hohles Echo in dem leeren Haus.

Herrn Lanes Lebensgeister sanken, nun er die mageren Möglichkeiten seines Beutezuges vor Augen hatte.

Er gehörte zu jenen bereits erwähnten Leuten, die in heiliger Scheu zur ›Stadtbande‹ aufblickten, in dem gleichen Geiste, wie etwa ein junger Vikar zu einem Konsistorium von Bischöfen emporschaut. Beim Biere pflegte er sich zu rühmen, daß seine Verbindungen mit der ›Stadtbande‹ sowohl eng als intim seien. Einem Gerücht zufolge war der ›Rechtsverdreher‹, der ihn am Schluß der unbefriedigenden Roßhaarepisode verteidigt hatte, von der ›Stadtbande‹ bezahlt worden, und Lane versuchte keineswegs, diesem Gerücht entgegenzutreten.

Hätte er einen von ihnen gekannt, auch nur vom Sehen, er würde schwerlich in diesem Augenblick einen Einbruch in ihr Grundstück versucht haben.

Zimmer nach Zimmer durchstöberte er. Er kam in Connors schlechtmöblierte Schlafstube und in den Raum, wo der alte George auf einer schmierigen Matratze schlief. Er fand auch das große Zimmer, wo die ›Bande‹ ihre zwanglosen Zusammenkünfte abhielt, aber nichts, was sich hätte mitnehmen lassen. Nichts, was man unter den Mantel stecken und unverfroren zur Haustür hinaustragen konnte. Keinen kleinen Juwelenartikel, den die Frau ins Leihhaus bringen könnte mit langem Gesicht und einer noch längeren Geschichte von der bitteren Not, die sie dazu zwänge, sich vom letzten Geschenk der geliebten Mutter zu trennen. Nichts von alledem bemerkte Herr Lane voll Bitterkeit, und mit jeder neuen Enttäuschung ging sein Atem schwerer. Denn abgesehen von der pekuniären Seite dieses seines Einbruchs war da noch die kränkende Demütigung des Mißerfolges. Als phantasievoller Mann hatte er sich bereits die Geschichte ausgedacht, die er ein paar auserwählten Diebskumpanen erzählen wollte. Im Geiste hatte er schon eine Szene geprobt, wo er mit gleichgültiger Miene eine Handvoll Goldfüchse aus der Tasche zog und eine Runde bestellte. Und während sie respektvoll grinsend seinen Schnaps tranken, hätte er ihnen anvertraut, daß er mit allen gebührenden Ehren als vollflügges Mitglied der ›Stadtbande‹ aufgenommen worden wäre. Die Ironie der Situation durchschaute er nicht. Ein qualifizierter Einbrecher hätte in zehn Minuten eine systematische Untersuchung des Grundstückes vollendet, aber Herr Lane war keineswegs qualifiziert. Folglich trödelte er von Zimmer zu Zimmer, kam in diesen Raum zurück, um ganz sicher zu sein, und ging noch einmal in jenen, um sich zu vergewissern, daß er nichts übersehen hatte. Nicht eingedenk der Flucht der Zeit, stand er unentschlossen im obersten Zimmer des Hauses, als das eigentliche Abenteuer des Tages begann. Er hörte das Einschnappen des Schlosses – in kluger Voraussicht hatte er die Bürotür hinter sich zugemacht – und eine Stimme; das Herz fiel ihm in die Hosen. Er hörte eine Stimme, eine Stimme heiser vor Wut, und noch eine, und immer noch eine.

Die stampfenden Fußtritte auf der Treppe klärten Herrn Lane darüber auf, daß etwa ein halbes Dutzend Männer das Haus betreten hatten; und aus dem Tonfall ihrer Reden entnahm er, daß sie verärgert waren.

Dann hörte er etwas, das sein Blut gerinnen und sein Mark erstarren ließ.

Es hatte mit einem heiseren, undeutlichen Gemurmel begonnen und endete in einem Satz, der sein Ohr traf.

»Ach, irgendwo hier in der Gegend. War zu meiner Zeit in Scrubbs,« berichtete Lamby.

