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4.
Die ›Stadtbande‹

Es war kein bißchen so, wie Kathleen Kent sich Scotland Yard vorgestellt hatte. Es war freilich eine Art Hof, denn die schmierige kleine Straße, zu beiden Seiten von niedrigen, nichtssagenden Häuserfronten begrenzt, endete jäh an einer hohen Mauer, die von grauen Schiffsrümpfen und dicken, rotgestrichenen Dampferschornsteinen überragt wurde.

Der Droschkenkutscher hatte vor einem der Häuser neben der Mauer gehalten, und eine Tür war aufgegangen. Ihr Begleiter, der bis dahin mürrisch schweigend neben ihr gesessen und auf Fragen nur einsilbig geantwortet hatte, packte ihren Arm und zog sie eilig ins Haus. Die Tür schlug hinter ihnen zu, und sie erkannte die tödliche Gefahr. Ein Vorgefühl, eine instinktive Warnung hatte ihr gesagt, daß die Sache nicht ganz in Ordnung sei, als die Droschke die breite Straße verließ, die, soviel sie wußte, nach Scotland Yard führte und kreuz und quer durch zahllose enge Gäßchen in scharfem Trab nach Osten fuhr. Unbekannt, wie sie war, mit jenem London, das am Trafalgar Square beginnt und sich östlich bis Walthamstow erstreckt, unbekannt sogar mit jener tätigen Vorstadt, in die das bescheidene Einkommen aus einem Besitz von viertausend Pfund Konsols sie verschlagen hatte, fühlte sie doch, ohne es genau zu wissen, daß Scotland Yard nicht am östlichen Ende der Commercial Road liegen konnte.

Als dann die Tür des kleinen Hauses hinter ihr zuschlug, als die Hand ihren Arm fester packte und eine heisere Stimme ihr ins Ohr flüsterte, daß der Eigentümer der Stimme sie ›abtun‹ würde, wenn sie schrie, wurde ihr klar – ohne daß sie genau wußte, was ›abtun‹ war –, daß es klüger sei, nicht zu schreien; so begleitete sie ihren Schergen ruhig hinauf. Auf einem wackligen Treppenabsatz blieb er einen Augenblick stehen, dann stieß er eine Tür auf.

Vor dem Fenster, das unter normalen Umständen das Tageslicht eingelassen hätte, hing ein schwerer grüner Vorhang; dahinter – doch das wußte sie nicht – waren vorsichtigerweise noch drei wollene Armeedecken befestigt, die höchst wirksam jeden Sonnenstrahl abhielten und ebenso wirksam das Licht einer Hängelampe für einen draußenstehenden Beobachter verhüllten.

Das Mädchen bildete einen rührenden Gegensatz zu ihrer Umgebung, als sie bleich, aber entschlossen vor den Insassen des Zimmers stand.

Kathleen Kent war etwas mehr als hübsch, etwas weniger als schön. Ein längliches Gesicht mit festen grauen Augen, einer geraden Nase und der schmalen Oberlippe der Aristokratin; ihre Lippen waren für einen Schönheitskenner vielleicht etwas zu voll und zu menschlich.

Sie blickte von einem Gesicht zum andern und verriet, abgesehen von ihrer Blässe, mit keinem Zeichen ihre Furcht.

Obwohl sie sich der Tatsache nicht bewußt war, hatte sie eine außerordentliche Bevorzugung erfahren: durch einen bloßen Zufall war sie vor die ›Stadtbande‹ gelangt. Dies ist kein sehr großartiger Name für eine organisierte Verbrecherbande, aber organisierte Verbrecher legen sich nun mal keine charakteristischen oder hochtrabenden Namen bei. Unsere ›Silbernen Äxte‹ und ›Roten Dolche‹ sind Phantasieräuber, die mit Spielzeugpistolen schießen. Die Polizei bezeichnete die hier Versammelten meistens als ›Stadtbande‹. Es ist bekannt, daß mindere Größen in der Verbrecherwelt sich gerühmt haben, mit dieser Vereinigung in Verbindung zu stehen; und wenn irgendeine verzweifelte Schandtat die Welt entsetzte, ging die Polizei bei der Untersuchung des Verbrechens von der Frage aus: War der Täter einer von der ›Stadtbande‹ oder nicht?

