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Die Begräbnishose

Frau Winkler hatte ihr Matratzenlager auf dem zerschlissenen Läufer des Vorzimmers, knapp an der Tür zum Zimmer Untermüllers aufgeschlagen, um rasch bei der Hand zu sein, wenn der Kranke nachts ihrer bedürfen sollte. Sie hatte für diesen Fall ein Glöckchen auf das Tischchen gestellt, damit er sein altes Krippchen mit den seidebekleideten Wachsfiguren nahe habe. Am Tag der Unschuldigen Kinder erschrak sie morgens darüber, daß sie so gut und so lange geschlafen hatte; vielleicht hatte sie gar das Glöckchen überhört. Sie schlüpfte rasch in den gelben Schlafrock und trat auf den Zehenspitzen ins Krankenzimmer. Das abgedämpfte Licht der Lampe, die am Bett Untermüllers die Nacht über gebrannt hatte, ließ sie sehen, daß der Kranke nicht schlief, sondern mit offenen Augen dalag und ihr zulächelte. Er war mit Kopf und Brust hoch gebettet, um leichter atmen zu können. Nun beteuerte er, gut geschlafen und die Glocke nicht geläutet zu haben. Frau Winkler war beruhigt und übersah, daß sich das Aussehen ihres Zimmerherren geändert hatte. Die roten Flecken an den Backenknochen waren bläulich geworden, ebenso die Lippen. Er war aber guter Laune und neckte sie, während sie die Kopfkissen zurechtrückte, wegen des heute ungewöhnlich langen Schwänzchens, das aus ihrem gelockerten Haarnest baumelte. Sie freute sich darüber:

»Gott sei Dank, Sie sind noch der Alte und heute geht's bedeutend besser. Jetzt tröste ich mich, daß gestern der Doktor mit seiner Injektion ausgeblieben ist. Es geht auch so.«

»Sie glauben also, daß ich noch einmal gesund werde? Sie täuschen sich aber, Mutter Winkler.«

»Sie werden noch lange leben und noch viele schöne Gedichte machen.«

»Nein. Haben Sie nicht bemerkt, daß ich seit einiger Zeit leidlich artig mich benehme? Ich weiß den Tag nicht mehr, wo ich Sie zum letztenmal einen Drachen, eine Beißzange oder ähnlich genannt habe. Wenn ich nicht mehr grob bin, geht's mit dem Lebenskapital zu Ende.«

»Ich hoffe zu Gott, Sie werden mich bald wieder mit Ihren schönen Schimpfnamen erfreuen«, lachte sie, »das wird mir lieber sein, als daß Sie stundenlang so daliegen und kein Wörterl reden«.

»Es hapert ja gewöhnlich mit dem Atem. Dann – ich denke über meine Sünden nach. Und über das Fegefeuer, das mir winkt. Na, das kann schön werden, mein Fegefeuer.«

Er sah zu dem eisernen Öfchen hinüber, in dem Frau Winkler nun Feuer zündete, um für ihn die Frühstücksmilch zu wärmen.

»Gewiß denken Sie auch über Gottes Barmherzigkeit nach«, rief Frau Winkler eifrig herüber. »Sie sind immer ein Mann des christlichen Vertrauens gewesen.«

»Und jetzt sehe ich ein, daß man sein ganzes Leben lang sich immerfort in der Hoffnung üben sollte. Wenn man weiß, man wird bald vor Gottes Gericht stehen – ich sage Ihnen, Frau Winkler, da leidet die Hoffnung eine furchtbare Prüfung. – Bitte, drehen Sie mir da in meinem Kripperl die Mutter Gottes ein wenig, so daß sie mehr zu mir schaut –«

*

Vormittags wurde Frau Winkler zu einer Frau im Hause gerufen, die frisiert werden wollte. Sie warf noch einen Blick auf den Kranken. Es schien ihr, er sei nicht so matt wie gestern. Zwischen Tür und Angel stieß sie mit einem Besuch zusammen, den sie ungern sah. Es war der Schriftsteller Aurel Janowsky.

»Herr Untermüller ist so krank«, beeilte sie sich, »er soll mit niemand sprechen«.