Verblüfft betrachteten sie den bewußtlosen Einbrecher.

»Durchsucht ihm die Taschen,« riet Goyle.

Es hatte sich begeben – und von Herrn Lanes Standpunkt war diese Begebenheit mehr als alle anderen einer gütigen Vorsehung zu danken – daß er sich bei seinem Entschluß, die Laufbahn eines erstklassigen Verbrechers einzuschlagen, vorsorglich mit einigen selbstgefertigten Werkzeugen versehen hatte. Es war ein kleines Feuereisen mit abgeplatteter Spitze, das als Brechstange dienen sollte, und der Zentrumbohrer in seiner Tasche, die aller Wahrscheinlichkeit nach Herrn Lane das Leben retteten.

Lombroso und andere große Kriminologen behaupten, der wahre Degenerierte hätte keinen Sinn für Humor, aber wenigstens auf zweien dieser Gesichter lag ein breites Grinsen, als der Besuchszweck des kleinen Mannes ans Licht kam.

»Er wollte bei Connor einbrechen,« sagte Bat voller Bewunderung. »Gebt mal einer den Whisky her!«

Er goß dem Mann ein wenig davon in die Kehle; Herr Lane blinzelte; dann öffnete er, erschreckt um sich starrend, die Augen.

»Steh auf,« befahl Bat, »und sag, was du zu sagen hast. Was denkst du dir eigentlich dabei, hier einzubrechen –«

»Laß das doch,« unterbrach Goyle ihn wütend. »Was hat der Kerl gehört, wie er draußen rumgeschlichen ist? – darauf kommt's an.«

»Gar nichts, meine Herren!« keuchte der unglückliche Herr Lane, »auf mein Wort, meine Herren! Ich hab Unannehmlichkeiten gehabt, wie Sie auch, und –«

Es wurde ihm klar, daß er sich verplappert hatte.

»So,« sagte Goyle mit unheilverkündender Ruhe, »du hast Unannehmlichkeiten gehabt wie wir auch, nicht wahr?«

»Ich meinte –«

»Ich weiß, was du meinst,« zischte der andere, »du meinst, daß du gehört hast, was wir geredet haben, du kleines Stinktier, und daß du dem ersten besten Messingknopf petzen willst.«

Es wäre Herrn Lane wohl schlimm ergangen, wäre nicht im rechten Augenblick ein Bote gekommen. Bat ging hinunter, um aufzumachen, und die übrigen lauschten schweigend. Sie erwarteten Connor, und als seine Stimme nicht auf der Treppe erklang, sahen sie einander fragend an. Bat trat ins Zimmer, ein gelbes Kuvert in der Hand. Er reichte es Goyle: lesen gehörte nicht zu seinen Fertigkeiten. Goyle las mit Schwierigkeit:

»Helft euch, so gut ihr könnt. Ich mache mich dünn.«

»Was soll das heißen?« knurrte Goyle; er hielt die Botschaft in der Hand und blickte zu Bat hinüber. »Versteckt hat er sich – und wir sollen uns helfen, so gut wir können?«

Bat langte nach seinem Überzieher. Er sprach kein Wort, während er sich mühsam hineinzwängte; erst als er ihn sorgfältig zugeknöpft hatte, sagte er kurz:

»Es heißt – futsch. Es heißt laufen, oder sonst heißt's sitzen, und Schlimmeres als sitzen.«

Er wandte sich zur Tür.

Aber er blieb noch einmal stehen. »Connor versteckt sich,« sagte er, »und wenn Connor erst mal mit Verstecken anfängt, dann wird der Boden heiß. Gegen mich liegt nichts vor, soviel ich weiß, außer –«

Sein Blick fiel auf die unglückliche Gestalt des Herrn Lane. Er hatte sich auf dem Fußboden aufgesetzt und bot mit seinem wirren Haar und den lang ausgestreckten Beinen ein Bild der Verzweiflung dar.

Goyle hatte den Blick aufgefangen.

»Was machen wir mit dem da?« fragte er.

