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5.
Das Kryptogramm

Herr Spedding sah nach der Uhr. Er stand auf dem Marmorfußboden in dem großen Depot. Hoch über seinem Kopf flammten Hunderte von Lichtern an einem prunkvollen Kronleuchter aus der herrlichen Kuppel herab. Er schritt vor dem großen Postament auf und ab, das in der Mitte des Gebäudes aufragte; über den Fußboden lief kreuz und quer das Schattengewirr des luftigen Eisenwerks, welches das Postament umschloß. Ein Dutzend Stühle standen in einem Halbkreis vor dem großen Granitsockel, sonst war die weite Halle kahl und leer.

Herr Spedding ging auf und ab; dumpf tönten seine Schritte; als er sprach, wurde seine Stimme von dem riesigen Raum eingefangen und als dröhnendes Echo zurückgeworfen.

»Wir erwarten nur noch die junge Dame,« sagte er und sah noch einmal nach der Uhr.

Er sprach zu den zwei Männern, die an den beiden äußersten Enden der Stuhlreihe saßen. Der eine war Jimmy, sinnend und gedankenverloren; der andere Connor, kleinlaut und niedergeschlagen. Hinter den Stühlen standen in einiger Entfernung zwei Männer, die wie Handwerker ausschauten, und das waren sie auch: zu ihren Füßen lag ein Sack mit Werkzeugen, und auf einem kleinen Brett ein Haufen, der wie Sand aussah. An der Tür wartete ein stumpfsinnig dreinschauender Schutzmann, die Brust voll glitzernder Medaillen.

Schritte ertönten im Vestibül, das Rascheln eines Frauenkleides, und Kathleen Kent trat ein, dicht hinter ihr Meister Engel. Fragend blickte der Jurist ihn an, als er dem Mädchen zur Begrüßung entgegenschritt.

»Herr Engel war so freundlich, mir seinen Beistand anzubieten,« sagte sie schüchtern – als sie Connor erkannte, wurde ihr Gesicht dunkelrot – »und, wenn nötig, seinen Schutz.«

Herr Spedding verbeugte sich.

»Ich hoffe, Sie werden diesen Teil der Zeremonie nicht weiter anstrengend finden,« sagte er mit leiser Stimme und führte das junge Mädchen zu einem Stuhl. Dann gab er dem Schutzmann ein Zeichen.

»Was soll denn eigentlich vor sich gehen?« flüsterte Kathleen ihrem Begleiter zu; aber Engel schüttelte den Kopf.

»Ich habe nur meine Vermutungen,« erwiderte er im gleichen Tone.

Er blickte auf zu dem großen Safe, in dem, wie er wußte, der Reichtum des toten Spielers aufgespeichert lag, und staunte über den wunderlichen Scharfsinn, der diese seltsame Szene erdacht und vorausgesehen hatte. Das Geräusch von Fußtritten an der Tür ließ ihn den Kopf wenden. Er erblickte eine weißgekleidete Gestalt und dahinter einen Mann im schwarzen Rock, der auf einem Kissen ein goldenes Kästchen bereit hielt. Dann rissen ihn die ehrwürdigen vertrauten Worte schaudernd in die Höhe:

»Ich bin die Auferstehung und das Leben, spricht der Herr: wer an mich glaubet, der wird leben, ob er gleich stürbe, und wer da lebet und glaubet an mich, der wird nimmermehr sterben.«

Die feierliche Stimme des Geistlichen hallte durch das Gebäude, und der Detektiv begriff, daß die Asche des Toten an ihre letzte Ruhestätte gebracht wurde. Der feierliche Zug bewegte sich auf die schweigende Gesellschaft zu. Langsam näherte er sich der Säule; als die Tritte des Geistlichen von der eisernen Wendeltreppe herabklangen, stimmte er den Psalm an, der besser als jeder andere für den Heimgang des alten Reale geeignet war:

