Edgar Wallace
Ein gerissener Kerl
Edgar Wallace

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5

Nicht durch das leiseste Zucken eines Muskels verriet Julian Reef seine Bestürzung. Er blickte Lord Frensham gelassen an. Sein Gehirn arbeitete emsig. Vor drei Jahren hatte Frensham mündelsichere Aktien im Wert von sechzigtausend Pfund bei ihm hinterlegt. Von den ursprünglichen Stücken war nicht ein einziges Stück mehr vorhanden. Eins nach dem andern war verkauft worden, um dringende Verpflichtungen des jungen Finanzmannes zu erledigen, und war durch Aktien seiner eigenen Gesellschaften ersetzt worden, die nur den Makulaturwert besaßen. Pünktlich auf die Minute hatte er aus seiner eigenen Tasche die halbjährlichen Dividenden auf die alten, längst verschleuderten Aktien des Lord Frensham bezahlt.

»Ist das dein Ernst?« fragte er, äußerlich vollkommen ruhig. »Ich bin, offen gesagt, ein bißchen überrascht. Es scheint wirklich, als sei es dem ›gerissenen Kerl‹ gelungen, dich mit seinen schmutzigen Verdächtigungen zu beeinflussen. Natürlich, wenn du die Aktien haben willst, werde ich sofort die Bank anweisen und sie dir zusenden lassen.«

»Es handelt sich hier durchaus nicht um einen Verdacht«, erwiderte Lord Frensham gequält, »die Sache liegt nur so, mein lieber Julian: meine Geschäfte sind in einer solchen Unordnung, daß ich wenigstens Ursula gesichert sehen möchte. Vielleicht hältst du mich für kindisch, aber es ist nun einmal so. Die Aktien liegen auf deiner Bank. Vielleicht könnte ich im Vorbeigehen . . .«

»Das ist nicht möglich«, erwiderte Julian kühl. »Ich will über deine Maßnahme nichts weitersagen, Onkel John, aber ich darf wohl darauf hinweisen, daß es meinem Kredit nicht gerade förderlich wäre, wenn du mit einer Vollmacht bei meiner Bank vorsprichst und die Aktien abhebst, die ich verwalte. Es ist für die Bank kein Geheimnis, daß ich Ursulas Vermögen in Obhut habe. Es scheint mir zweckmäßig, wenn ich diese Anstalten selbst treffe. Warum hast du deine Ansicht geändert?«

Frensham blickte an ihm vorbei und rieb sich verlegen die Finger. »Ich will dir gegenüber ganz offen sein, Julian. Du erinnerst dich: in dem Vermögen waren siebenhundert ›Blueberg-Goldminen-Syndikat‹. Sir George Crater, der die Blueberg leitet und ein alter Freund von mir ist . . . nun, er rief mich vorhin an und fragte mich, warum ich die Bluebergs verkauft hätte. Machte mir Vorwürfe, weil sie seit dem Verkauf um Pfunde gestiegen sind. Ich hatte keine Ahnung, daß wir verkauft haben.«

Julian lächelte gequält. »Ich sehe«, sagte er, »du mißtraust mir« Und als der Lord widersprechen wollte, verwies er ihn mit einer schmerzlichen Geste zur Ruhe. »Natürlich habe ich die Bluebergs verkauft. Ich habe nie ein Geheimnis daraus gemacht. Ich habe dafür Westafrikaner gekauft, die fabelhaft gestiegen sind und eine glänzende Dividende zahlen. Ist ja Pech, daß die Bluebergs gestiegen, sind, aber das konnte ich nicht voraussehen.«

Lord Frensham wurde schwach. Sehr schlau verfolgte Julian seinen Vorteil.

»Noch niemals hat mich etwas so mitgenommen wie dein Argwohn. Ich bin einfach fassungslos. Ganz ohne Zweifel hat dich dieser Lümmel beeinflußt.«

Frensham wollte sprechen, aber Reef machte ein beschwichtigende Bewegung und sprach weiter.

