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Zur Entstehungsgeschichte von Waiblingers Phaethon

Am 3. Juli 1822 schrieb der noch nicht achtzehnjährige Wilhelm Waiblinger, damals Primaner am Oberen Gymnasium zu Stuttgart, während eines kurzen Aufenthalts in Tübingen, in sein Tagebuch: »Heute besuchte ich Hölderlin, mit Wurm. Wir stiegen enge Steintreppen zum Neckar hinab und trafen da einen beschränkten Straßenwinkel an, zu dem ein ordentlich gebautes Haus den Hintergrund bildete. Die vor der Tür aufgestellten Tischlergerätschaften zeigten uns an, daß wir an unsrer Stelle seien. Wir stiegen eine Treppe hinauf, als uns gleich ein wunderhübsches Mädchen entgegentrat, die uns fragte, zu wem wir wollten. Die Antwort ward uns erspart; denn eine offene Türe zeigte uns ein kleines geweißtes amphitheatralisches Zimmer, ohne allen gewöhnlichen Schmuck, worin ein Mann stand, der seine Hände in den nur bis zu den Hüften reichenden Hosen stecken hatte und unaufhörlich vor uns Komplimente machte. Das Mädchen flüsterte: »Der ist's!« Die schreckliche Gestalt brachte mich in Verwirrung. Ich trat auf ihn zu und richtete eine Empfehlung von Hofrat Haug und Oberfinanzrat Weißer aus. Hölderlin lehnte seine rechte Hand auf einen an der Türe stehenden Kasten; die linke ließ er in der Hosentasche stecken; ein verschwitztes Hemd hing ihm über den Leib, und mit seinem geistvollen Auge sah er mich so mitleids- und jammerwürdig an, daß mir's eiskalt durch Mark und Bein lief. Er redete mich nun: »Eure Königliche Majestät!« an. Seine übrigen Töne waren teils unartikuliert, teils unverständlich und mit Französisch durchworfen. Ich stand da wie ein Gerichteter; die Zunge starrte, der Blick dunkelte, und mein Inneres durchzuckte ein furchtbares Gefühl. O, vor sich den genialsten geistreichsten Mann, die größte reichste Natur in ihrem gräßlichsten Falle zu sehen; einen Geist, der vor zwanzig Jahren die Fülle seiner Gedanken so unaussprechlich zauberartig hinhauchte und alles anfüllte mit der Tiefe seines dichterischen Strudels, und der jetzt keine einzige klare Vorstellung, auch nicht von den unbedeutendsten Dingen, hat: o, sollte man da nicht Gott anklagen? Friedrich Hölderlin (1770–1843), seit 1802 geistig gestört, seit 1806 wahnsinnig. Wurm war gefaßter als ich und fragte ihn, ob er den Hofrat Haug kenne. Er war genau mit ihm bekannt. Hölderlin neigte sich, und aus dem unvernehmlichen Tonmeere klangen die Worte: »Eure Majestät, ...« Hier sprach er wieder französisch, sah einen an und machte Komplimente. »Eure Königliche Majestät, das kann, das darf ich Ihnen nicht beantworten!« – Wir verstummten. Das Mädchen rief uns zu, nur mit ihm weiter zu sprechen. Wir blieben unter der offenen Türe stehen. Nun murmelte er wieder: »Ich bin eben im Begriff, katholisch zu werden. Eure Königliche Majestät!« Wurm, fragte, ob er sich an den griechischen Angelegenheiten erfreue. Hölderlin umfaßte einst die Welt der Griechen mit dem trunkensten Enthusiasmus! Er machte Komplimente und sagte unter einem Strom von unverständlichen Worten: »Eure Königliche Majestät, das darf, das kann ich nicht beantworten!« Das Einzigverständige, was er sprach, war eine Antwort aus Wurms Worte, er habe in seinem Zimmer eine gar angenehme Aussicht ins Freie, worauf er antwortete: »Ja, ja, Eure Majestät, schön, schön!« Nun aber stellte er sich mitten in sein Zimmer und neigte sich unablässig fast bis zum Boden, ohne etwas anderes zu sagen als: »Eure Königliche Hoheit, ... die Königlichen Herrschaften« usw. Wir konnten nicht länger bleiben und eilten nach einem Aufenthalt von fünf Minuten in die Stube des Tischlers. Da ließen wir uns nun von dem schönen freundlichen Mädchen und ihrer Mutter seine ganze Geschichte, so lang er bei ihnen ist, erzählen. Er ist schon gegen sechzehn Jahre wahnsinnig und ist nun gegen fünfzig Jahre alt. Manchmal kommt er wohl wieder etwas zu Verstand; auch läßt er jetzt von seinem Schreien und Toben nach, aber es ist doch nie etwas Rechtes. Seit sechs Jahren geht er den ganzen Tag in seinem Zimmer auf und ab und murmelt mit sich selbst, ohne irgend etwas zu treiben. Bei Nacht steht er oft auf und wandelt im Haus umher; geht auch oft zur Türe hinaus. Sonst machte er mit seinem Tischler Ausgänge oder schrieb alles Papier, das er zur Hand bekommen konnte, voll mit einem schaudervollen Unsinn, der aber dann und wann einen unendlich sonderbaren Scheinsinn hat. Ich bekam eine Rolle solcher Papiere und traf hier ganz metrisch-richtige Alkäen ohne allen Sinn an. Ich erbat mir auch einen solchen Bogen. Merkwürdig ist das nach pindarischer Weise oft wiederkehrende »nämlich«. Er spricht immer von Leiden, wenn er verständlich ist; von Ödipus; von Griechenland. Wir schieden. Wie wir die Treppe hinabgingen, sahen wir ihn durch die offene Türe noch einmal, wie er auf und ab lief. Ein Grausen durchschauerte mich; mir fielen die Bestien ein, die in ihrem Käfig auf und ab rennen. Wir liefen betäubt zum Haus hinaus.« Vgl. dazu: Phaethon S. 241, 249, 257–275, besonders den Besuch bei dem Wahnsinnigen S. 264 f.

