Edgar Wallace
Ein gerissener Kerl
Edgar Wallace

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20

Um neun Uhr abends, als Tony gerade überlegte, ob er in seinen Klub gehen sollte, wo er sicher einige Herren treffen würde, die an der letzten Entwicklung des Markts beteiligt waren, oder ob er nach Ascot fahren sollte, klingelte das Telefon. Der Diener ging nicht an den Apparat. Er war ein ziemlich fauler Bursche und grollte wegen der erhaltenen Kündigung. Tony nahm den Hörer ab und vernahm nach einer kleinen Weile wie aus weiter Ferne Elks Stimme.

»Ich habe Sie schon in Ihrem Landhaus angerufen – hat mich neun Pence gekostet. Wenn ich ›mich‹ sage, meine ich die Regierung. Können Sie sofort hierherkommen?«

»Wo sind Sie?« fragte Tony.

»In Woolwich.« Er gab die Adresse an. »Und, Mr. Braid, halten Sie es für möglich, die junge Dame mitzubringen?«

»Lady Frensham?« rief Tony überrascht.

»Ja. Sie ist mir wichtiger als Sie.

»Was ist denn los?«

Offenbar überlegte Elk die Antwort.

»Es handelt sich um die Feststellung einer Identität. Man hat einen Rock gefunden. Ich würde sie nicht belästigen, doch es ist ziemlich wichtig.«

»Aber wie um alles in der Welt soll sie einen Rock wiedererkennen?«

»Das werde ich Ihnen sagen, wenn Sie hier sind. Mein Kollege hier hat Reef angerufen. Doch zum Glück für alle Beteiligten war er ausgegangen. Also wollen Sie die Dame mitbringen?«

»Selbstverständlich, wenn es notwendig ist und ich sie erreichen kann.«

»Und, Mr. Braid, was ich noch sagen wollte, hier regnet es. Kommen Sie also nicht in Ihrem Zweisitzer. Ich hoffe stark, Sie werden mich in die Stadt zurückbringen, und ich hasse die Hockerei auf dem Notsitz. Sie tun mir einen persönlichen Gefallen, wenn Sie im Rolls-Royce kommen, dem großen roten; ich meine den, in dem Sie immer eine silberne Zigarrenkiste unter dem Sitz hatten.«

»Ich werde im Rolls-Royce kommen und die Zigarrenkiste mitbringen und werde zusehen, daß sie auch gefüllt ist, Sie alter Schnorrer.«

»Was sagen Sie da, Mr. Braid?« fragte Elk mit ängstlicher Stimme. »Schnorr – was? Ah, jetzt verstehe ich! Wenn die Coronas für die Kiste zu groß sein sollten, legen Sie sie ins Gepäcknetz.«

Sobald er eingehängt hatte, läutete Tony Ursula an und teilte ihr Elks Wunsch mit.

»Wozu er Sie braucht, weiß der Himmel. Jedenfalls machte er es sehr dringlich. Haben Sie Lust, einen Ausflug in die Wildnis von Woolwich zu unternehmen?«

»Mit Wonne«, rief sie. »Ich werde in meinem Wagen . . .«

»Nein, ich komme in meinem«, widersprach Tony. »Elk wünscht absolut meinen Rolls-Royce.«

Sie erwartete ihn in Hut und Mantel. Der Regen aus Woolwich hatte West-London erreicht, als sie abfuhren. Den größten Teil des Weges sausten sie durch einen wütenden Sturm, der sich am heftigsten austobte, als sie Blackheath erreichten.

Sie hatte Braid seit Guelders Besuch nicht gesehen und erzählte ihm jetzt davon. Zu ihrem Erstaunen war Tony über die Gaunerei des Holländers nicht erzürnt.

»Diese Schlamperei, dieses Hin- und Herschieben der Aktien scheint wirklich Tatsache zu sein«, bestätigte er. »Ihr armer Vater war der argloseste Geschäftsmann, der jemals gezwungen war, eine Gesellschaft zu leiten. Wenn es zum Prozeß käme, würde es uns verflixt schwerfallen, zu beweisen, daß Ihre zweihunderttausend Aktien nicht irgend jemand anderem gehören. Die Zessionsbücher sind miserabel geführt. Ganze Bündel Aktien standen bis zum Schluß noch auf Reefs Namen. Im Grunde bin ich an diesem Besuch Mr. Guelders bei Ihnen schuld. Ich fand eine Anzahl Aktien, die nicht ordnungsgemäß zediert waren, und schickte die notwendigen Papiere an Julian. Daraus entstand der arglistige Plan.«

»Er flößt mir Angst ein, Tony – nein, nein, nicht Julian. Der ist mir so verächtlich, daß er überhaupt nicht mehr zählt. Ich meine Guelder! Ich kann Ihnen nicht beschreiben, wie gemein er ist – nicht in seinen Worten und Handlungen, sondern in seinen Augen.«

Er fühlte den Schauder, der sie schüttelte, und suchte und fand ihre Hand im Dunkeln.