»Gott, sei mir gnädig nach deiner Güte, und tilge meine Sünden nach deiner großen Barmherzigkeit ... Wasche mich wohl von meiner Missetat, und reinige mich von meiner Sünde ... Siehe, ich bin in sündlichem Wesen geboren ... Errette mich von den Blutschulden, Gott ...«

In halber Höhe der Säule gähnte eine kleine Öffnung in der ungebrochenen granitenen Fläche; dorthinein wurde das goldene Kästchen gestellt; dann hob der Arbeiter, der sich der kleinen Gesellschaft angeschlossen hatte, einen glattbehauenen, polierten Granitwürfel empor.

»Es hat Gott dem Allmächtigen in seiner großen Gnade gefallen, die Seele unseres lieben verstorbenen Bruders zu sich zu nehmen ...«

Die Kelle des Maurers kratzte an den Rändern der Höhlung entlang, der Steinblock wurde hineingezwängt, bis er in einer Ebene mit der Fläche des Postaments lag. Auf dem Stein waren vier Worte eingemeißelt:

 

» Pulvis
Cinis
et
Nihil.
«

 

Erst als die Arbeiter entlassen waren, während der Anwalt an der Tür den Priester nach Erfüllung seiner seltsamen Pflicht verabschiedete, ging Engel zu Jimmys Stuhl hinüber.

Er fing Jimmys grimmiges Lächeln auf und erhob den Blick zu der Stelle, wo nun Reales sterbliche Überreste ruhten.

»Latein?« fragte Engel.

»Überraschend, nicht wahr?« sagte der andere ruhig. »Reale hatte mancherlei gesehen, müssen Sie wissen. Ein Mann, der viel reist, sammelt Kenntnisse.« Er nickte nach dem Epitaph hinauf. »Auf den Gedanken da ist er in Toledo gekommen, im Dom dort; kennen Sie ihn? Eine Messingplatte über einem toten Königsmacher, Portocarrero, › Hic jacet pulvis cinis et nihil.‹ Ich habe es ihm übersetzen müssen. Der verschrobene Gedanke gefiel ihm. Während ich so hier saß und diesem sonderbaren Leichenbegängnis zusah, fragte ich mich, ob wohl › pulvis cinis et nihil‹ auftauchen würde.«

Und nun kam Spedding geräuschvoll zurück. Die Arbeiter waren verschwunden, die äußere Tür war geschlossen, und der Schutzmann hatte sich in sein Zimmer zurückgezogen, das vom Vestibül aus zugänglich war. Spedding hielt einen Stoß Papiere in der Hand. Er setzte sich mit dem Rücken gegen das granitene Postament und verlor keine Zeit mit Vorbereitungen.

»Ich habe hier das Testament des verstorbenen James Ryan Reale,« begann er. »Der Inhalt dieses Testaments ist allen Anwesenden bekannt, mit Ausnahme von Fräulein Kent.« Er verfügte über einen eigentümlichen trockenen Humor, dieser Rechtsanwalt, wie seine nächsten Worte bewiesen. »Vor einer Woche wurde ein sehr geschickter Einbruch in mein Büro verübt: der Geldschrank wurde aufgebrochen, ein Fach gewaltsam geöffnet und meine Papiere durchsucht. Ich muß meinem Besucher Gerechtigkeit widerfahren lassen« – er machte eine leichte Verbeugung erst in der Richtung nach Connor, dann nach Jimmy hin – »und sagen, daß nichts genommen und kaum etwas in Unordnung gebracht wurde. Es waren genügend Beweise vorhanden, daß der Zweck des Einbruchs darin bestand, dieses Testament zu Gesicht zu bekommen.«

Jimmy zeigte sich keineswegs beunruhigt über die kaum verschleierte Anspielung, und wenn er sich regte, so geschah es nur, um in seinem Stuhl eine bequemere Lage einzunehmen. Nicht einmal die entsetzten Augen des jungen Mädchens, die ihn flehend anschauten, bereiteten ihm irgendein sichtliches Unbehagen.