Unmittelbar nach der Rückkehr nach Stuttgart begann Waiblinger seinen »Phaethon« niederzuschreiben. Unter dem 11. August 1822 heißt es im Tagebuche: »Ich schreibe einen Roman. Wenn ich nicht selbst ein Narr werde wie mein Künstler, so erschaff' ich etwas Großes. Hölderlins Geschichte benutz' ich am Ende.« Im September bestand der junge Dichter die Reifeprüfung, und am 15. Oktober vollendete er das Buch. Am 23. Oktober 1822 fuhr Waiblinger nach Tübingen, das Herz voll heidnischer Lebenslust, um in das dortige theologische Stift aufgenommen zu werden. Das ihm aufgezwungene Studium widersprach seiner Weltanschauung, aber er mußte sich dareinschicken. Um den »Phaethon« in die Reinschrift zu bringen, stand er früh um 5 oder 6 Uhr auf, zeitiger als seine Kameraden; nachmittags um 5 nach den Kollegien saß er wieder an seinem Werk. Eduard Mörike, der mit ihm im Stift war, ward in jenen gleichförmigen Tagen sein Freund. »Mein Verhältnis mit einem Menschen, der mir aufhört, neu zu sein, ist aus!« steht im Tagebuche; der humorvolle kindliche Mörike war ihm »menschgewordene Märchenwelt«. Nahe stand ihm auch der um drei Jahre jüngere Paul Pfitzer, ein verschlossener düsterer Knabe. Bruder von Georg Pfitzer (1807-1830). Über ihn R. Krause in der Zukunft X, 4. Er hat sich später beklagt, Waiblinger habe Stellen aus seinen Briefen wörtlich im »Phaethon« aufgenommen.

Den geisteskranken Hölderlin besuchte Waiblinger häufig. Gleich in den ersten Tagen las er ihm bis Mitternacht den »Phaethon« vor. Er verlor sich in pantheistischen Träumen. In dieser Stimmung beendete er die Reinschrift der Dichtung. Alsbald sandte er das Manuskript an den Stuttgarter Verleger Friedrich Franckh, der es annahm, und zwar für ein Honorar von 6 Louisdors und, für den Fall, daß Friedrich v. Matthisson als Herausgeber zeichnete, 8 Louisdors.

Gegen Weihnachten 1822 hatte Franckh in Tübingen zu tun und brachte Waiblingern zu dessen überschwänglicher Freude die ersten Druckbogen, dazu gütige Ermahnungen von Matthisson. Die Widmung des »Phaethon« ist wohl die Antwort darauf. Ursprünglich wollte der junge Dichter das Buch Goethen zueignen. Ob Matthisson angegangen worden ist, den »Phaethon« herauszugeben, ist unbekannt; trotzdem zahlte Franckh die 8 Louisdors und schenkte Waiblingern zu Weihnachten Scotts Werke.