»Greenwich wird um Guelder trauern, wenn er Sie noch einmal besucht«, knurrte er. »Ich werde nächstens mal ein kleines Privatgespräch mit ihm führen.«

»Ich benehme mich albern«, wehrte sie.

Er schob das Fenster zum Fahrer zur Seite, um ihm die Richtung anzugeben. Sie hatten Woolwich erreicht. Und obwohl Elk ihm die Gegend sehr ausführlich beschrieben hatte, fuhren sie doch eine Weile kreuz und quer, bis sie die kleine, einsame Straße mit der Baracke fanden.

Elk stand, gegen den Regen geschützt, im Torweg neben einem Polizisten in glänzendem Wettermantel.

»Tut mir leid, Sie bei diesem Sauwetter herauszulotsen, Lady Frensham, noch dazu in so einer albernen Hehlersache. Ist der Schiffer angekommen?«

Er stellte die Frage an eine in der Dunkelheit unsichtbare Person, und eine Stimme bejahte.

»Bitte, hier entlang, Lady Frensham – achten Sie auf die Stufe!«

Er leuchtete ihnen mit seiner Taschenlampe, und sie durchschritten einen kurzen Gang, in dem es feucht und moderig roch. Am Ende dieses Ganges öffnete er eine Tür. Ursula sah ein Zimmer, das von drei gelben, düsteren Lampen erleuchtet war, die von den Balken der Decke herabhingen und gerade genug Helligkeit verbreiteten, um einen hoffnungslosen Wirrwarr zu bescheinen. Da gab es Bretter und Regale, die mit Packen aller Art vollgehäuft waren; gewaltige leinwandumhüllte Ballen versperrten den Weg. Selbst an den dunklen Balken hingen formlose Bündel.

»Vorsicht!«

Elk nahm ihren Arm und führte sie durch den Wirrwarr hindurch in ein kleines Büro am anderen Ende des Raumes. Hier war die Beleuchtung etwas besser.

Ein altmodisches Schreibpult mit Rolldeckel, ein viereckiger Tisch und ein Stuhl bildeten die Einrichtung. An der Wand hingen ein verjährter Kalender und einige alte, verstaubte Regale, die mit zerrissenen Papieren und zerbrochenen Büroutensilien überladen waren.

Auf dem Tisch lag ein dunkler Mantel. Tony wußte sofort, daß dieses Kleidungsstück Veranlassung war zu ihrem nächtlichen Ausflug nach Woolwich.

»Ich will Ihnen keine lange Geschichte über diesen Weldin erzählen«, sagte Elk. »Es ist auch gar nicht meine, sondern Inspektor Frames Sache.«

Er nickte einem großen, gutaussehenden Mann zu, der ihnen in das Büro gefolgt war. »Frame bearbeitet diesen Fall. Wollen Sie bitte den Schiffer herbringen.«

Inspektor Frame verschwand und kam sehr bald mit einem untersetzten Mann mit wettergegerbtem Gesicht und grauem Haarschopf zurück.

»Warten Sie, bitte, noch einen Augenblick draußen, Schiffer«, rief Elk, und der Mann ging wieder hinaus.

»Die Sache ist nämlich die: wir fanden den Mantel – oder vielmehr der Kollege fand ihn – unter anderem Plunder und durchsuchte ihn, ob wir nicht zufällig den Eigentümer feststellen könnten. Das fanden wir im Nu: sein Name steht mit der Schneiderfirma auf der Innenseite der Tasche. Es ist ein gemeinsamer guter Freund.«

»Ich glaube, ich kenne ihn«, rief Tony.

»Darauf kommen wir gleich«, bedeutete Elk. »Wir riefen den Herrn an –«

»Julian Reef?« fragte Braid.

»Mr. Julian Reef, ja. Er war nicht zu Hause. Dann stellten wir fest, daß der Mantel regelrecht von Weldin gekauft und von dem ollen, ehrlichen Seemann da draußen verkauft worden ist. Die Buchung war ordnungsgemäß eingetragen. So, rufen Sie jetzt den Schiffer!«

Der Mann erschien wieder, ziemlich kopfscheu bei dem Gedanken, daß er in irgendeiner unheimlichen Weise in ein Verbrechen verwickelt sein könnte.