Als Kathleen von ihrem Begleiter ins Zimmer gestoßen wurde, verstummte sofort ein gedämpftes Stimmengewirr, und sie wurde zum Brennpunkt von neun leidenschaftslosen Augenpaaren, die sie ungerührt betrachteten.

Als sie die Stimmen gehört hatte, als sie den ersten raschen Blick durchs Zimmer warf und den Typus der sie anstarrenden Gesichter erkannte, hatte sie sich auf einen Ausbruch unflätiger Heiterkeit gefaßt gemacht. Sie fürchtete – sie wußte nicht, was sie fürchtete. Sonderbar genug: die Totenstille, die sie empfing, machte ihr Mut, das kalte Anstarren der Männer gab ihr Kraft. Nur einer verlor die Fassung: mit einem halblaut gemurmelten Fluch war der große schwere Mensch aufgesprungen, der in der einen Ecke saß und mit gesenktem Kopf aufmerksam einem kleinen Mann zuhörte, welcher mit seinen Bartkoteletten und dem glattrasierten Gesicht genau wie ein altmodischer Jockei aussah.

»Hinauf!« brüllte der Große, und dann sagte er ein paar Worte in einer fremden Sprache, daß der Mann, der das Mädchen am Arm hielt, schreckensbleich nach rückwärts taumelte.

»Ich – ich,« stammelte er flehend, »ich hatte es nicht richtig verstanden.«

Mit wutverzerrtem Gesicht zeigte der Große auf die Tür, und diese hastig aufreißend, schleppte ihr Begleiter das bestürzte Mädchen ins Dunkel des Treppenhauses hinaus.

»Hier hinauf!« murmelte er; sie konnte das Zittern seiner Hand fühlen, als er eine zweite Treppe hinaufstolperte, ohne auch nur einen Augenblick ihren Arm loszulassen. »Mucksen Sie sich nicht, sonst ergeht's Ihnen übel. Sie sehen ja, wie's mir gegangen ist, weil ich Sie ins falsche Zimmer geführt hab. Oh, ein Teufel ist der Connor – der Smith, wollte ich sagen. Smith heißt er, verstehn Sie mich?« Er schüttelte sie derb. Offensichtlich war der Mann ganz außer sich vor Angst. Was der Große Entsetzliches gesagt hatte, konnte Kathleen nicht beurteilen. Sie war selber halbtot vor Schrecken. Die unheimlichen Gesichter dieser Männer, die geheimnisvolle Versammlung in dem dichtgeschlossenen Haus, ihre Entführung – alles das machte ihre Lage grauenvoll.

Ihr Führer schloß eine Tür auf und stieß sie in ein Zimmer. Dieses war offenbar für ihren Empfang hergerichtet, denn auf einem gedeckten Tisch stand Essen und Trinken bereit.

Die Tür fiel hinter ihr zu, und ein Riegel wurde vorgeschoben. Wie im untern Zimmer war auch hier alles Tageslicht durch einen Vorhang ferngehalten. Ihr erster Gedanke war Flucht. Sie wartete, bis die Fußtritte auf der wackeligen Treppe verklungen waren, dann ging sie rasch durch das Zimmer. Der Sprung aus dem Fenster konnte nicht sehr hoch sein; sie wollte ihn wagen. Sie zog den Vorhang beiseite. An der Stelle des Fensters befand sich eine stählerne Platte, die dem Fensterrahmen aufgeschraubt war. Irgend jemand hatte ihren Entschluß, durchs Fenster zu fliehen, vorausgesehen. Von ungeübter Hand war mit Kreide folgende Botschaft aufgeschrieben:

 

»Es geschieht Sie nichts, wenn Sie fernünftig sin. Wir möchten ferschidenes wissen, dann lassen wir Ihnen gehn. Machen Sie kein Krach, sonst gehts Ihnen schlecht.

