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Die gute Formosa und die böse Agnes

Von irgendwem hatte Untermüller gehört, Aurel Janowsky sei wieder »auf der Tour«. Das hieß, daß der Novellist und elegante Quartalschnorrer bald auch ihn heimsuchen würde. Diesmal mußte es ihm schwerfallen, der Bekanntschaft mit diesem gefürchteten Menschen einige Schilling zu opfern, denn er selbst war auf ein Wunder angewiesen, sollte er in diesem Monat nicht verhungern.

Er hatte morgens gerade das Bett verlassen, das nun erleichtert knisterte, als Aurel Janowsky eintrat. Er war wie immer tadellos gekleidet. Sein weißblond gelocktes Haupt, wie mit einer Perücke aus Hobelspänen behaftet, war kummervoll geneigt. Die kleinen, grünlichen Augen, sonst unruhig in ihren immer entzündeten Schlitzen hin und her irrend, sahen heute starr. Als er saß, hielt er sein wohlriechendes Taschentuch vor sich hin wie einer, der soeben Tränen vergossen hat und deren traurige Ursache zu erzählen sich anschickt. Aber auch Untermüller, noch sehr teilweise angekleidet, saß wie ein großer Haufen Unglück da.

»Sie sehen mich heute in tiefer Trauer«, kam er dem Gast zuvor. »Meine Formosa ist nicht mehr.«

Janowsky hörte den Namen zum erstenmal. Er reichte feierlich die Hand:

»Mein Beileid, lieber Untermüller.«

»Ich danke Ihnen. Ja, meine gute Formosa hat sich mir zuliebe förmlich aufgerieben. Es mußte so kommen.«

»Verzeihen Sie, aber wer war Formosa?«

»Ich habe sie so genannt, als sie noch jung und schön war. Die gute Formosa war meine schwarze Hose, meine einzige schwarze Hose.« Janowskys Äuglein funkelten Entrüstung. Aber er schwieg und Untermüller seufzte weiter:

»Ach ja, sie war steinalt geworden und hatte die Berechtigung ihres Namens längst überlebt, keineswegs freilich meine Liebe und Dankbarkeit. Ich wollte mich auch gar nicht von ihr trennen und hätte sie unbedenklich noch weiter zu Begräbnissen, Denkmalenthüllungen, literarischen Akademien und ähnlichen traurigen Festen mitgenommen, aber Frau Winkler, meine Quartierfrau, war dagegen und ihre Schere seit Jahren schon gezückt. Allerdings war die gute Formosa längst nicht mehr so recht eigentlich schwarz, sondern mit einem greisenhaft grauen Schimmer überzogen. Auch ging es kaum länger an, die unzähligen Flecken mit Tinte und Schuhpaste zu überdecken, denn das gab nachgerade auffällig steife, ausschlagähnliche Krusten, die überdies abfärbten. Dazu platzte, franste und schliß sich alles immer wieder an den peinlichsten Stellen und kein Nadelstich wollte mehr halten. Was das Hinterteil betrifft, so war es kaum mehr Substanz, nur mehr Glanz.«

Ungeduldig räusperte sich Janowsky:

»Verzeihen Sie, aber Sie wissen, Zeit ist Geld –«

»Zeit ist Geld! Jawohl! Und beide sind so flüchtig! Ich weiß nicht, wo meine Zeit hinkommt, freilich aber, wo mein Geld hinkommt. Diese neuen Hosen! Aber, wie gesagt, Frau Winkler, meine Quartierfrau, hat entschieden, daß mit der alten Formosa nicht einmal ein Dichter ausgehen darf. Sie hat sie von Nord nach Süd und von Ost nach West zerschnitten. Nur einmal noch durfte ich mich vorher mit ihr sehen lassen, als ich nämlich die Vorlesung bei den Blinden hatte.«

»Lieber Untermüller, warum erzählen Sie mir das?«

»Damit sie mir keinen Vorwurf machen, ich hätte Formosa undankbar behandelt und unnütz Geld für eine neue Hose hinausgeworfen. Nein, machen Sie mir keine Vorwürfe!«