»Na, mein Lieber, nun spinnen Sie mal Ihr Garn«, forderte Elk ihn auf.

»Wie ich Ihnen schon vorhin sagte, Sir«, begann der Schiffer mit einer tiefen, brummigen Stimme, »es ist wohl eine Woche oder so was her, da kam ich den Fluß mit der ›Polly Ann‹ herauf, die leer war. Wir hatten eine Ladung Ziegel nach Kingston gebracht. Wir wurden von einem Schlepper stromauf gezogen, und ich war gerade vorne im Steven – ich muß schon zugeben, daß ich fast döste, weil ich die Nacht vorher doch nur vier Stunden geschlafen hatte. Der Schlepperführer ließ die Sirene heulen, gerade, als wir unter der Westminster-Brücke durchfuhren – ich glaube, da war ein Boot im Weg –, und das hat mich aufgeweckt, obwohl ich ruhig hätte schlafen können, weil wir doch an ein anderes Schiff vertäut waren. Wir kommen nun unter der Brücke durch, und wie wir gerade 'raus sind, fällt mir was auf den Kopf. Ich wundere mich und denke, mein Gehilfe erlaubt sich einen schlechten Scherz mit mir, aber wie ich's 'runterziehe, ist niemand in Sicht, außer dem Mann auf dem anderen Schiff. Da war mir klar, daß es einer von der Westminster-Brücke 'runtergeschmissen haben mußte. Es war der Mantel da. Ich wußte nicht, was ich damit anfangen sollte. Ich bin viel zu groß, so'n Ding zu tragen. So verkaufte ich ihn nach meiner nächsten Reise an Zonnerheim in der Artilleriestraße.«

»Das ist ein anderer Name für Weldin. Er hatte eine Menge Sammelplätze«, erklärte Elk. Dann wandte er sich an den Schiffer: »Danke, Herr Seemann, die Polizei glaubt Ihnen ihre Geschichte. Inspektor Frame hat Ihre Adresse, wenn er Sie noch brauchen sollte.«

Der Mann schien froh, daß das lästige Verhör zu Ende war.

»Eine sehr interessante Geschichte«, sagte Tony, »aber ich begreife nicht recht, wozu Sie uns hierhergelockt haben, Elk. Ich kann Julian Reefs Kleidung durchaus nicht wiedererkennen und bin sicher, daß Lady Frensham noch weniger dazu imstande ist.«

Sie war aber offenbar doch dazu imstande.

»Ich kenne den Mantel. Ich habe Julian darin gesehen«, sagte sie und nahm das Kleidungsstück in die Hand. Es war ein dunkler Sergemantel, sehr leicht, ein Mantel, wie man ihn über dem Frack trägt. Das Futter war aus Seide, und Tonys erfahrenes Auge stellte sofort fest, daß er fast neu war.

»Zeigen Sie den Herrschaften das Papier, Frame«, gebot Elk.

Mr. Frame entnahm seiner Tasche einen Bogen dünnes Papier und breitete ihn auf dem Tisch aus. Er war offenbar arg zerknüllt worden, zusammengeballt. Anderthalb Zeilen Schrift standen darauf.

»Lesen Sie!« sagte Elk. Tony beugte sich darüber und las:

Seit Jahren habe ich mich in törichte Spekulationen eingelassen. Ich bekenne . . .

Tony überlegte. Die Worte schienen ihm bekannt.

»Nun?« fragte Elk und beobachtete sein Gesicht.

»Darf ich es auch sehen?« fragte Ursula.

Elk reichte ihr das Papier. Ihre Lippen öffneten sich vor Bestürzung.

»Das ist doch . . .«

Sie beendigte den Satz nicht, blickte in wachsender Erregung von einem zum andern.

»Stimmt.« Elk nickte.

»Das ist doch das, was Vater schrieb, ehe – ehe –«

Plötzlich durchzuckte Tony die Erkenntnis. Das waren ja die Worte, die man auf dem Schriftstück neben der Leiche Frenshams gefunden hatte.

»Erkennen Sie die Handschrift, Lady Frensham?«

Sie schwieg. Sie kannte die Handschrift nur zu gut.

»Kennen Sie sie nicht?«

Ihre Lippen zitterten.

»Ich weiß nicht, ich möchte mich nicht äußern. Was bedeutet das? Bitte, wollen Sie mir sagen, was davon abhängt, wenn ich diese Handschrift wiedererkenne?«

»Nicht viel«, erklärte Elk zu ihrer großen Erleichterung.

»Es gibt Leute genug, die sie erkennen werden. Wie ist's mit Ihnen zum Beispiel, Mr. Braid?«

Tony betrachtete sie noch einmal.