»Fahren Sie fort,« sagte er, denn der Anwalt hatte innegehalten, als warte er auf ein Zugeständnis. Jimmy war stillvergnügt; er wußte jetzt ganz genau, wer dieser rücksichtsvolle Einbrecher war.

»Durch Abschreiben des Testaments hat sich der – oder die – Einbrecher einen ungerechten Vorteil vor dem – oder den – anderen Erben verschafft.«

Das steife Papier knisterte laut, als der Anwalt das Dokument entfaltete.

»Ich werde Ihnen zunächst das Testament formell vorlesen und danach einige Erklärungen geben für diejenigen unter Ihnen, die solche Erklärungen nötig haben,« fuhr Spedding fort.

Das Mädchen horchte auf, als der Anwalt zu lesen begann. Trotz der juristischen Fachausdrücke, der endlosen Wiederholungen und des verworrenen Wortschwalls wurde ihr bald klar, daß dieser letzte Wille des alten Reale etwas ganz Ungewöhnliches darstellte. Es war die Rede von Häusern und Gütern, von Grundstücken und Obligationen ... »... und meinen übrigen Besitztümern ohne jede Ausnahme,« die irgend jemandem zufallen sollten. Wem eigentlich, das konnte sie nicht herausfinden. Einmal glaubte sie, sie selbst sei gemeint, denn es hieß »an Herrn Francis Corydon Kent oder seine Erben«; ein andermal klang es, als solle der Erbe des riesigen Vermögens »James Cavendish Fairfax Stannard, Baronet des Vereinigten Königreichs Großbritannien« sein. Sie fragte sich, ob das wohl Jimmy wäre, und erinnerte sich dunkel, gehört zu haben, daß der neunte Baronet dieses Namens eine Persönlichkeit fragwürdigen Charakters sei. Dann wieder schien es ihr, als ob »Patrick George Connor« der Erbe sein solle. Von einem Knüttelvers war in dem Testament die Rede, den der Anwalt rasch herunterleierte, und von einem großen Safe; dann kam der Jurist zum Schluß. In den üblichen Zeugenerklärungen stak ein Stachel, der dunkle Röte in Connors Wangen trieb und aufs neue Jimmys grimmiges Lächeln hervorlockte.

Der Anwalt las:

 

»Unterzeichnet von oben genanntem James Ryan Reale, als sein Testament und letzter Wille (das Wort ›Dieb‹ nach ›James Cavendish Fairfax Stannard, Baronet des Vereinigten Königreichs Großbritannien‹ und das Wort ›Dieb‹ nach ›Patrick George Connor‹ in der zwanzigsten bzw. zweiundzwanzigsten Zeile von oben sind gestrichen), in Gegenwart der Zeugen ...«

 

Der Anwalt faltete das Testament zusammen und steckte es ein; dann nahm er vier kleine Zettel aus einem Umschlag.

»Ihnen, meine Herren, ist alles klar.« Er wartete keine Erwiderung ab, sondern wandte sich an das bestürzte Mädchen.

»Ihnen, Fräulein Kent, ist das Testament, fürchte ich, nicht so klar. Ich will es Ihnen mit ein paar Worten erklären. Mein verstorbener Klient war der Besitzer einer Spielhölle. Er hat ein Riesenvermögen angesammelt und es, wenn ich so sagen darf, als Preis bei einem großen Preisausschreiben ausgesetzt. Sie, meine Herrschaften, sind die Teilnehmer an diesem Preisausschreiben. Offen gesagt, handelt es sich um einen Wettbewerb zwischen den Opfern, oder den Erben der Opfer, die von meinem verstorbenen Klienten gerupft worden sind, und den Männern, die ihm beim Rupfen behilflich waren.«

Der Anwalt sprach ohne jede Erregung, als erläutere er irgendeine gleichgültige Annahme; aber es klang in seinen Worten ein Ton, der Connor zusammenzucken ließ.