Der »Phaethon« erschien im Frühjahr 1823, kurz nach den »Liedern der Griechen« (Stuttgart, bei F. Franckh, 8˚, VIII und 58 Seiten), die unter dem Einflusse der deutschen Begeisterung für den Freiheitskampf der Griechen unmittelbar nach dem »Phaethon« entstanden waren. Lord Byron hatte Waiblingers Herz ergriffen. »Byron ist der originellste Dichter der Neuzeit,« schrieb er am 7. März 1823 in sein Tagebuch, und am 3. Juli: »Ich habe viel Ähnlichkeit mit Byron.« Des englischen Dichters Weltschmerz und Lebensdurst erweckten wilden Widerhall in der Seele des Achtzehnjährigen.

Wilhelm Müllers damals allbekannte »Lieder der Griechen« (1821 ff.) mißfielen Waiblinger. Er vermißte an ihnen Schwung und Kraft. Vermutlich waren sie dem Freunde Pindars zu volkstümlich. Waiblinger schwelgte in Hymnen und Oden. Einen ungleich tieferen Eindruck verdankte er Hölderlins »Hyperion«. Heinse und Hölderlin sind Waiblingers künstlerische Ahnen.

Daß das Griechentum, wie es der junge Waiblinger in sich trug, weit entfernt vom wirklichen Geiste des altgriechischen Lebens und Strebens war, ahnte er damals noch nicht. Es ist deutsche Romantik, die im »Phaethon« ihr Wesen treibt, nicht die sinnenstarke Weltanschauung der Landsleute des Alkibiades. Allmählich hat Waiblinger die Hauptschwäche seines Werkes erkannt. Schon ehe es im Druck erschien, bekennt er im Tagebuchs: »Die Bilder im Phaethon sind viel zu gehäuft; das ewige ›wie‹ kehrt zu oft wieder!« In Waiblingers Satire »Drei Tage in der Unterwelt« (geschrieben 1826) verspottet sich der Dichter selber. Es heißt da (Werke IV, 145 f.): »O Spiegelfechterei der Hölle! Ich sah meinen eignen wahnsinnigen Phaethon. Wie vom Blitze gerührt, stand ich armer Wanderer da und konnte nicht gehen, nicht sprechen; starrte nur das fürchterliche Schreckbild an, das mit verzerrten Zügen, mit Hohn und krampfigen Mienen vor mir auf und ab ging. Weh mir! rief ich endlich, o ich Sünder, ich Sünder! Dabei schlug ich mich vor den Kopf und raufte mir die Haare aus. Phaethon aber grinste mir mit gräßlichen Gebärden entgegen: Hinweg! Hinweg, Du Urheber meines endlosen Jammers! Hinweg, Du Scheusal, das mich mit aller Gewalt zu einem wahnsinnigen Narren gemacht; Du Untier, das durch grenzenlosen Leichtsinn den Lorbeer zerpflückte, der mir geworden wäre, hättest Du mich gescheit erschaffen und gescheit sterben lassen! Ha! Blick' um Dich her, wo bist Du? In einem Buchhändlerladen! Hier bin ich von einem furchtbaren Verhängnis zeitlebens gefesselt, ich, der mir einst träumte, als ein herrlichgesundes Götterkind in die unendliche Welt hinauszutaumeln, um meine Schläfe mit Lorbeer zu drücken. Daran bist Du schuld, bleicher verdammter Ghibelline! O, hättest Du mich lieber nicht geschrieben, als daß ich mein unseliges Leben in dieser Einöde verseufzen und ausstöhnen muß! Wo sind die Träume meiner Jugend, die Pläne von Unsterblichkeit, der frische Lebensgeist, meine himmlische Liebe, meine Atalanta? Du Abscheulicher, – im Buchladen! Ach, ach, ich jammerwürdiges Kind der Liebe, das Du in Deinem eignen Wahnsinn noch als ein wütender Knabe zeugtest! Nicht genug, daß Du nicht reif warst, als meine Mutter, diese wahnsinnige Muse, mich empfing: ich selbst war's nicht, als sie mich geboren! Du, Du hast's zu verantworten! O, selbst meine Stiefbrüder, die Dein zügelloses Verlangen mit bessern Mitteln zur Welt fördert, selbst sie werden mich schmachten lassen in dieser Dunkelheit, in der ich Zeit genug habe, nüchtern zu werden und den Tag zu verfluchen, der mich für diese vier Wände bestimmte! Vater, ich würge Dich nieder! O, hättest Du mich wenigstens nur zu einem Räuber, zu einem Vehmrichter, zu einem Minnesänger, zu einer Sage aus dem dreizehnten Jahrhundert, zu einer Bearbeitung aus dem Englischen des Walter Scott oder des Washington Irving gemacht! Hilf, Ewiger! Ist es dahin gekommen, daß ich von jedem kritischen Harlekin abgeschimpft werden soll? Hinweg! – Dabei sprang er mit rasender Bewegung auf mich zu, um mir den Platon, in dem er noch immer lag, an den Kopf zu werfen. Ich wollte ihn besänftigen, wollte ihm versichern, daß ich ihm helfen, daß ich ihn durch seine Brüder wieder hervorheben, durch eine Umarbeitung sein Gehirn operieren wolle, – umsonst! Ich wäre von meinem eignen Kind in Stücke zerrissen worden, wenn ich nicht außer mir vor Schrecken davon gerannt wäre.«