»Laßt ihn hier,« erwiderte Bat; »wir haben keine Zeit, uns mit ihm rumzuärgern.«

Ein Auto kam durch die Cawdor Street gesaust – etwas ganz Ungewöhnliches. Sie hörten das Knirschen der Bremse vor der Tür, und das war an sich schon aufregend genug. Bat löschte das Licht und öffnete vorsichtig einen Fensterladen. Mit einem Fluch fuhr er zurück.

»Was ist los?« flüsterte Goyle.

Bat erwiderte nichts, aber sie hörten, wie er eine Streichholzschachtel aufmachte.

»Was willst du denn?« flüsterte Goyle wütend.

»Die Lampe anzünden,« sagte der andere.

Glas klirrte, als er den Zylinder abnahm, und im gelben Licht stand Bat der ›Stadtbande‹ gegenüber.

»A – U – S heißt ›aus‹, und aus ist das Spiel,« sagte er ruhig. Er suchte bei diesen Worten in seinen Taschen. »Ich brauche Licht, weil ich 'n paar Sächelchen in der Tasche hab, die ich verbrennen muß – rasch!«

Nach einigem Suchen fand er einen Zettel. Eilig überflog er ihn, dann entzündete er ein Streichholz und brannte sorgfältig die eine Ecke an.

»'s ist 'n großartiger Fang,« fuhr er fort. »Die Straße ist voller Polizei, und diesmal wird Engel nicht ›Spielhöllen-Razzia‹ spielen.«

Ein lautes Klopfen an der Tür – aber keiner rührte sich. Goyle war totenfahl geworden. Er wußte besser als alle andern, daß Flucht unmöglich war. Es war immer ein Nachteil des Hauses gewesen, daß es sich so leicht umstellen ließ. Er hatte Connor schon früher darauf aufmerksam gemacht.

Wieder das Klopfen.

»Mögen sie nur aufmachen,« sagte Bat grimmig; und als hätten die Leute draußen auf der Straße die Aufforderung gehört, krachte die Tür, und es erklang ein Gepolter wie von Männerfüßen, die rasch die Treppe herauflaufen.

Als erster betrat Engel das Zimmer. Kaltblütig nickte er Bat zu, dann trat er zur Seite, um die Polizisten hereinzulassen.

»Ich suche euch,« sagte er kurz.

»Weshalb?« fragte Sands.

»Wegen Einbruch und Amtsanmaßung,« erwiderte der Detektiv. »Hände her!«

Bat gehorchte. Als die steigbügelförmigen, stählernen Fesseln über seinen Handgelenken zusammenschnappten, fragte er:

»Habt ihr Connor?«

Engel lächelte.

»Connor wird auf einen andern Tag aufgespart,« sagte er ruhig.

Die ihn begleitenden Polizisten waren mit den anderen Insassen des Zimmers beschäftigt.

»Anstrengender Dienst heute für Sie, Herr Engel,« sagte scherzend Lamby mit dem abgezehrten Gesicht. »Dachte, Sie ließen uns laufen?«

»Voreilige Schlüsse zu ziehen ist eine beklagenswerte Angewohnheit,« sagte Engel kurz und bündig. Dann fiel sein Blick auf den schreckensbleichen Herrn Lane.

»Hallo, wer ist denn das?« fragte er.

In diesem Augenblick kam Herrn Lane die größte Erleuchtung seines Lebens. Da er durch allerlei Zufälligkeiten in diese Geschichte verwickelt war, und da es so oder so wenig ausmachen konnte, was er sagte, griff er nach dem Ruhm, der in seiner Reichweite lag.

»Ich bin einer von der ›Stadtbande‹,« sagte er, als er gefesselt abgeführt wurde, stolz in dem Bewußtsein, einen unbestreitbaren Anspruch auf Anerkennung als gefährlicher Verbrecher erworben zu haben.

 

Herr Spedding war ein Mann von schnellen Entschlüssen. Ideen und Pläne waren für ihn, was wertloses Gestein und Diamanten für den Mann am Sortiertisch sind, und er besaß die Fähigkeit, rasch zu entscheiden. Er sah das englische Polizeisystem, wie nur die Polizei selber es sah, und er hatte ein scharfes Auge auf Engels Vorgehen. Es lag im Bereich der Möglichkeit, daß Engel mit allen Vollmachten ausgestattet war; aber ebensogut war es möglich, daß Engel nur bluffte.