»Ihr Vater, meine liebe junge Dame, war eines der Opfer – es ist schon lange her. Sie müssen damals noch zur Schule gegangen sein. Er ist plötzlich zum armen Mann geworden.«

Des Mädchens Gesicht wurde hart.

»So ist das also zugegangen,« sagte sie langsam.

»So ist es zugegangen,« wiederholte der Anwalt ernst. »Ihres Vaters Vermögen war eines der drei großen Vermögen, die in den Geldschränken meines verstorbenen Klienten verschwunden sind.« Die formelle Bezeichnung des alten Reale umgab ihn mit einem Schimmer von Anständigkeit. »Die zwei anderen Opfer sind schon lange tot, ohne Nachkommen zu hinterlassen. Sie sind die einzige Vertreterin der Opfer. Die Herren hier sind – nun, sagen wir: die Gegenpartei. In diesem Safe,« er zeigte auf die große Stahlkammer, welche die Granitsäule krönte, »ist das Vermögen enthalten. Der Safe selbst ist eine Erfindung meines verstorbenen Klienten. Wo eigentlich das Schloß sein sollte, befinden sich sechs Drehscheiben, deren jede die Buchstaben des Alphabetes trägt. Die Scheiben sind so angeordnet, daß immer eine innerhalb der anderen liegt; auf der einen Seite befindet sich ein stählerner Zeiger. Ein Wort mit sechs Buchstaben öffnet den Safe. Indem man nun die Scheiben so dreht, daß die Buchstaben gegenüber dem Zeiger zu stehen kommen und dieses Wort bilden, läßt sich der Safe öffnen.«

Er hielt inne, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen, denn bei seiner energischen Erklärung war ihm heiß geworden. Dann fuhr er fort:

»An Ihnen ist es nun, dieses Wort zu finden. Mein verstorbener Klient hatte eine große Vorliebe für Akrostichen und Rätsel und Erfindungen aller Art; er hat einen Knüttelvers hinterlassen, der nach seiner ernsthaften Versicherung die Lösung enthält.«

Er reichte erst dem Mädchen, dann den anderen je einen Zettel. Einen Augenblick drehte sich der Raum vor Kathleens Augen. Alles, was an diesem kleinen Vers hing, kam ihr zum Bewußtsein. Sorgfältig jedes Wort prüfend, als fürchte sie, seine Bedeutung könne ihr entgehen, las sie:

»Dieses Rätsel, schlau gestellt,
Lös es auf und nimm mein Geld.
Einen Riegel hol herfür,
Mach ihn fest an einer Tür,
Dann an eines Flusses Mund
Bringe schnell das Ganze, und
Pflücke Blätter, leg sie fein
In den Wasser-Napf hinein.
Dies Rätsel stammt aus einem Buch,
Das uns gebracht des Heils genug.«

Sie las es wieder und immer wieder, während die anderen sie beobachteten. Jedes neue Durchlesen schien sie von der Lösung des Geheimnisses weiter abzubringen, und ganz verzweifelt wandte sie sich an Engel.

»Ich kann nichts herausbekommen,« rief sie hilflos, »nichts, nichts, nichts.«

»Es ist, mit allem gebührenden Respekt vor meinem verstorbenen Klienten, ein richtiges Kauderwelsch,« gab der Anwalt offen zu, »und doch hängt davon die Erbschaft seines ganzen Vermögens ab.«

Er hatte bemerkt, daß weder Connor noch Jimmy die ihnen ausgehändigten Zettel gelesen hatten.

»Die Zettel, die ich Ihnen übergeben habe, sind Faksimile-Nachbildungen des Originals, das jederzeit in meinem Büro eingesehen werden kann.«

In tödlicher Bestürzung sprach das Mädchen den Vers vor sich hin.

»Nie und nimmer kriege ich das heraus,« sagte sie verzweifelt.

