Richard Wagner
Auswahl seiner Schriften
Richard Wagner

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Vorwort

Die Schriften Richard Wagners sind noch nicht so allgemein bekannt, wie es im Interesse von Kunst und Kultur zu wünschen wäre; Zweck dieses Bändchens ist, mehr Leser für sie zu gewinnen. Bedenkt man die herrschende Stelle, welche sich die Bühnenwerke Wagners in der ganzen zivilisierten Welt errungen haben, so nimmt es wunder, das Interesse für seine Schriften noch so wenig rege zu finden. Zum Teil mag hierbei das alte Vorurteil nachwirken: die Schriften über Musik böten dem Nichtmusiker wenig Kurzweil; man kann dies auch kaum »Vorurteil« nennen, denn, wahrhaftig! außer den Briefen von Mozart und Beethoven dürfte es kaum etwas auf diesem Gebiete geben, was als Literatur oder Geschichte dauernden Wert besäße. Wie anders verhält es sich mit der bildenden Kunst! Nicht allein ein Diderot, ein Winckelmann, ein Lessing, ein Hogarth, ein Goethe haben über sie so zu schreiben verstanden, daß es eine dauernde Bereicherung unseres Kulturschatzes bedeutete, sondern auch geringere Männer – ein Stendhal, ein Baudelaire, ein John Ruskin, ein Jakob Burckhardt und manche andere leisteten hierin Vortreffliches und werden auch vom Nichtfachmann noch lange gern gelesen werden. Nicht Maler noch Bildhauer waren diese Männer; sie besaßen aber eine große allgemeine Kultur, sowie Meisterschaft in der Handhabung des Gedankens und des Wortes, und das gerade befähigte sie, über bildende Kunst Interessantes zu sagen. War doch die Blüte der hellenischen Plastik unmittelbar aus den Taten vollendetster Dichtung hervorgesprossen, als die Sichtbarwerdung dessen, was der Poet im Traumbild erblickt hatte; schöpfte doch die Renaissance alle ihre Motive aus Religion und Mythos; bot selbst die Landschafts- und die Lebensmalerei hundert Anknüpfungspunkte für den Schilderer, den Moralisten, den Kunstfreund. Ein gemeinsames Gelände, reich an Anregungen wie alle Grenzgebiete, war also hier von allem Anfang an gegeben. Dazu die Tatsache, daß, im Notfalle, eine beigegebene Umrißzeichnung genügte, einem jeden sofort wenigstens anzudeuten, wovon die Rede sei. Bei der Tonkunst entfallen alle diese Handhaben für die literarische Verwendung. Nur besonders begabte und eingehend geschulte Techniker vermögen es, aus einer stummen Partitur Harmonienfolge und Klangfarbe herauszuhören, als ertönten sie vor ihren Ohren; für die übrige Menschheit existiert Musik nur in dem Augenblick ihrer Aufführung; die »Illustration« ist ausgeschlossen; eine Musikgeschichte gleicht einer Geschichte der Malerei für Blinde. Doch dies nur nebenbei; denn der wahre Grund, weswegen man über Musik nicht reden kann, liegt weit tiefer und bewirkt, daß auch der Musiker dem Musiker wenig von Belang zu sagen hat. Musik und Verstand sind nämlich inkommensurabel; womit gesagt wird: es fehlt zwischen ihnen jeder gemeinsame Maßstab. Technisch betrachtet ist Musik reine Form, ebenso reine Form ohne Inhalt wie die Mathematik; wie bei einer algebraischen Gleichung: es stimmt alles und besagt nichts. Seelisch betrachtet ist dagegen Musik reiner Ausdruck: sie sagt alles und bestimmt nichts. Das eine Extrem schlägt jäh in das andere um, sobald der Standpunkt des Betrachtenden um ein