»Das Gift dieses Burschen wirkt in dir.«

Frensham schüttelte matt den Kopf. »Wenn du mit diesem ›Lümmel‹ Tony Braid meinst, täuschst du dich, Julian«, unterbrach er hastig. »Ich lasse mich nicht von einem Mann beeinflussen, dem ich mein Haus verboten habe. Ich denke lediglich an Ursula. Ich bin selbst in arger Bedrängnis. Ich habe eben nicht das Zeug zum Finanzmann. Und dieser Aktiensturz in Lulanga-Öl gibt mir den Rest.«

»Heute an der Börse waren sie höher – das weißt du wohl schon?«

Lord Frensham nickte. »Ich habe es aus der Zeitung ersehen. Doch nur ganz wenig. Sie müßten um ein Pfund steigen, damit ich aus meinen Sorgen herauskomme.«

Julian blickte ihn prüfend an. »Was hast du denn noch für Sorgen? Ich kenn sie doch alle? Oder nicht?«

Frensham antwortete nicht gleich. Julian, der ihn scharf beobachtete, sah, wie er mit sich rang.

»Nein«, sagte er endlich, »ich habe mich in anderen Märkten engagiert. Ich habe dir natürlich nichts gesagt, weil ich mich nicht lächerlich machen wollte, wenn ich verlor, und ein wenig unabhängig werden wollte, wenn ich gewann. Ich habe verloren. Wann ist Zahltag?«

»Morgen«, sagte Julian. Er kannte die Zahltage! Frensham stand auf und schritt im Zimmer auf und ab, das Kinn auf die Brust gesenkt, die Hände im Rücken verschränkt. Julian Reef wartete, völlig unvorbereitet auf das, was kam.

»Ich muß es dir wohl sagen«, begann Frensham, »nach meinen großen und gewaltigen Worten über Ursulas Geld wirst du mich für den elendsten Heuchler halten. Nicht, was Tony Braid sagte, nicht, was man mir über die Bluebergs berichtete, etwas ganz anderes hat mich hierhergeführt. Eines Tages wird Ursula eine sehr reiche Frau sein – das weißt du nicht, aber es ist Tatsache. Sie hat da einen etwas verwickelten Anspruch auf ein sehr großes Vermögen, und Ursulas vorhandenes Vermögen brauche ich jetzt für mich. Ich bin nun so weit, daß ich ihre Aktien bei meiner Bank verpfänden muß. Ich habe mein Konto überzogen!«

Julians Lippen spitzten sich, als wollte er pfeifen. Doch kein Laut kam. »So schlimm steht's?« fragte er sanft.

»Du kannst mir wohl nicht helfen?« Frensham blickte den Neffen beschwörend an.

Julian schüttelte den Kopf. »Du triffst mich gerade in einer üblen Situation. Ich habe ein Geschäft, das mir wahrscheinlich Millionen eintragen wird, aber es wird sich kaum vor einigen Monaten realisieren. Augenblicklich bin ich verflucht knapp.«

Lord Frensham wanderte ruhelos auf und nieder.

»Ich kenne niemanden, an den ich mich wenden könnte. Ursula würde es sicher tun. Wenn ich sie bäte, würde sie gewiß sofort einwilligen.«

»Warum tust du's nicht?« entfuhr es Julian.

»Weil sie nichts davon erfahren soll.«

Plötzlich blieb er stehen und überlegte finster: »Einen Mann gibt es, der mir das Geld borgen würde. Aber den kann ich natürlich nicht bitten.«

Der junge Mann mit dem roten Gesicht lächelte jetzt nicht mehr. »Du denkst an Tony Braid? So ziemlich der letzte, der dir helfen würde. Hart wie Stein ist der Kerl. Und dann kannst du dir wohl denken, daß du den Preis nicht zahlen könntest, den er fordern würde.«

»Welchen Preis?« fragte Frensham rasch.