Ferhalten Sie sich still und sagen Sie uns, was wir wissen wollen, dann lassen wir Ihnen frei.«

 

Was hatten die Männer zu fragen oder was konnte sie antworten? Sie hatte keine Ahnung, was sie von ihr wissen wollten. Wer waren diese Männer, die sie gefangen hielten? Immer und immer wieder stellte sie sich diese Fragen während der nächsten Stunden. Beinah ohnmächtig wurde sie vor Hunger und Durst, aber die Speisen auf dem Tisch rührte sie nicht an. Das Geheimnisvolle ihrer Entführung bestürzte sie. Welchen Wert konnte sie für diese Männer haben? Das Stimmengemurmel in dem unteren Zimmer hörte nicht auf. Ein paarmal übertönte eine laute, ärgerliche Stimme die übrigen. Einmal schlug eine Tür zu, und Kathleen hörte, wie jemand lärmend die Treppe hinunterging. Es mußte ein Portier vorhanden sein, denn sie hörte ihn mit dem Hinausgehenden reden.

Sie wußte freilich nicht, daß die gleiche Frage, die sie so verwirrte, an diesem Abend auch anderen im Haus Kopfzerbrechen machte.

Die berühmt-berüchtigten Männer, die sie eben erblickt hatte und die an ihrer Berühmtheit so unschuldig waren, wußten selber nicht, was sie denken sollten.

Bat Sands, der Mann mit dem ungesunden Aussehen – er machte den Eindruck, als habe er eben eine lange Krankheit hinter sich –, war neugierig. Vinnis – kein Mensch wußte seinen Vornamen – war ebenfalls neugierig; und sie waren zwei Leute, deren Fragen sich nicht überhören ließen.

Vinnis richtete seine stumpfen Fischaugen auf den mächtigen Connor und sprach mit großem Nachdruck.

»Connor, was is das für 'ne Sache mit dem Mädel? Kommen wir da auch ran?«

Connor kannte seine Leute zu gut, um zu zögern.

»Ihr kommt ran, wenn's überhaupt was wird,« sagte er langsam.

Bats kurzgeschorener roter Kopf beugte sich vor.

»Is da Geld zu holen?« fragte er.

Connor nickte.

»Viel?«

Connor holte tief Atem. Um die Wahrheit zu sagen: es lag keineswegs in seiner Absicht, daß die ›Bande‹ Anteil an der Beute haben sollte. Wäre sein Helfershelfer nicht so ein Tolpatsch gewesen, so hätten sie von der Anwesenheit des Mädchens gar nichts erfahren. Aber auch nur der Verdacht der Treulosigkeit war gefährlich. Er kannte seine Leute, und sie kannten ihn. Keiner hätte bei der geringsten Andeutung von Verrat auch nur einen Augenblick gezögert, ihn unschädlich zu machen. Aufrichtigkeit war immer noch das Beste und Sicherste.

»'s ist ziemlich schwer, euch 'nen Begriff davon zu geben, warum ich das Mädel hier hab, aber es ist 'ne Million da zu holen,« begann er.

Er wußte, daß sie ihm glaubten. Er erwartete nicht, daß ihm mißtraut würde. Verbrechern vom Schlage dieser Männer eignete eine gewisse Großzügigkeit. Sie gehörten nicht zum großen Haufen des kleinlichen, ruhmredigen Diebsgesindels, das sich gegenseitig belügt und betrügt und auch weiß, daß es betrogen und belogen wird.

Nur der aufmerksame, gespannte Ausdruck der Gesichter ließ darauf schließen, wie die Nachricht aufgenommen worden war.

»'s ist das Geld vom alten Reale,« fuhr er fort; »den ganzen Batzen hat er vieren von uns vermacht. Massey ist tot, also bleiben drei.«

Es bedurfte keiner Erklärung, wer Reale oder Massey war. Noch vor einer Woche hatte Massey in diesem Zimmer gesessen und mit Connor über den geheimnisvollen Vers geredet, der im Testament des alten Mannes eine so seltsame Rolle spielte. Er war sozusagen Ehrenmitglied der ›Stadtbande‹ gewesen.