weniges verschoben wird; das Mittelgebiet fehlt. Dagegen ist der Verstand seinem ganzen Wesen nach ein Vermittler, und sein Organ, die Sprache, reicht weder hinab zu den unter den »ewigen Schemen« thronenden »Müttern«, noch hinauf zu jenem einmaligen, nie wiederkehrenden Gegenwartsaugenblick, den wir Ausdruck der Seele nennen, und vor dem alle Zeit hinschwindet. Darum mag wohl der Philosoph über das Wesen der Musik reden, doch über die Werke der Musik läßt sich in Worten nichts sagen. Zug für Zug folgt ein Phidias in seinem olympischen Heus dem Gesicht des Sehers; da steht er, der eine bestimmte Gott, wie ihn einzig Homer erblickt hatte; mögen Ästheten und Philologen untereinander ausmachen, wessen Vision die gewaltigste war: keiner kann bestreiten, daß Bildner und Poet dieselbe Gestalt erblickten. Wogegen, sollte ein Musiker sich durch Dichtung und Bildmerk begeistert fühlen, einen Tonsatz dem olympischen Zeus zu widmen, kein Mensch diesen Ursprung seiner Eingebung erraten könnte; denn alle Majestät, Gewalt, Ruhe, alle Kraft des Blickes und des Ewigkeitsgefühles, die er in seine Tongestalt zu zaubern und dadurch auch bei einer entsprechend guten Aufführung uns in die Seele zu gießen verstanden hätte, könnte sich ebensogut auf Brahman Prajâpati, auf Wotan thronend in Walhall, auf den Gott-Vater der altchristlichen Maler, oder auch auf einen hohen menschlichen Helden, selbst auf einen großen Natureindruck beziehen, z. B. auf eine von Bergeshöhe aus erlebte Sternennacht. Eine notwendige Verknüpfung zwischen Vorstellung und Ausdruck besteht hier nicht. Vielmehr ist die Musik, wie Wagner von ihr sagt, »ein unendlich verschwimmendes Wesen«, dem »der moralische Wille fehlt«; Umschränkung, Bestimmung kann sie nur von auswärts empfangen, von etwas, was nicht Musik ist; und da dies nun eine gewisse Gewaltsamkeit und Willkür erfordert, wird es schwerlich jemals vollkommen gelingen, außer durch die Zauberwirkung eines unmittelbaren, zugleich sinnlichen und moralischen Eindruckes, wie ihn das Genie durch tief sich einprägende Bilder und durch sehr einfache, ergreifende Handlungen hervorzurufen weiß, wo dann unser sich sträubender Verstand so unwiderstehlich hingerissen und überwältigt wird, daß nunmehr die Vermählung der beiden Welten vor sich geht: die bestimmte Gestalt als Element, das Element als eine bestimmte Gestalt uns erscheint. Es ist dies der Triumph jenes »schönen Scheines«, über den Goethe und Schiller so viel verhandelten, und besitzt nur in dem einen Augenblick Wahrheit, wo der Funke von Welt zu Welt hinüberblitzt; ihn zu schlagen vermag aber (ähnlich wie bei den elektrischen Erscheinungen der Natur) einzig ein langsam angesammelter, überlegener Kraftvorrat, der selten und gewaltig zum Ausdruck gelangt – wie dies Wagner von jungen Jahren an als »Festspiel« vorschwebte. Auch die Offenbarungen dieser geheimnisvollen Vermählung beider Welten, die wir dem erhabenen Genie eines Bach, eines Mozart, eines Beethoven verdanken, finden nur in feierlichen Momenten tiefster Ergriffenheit statt; wo diese fehlt, ist die Freude an Musik lediglich ein Gefallen an Form ohne Inhalt. Und so erweist sich denn in der Tat das Schreiben über Werke der Musik – außer Technischem für Techniker – als bar aller geistigen Bedeutung.