Julian lächelte schonungslos. »Überrascht es dich sehr, wenn ich dir sage, daß der betagte Mr. Braid sich auf Ursula Hoffnungen macht?«

»Das hast du schon einmal gesagt«, wies ihn Lord Frensham zurecht. »Rede keinen Unsinn. Übrigens ist er nicht betagt, obwohl er alt genug ist, Ursulas Vater zu sein.«

»Kaum!« In einer ungewöhnlich großmütigen Laune stellte Julian dies fest. »Nein, er ist nicht alt genug, ihr Vater zu sein. Er hat gerade das richtige Alter, ihr Mann zu werden.«

Frensham schwieg, ging zum Fenster und starrte auf die belebte Straße hinab. Nach einer Weile fragte er, ohne sich umzuwenden: »Du glaubst, er hat schon mit ihr gesprochen? – Ach, Unsinn!« Er wandte sich rasch ins Zimmer zurück. »Du siehst also, wie die Sache liegt. Ich muß bis morgen früh Ursulas Aktien haben. Das beste ist, du läßt sie meiner Bank direkt zugehen.«

Julian nickte und hielt die Augen fest und unerschütterlich auf den Oheim gerichtet. »Hast du keine anderen Möglichkeiten – gar keine?« fragte er. Er glaubte dem Alten nicht, grollte ihm und seiner Geldverlegenheit, hatte irgendwie das Empfinden, daß Frensham ihm einen bösen Streich spielen wolle.

»Ich sage dir doch, ich habe verloren und verloren und immer wieder verloren«, brach der Lord gereizt los. Er strich mit den Fingern durch sein unordentliches, graues Haar und stand über den Neffen gebeugt. Es sah aus wie eine Drohung. Julian Reef wußte, daß der alte Mann sich selbst, seiner Doppelzüngigkeit, seiner Schwäche, seinem Verrat an der so geliebten Tochter zürnte.

»Ja«, sagte Frensham langsam, »es bleibt nichts anderes übrig. Braid ist unmöglich. Ich kann mich nicht der Blamage einer Ablehnung aussetzen. Nein, der andere Weg ist schon der bessere. Die Kurse steigen. Ich werde ein Paket Lulanga abstoßen können, dann werde ich etwas Luft haben. Schick die Aktien an – nein, nicht an meine Bank. In mein Büro. Wenn ich sie morgen früh habe, genügt es.«

Mit kurzem Gruß verließ er das Zimmer.

Julian saß lange regungslos, dann streckte er langsam die Hand aus und drückte auf einen Klingelknopf. Rex Guelder streckte den Kopf zur Tür herein und glitt ins Büro.

»Hier ist etwas faul – ich rieche es«, sagte er. »Was ist los?«

»Er wollte Ursulas Aktien haben – weiter nichts.«

Des Holländers Gesicht erheiterte sich zusehends.

»So 'ne Bagatelle!« rief er sarkastisch. »Und wie hast du es dem guten Onkel beigebracht? Gar nicht natürlich; denn sonst hätte er sich nicht so sanftmütig fortgetrollt. Die herrliche Ursula!«

Er leckte sich mit einer Grimasse die dicken Lippen. Doch Julian merkte Guelders Begeisterung nicht, er saß da, biß sich die Nägel und stierte düster vor sich nieder.

»Wenn dein Plan nicht bald Wirklichkeit wird, sitzen wir fest! Dann werden nicht nur mein wackerer Onkel Frensham und die liebe Kusine Ursula, sondern auch noch einige andere vertrauensvolle Herrschaften einen höllischen Lärm schlagen, wenn sich herausstellt, daß die famosen Aktien, die wir verwalten, längst futsch sind. Mensch, das wird ein glücklicher Tag, an dem deine verflixte Maschine endlich arbeitet!«

»Allerdings«, lachte Guelder und rieb sich die Hände.