Connor erzählte weiter. Er sprach langsam, denn er hoffte auf eine Erleuchtung. Eine geschickte Lüge konnte die Situation retten. Aber es kam ihm keine Erleuchtung, und so hörte er seine zögernde Zunge die Wahrheit sagen.

»Das Geld ist in einem einzigen Safe aufbewahrt. Du brauchst kein solches Gesicht zu machen, Tony, ebensogut wie den Kasten könntest du die Bank von England aufknacken. Jawohl, er hat jeden Pfennig von einer und drei Viertel Million in festes, solides Bargeld umgewechselt – Banknoten und Gold. Das hat er in den verfluchten Safe getan und zugeschlossen. Und er hat in seinen testamentarischen Bestimmungen einen Schlüssel hinterlassen.«

Connor war ein Mann, dem das Sprechen nicht leicht fiel. Jedes Wort kam langsam und zögernd heraus, als ob der Erzähler sich nur sehr ungern von der Geschichte trennte.

»Hier ist der Schlüssel,« sagte er langsam.

Durchs Zimmer ging eine Bewegung gespanntester Erwartung, als er mit der Hand in die Westentasche fuhr; aber als er seine Finger wieder herauszog, hielten sie weiter nichts als ein sorgsam gefaltetes Stückchen Papier.

»Das Schloß am Safe ist so 'ne Erfindung vom alten Reale; es läßt sich mit keinem anderen Schlüssel öffnen als mit dem da.« Er schwenkte das Papier vor ihren Augen, und dann schwieg er.

»Na,« ließ sich Bat ungeduldig vernehmen, »warum öffnest du denn da den Safe nicht? Und was hat das Mädel damit zu tun?«

»Sie hat auch einen Schlüssel oder kriegt morgen einen. Und Jimmy –«

Ein Lachen unterbrach ihn. Curt Goyle hatte aufmerksam zugehört bis Jimmys Name fiel, dann zerschnitt sein rauhes, unfrohes Lachen das gespannte Schweigen.

»Soso, der Lord James hat auch damit zu tun? Wenn's nach mir geht, bleibt Jimmy aus dem Spiel.« Er stand auf und reckte sich, den Blick fest auf Connor geheftet. »Und wenn ihr wissen wollt, warum, sollt ihr's hören. Jimmy is für meinen Geschmack 'n bißchen zu wählerisch und gibt sich zu gern mit der Polente ab für meinen Geschmack. Wenn wir hier mitmachen, hat Jimmy nichts dabei zu suchen.« Die anderen murmelten beifällig.

Connors Gedanken arbeiteten fieberhaft. Er konnte ohne Jimmy fertig werden, aber die Hilfe der ›Bande‹ ließ sich keinesfalls entbehren. Er hatte ein ganz klein wenig Angst vor Jimmy. Der Mann war ein Verbrechertyp, den er nicht begriff. Wenn er Mitanwärter auf Reales Millionen war, würde die ›Bande‹ ihn ›abtun‹ – um so besser. Masseys Abgang hatte die Erben auf drei beschränkt. War auch Jimmy aus dem Wege geräumt, so verringerte sich die Chance, das Geld zu verlieren, noch mehr; und der andere Erbe befand sich in dem Zimmer oben. Goyles Erklärung hatte die Zungen der Männer gelöst; aber keine Stimme ließ sich für Jimmy vernehmen. Und dann riefen ein halbes Dutzend Stimmen nach dem Schluß der Geschichte; bei Totenstille erzählte Connor von dem Testament und dem Vexierrätsel, dessen Lösung für jeden von ihnen ein Vermögen bedeutete.

»Und das Mädel hat sich eben mit ihrem Schicksal abzufinden. Sie ist zu gefährlich, als daß wir sie loslassen könnten. Zwei Millionen stehn auf dem Spiel, und ich will nichts riskieren. Sie muß hier bleiben, bis das Wort gefunden ist. Wir wollen nicht zusehn, wie sie uns das Geld vor der Nase wegschnappt.«

»Und Jimmy?« fragte Goyle.