Zwei Auswege lagen vor Herrn Spedding: beide waren verzweifelt; aber er mußte sicher sein, inwieweit seine augenblickliche Freiheit von der Grille eines stellvertretenden Polizeiassistenten abhängig war.

Engel hatte eine oberste Behörde genannt. Es war charakteristisch für Spedding, daß er ins Bergwerk ging, um zu sehen, wie weit die Lunte heruntergebrannt war. In andern Worten: er rief die erste beste Droschke an und fuhr zum Unterhaus.

Der hochwohlgeborene Herr George Chandler Middleborough, Staatssekretär des Innern Seiner Majestät des Königs, ist ein berüchtigt unnahbarer Mann; aber er macht Ausnahmen, und eine solche Ausnahme machte er zu Speddings Gunsten. Denn hervorragende Rechtsanwälte kommen nicht um zehn Uhr abends ins Unterhaus, um müßige Neugier zu befriedigen oder um sich das Parlamentsgebäude zeigen zu lassen, oder um Protektion und Interesse zu erbetteln; und wenn auf einer Visitenkarte ›Sehr dringend‹ steht, und wenn diese Karte einem bedeutenden Vertreter eines wichtigen Standes gehört, so wird die Bitte um ein Interview nicht so leicht abgeschlagen.

Spedding wurde in das Zimmer des Ministers geführt, und der Staatssekretär erhob sich mit einem Lächeln. Er kannte Herrn Spedding vom Sehen und hatte ihn einmal bei einem Diner getroffen.

»Hm –« begann er mit einem Blick auf die Karte in seiner Hand, »womit kann ich Ihnen dienen – zu dieser späten Stunde,« er lächelte noch einmal.

»Ich habe Sie in Sachen des verstorbenen Herrn Reale aufgesucht.« Er beobachtete das Gesicht des Ministers. Der Staatssekretär sah ein wenig erstaunt aus, rührte sich sonst aber nicht.

»Gut!« dachte Spedding und atmete freier.

»Ich fürchte –« sagte der Minister. Er kam nicht weiter, denn Spedding war plötzlich nur noch unterwürfige Ehrfurcht und verlegene Entschuldigung.

Was! der Herr Staatssekretär hatte seinen Brief nicht erhalten? einen Brief über das Realesche Vermögen? Man kann sich den Schmerz und den Verdruß auf Herrn Speddings Gesicht vorstellen, wie er von der verbrecherischen Achtlosigkeit seines Schreibers sprach – man kann sich seine hilflose Haltung denken, sein Eingeständnis der absoluten Unmöglichkeit, über die Sache zu verhandeln, ehe der Herr Staatssekretär im Besitz des Briefes sei, und seinen Rückzug von einem ihm wohlgesinnten Staatsminister, der erfreut – nein, entzückt gewesen wäre, mein verehrter Herr, Herrn Spedding einen Dienst zu erweisen, hätte er den Brief nur rechtzeitig genug erhalten, um von seinem Inhalt Kenntnis zu nehmen. Herr Spedding war ein erfinderischer Geist; im Hinblick auf ihn hätte jemand leicht zum erstenmal darauf kommen können, die bittere Notwendigkeit als Mutter der Erfindung anzusehen.

Als er wieder auf der Straße stand, fand Spedding eine Droschke vor, die ihn in seinen Klub brachte.

»Engel hat geblufft,« überlegte er, innerlich lächelnd. »Mein Freund, du riskierst dein nettes kleines Amt.«

Noch einmal lächelte er, denn es kam ihm in den Sinn, daß sein Risiko noch größer war.

»Zwei Millionen!« murmelte er. »Das ist die Sache wert; mit zwei Millionen läßt sich allerhand anfangen.«

An seinem Klub stieg er aus und bezahlte dem Kutscher den vorgeschriebenen Fahrpreis auf den Pfennig.


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