Maßvoller urteilt Waiblinger in »Olura, der Vampyr«, einer zweiten, im Sommer 1826 verfaßten (noch ungedruckten) Satire, wo er vom »Phaethon« sagt, in ihm werde »zwar viel über die Griechen gesprochen und nicht gerade unwahr, aber das Ganze ist in Komposition, Darstellung und Sprache entsetzlich ungriechisch.«

Waiblingers Phaethongestalt ist ein Selbstbildnis, das gegen das Ende in ein Bildnis Hölderlins, übergeht. Im Theodor spiegelt sich im ersten Teile Waiblingers Freund, der Bildhauer Theodor Wagner wieder; dann aber übernimmt Waiblinger offenbar selber diese Rolle. Der Gestalt Katons soll Gustav Schwab (1792 bis 1850) als Modell gedient haben.

In der Atalanta haben sich des Dichters Erinnerungen an Philippine Heim verkörpert, seine um zwei Jahre ältere Jugendgeliebte. Sie hatte ihm am 23. März 1822 einen regelrechten Absagebrief geschrieben. Waiblingers Tagebuch spiegelt alle Einzelheiten dieser schwärmerischen Liebschaft wieder. Resigniert hatte der Vereinsamte geklagt: »Vielleicht macht' ich sie zu etwas, was sie nicht ist, nicht sein kann. Ich möchte doch das Mädchen meiner Liebe mit mir fortreißen aus dieser ärmlichen Wirklichkeit, aber sie fürchtet zu fallen; ihr schwindelt. Ich verlange viel, ich kann viel verlangen, denn ich gebe viel, gebe alles, was ich habe; und ein glühendes Herz ist nichts Geringes! Sie klebt an Konventionen, Verwandten. Ein Mädchen, dem Gehorsam mehr ist als Liebe, kann Sie meiner von Dichterglut übersprudelnden Seele antworten? Weh mir! Ich habe mich betrogen! Es war ein Sinnenrausch, ein holder schöner Traum! Ich erwache. Meine Leidenschaft ist vorbei. Das Mädchen kann mich nicht fesseln. Ich hatte sie mit einem Nymbus umgeben, und den hatt' ich angebetet.« Trotzdem erstarb seine Sehnsucht zu Philippine nicht. Am 31. Mai steht im Tagebuch: »Heut früh um 8 Uhr war ich schon wieder bei der Geliebten. Ich hatte mein Gipsporträt im Busen stecken und gab's nun gleich in ihre Hände, nachdem sie mir heiter und angenehm überrascht entgegengekommen war. Es gefiel sehr gut, ward ähnlich gefunden und mit Vergnügen angesehen, wie es denn auch recht fleißig und glücklich von meinem Freunde [Theodor] Wagner gearbeitet ist. Sie gehe vielleicht noch nicht [weg von Stuttgart in das Haus meines Bruders], sagte sie und zeigte überhaupt eine bewunderungswürdige Unbefangenheit, die nur aus dem klarsten und seiner Unschuld sich deutlich bewußten Herzen quillen kann. Ich blieb gegen eine Stunde bei ihr; und als ich endlich Abschied nahm, begleitete sie mich bis zur Treppe. Wir waren allein. Ich war schon einige Tritte hinabgestiegen, und sie lehnte mit verschlungenen Armen über das Geländer her. Mit einem unbeschreiblich milden Blicke, mit einem seelenvollen Auge sah sie mich an und dankte mir, daß ich sie nun beruhigt, weil sie sähe, ich sei ihr nicht bös geworden. O, ein solches Gesicht! Sie war so blühend, so voll; ich sah sie noch nie in der Fülle. Ich sagt' es ihr. Sie lächelte und antwortete, sie hab' es seither ruhig gehabt. Ich küßte die rosigen runden Wangen mit wonnereichem Genuß. Wir schieden ruhig und heiter. Sie sah mir durchs Fenster nach.« Und acht Wochen später: »Seit vier Jahren kenne ich Philippine. Sie blieb mir lange gleichgültig; nur erst in den ersten Monaten meines Hierseins, also vor mehr denn zwei Jahren, näherte ich mich ihr, und da sie meine Liebkosungen nicht annahm, macht' ich mich an ihr Bäschen. Bald aber schienen beide vor der Glanzerscheinung meines aus Corinne und Florine [zwei Schwestern, Französinnen, früheren Bekanntschaften] und eigenen Zutaten zusammengesetzten Ideals zu verblassen. Ein Jahr lang hing ich an diesem wesenlosen Bilde mit einer Liebe, die ich zuletzt selbst für wahr hielt. Alles andre verschwand vor seiner Vollendung. Dann fühlt' ich nach und nach schreckliche Lücken. Das Ideal genügte mir nimmer. Ich wollte eine Geliebte außerhalb von mir, nicht in mir haben; mich verlangte Tag und Nacht nach einem Wesen, das mich liebte, das ich wieder liebte. Diese glühende Sehnsucht machte mich unglücklich. Ich starrte halbe Nächte lang hinaus in den Sternenhimmel und jammerte und schluchzte. Ich glaubte nicht mehr leben zu können. Da näherte ich mich Philippinen auf einsamen Spaziergängen. Ein Schritt – und ich liebte sie! Es war die Entwicklung meiner Mannbarkeit. Aber ich liebte sie nicht nur; ich vergötterte sie. Und nun seh' ich kalt über diese Neigung meines warmen Herzens hin. Philippine fesselte mich nie so sehr, wenn ich um sie war, als da, wo ich von ihr entfernt war. Denn ich sah hier bald, daß sie meinem Dichterschwung nicht folgen könne.« Ende Juli verließ Philippine die Stadt. Sie blieb ihm »der heilige Genius seines Lebens, ein wehmütiges strahlendes Licht durchs Dunkel seiner Tage.« Später ist sie die kinderreiche Gattin eines Landpfarrers geworden.