»Ich gehe gleich wieder. Daß er krank ist, weiß ich. Das Angenehme, das ich ihm mitzuteilen habe, wird ihm nicht schaden.«

»Untermüller zuckte ein wenig zusammen, als der Mann mit dem Hobelspänekopf sichtbar wurde, doch erwiderte er nicht unfreundlich den Gruß, der diesmal aus einem heiseren, offenbar kranken Halse kam. Am Bett begann Janowsky mit widerlicher Feierlichkeit:

»Ich komme, lieber Untermüller, im Auftrag des Präsidenten der ›Arche‹, des Regierungsrates von Noë und des gesamten Ausschusses. Man grüßt Sie kollegial und wünscht Ihnen baldigste Genesung.«

»Ich danke, es ist zuviel Ehre für mich. Man führt mich seit Jahren als Mitglied, aber gegen meinen Willen. Ich habe niemals einen Groschen Beitrag bezahlt.«

»Tut nichts. Sie sind Mitglied. Eigentlich hätte Sie der Präsident selbst besuchen wollen, aber er ist selbst krank. Bei einem Rout des schweizerischen Gesandten hat er sich am Büfett eine Quetschung des Thorax zugezogen. Wie geht es Ihnen? Hoffentlich gut. Sie sehen elend aus.«

Der Befragte antwortete nicht gleich. Er nahm zuerst das kleine wächserne Jesuskind aus der Krippe. Das hielt er dann in der hohlen Hand, wie man einen kleinen Vogel zu halten pflegt. »Es geht mir nicht gut«, sagte er dann ruhig.

»Nun, Sie werden als bigotter Christ gegebenenfalls tapfer zu sterben wissen. Tod, wo ist dein Stachel? So heißt es doch?«

Untermüller schwieg und faßte sein Christkindchen etwas fester.

»Wir alle vom Vorstand wünschen Ihnen herzlich, daß Sie wieder gesund werden. Aber, unter uns gesagt, man glaubt nicht daran. Man hat sogar schon jemand zu Ihrem Grabredner bestellt. Wissen Sie wen? Mich, als Ihren besten Freund.«

Schuft! – hätte Untermüller beinahe gesagt, aber er beherrschte sich, war auch in diesem Augenblick atembeklommen. Er sah beharrlich in das runde, winzige Gesicht des Jesuskindes, das mit seinen rosigen Bäckchen und Lippen und mit ein wenig zu großen Glasaugen aus seiner Hand lugte.

»Lieber Untermüller, Sie sind ein gütiger Mensch und dürfen mir als solcher eine Bitte nicht abschlagen.«

»Ich habe nicht einen Knopf Geld«, keuchte es aus dem Bett.

»Wo denken Sie hin! Ich will kein Geld. Es handelt sich darum, daß ich als Grabredner eine schwarze Hose zu haben hätte, aber nicht habe. Sie besitzen eine, das weiß ich. Kann ich sie nicht geliehen bekommen?«

Jetzt fielen Untermüller die schönsten Schimpfwörter ein und saßen heiß auf seiner trockenen Zunge. Aber drüben sah er durch die Risse seines eisernen Öfchens das Feuer brennen und überwand sich, so daß er ruhig antworten konnte:

»Die schwarze Hose ist mir gerade an meinem Begräbnistag unentbehrlich, denn ich habe sonst keine anständige, weder eine schwarze noch sonst eine. Oder soll ich in Unterhosen im Sarg liegen?«

Janowsky bat weiter, erhielt aber keine Antwort. Er sah, wie das Gesicht des Kranken einfiel und der Mund ganz schmal wurde. Ärgerlich erhob er sich, zündete eine Zigarette an und setzte sich an den wackeligen Schreibtisch. Es war ihm eingefallen, er könne jetzt den Nekrolog für Untermüller verfassen, um ihn gegebenenfalls einer Zeitung anzubieten. Schreibzeug und Papier waren vorhanden und so schrieb er. Untermüller störte ihn nicht. Er war mäuschenstill.

Der Nekrolog war fertig, nur einige biographische Daten waren nachzuholen. Janowsky trat mit der Feder in der Hand ans Bett:

»Wann sind Sie eigentlich – genau – geboren?«

Keine Antwort. Aus dem lächelnden Antlitz Untermüllers sahen die glasigen Augen starr auf das Häuptchen des wächsernen Jesuskindes in der linken Hand. Janowsky begriff, daß Untermüller gestorben war. Ziemlich erschrocken wollte er erst fliehen. Dann besann er sich, öffnete den Kleiderschrank und entnahm ihm die schwarze Hose, um sie hastig unter seinem Winterrock zu stopfen. Dann ging er eilig, ohne noch einen Blick auf den Toten zu werfen.

Es brauchte lange, ehe Frau Winkler daran glauben konnte, daß ihr Zimmerherr gestorben sei. Am Bett kniend, weinte und betete sie dann ein Weilchen. Zuletzt beugte sie sich über den Toten, wischte ihm den reichlichen Schweiß an den Haarwurzeln fort und tat, was sie seit Jahren zu tun sich gesehnt hatte: sie küßte die Stirn des Stundenbuchhalters und Dichters Andreas Untermüller:

»Mein Kind!«


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