»Sei unbesorgt, mein Freund. Ich habe einen erstklassigen Sachverständigen hiergehabt, einen Deutschen aus Dresden. Nur diese Z-Strahlen machen mir noch Kummer. Wenn ich die mal ausgeschieden habe – dann Glückauf!«

Er schnippte gewohnheitsmäßig ekstatisch mit den Fingern. »Greenwich wird mir ein Denkmal errichten – mir, dem größten Mann seiner Zeit!«

Aber der Freund teilte nicht seinen Enthusiasmus.

»Schon gut, schon gut«, winkte er ab, »jetzt kannst du mich mal ein bißchen allein lassen.«

Er saß lange, den Kopf in die Hand gestützt, und malte sinnlose Figuren auf das Löschpapier. Er war selbst für seinen Sekretär nicht zu sprechen. Um fünf Uhr setzte er den Hut auf und ging in Guelders muffiges, kleines Büro hinüber. Der Holländer beobachtete etwas unter einem starken Vergrößerungsglas. Er blickte nur kurz auf.

»Sieh dir das an, mein Freund, gibt es etwas Schöneres?«

Julian betrachtete neugierig den ovalen Opal, der auf einem Wattebausch lag, ein feuriges Etwas, das unter jeder Bewegung seiner Hand die Farbe wechselte: jetzt grün wie die Tiefsee, dann ein flammendes Orange, gleich darauf purpurn, tief- und zartblau; und durch all diese Nuancen hindurch schimmerte ein reines Gold.

Julian legte den Stein nieder.

»Nur ein 15-Karäter«, erläuterte Guelder. »Etwas für den Künstler! Etwas für einen Sammler!«

»Nichts für mich«, lehnte Julian rauh ab. »Ich muß jetzt zu meinem Onkel und ihm alles bekennen.«

Guelder glotzte ihn aus seinen hervorquellenden Augen an. »Du willst ihm sagen . . ., daß das Geld verloren ist? Bist du verrückt?«

Julian zuckte die Achseln. »Was bleibt mir übrig? Morgen muß er es ja doch erfahren. Ich kann es ihm ebensogut heute abend beibringen.«

»Er wird dich umbringen, nein, schlimmer, er wird dich ins Gefängnis bringen!«

»Dann zeige mir gefälligst einen anderen Ausweg!« verlangte Reef.

Des Holländers Gesicht war bei dem Gedanken erbleicht, daß vielleicht alle seine Arbeit und Mühe vergeblich gewesen wären und sein geniales Experiment niemals bis zu seinem logischen Ende durchgeführt werden könnte. Er war entsetzt.

»Alles besser als das«, flüsterte er. »Pump dir Geld, such Braid auf. Er ist reich.«

Aber Julian hörte ihn nicht mehr. Vielleicht würde der Onkel in seiner eigenen Not ihn verstehen. Er würde ihm von dem großen Coup erzählen und von den Millionen, die er ihm bringen mußte. Er ging langsam aus dem Kontor und war so tief in Gedanken, daß er die Queen Victoria Street schon weit hinabgeschritten war, ehe er überhaupt merkte, daß er sein Büro verlassen hatte.

Rex Guelder verließ das Haus erst eine Stunde nach seinem Chef. Er ließ sich vorher die Abendzeitungen kommen und las sie in aller Ruhe, machte sich Notizen in ein schwarzes Heft, das er der inneren Westentasche entnahm. Von der Existenz dieses Notizbuchs hatte Julian keine Ahnung. Nachdem er seine Aufzeichnungen und Berechnungen beendigt hatte, verließ er mit einem Lächeln der Befriedigung das Zimmer. Das Orakel war ihm günstig gewesen. Obwohl er nach Hause gehen wollte, verließ er West End, wohin er zunächst seine Schritte lenkte, doch erst zwei Stunden später.