Behutsam nahm ihr Engel den Zettel aus der Hand.

»Versuchen Sie es jetzt nicht,« sagte er freundlich. »Sie haben reichlich Zeit. Ich glaube nicht, daß Ihre Mitbewerber etwas gewonnen haben durch den Vorsprung, den sie sich zu verschaffen wußten. Auch ich besitze seit acht Tagen eine Abschrift des Verses.«

Die Augen des Mädchens taten sich vor Staunen weit auf.

»Sie?« fragte sie.

Engels Erklärung wurde durch eine sonderbare Begebenheit abgeschnitten.

Connor saß an dem einen Ende der Stuhlreihe, mißmutig auf seinen Zettel niederblickend; Jimmy am anderen Ende strich sich nachdenklich den Bart; plötzlich stand er auf und ging zu seinem grübelnden Genossen. Der wich zurück, als der andere näher kam, aber Jimmy setzte sich neben ihn und flüsterte ihm leise was ins Ohr. Er sprach rasch, und Engel, der sie scharf beobachtete, sah, wie ein Ausdruck ungläubiger Überraschung auf Connors Gesicht erschien; dann mischte sich Wut in die Ungläubigkeit, und Connor sprang auf; mit der Faust hieb er auf die Stuhllehne ein.

»Was?« brüllte er. »Die Aussicht auf ein Vermögen aufgeben? Da möcht ich doch sehen –«

Jimmys Stimme wurde nicht lauter, aber er packte Connor am Arm und zog ihn auf seinen Stuhl zurück.

»Fällt mir nicht ein! Fällt mir nicht ein! Bildest du dir ein, ich schmeiße ein Vermögen weg –«

Jimmy ließ den Mann los und stand achselzuckend auf.

Er ging hinüber zu Kathleen.

»Fräulein Kent,« sagte er zögernd, »es fällt mir nicht leicht zu sagen, was ich zu sagen habe; aber ich möchte Ihnen mitteilen, daß, soviel an mir liegt, das Geld Ihnen gehört. Ich erhebe keinen Anspruch darauf und werde Ihnen in jeder Weise helfen, soweit es in meiner Macht liegt, das versteckte Wort aus dem Vers herauszufinden.«

Das Mädchen erwiderte nichts. Ihre Lippen waren fest aufeinandergepreßt, und es kam wieder jener harte Blick in ihre Augen, den Engel bemerkt hatte, als der Anwalt ihren Vater erwähnte.

Jimmy wartete einen Augenblick auf ihre Antwort, aber sie rührte sich nicht, und mit einer leichten Verbeugung ging er zur Tür.

»Bleiben Sie!«

Es war Kathleen, die gesprochen hatte; Jimmy drehte sich um und wartete.

»Wenn ich dieses Testament richtig verstehe,« sagte sie langsam, »so sind Sie einer der Männer, denen mein Vater seinen Ruin verdankt.«

Fest begegnete sein Blick dem ihren.

»Ja,« sagte er einfach.

»Einer der Männer, dem ich für jahrelanges Elend und Leid zu danken habe,« fuhr sie fort. »Als ich sah, wie es mit meinem Vater langsam bergab ging, wie er, ein gebrochener Mann, von dem Bewußtsein gequält wurde, daß seine Torheit Frau und Kind in verhältnismäßige Armut gebracht hatte; als ich meinen Vater sterben sah, an Leib und Seele gebrochen durch sein Unglück, da dachte ich niemals, daß ich dem Mann je begegnen würde, der seinen Ruin verursachte.«

Noch immer wandte Jimmy seine Augen nicht ab. Unerschüttert in seiner Ruhe, gleichmütig und unbewegt lauschte er der bitteren Anklage.