Somit wäre nicht viel einzuwenden gegen diejenigen, die nicht gern Schriften über Werke der Musik lesen. Ihnen ist aber entgegenzuhalten, daß Arbeiten dieser Art nur einen verschwindend kleinen Bruchteil von Wagner's schriftlichem Lebenswerk ausmachen. Wohl hat er notgedrungen – als die Theater ihm verschlossen waren – einige »Programme« zu Aufführungen bloßer symphonischer Sätze aus seinen Dramen im Konzertsaal verfaßt; auch zwang ihn die Verbannung aus Deutschland, schriftliche Anweisungen für die Aufführung seiner eigenen Werke zu geben, die noch heute unsere Direktoren vor gröbsten Verstößen bewahren könnten, wenn sich je diese Herren dazu herbeiließen, des Meisters eigene Anordnungen kennen zu lernen; des weiteren wäre das berühmte Programm zur Neunten Symphonie Beethoven's zu nennen, entstanden, als es galt, dieses unsterbliche Werk in Deutschland gegen den Stumpfsinn der Musikschwärmer und die tyrannisch wirkende Ablehnung Mendelssohns durchzusetzen; schließlich hat er einzelne kleinere Abhandlungen verfaßt, die dem Sänger oder dem Dirigenten als Anleitung zu seinem Künstlerberuf dienen sollen. Sonst aber gelten seine prosaischen Schriften teils allgemeinen Kunstfragen – und schließen sich somit jener Reihe an, welche unter den Namen Winckelmann, Lessing, Herder, Schiller, Goethe, Kant, Schelling, Schopenhauer, gezeigt haben, daß es den Deutschen allein unter den zeitgenössischen Völkern gegeben ist, die Würde der Kunst zu ahnen und die Übertragung dieser Ahnung in die Wirklichkeit zu erstreben; teils gelten sie den wichtigsten Kulturfragen unserer Zeit, wodurch Wagner wiederum an die Tradition der großen deutschen Dichter und Denker anknüpft; einige Schriften streifen bis an die Grenze der Tagespolitik heran; schließlich sind noch die Beiträge zur eigenen Lebensgeschichte, sowie etliche Novellen und dramatische Entwürfe zu erwähnen. Alles geeignet, jedem denkenden Menschen eine Quelle unerschöpflicher Anregung und Belehrung zu werden – selbst denjenigen, die, aus Mangel an Gelegenheit oder an Beanlagung, für musikalische und dramatische Werke wenig Empfänglichkeit besitzen. Ich begreife es – namentlich bei der beklagenswerten Beschaffenheit fast aller Aufführungen –, wenn nicht jeder Mann von Kenntnissen und Geschmack aus den Bühnenwerken des Bayreuther Meisters Begeisterung schöpft; ich begreife es nicht, daß irgendeiner an seinen Schriften vorbeigeht, ohne sie in seiner Bücherei dem engsten Bestände ausgewählter Edelgeister einzuverleiben.

Nun gibt es aber eine andere, zahlreichere Gruppe: es sind die begeisterten Bewunderer der Werke Wagners, die dennoch nicht dazu zu bewegen sind, sich mit seinen Schriften zu befassen. Meine Überzeugung ist: Wagner steht sich selbst hier im Wege; sein Licht ist es, das einen so starken Schatten wirft.