Connor fingerte nervös an seinem Rockaufschlag herum. Er kannte die Antwort, welche die ›Bande‹ auf Goyles Frage bereits beschlossen hatte. Er wußte, daß man ihm jetzt die Zustimmung zu dem schwärzesten Schurkenstreich abverlangen würde, der sein schlimmes Leben je befleckt hatte; aber er wußte auch, daß Jimmy gehaßt wurde von den Männern, die diese seltsame Bruderschaft bildeten. Jimmy arbeitete allein; er teilte weder Gefahr noch Gewinn. Sein kalter Zynismus ging über ihren Verstand. Auch sie hatten Angst vor ihm.

Connor räusperte sich.

»Vielleicht, wenn wir zureden würden –«

Goyle und Bat wechselten einen raschen Blick.

»Fordre ihn doch auf herzukommen, damit wir heute abend über die Sache sprechen können,« sagte Goyle leichthin.

 

»Connor bleibt lange.«

Sands wandte bei diesen Worten den Versammelten sein ungesundes Gesicht zu.

Drei Stunden waren vergangen, seit Connor die ›Bande‹ verlassen hatte, um Jimmy aufzusuchen.

»Er wird schon bald wiederkommen,« sagte Goyle zuversichtlich. Er warf einen Blick über die Versammlung. »Wenn einer von euch bei der Sache nicht mitmachen will, kann er gehen.« Dann fügte er bedeutsam hinzu: »Wir werden mit Jimmy abrechnen.«

Keiner rührte sich; keiner schauderte bei dem schrecklichen Vorschlag, den diese Worte enthielten.

»Ein und drei Viertel Millionen – dafür lohnt sich der Galgen!« sagte Goyle hart. Er ging zu einem hohen schmalen Schrank neben dem Kamin und machte die Tür auf. Drinnen war Platz genug, daß ein Mensch aufrecht stehen konnte. Die Untersuchung des Inneren befriedigte ihn.

»Da drin hat ein gewisser Jemand gestanden« – er sah vielsagend zu Bat Sands hinüber – »als er Ike Steen abtat – Ike, der das Geld von der Polizei schon in der Tasche hatte und bereit war, die ganze Gesellschaft zu verkaufen.«

»Wer ist im Nebenhaus?« fragte plötzlich eine Stimme.

Goyle lachte. Nach außen hin war er der Hausherr, denn er hatte das Haus gemietet. Er machte die Schranktür wieder zu.

»Wenn man den alten George nicht rechnet, ist es leer,« sagte er. »Horcht mal!«

In dem tiefen Schweigen drang das dumpfe Gemurmel einer Stimme durch die dünnen Wände.

»Schwatzt mit sich selbst,« sagte Goyle grinsend; »er is nich ganz richtig im Kopf, aber er ersetzt 'nen Aufpasser, denn er verscheucht uns die Kinder und Frauen, die sonst ums Haus rumspionieren würden. Er –«

Sie hörten die Haustür zufallen und die Stimmen zweier Männer im Hausflur unten.

Goyle sprang auf, einen bösen Ausdruck im Gesicht.

»Das ist Jimmy!« flüsterte er hastig.

Als Schritte die Treppe heraufkamen, ging er zu der Wand, wo sein Überrock hing, und nahm etwas aus der Tasche; dann, beinah im selben Augenblick, als die Ankömmlinge das Zimmer betraten, schlüpfte er in den Schrank und zog die Tür hinter sich zu.

Jimmy, der hinter Connor ins Zimmer trat, merkte sofort die Kühle des Empfangs. Er verspürte auch ein unbestimmtes Gefühl von Gefahr. Es herrschte verhängnisvolle Stille. Bat Sands war höflich, sogar unterwürfig. Jimmy bemerkte es: jeder Nerv in ihm spannte sich. Bat schob ihm einen Stuhl hin mit der Lehne gegen den Schrank.

»Setz dich, Jimmy,« sagte er mit erzwungener Herzlichkeit. »Wir haben was mit dir zu reden.«

Jimmy setzte sich.

»Ich hab auch was mit euch zu reden,« sagte er ruhig. »Es befindet sich eine junge Dame hier im Haus, die gegen ihren Willen hergebracht worden ist. Ihr müßt sie freilassen.«

Der ärgerliche Protest, den er erwartet hatte, blieb aus; seine Worte wurden vielmehr mit tiefem Schweigen aufgenommen. Das war ein schlimmes Zeichen, und er sah sich nach der Gefahr um. Da vermißte er ein Gesicht.