Er wohnte aus irgendeinem geheimnisvollen Grund weit draußen in Greenwich in einer Seitenstraße am Fluß. Eingekeilt zwischen zwei alte Fabriken, von denen eine nur noch eine Ruine war, stand das verwitterte Haus mit seiner hohen, kahlen Mauer, aus der drei kleine Fenster wie böse Augen auf die elende Straße hinausblickten. Das Erdgeschoß hatte einst als Laden gedient und wurde jetzt nur noch als Garage und Bootshaus benutzt. Guelder selbst hatte es dazu umgebaut. Hier stellte er einen ziemlich scheußlichen Sportwagen unter, auf dem der Schmutz und der Staub von den Fahrten eines ganzen Monats lagen.

Alle vier Wochen wurde der Wagen gewaschen. Doch fast jeden Abend überholte Guelder den Motor mit liebevoller Sorgfalt. Diese Maschine brachte ihn an jedem Wochenende nach Newbury, einem Ort, für den er ein ganz besonderes Interesse hatte.

Es war keine ideale Garage. Von den Wänden rann die Feuchtigkeit. In manchen Nächten kamen die Ratten in Legionen vom Fluß herauf. Einmal hatte er den Ledersitz seines Wagens in Fetzen vorgefunden. Da kaufte er drei weiße Katzen und richtete sie darauf ab, daß immer eine in dem Wagen schlief – ein weißes Gespenst mit großen, grünen Augen, dessen leisester Schrei sofort die beiden anderen herbeilockte.

Im obersten Stock waren die Wohnräume, drei große, öde Zimmer, schlicht möbliert, die auf der Stromseite lagen. Wenn man das große Fenster im Eßzimmer öffnete, blickte man auf das Wrack einer Werft hinab, die von tanggrünen Pfählen getragen wurde. Sie standen schief und winkelig, diese Bohlen, verbogen von dem Gewicht, das früher auf ihnen lastete. Unter dem faulenden und zersplitterten Bodenbelag der Werft lag bei Ebbe der Themseschlamm bloß, bei Flut quirlte dort das braune Wasser des Stroms. Dem Fenster gegenüber wiegten sich für gewöhnlich große deutsche Frachtdampfer vor Anker. Weiter unten, stromabwärts, lagen die großen, hochmastigen Segelschiffe mit ihren gerefften, braunen Segeln und flatternden Wimpeln. Rex Guelder meinte, daß es kaum einen schöneren Anblick geben könnte für einen, der die See und die Seefahrt so liebte wie er.

Er hielt eine Magd, eine vierschrötige Holländerin, eine sehr alte Person. Seit Jahren lebten sie unter dem gleichen Dach und sprachen nur das Allernotwendigste. Den Gutenmorgengruß hatten sie sich längst abgewöhnt. Jeden Ersten zahlte Guelder der alten Frau den Lohn aus, und am selben Tag watschelte sie hinunter zur Post und schickte ihn, bis auf einige Pence, ihrem Enkel nach Utrecht.

Das Wohnzimmer, zugleich Studierstube und Bibliothek, war ein langer Raum, der den hinteren Teil des Hauses einnahm und ein düsteres Fenster hatte, das auf die Straße hinausging. Es war hellgelb gestrichen, nur die Türen, auch die Stahltür, die ins Laboratorium führte, leuchteten purpurn. Der lichte Teppich in der Mitte des Zimmers, die Paneele aus polierter Eiche und einige Rembrandtstiche an der Wand verliehen dem Raum einen Hauch von Wohnlichkeit. Auf dem Tisch stand eine blaue China-Schale voller Rosen und in einem halben Dutzend niedriger Vasen aus Papiermaché blühten üppige Tulpen. Sie blühten jahraus, jahrein. Denn es waren künstliche. Doch sie waren so täuschend nachgemacht, daß man erst, wenn man sie anfaßte, merkte, daß die Kelche aus Glas waren.