»In diesem Testament steht, daß Sie ein Mann aus den Kreisen meines Vaters waren, einer, der alle Tricks kennt, durch die ein vornehmer einfacher Mensch mit einem kindlichen Glauben an Männer wie Sie sich in Versuchung führen läßt.«

Jimmy erwiderte nichts, und das Mädchen fuhr mit beißendem Hohn fort:

»Vor ein paar Tagen haben Sie mir geholfen, aus den Händen von Männern zu entfliehen, die Sie mit hochmütiger Überlegenheit als Diebe und Erpresser vorstellten. Daß Sie es waren, der mir diesen Dienst erwies, werde ich bis an mein Lebensende bedauern. Sie! Sie! Sie ...!« Das Mädchen machte eine verächtliche Handbewegung. »Wenn die andern Diebe waren, was sind dann Sie? Der Spitzel eines Spielhöllenhundes, sein Lockvogel? Ein Aasgeier, der die Schwächen seiner unglücklichen Mitmenschen ausbeutet?«

Sie wandte sich an Connor.

»Hätte mir dieser Mann seine Hilfe angeboten – ich hätte sie vielleicht angenommen. Hätte er mir angeboten, seinen Anspruch auf das Geld aufzugeben –, sein Edelmut hätte mir vielleicht Eindruck gemacht. Von Ihnen, dem Gott Vorrechte der Geburt und der Erziehung gegeben hat und der sie benützte, um Männer wie meinen Vater in Not und Elend zu stürzen, von Ihnen ist dieses Angebot eine Beleidigung!«

Jimmys Gesicht war totenblaß, aber er rührte sich nicht, nur seine Augen brannten, und die Hand, die über den Bart strich, zuckte nervös.

Müde wandte sich das Mädchen zu Engel. Dieser Ausbruch, die Spannung des ganzen Abends hatten sie erschöpft.

»Würden Sie mich nach Hause bringen, Herr Engel?« fragte sie.

Sie reichte dem Anwalt die Hand, der die Szene interessiert beobachtet hatte, und ohne die zwei Männer zu beachten, wandte sie sich zum Gehen.

Da sprach Jimmy.

»Ich will nicht versuchen, mich zu entschuldigen, Fräulein Kent,« sagte er ruhig; »für mein Leben und meine Handlungen bin ich keinem Mann und keiner Frau verantwortlich. Ihr Verdammungsurteil macht es mir weder leichter noch schwerer, mein Leben zu leben. Ihre Güte hätte vielleicht einen Unterschied gemacht.«

Mit einer Handbewegung suchte er sie zurückzuhalten, denn Kathleen schritt bereits zur Tür.

»Ich habe Ihre Frage wohl überlegt; ich bin einer der Männer, denen Ihr Vater seinen Ruin verdankte, insofern ich zu Reales Helfershelfern gehörte. Ich bin nicht einer dieser Männer, insofern ich mich aufs äußerste bemüht habe, Ihren Vater von dem gefährlichen Spiel, das er spielte, abzubringen.«

Eine bestimmte Erinnerung schien ihn zu erheitern, denn ein grimmiges, kleines Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht.

»Sie sagen, ich hätte Ihren Vater verraten,« fuhr er in demselben gelassenen Ton fort. »Tatsächlich habe ich Reale verraten. Ich nahm mir die Mühe, Ihrem Vater das Geheimnis von Reales elektrischem Roulette-Tisch zu erklären; ich machte ihm klar, wie sinnlos es sei, auch nur noch einen einzigen Pfennig zu riskieren.« Er lachte. »Ich habe gesagt, ich wollte mich nicht entschuldigen, und nun verteidige ich mich wie ein kleiner Junge: bitte schön, ich bin es nicht gewesen,« sagte er ein wenig ungeduldig; und dann fügte er unvermittelt hinzu: »Ich will Sie nicht länger aufhalten,« und trat zurück.

Er hatte das bestimmte Gefühl, daß sie einen Augenblick zögerte und nach einer Antwort suchte, dann hörte er das Rascheln ihres Kleides und wußte, daß sie gegangen war. Er blickte hinauf zu dem gemeißelten Stein, der Reales Asche deckte, bis ihre Schritte verklungen waren und die Stimme des Anwalts das Schweigen brach.