»Ja«, sagte er gelassen, »es ist Julian Reefs Handschrift.«

Wieder nickte Elk.

»Das dachte ich mir. Merkwürdig, die ersten Worte seiner Beichte . . . Dieselben Worte, die Frensham schrieb, aber in anderer Handschrift. Wie erklären Sie sich das, Braid?«

Tony schüttelte den Kopf.

»Gar nicht«, sagte er. »Es ist erschütternd.«

»Mich erschüttert es durchaus nicht«, bekannte Elk. Er nahm das Papier, faltete es zusammen und versenkte es in seine Tasche. »Das werde ich für Scotland Yard aufheben. Wir sind ja ganz wild auf Kuriositäten . . . Wir eröffnen nächstens 'ne kleine Ausstellung. Werde Ihnen eine Empfangsbescheinigung geben, Inspektor. Es gehört ja eigentlich nicht zu diesem Fall, sondern zu einem anderen. Ich werde auch den Mantel behalten. Er scheint mir ziemlich wichtig. Kann ich wohl einen Bogen Packpapier haben, um ihn einzuwickeln?«

Auf dem Rückweg saß Elk bei dem Chauffeur. Die Scheibe war beiseite geschoben, so daß er sich mit Ursula und Braid unterhalten konnte.

»Das Leben ist voller Zufälle«, sann er vor sich hin, schwelgerisch an der langen Zigarre ziehend, die er als seinen Tribut erhalten hatte. »Wenn man diese Dinge in einem Buch schildern wollte, würde sie kein Mensch glauben. Der Fall Weldin wächst sich aus, aber er hat nichts mit dem verstorbenen Lord Frensham zu tun. Und doch haben wir hier ein Faktum gefunden, das damit sehr viel zu tun hat.« Er hob triumphierend den Mantel. »Und jetzt sitzt ein Schiffer zu Hause am Busen seiner Familie und erzählt seinem dicken Weib – ich möchte wetten, daß sie dick ist –, wie ihn die Polizei geschunden hat wegen eines blöden, alten Mantels. Hätte er nicht in Kingston Ziegel abgeliefert, wäre der Mantel jetzt nicht in diesem Wagen.«

»Was beweist der Mantel und dieses Papier? Ich verstehe es nicht recht«, fragte Ursula.

Elk war wenig mitteilsam.

»Alles hat etwas zu bedeuten«, orakelte Elk. Dann wandte er sich an Tony.

»Haben Sie etwas dagegen, wenn wir über Greenwich zurückfahren? Es ist zwar nicht gerade der beste Weg, aber ich habe eine Idee. Möchten Sie gern Detektiv sein, Lady Frensham?«

»Nicht um die Welt!« lehnte sie heftig ab.

Ihre Antwort bereitete Elk viel Vergnügen. Er lachte lange in sich hinein.

»Wollen Sie heute abend einer sein? Ich wollte mir nur mal Mr. Guelders trautes Heim begucken.«

»Wohnt er in Greenwich?« fragte sie.

»Ja. Und Greenwich ist ein sehr hübscher Ort«, lobte Elk zur allgemeinen Überraschung. »Ich bin dort geboren. Ich bin der einzige Mensch, der jemals in Greenwich geboren wurde, soviel ich weiß. Jedenfalls habe ich noch nie einen zweiten getroffen.«

Immer wieder gab er dem Fahrer neue Anweisungen. Sie hatten die Hauptstraße verlassen und tasteten sich durch ein Labyrinth kleiner Gassen, sich immer rechts haltend.

»Da ist der Fluß.« Elk zeigte zwischen zwei hohen Häusern durch. Irgendwo draußen im Regen schimmerte ein rotes Licht.

»Ein Schiff«, sagte Elk kurz. »Es liegt vor Anker dort, wartet auf die Flut. Müssen hier sehr vorsichtig sein, am Millwall-Tunnel.«

Sie machten jetzt einen ziemlich weiten Umweg und kamen wieder auf die Hauptstraße zurück. Tony begriff nicht, wozu der Detektiv sie so sinnlos umherkutschierte. Doch Elk gab keine Erklärungen. Er machte oft etwas derart Unverständliches, das völlig zwecklos schien.

Er besuchte leidenschaftlich gern altvertraute Gegenden, gestand er endlich. Erst viel später erfuhr Tony, daß der Detektiv aus höchst sentimentalen Gründen den Umweg gemacht hatte. – Er wollte an dem Haus vorüberfahren, in dem er geboren war. Er hatte es fünfunddreißig Jahre nicht gesehen.

 


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