Auf dem Teppich stand ein gewaltiger schwarzer, eichener Schreibtisch, an dem Guelder saß. Lange Zeit war er tief versunken in die Betrachtung zweier sehr gewöhnlicher Gegenstände, die er während seines zweistündigen Besuchs in West End erstanden hatte.

Durch ein starkes Vergrößerungsglas betrachtete er sie und grinste, so daß seine unregelmäßigen, weißen Zähne sichtbar wurden. Dann packte er seinen Kauf ein und schloß ihn in einen kleinen Safe, der in einem Winkel des Zimmers stand. Darauf grübelte er lange Zeit vor sich hin, entnahm einer der Schubladen eine Mappe und legte ihren Inhalt so vor sich auf den Tisch, daß er ihn mit Muße betrachten konnte. Es waren Fotografien, die Rex Guelder mit viel Mühe und Scharfsinn erworben hatte; sie bedeuteten ihm viel mehr als nur eine Liebhaberei.

Julian Reef würde wohl verblüfft gewesen sein, und Ursula Frensham hätte es nicht für möglich gehalten, wenn sie diese Bilder gesehen hätte. Es waren nämlich Fotografien von – ihr.

Guelder lehnte sich weit in seinen Sessel zurück, faltete die Hände vor sich auf der Tischplatte und betrachtete die Bilder mit einem andächtigen, verzückten Ausdruck in seinen kleinen, runden Augen. Da schob Freda, die Magd, einen kleinen Teewagen herein. Sie sah die Bilder und kniff die alten Lippen zusammen.

»Das ist ja der größte Wahnsinn!« rief sie und brach ein vierzehntägiges Schweigen. »Wenn ich Sie so sehe, Mijnheer, tut mir das Herz weh. Haben Sie Amsterdam vergessen«, fragte sie bedeutungsvoll, »und Batavia?«

Er hob den Blick nicht von den Bildern.

»Das waren Bauernmädel, Freda, harmlose Vergnügungen eines großen Gelehrten. Willst du ihm diese kleine Freude mißgönnen, alte Vrouw?«

Freda schob einen Stuhl an den kleinen Tisch und zischte: »In Batavia nannten sie es Mord, aber keiner wußte, wer sie ertränkt hatte. In Amsterdam war es Selbstmord, bis der Arzt mit der Polizei sprach und auf die kleine, dünne Schnur an ihrem Hals wies.«

Guelder lächelte, als mache man ihm Komplimente.

»Ach, Freda, du hast ein unangenehmes Gedächtnis!«

Aber er war nicht etwa ärgerlich oder beunruhigt über die Erinnerungen der Magd. Er brauchte es auch nicht zu sein, denn es hatte nie eine Untersuchung, nie einen öffentlichen Skandal gegeben. Der Rektor der Universität, an der er über Chemie las, hatte ihn nur in sein Arbeitszimmer rufen lassen und ihm eröffnet, daß die Universität auf seine Mitwirkung verzichte. Er war ein großer, starker, sentimentaler Mann, der nur gesehen hatte, wie schön Maria selbst noch im Tode war. Er hatte keine Ahnung, welch eine peinliche Last sie hätte werden können.

Und was das batavische Abenteuer anlangte, so wunderte Guelder sich nur, daß überhaupt noch jemand daran dachte.

Die alte Frau war heute abend ungewöhnlich redselig. Er vermutete, sie habe getrunken. Nur der Schnaps machte sie redselig.

»All diese Narretei, alle diese Räder und großen Gefäße und elektrischen Funken – wie soll das enden, Mijnheer Rex? Nichts werden Sie erfinden! Nie werden Sie etwas erfinden. Ewig geht das so weiter. Aber selbst, wenn Sie was entdeckten und Gott weiß wieviel Geld bekämen, es würde doch nur in die Taschen der Buchmacher fließen. Ach! Sie sind ein Narr und ich eine Närrin, leider!«

»Betrunken bist du«, stellte Rex gelassen fest, »ich gebe dir Nahrung und Obdach und das Geld, das du an diesen Taugenichts, deinen Studenten, schickst; denn ohne mich würdest du im Armenhaus verrecken.«