»Nun, Sir James –,« begann dieser, aber mit einem Fluch fuhr Jimmy herum, das Gesicht weiß vor Leidenschaft.

»Jimmy,« sagte er heiser, »Jimmy ist mein Name, und ich wünsche keinen anderen zu hören, bitte.«

Obgleich Herr Spedding die seltsamen Launen der Menschen kannte, war er ein wenig bestürzt über die Wirkung seiner Worte und beeilte sich, seinen Fehler wieder gutzumachen.

»Ich – ich bitte um Verzeihung,« sagte er rasch. »Ich wollte nur sagen –«

Jimmy wartete nicht ab, was er sagen wollte, sondern wandte sich an Connor.

»Mit dir habe ich noch ein paar Worte zu reden,« sagte er. Seine Stimme hatte ihr Gleichgewicht wiedergewonnen, aber es lag etwas Drohendes in ihrer Ruhe.

»Als ich Engel zuredete, dich entwischen zu lassen an dem Abend, als die ›Stadtbande‹ verhaftet wurde, da hoffte ich, ich könnte dich dazu bestimmen, das Geld Fräulein Kent zu überlassen, wenn das Wort sich gefunden hätte. In meinem innersten Herzen wußte ich, daß es eine vergebliche Hoffnung war,« fuhr er fort, »daß deine Natur kein Körnchen Gold enthält. Du bist eben ein Biest durch und durch.«

Ein paar Minuten ging er in der Halle auf und ab, dann blieb er stehen.

»Connor,« sagte er plötzlich, »neulich abends wolltest du mir ans Leben. Ich hätte Lust, dir Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Mühe dich ruhig ab, das Wort herauszuknobeln, das den Safe öffnet. Krieg es heraus mit allen Mitteln, stiehl es, kaufe es, tu, was du willst. Aber an dem Tag, an dem du den Schlüssel zu Reales Schätzen entdeckst, schlag ich dich tot.«

Er sprach wie ein Mann, der ein ganz einfaches Geschäft vorschlägt, und der Jurist, der in seiner frühen Jugend einen gewichtigen kleinen Aufsatz über ›Der geborene Verbrecher‹ geschrieben hatte, riß – wenn auch höchst anständig – vor Staunen Mund, Augen und Ohren auf.

Jimmy nahm Hut und Mantel vom Stuhl und ging langsam aus der Halle.

Im Vestibül, wo der eine Schutzmann sich aufgehalten hatte, standen jetzt deren sechs. Es waren lauter Unteroffiziere, die, wie aus ihren Medaillen ersichtlich war, den Krieg mitgemacht hatten. Jimmy bemerkte, daß jeder einen Gürtel um den Leib trug, von dem das Revolverfutteral schwer herabhing; er billigte die Vorsichtsmaßregeln des Anwalts.

»Nachtwache, Herr Hauptwachtmeister?« fragte er einen, dessen eingestickte Krone auf dem Ärmel seinen Rang bezeichnete.

»Tag- und Nachtwache, Herr,« erwiderte der Beamte ruhig.

»Gut,« sagte Jimmy und trat auf die Straße hinaus.

Jetzt waren nur noch der Anwalt und Connor zurückgeblieben; als Jimmy gegangen war, rüsteten auch sie zum Aufbruch.

Der Jurist empfand ein gelindes Interesse für den großen schwerfälligen Verbrecher an seiner Seite; er gehörte zu dem nicht seltenen Typ des stiernackigen Desperados.

»Kann ich Ihnen noch irgend etwas erklären?« fragte Spedding, als sie nebeneinander im Vestibül standen.

Connors Blick fiel auf die Wache; er runzelte die Stirn.

»Sie haben nicht viel Vertrauen zu uns,« sagte er.

»Überhaupt keines,« antwortete der Anwalt.


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