»Wo ist denn unser Freund Goyle, unser lieber Wirt?« fragte er heiter-ironisch.

»Er ist heute gar nicht dagewesen,« beeilte sich Bat zu antworten.

Jimmy sah Connor an, der neben der Tür stand und an seinen Nägeln kaute; Connor wich seinem Blick aus.

»So!« Jimmys Gleichgültigkeit war eine vollkommene schauspielerische Leistung.

»Jimmy will, daß wir das Mädel freilassen.« Connor sprach hastig. »Er denkt, es wird Klamauk geben, und sein Freund, der Detektiv, denkt auch, es wird Klamauk geben.«

Jimmy hörte die listig formulierte Beschuldigung an, ohne sich zu rühren. Wieder bemerkte er einigermaßen betroffen, daß Connors Worte, die doch gleichbedeutend waren mit der Beschuldigung des Verrats, ohne Widerrede hingenommen wurden.

»Nicht andere denken es, sondern ich denke es, Connor,« sagte er trocken. »Das Mädchen muß freigelassen werden. Ich möchte Reales Geld genau so gern wie du, aber ich hab es mir in den Kopf gesetzt, daß es dabei ehrlich zugehen soll.«

»Soso, das hast du dir in den Kopf gesetzt!« höhnte Connor. Er hatte gesehen, daß die Schranktür hinter Jimmy sich ein klein wenig bewegt hatte.

Jimmy saß mit übergeschlagenen Beinen auf dem Stuhl, den sie ihm hingesetzt hatten. Der helle Überzieher, den er über seinem Abendanzug getragen hatte, lag auf seinen Knien. Connor wußte, daß der Augenblick gekommen war, und bemühte sich angestrengt, die Aufmerksamkeit seines einstigen Kameraden abzulenken; er hatte erraten, was Goyles Abwesenheit und die sich bewegende Schranktür bedeuteten. In seiner gegenwärtigen Lage war Jimmy gänzlich hilflos.

Connor war auf dem Weg zum Hause von einer Nervosität gewesen, die schon beinah Gedankenflucht war. Jetzt erhob sich seine Stimme zu schneidender Höhe.

»Du bist zu gescheit, Jimmy,« sagte er, »und es gefällt uns nicht, daß du soviel von ›müssen‹ redest. Wir sagen, das Mädel hat zu bleiben, und beim Henker, es ist uns Ernst damit!«

Jimmys Hirn arbeitete lebhaft. Die Gefahr war ganz nahe, das fühlte er. Er mußte seine Taktik ändern; zu sehr hatte er sich auf Connors Angst vor ihm verlassen und nicht mit der ›Stadtbande‹ gerechnet. Von welchem der Männer drohte die Gefahr? Mit einem einzigen Blick umfaßte er ihre Gesichter. Er kannte sie – im Schlafe konnte er ihre schwarzen Geschichten aufsagen. Da bemerkte er einen Überrock, der am andern Ende des Zimmers hing. Augenblicklich erkannte er das Kleidungsstück: es gehörte Goyle. Wo war der Eigentümer? Er mußte Zeit gewinnen.

»Ich habe nicht die geringste Absicht, irgend jemandes Pläne umzustoßen,« sagte er gleichgültig-langsam und fing an, seinen weißen Glacéhandschuh anzuziehen, als ob er aufbrechen wollte. »Ich bin gern bereit, eure Ansichten zu hören, aber ich möchte darauf aufmerksam machen, Connor, daß ich ebenfalls an der jungen Dame Interesse nehme.«

Er blickte nachdenklich in den Handteller seiner behandschuhten Hand, als bewundere er den guten Sitz. Es war etwas so Eigentümliches an dieser anscheinend harmlosen Bewegung, daß Connor mit einem Fluch losfuhr.

»Schnell, Goyle!« brüllte er; aber Jimmy war schon aufgesprungen und lehnte sich mit dem Rücken an den Schrank; in der einen noch unbehandschuhten Hand hielt er eine garstige schwarze Waffe, die einem Revolver verzweifelt ähnlich sah.