»Ich denke nicht daran.«

»Das Äußere der armen Formosa mußte dahinwelken, das war ein Gesetz der Zeit und der Vergänglichkeit. Ihr Inneres habe ich niemals beleidigt, höchstens durch kleine menschliche Fahrlässigkeiten, niemals durch Unarten gröberen Kalibers entweiht. Das ist mein Trost. Und auch dies: Formosa ist nicht ganz tot. Sie lebt in Fragmenten ehrenvoll weiter. Sehen Sie dort auf dem Schreibtisch, lieber Janowsky, den riesigen Federtrockner? Es ist ein Stück Formosa. Ebenso daneben der Lampenteller. Und diese meine Filzpantoffel sind mit Formosens Kniesäcken überzogen. Der Plafond hat sogar in der Küche meiner Quartierfrau eine nützliche Wirksamkeit als Eßzeugputzer gefunden.«

Hier hielt Untermüller inne, um zu verschnaufen. Der andere glaubte seinen günstigen Augenblick gekommen, aber schon fuhr der Erzähler unerbittlich fort:

»Und wenn Sie das Gegenteil von der braven Formosa kennenlernen wollen, so sehen Sie dorthin – auf mein Bett. Ich meine jene Steppdecke. Wer sie mir einmal geschenkt hat, weiß ich nicht mehr, aber es muß ein Danaer gewesen sein. Wegen ihrer sanften Himmelbläue, von unschuldsvollem Weiß umrahmt, habe ich sie einst Agnes genannt. Aber sie schändet diesen Namen, denn sie ist raffiniert boshaft, unverträglich, roh und blutdürstig.«

Janowsky schloß die Augen.

»Das Biest hat die Fähigkeit, nach Belieben sich auszudehnen oder zusammenzuziehen. Sehen Sie sich jene Perlmutterknöpfe an. Sind sie nicht in ganz gleichen Abständen angenäht? Dennoch passen sie gar nie zu den Löchern in der Kappe, die hier schlappe Säcke macht, daneben wieder zum Reißen gespannt ist. Und was sie sonst mit den Knöpfen treibt! Sie stößt sie nacheinander aus reiner Bosheit ab und will sie dann ausgerechnet von Frau Winkler angenäht haben; wenn ich es tue, fehlt derselbe Knopf todsicher am anderen Morgen und ich habe das Suchen. Lange hat es kürzlich gedauert, bis ich solch einen Unglücksknopf in einer Falte meines Körpers entdeckt habe.«

Janowsky begann zu schwitzen und sein stark gepudertes Gesicht wurde teigig.

»Aber das ist noch nichts«, jammerte Untermüller. »Mein Bett, das sehen Sie wohl, ist ein Prokrusteslager der Quere nach. Es hat dem gottseligen Winkler gehört, der ein Schneider war. Ich hänge zu beiden Seiten in die kühle Nachtluft hinaus. Also stopfe ich Agnes unter mich. Das heißt, es bleibt beim Versuch, denn stopfe ich rechts, rutscht sie boshaft links heraus und so weiter. Im Sommer freilich wärmt sie gut; da kriecht sie, während ich schlafe, bis über meine Nase hinauf. Im Winter bewegt sie sich in umgekehrter Richtung und rollt sich schließlich wie ein Hund bei meinen Füßen zusammen, wenn sie es nicht vorzieht, lautlos wie eine Boa aus dem Bett sich herabzulassen.«

Janowsky bekam ein violettes Gesicht mit roten Tupfen.