Sie brummte etwas zwischen ihren zahnlosen Kiefern und ging hinaus. Er wußte, jetzt würde sie wieder einen Monat lang schweigen. Im Grunde liebte er es, wenn die alte Freda bisweilen redete. Niemand außer ihr sprach holländisch mit ihm. Wohl gab es Hunderte und Tausende von Holländern in London, doch Rex mied sie, aus Angst, sie könnten ihn argwöhnisch ansehen und von Maria sprechen, die man einst tot im Kanal mit einer Schlinge um den Hals gefunden hatte, die sie, wie er nachwies, sich selbst geknüpft hatte.

Er sammelte die Bilder mit zärtlicher Hand ein, legte sie in die Mappe zurück und schloß sie fort. In ihrer augenblicklichen Stimmung konnte Freda sie leicht verbrennen. Er beendigte sein frugales Mahl, dann schloß er die purpurne Tür auf und trat in das Laboratorium. Es war ein langer Raum mit einem absonderlichen, schiefen Fußboden, der an der einen Seite anstieg und nach der anderen abfiel. Darüber sah man, als er das Licht angedreht hatte, die Balken und die Unterseite der roten Dachziegel. Licht gab es hier genug, denn er verfügte über Starkstrom, der die vielen großen und kleinen Maschinen trieb, mit denen der Arbeitsraum ausgestattet war. Die kleineren standen auf einer Bank, die an der Flußseite der Mauer entlanglief, merkwürdige Apparate, doch dem Elektriker und Physiker wohlvertrautes Handwerkszeug. Sausende Räder, grün umwickelte Drähte, spiralförmige Glastuben, die mit ihrer Quecksilberfüllung an gigantische Thermometer erinnerten. Am äußersten Ende des Zimmers stand auf einer niedrigen, sehr starken Plattform eine Maschine, die nur der Fachmann verstehen konnte. Hier drängte sich ein Chaos von Kondensatoren, Leitungen, seltsamen Glasröhren zusammen, die ein Druck auf einen Taster rot und blau aufglühen ließ. Unter einem keilförmigen Zeiger, der durch schwere Drähte mit verschiedenen Teilen des Apparates verbunden war, befand sich ein Behälter aus schwarzem Achat mit einer kleinen, untertassenförmigen Ausbuchtung in der Mitte.

Guelder zog einen Stuhl an die Bank, schaltete einige Hebel ein und zündete sich, während die Maschine brauste und pulste, gelassen eine Zigarette an. Dann drückte er die dicken Augengläser fester auf die Nase und wiederholte zum hundertstenmal das große Experiment. Über den Gegenstand, den er in den Achatbehälter legte, schoß ein Strom knisternder Funken. Er zog einen anderen Hebel. Ein bleiches, grünes Licht blitzte aus einem fast unsichtbaren Schlitz in einem Stahlwürfel und fiel quer über den Achat.

Er rauchte und rauchte, bis das Zimmer wie in blauem Nebel lag. Dann und wann drehte er die Hebel ab, nahm den Gegenstand mit einer Pinzette hoch und prüfte ihn unter einem Mikroskop. Es war schon fast Mitternacht, als er sich reckte, aufstand und zwei grüne Augen aus dem Dunkel des Laboratoriums auf sich gerichtet sah. Er pfiff. Eine große, weiße Katze kam auf ihn zu, schmiegte sich buckelnd an sein Bein und ließ sich kraulen. Als er ins Wohnzimmer zurückkam, lag die zweite schon auf seinem Stuhl.

Er trank einen tüchtigen Schluck Wasser und ging schlafen. Die beiden weißen Katzen kauerten am Fußende seines Bettes und öffneten ihre leuchtenden, grünen Augen bei dem leisesten Geräusch und Geknister der verfaulenden Paneele des alten Zimmers.

 


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