Mit einer Handbewegung wehrte er die Männer ab; sie wichen vor ihm zurück.

»Ich will euch alle sehen,« befahl er; »verkriecht euch gefälligst nicht einer hinter dem andern. Ich will wissen, was ihr vorhabt. Mach, daß du da von deinem Mantel fortkommst, Bat, oder ich schieß dir 'ne Kugel durch den Bauch.«

Er stemmte sich gegen die Schranktür, um dem Gegendruck des Mannes zuvorzukommen, aber es schien, als hätte sich der Gefangene da drinnen mit der Lage der Dinge abgefunden, denn er rührte sich nicht.

»Da wundert ihr euch nun alle, wie ich das mit dem Schrank erfahren habe,« spottete er. Er hielt die behandschuhte Hand in die Höhe: irgend etwas im Handteller warf blitzend das Licht der Lampe zurück.

Connor begriff. Der in den Handschuh eingenähte winzige Spiegel war ein bekanntes Ausstattungsstück der Gauner.

»Und jetzt, meine Herren,« sagte Jimmy mit spöttischem Lachen, »muß ich auf meinem Willen bestehen. Connor, willst du mich bitte zu der Dame bringen, die du heut nachmittag entführt hast.«

Connor zögerte unschlüssig; dann fing er einen Blick von Bat Sands auf und verließ das Zimmer mit finsterm Gesicht.

Jimmy sprach kein Wort, bis Connor mit dem leichenblassen Mädchen zurückkam. Er sah, daß sie sich kaum aufrecht erhalten konnte, und winkte einem der Männer, ihr einen Stuhl zu bringen. Sie bemerkte jetzt in der fürchterlichen Gruppe einen jungen Mann mit einem kleinen Spitzbart, der sie mit ernsten, nachdenklichen Blicken betrachtete. Er war ein Gentleman, soviel konnte sie sehen, und ihr Herz tat einen Freudensprung, als ihr klar wurde, daß die Anwesenheit dieses Mannes mit dem moderngeschnittenen Anzug und dem höchst unmodernen Revolver für sie gleichbedeutend war mit der Befreiung aus diesem schrecklichen Ort.

»Fräulein Kent,« sagte er freundlich.

Sie nickte, denn sie vertraute ihrer Stimme noch nicht; die Erlebnisse der letzten Stunden hatten sie einer Ohnmacht nahe gebracht.

Jimmy sah, daß das junge Mädchen nahe daran war zusammenzubrechen.

»Ich werde Sie nach Hause bringen,« sagte er, und aufgeräumt fügte er hinzu: »Ich kann den Eindruck nicht los werden, daß Sie Ihre Bevorzugung nicht zu schätzen wissen. Nicht oft werden Sie eine so prachtvolle Auswahl unserer Branche beisammen sehn. Sie gestatten« – er machte eine vorstellende Handbewegung – »Bat Sands, Fräulein Kent – einer der gemeinsten Diebe, wenn nicht Schlimmeres. George Collroy, Falschmünzer und abgefeimter Schurke. Vinnis, der die niedrigste Art unehrlichen Gelderwerbs betreibt – Erpresser. Und hier,« fuhr Jimmy fort und trat von dem Schrank zurück, »hier haben wir das schönste Juwel der Sammlung. Ich will Ihnen unsern Freund zeigen, der sich so schüchtern verzogen hat.« Er wandte sich an den Insassen des Schrankes.

»Komm raus, Goyle,« rief er scharf.

Keine Antwort.

Jimmy winkte einem der wüsten Kerle.

»Mach die Tür da auf,« befahl er.

Der Mann kam herbeigeschlichen und riß die Tür auf.