Nicht unbeachtet kann hier eine andere Tagebuchstelle (vom 29. September 1821) bleiben: »Nach dem Essen war wieder eine wundersame Bequemlichkeit in mein Gemüt getreten. Ich trat ruhig vor Valerinen [= Philippinen] hin; sie saß auf dem Sofa und strickte. Ich sah sie lange an; auch sie blickte mich unbeschreiblich traurig an. Ich fragte sie etwas. Ich ging mit raschen großen Schritten im Zimmer umher. Niemand war zugegen als Valerine. Ich deklamierte, dichtete, sah wild umher, ergriff ein Messer und kam zufälligerweise vor das Mädchen zu stehen. »Was haben Sie mit dem Messer?« rief sie erschrocken und bleich. Ich sprach kein Wort, sondern stieß mir das Messer etlichemal gegen die Brust. Ein paar Stöße gingen auf den deutschen Rock und waren ungültig; der letzte auf die Brust. Das Blut floß alsbald. Mir ward schwindlig. Ich mußte mich setzen. Mein Gesicht war totenbleich. Valerine sprang auf: »Um Gotteswillen, was treiben Sie?« Alles rannte besinnungslos herbei. Ich lächelte, begab mich gleich auf mein Zimmer, legte mich aufs Bett und fühlte bereits ein Fieber, das mir durch all meine Glieder schauderte. Valerine eilte mir nach. Wir befanden uns allein. Ich sah sie mit brechendem Auge an und ergriff ihre Hand: »Valerine, geben Sie mir einen Kuß!« – »Ach Gott, wie kann ich es,« rief sie blaß und erschrocken, »da Sie mich so erschreckt haben!« Wir wurden unterbrochen. Der Wundarzt trat herein. Er untersuchte die Wunde und verband sie, sagte dabei weder Gutes noch Böses, sondern empfahl mir die strengste Diät und die bewegungsloseste Ruhe.« Der Anlaß zu dieser Raserei war ein kleiner Vorfall am Tage zuvor, der Waiblingers Eifersucht erregt hatte. Auch dieses Erlebnis hat seinen Nachklang im »Phaethon« (S. 155) gefunden.

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