»Unlängst morgens«, fuhr Untermüller immer lebhafter fort, »weckt mich ein starkes, langes Läuten an der Wohnungstür. So wagt nur der Geldbriefträger zu läuten. Er tut es nochmals. Frau Winkler muß ausgegangen sein. Ich will aus dem Bett springen und öffnen. Aber da hatte ich mit meiner Agnes nicht gerechnet. Sie war unzertrennlich von mir, umschlingt mich, durchschlüpft meine Beine, daß ich wie der alte Laokoon aussehe, fängt meinen linken Fuß mit dem Kappenzipfel ein und bringt mich glücklich zu Fall. Mit mir stürzt das Tischchen dort und die Vase, die meiner Quartierfrau gehört. Nach einem furchtbaren Endkampf mit Agnes kann ich endlich atemlos und halb in Trümmern dem Briefträger öffnen. Ungnädig legt er mir drei und einen halben Schilling auf den Tisch, das Zeitungshonorar für eines meiner besten Gedichte. Mit diesen dreieinhalb Schillingen habe ich die Reparaturkosten beim Vasenmeister gedeckt.«

Janowsky war augenscheinlich gestorben und auch schon zur Mumie verschrumpft.

»Und doch ist das alles noch nichts«, brüllte Untermüller, »nichts gegen das, was gestern geschehen ist. Es ist Blut geflossen. Ich erwache gegen Mitternacht mit einem heftigen Schmerz. Ich bin gestochen worden. Von rückwärts. Wo ist der Feind? Ich liege auf dem Rücken. Agnes unter mir. Ahnungsvoll drehe ich Licht auf. Ich bin blutig, Agnes auch. Ich greife nach meiner Wunde, sie findet sich auf der dritten Wange, von links oben gerechnet. Die Waffe steckt noch darin. Eine Nähnadel. Ich schrie nach Frau Winkler. Sie kam verstört und besorgte dann unter Tränen die Extraktion. Dabei hätten Sie sehen sollen, lieber Janowsky, mit welcher Schadenfreude das Scheusal Agnes aus den falschen Perlmutteraugen mich angeschaut hat. Jahrelang also hatte sie die Nadel in ihrem unzugänglichen Inneren verheimlicht, um endlich den Stich zu führen. Wütend befahl ich Frau Winkler, die Agnes aufzuschneiden, um sie nach einem etwaigen Waffenlager zu untersuchen. In diesem Belang war das Ergebnis negativ, förderte aber sonst fürchterliche Dinge zutage. Ich hatte mir immer eine tadellos weiße Wattefüllung vorgestellt, aber alles andere als das. Wüste Knäuel von unbeschreiblicher Farbe, dicke schmutzige Schlangen, ineinander verklebte Fetzen, dazwischen uralte Orangenschalen, Apfelkerne und Flohhäute. Überall Flecken von Kaffee und Kakao und – entsetzlich! – Flecken und Farben, wie sie nur aus der Ruhrabteilung eines Kinderspitales stammen können. Rasch wurde Agnes wieder zugenäht, wie es ein Chirurg mit einem Bauch tut, dessen Inneres er als inoperabel erkannt hat. Das also ist Agnes. Und ich Esel dachte anfangs, eine angenehme Lebensgefährtin an ihr gewonnen zu haben. Jetzt werde ich sie nicht los. Meine Tuchent, sollen Sie nämlich wissen, habe ich vor Jahr und Tag schonungshalber einer Aufbewahrungsanstalt übergeben und so ist mir Agnes leider nicht entbehrlich. Oder soll ich mich mit dem Pfandschein zudecken? Antworten Sie!«

Untermüller hatte mit letzter Kraft geschrien, jetzt sank er atemlos in den ledernen Lehnstuhl. Die Leiche Janowsky bekam Leben und er stand vom Sessel auf:

»Lieber Freund, ich brauche dringend Geld.«

»Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?« keuchte Untermüller, »jetzt, nachdem ich Ihnen in Kürze gesagt habe, daß ich mein Bett nicht auslösen kann und überdies eine neue Hose gekauft habe, also kein Geld bei mir zu finden ist, jetzt kann ich mich unmöglich selbst desavouieren, indem ich Ihnen Geld gebe«.

»Sie müssen mir helfen, Sie sind ein Christ.«

»Aber Sie würden mir niemals helfen, meine ich.«

»Ich bin ja auch kein Christ.«

»Gut. Aber ich besitze wahrhaftig nur mehr ein paar Schillinge«, hauchte der Müde.

»Ich nehme auch diese.«

»Ich danke Ihnen sehr. Nehmen Sie!«


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