»Komm raus, Goyle,« knurrte er; dann trat er bestürzt und erstaunt zurück. »Aber – aber,« stammelte er, »da is ja niemand drin!«

Mit einem Schrei sprang Jimmy nach vorwärts. Ein einziger Blick überzeugte ihn, daß der Mann die Wahrheit sprach, und dann – –

Es waren scharfe Köpfe unter diesen Leuten – Männer, die an schnelle Entscheidungen und rasches Handeln gewöhnt waren. Bat Sands sah Jimmys Aufmerksamkeit einen Augenblick abgelenkt, Jimmys Hand mit dem Revolver eine Sekunde gesenkt. Denken und Handeln war bei Bat Sands eines. Als Jimmy sich wieder umdrehte, sah er den Totschläger niedersausen und sprang zur Seite; kaum hatte er sich wieder gefaßt, so warf jemand einen Rock über die Lampe, und es war dunkel im Zimmer.

Jimmy streckte die Hand aus und faßte das junge Mädchen am Arm. »In den Schrank,« flüsterte er und schob sie in den Schlupfwinkel, aus dem Goyle auf so geheimnisvolle Weise verschwunden war. Die eine Hand an der Türkante, tastete er mit dem Revolver nach seinen Angreifern. Er hörte sie atmen, und am Knarren der Dielenbretter merkte er, daß sie auf ihn zukamen. Nun duckte er sich neben der Tür auf den Boden, denn er vermutete, der Hieb würde in die Höhe seines Kopfes zielen. Nach einer Weile hörte er das Sausen des niederfahrenden Stocks, und »krach!« prallte der Totschläger gerade über ihm gegen die Wand.

Er sah sich einer Schwierigkeit gegenüber: Schießen würde nur Unannehmlichkeiten hervorrufen. Aus vielen Gründen hatte er durchaus nicht den Wunsch, die Aufmerksamkeit der Polizei herauszufordern. Solange das Leben des Mädchens nicht gefährdet war, wollte er die Waffe nicht gebrauchen; als deshalb Ike Josephs sich vorsichtig mit seinem Stock herantastete und über Jimmy stolperte, stürzte Ike plötzlich lautlos zu Boden, weil ihn ein bösartiger Hieb auf jenen Körperteil getroffen hatte, der die ehrenvolle Bezeichnung ›Solarplexus‹ trägt.

Gleich darauf hörte Jimmy einen überraschten leisen Schrei von dem Mädchen hinter sich, und dann eine Stimme, die sein Herz höher schlagen ließ.

»Schon gut! Schon gut! Schon gut!«

Nur einen gab es, der sich dieses Stichworts bediente; Jimmy ging das Herz auf, und er segnete seinen Namen in Dankbarkeit.

»Hierher, Fräulein Kent,« sagte die Stimme, »achten Sie auf die kleine Stufe. Haben Sie keine Angst vor dem Herrn am Boden, er ist gefesselt und geknebelt und vollkommen harmlos.«

Jimmy lachte leise. Das geheimnisvolle Wissen Engels um die Pläne der ›Bande‹, um Connors Schachzüge und Goyles Verschwinden – alles war jetzt erklärt.

Er wußte nicht mit Bestimmtheit, ob der Bewohner des ›leeren‹ Hauses nebenan höchst sinnreich die dünne Scheidewand zwischen den beiden Häusern durchbrochen und hinter dem Schrank eine ›Rückwand‹ angebracht hatte, die in Wirklichkeit eine Tür war, aber er vermutete es.

Dann schoß ein blendender Lichtstrahl in das Zimmer, wo die ›Stadtbande‹ noch immer nach ihrem Feinde herumtastete, und eine sanfte Stimme sagte:

»Meine Herren, Sie können wählen, welchen Weg Sie wollen – durch die vordere Tür, wo mein Freund, Inspektor Collyer, mit einer recht ansehnlichen Zahl seiner Leute Sie erwartet, oder durch die Hintertür, wo Wachtmeister Murtle und genau sieben Mann in Zivil ungeduldig Ihrer harren.«

Bat erkannte die Stimme.

»Meister Engel!« rief er bestürzt.

Aus der Dunkelheit hinter der funkelnden elektrischen Lampe, die eine schmale Lichtbahn ins Zimmer warf, tönte ein belustigtes Lachen.

»Was ist das nun,« fragte Engels überredende Stimme, »ist das ein Fang?«

»'s ist ein guter Fang,« sagte Bat wahrheitsgemäß.


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