Seine Werke ..... ich rede hier nicht von relativem Werte, sondern ich rede von Eigenschaften, die einerseits jene vorhin genannte reine Form, andrerseits jenen vorhin genannten reinen Ausdruck betreffen, und da behaupte ich: diese Werke sind unstreitig in bezug aus Form und in bezug auf Ausdruck das Vollendetste, was die Menschheit besitzt; »Vollendung« ist geradezu ihr Kennzeichen; vielleicht findet sie sogar mancher Schöngeist zu vollendet, zu blendend, zu erschöpfend, und ersehnt sich weniger scharfe Umrisse, mehr Schatten, mehr Freiheit für die Phantasie; gleichviel, die doppelte Vollendung bleibt ihnen – der Form und des Ausdrucks; und beides – Form und Ausdruck – ist Musik und wirkt somit erlahmend auf jedes Verlangen nach Abstraktion, Geschichte, Theorie; und was (als Handlung) zwischen beiden schwebt, an Element und Gestalt in wechselndem Maße beteiligt, ist so bestrickende Augenweide, so zwingende Seelenregung, so unerschöpflich symbolischer Vorgang, daß uns Hirn und Herz bis in die letzte Falte ausgefüllt werden. Wie sollten wir noch mehr aufnehmen können? Schopenhauer hat das lapidare Wort geprägt: Nie Kunst ist stets am Ziele. Wahrhaftig, wenn je eine es war, so ist es diese! Wie manches schöne Werk lieben wir in seiner Unvollendung: die Andeutung, die Absicht, das hohe Streben wirken herauslockend auf Geschmack und Willen; mir arbeiten mit und türmen ein Gebäude in die Wolken, das selbst aus Wolken aufgemauert ist. Hier, nichts desgleichen: alles ist getan, alles ist fertig, alles ist – wenn ich mich so ausdrücken darf – in vollendete Natur übergegangen. Und da sollten wir noch Lust verspüren, zu Büchern zu greifen, und uns über Königtum und Staatsgewalt, über Revolution und Regeneration, über Roman, Oper, Reform des Theaters und der Gesellschaft belehren zu lassen? Nein! Eine einzige Gestalt nur kann neben diesen Werken Interesse beanspruchen: die ihres Schöpfers. Auch dieser Instinkt ist ein so natürlicher, ein so wohl begründeter, daß ich es nicht zu tadeln wage, wenn die deutschen Leser nach den Lebensschilderungen und den vielen Bänden der Briefe des Meisters greifen, dagegen die Schriften wenig beachtet abseits liegen lassen. Hierbei wirkt noch ein Umstand unbewußt mit. Zum Wesen aller dramatischen Schöpfung gehört die »Verdichtung« des Stoffes (wie Wagner es nennt), sowie die Zusammenfassung sämtlicher Strahlen in einen einzigen Brennpunkt des Interesses. Was ihm bei seinen Werken so vollendet gelang, das betrifft nunmehr auch seine Person. Die Welt – gleichviel ob gut«der schlecht – verblaßt neben einer solchen Erscheinung; unter dem Eindruck seiner Werke fragen wir nicht mehr nach ihr; möge sie ihre Wege gehen; neben dieser Schärfe und dieser Schönheit steht unsere ganze Gegenwart gar zu verworren und reizlos da; nur ein Interesse bleibt uns: wie war Er? wie lebte Er? Wir wollen das Drama seines eigenen Lebens kennen; dies allein kann uns neben den Werken ergreifen.

Auch diese Stufe mußte durchschritten werden; vielleicht aber reifen die Zeiten jetzt einer Wendung entgegen; denn früher oder später muß die Erkenntnis von dem Werte dieses Vermächtnisses durchbrechen. Die grundlegenden Schriften aus den Züricher Jahren bezeichnet Wagner einmal als »Selbstgespräche« und meint, er wisse nicht recht, für wen sie bestimmt seien; hierin liegt die Gewähr für ihren dauernden Wert. Denn hätte er zu Zeitgenossen geredet, so konnte ihre Bedeutung vielfach bedingt und vergänglich sein; so aber redet er zu sich, ringt er mit sich, um »alles Dämmernde in seinem Leben sich zum Bewußtsein zu bringen«; und da hat er doch anderes und doch mehr zusagen, als wenn er an Frauen, Freunde und Künstler Briefe schreibt. Gewiß ist jede Zeile aus dieser Feder fesselnd und verehrungswürdig; doch die bedeutendsten aller Dokumente, die Wagner hinterlassen hat, müssen ohne Frage seine Selbstgespräche, d. h. seine Schriften sein. In ihnen erlebt man es – Schritt für Schritt –, wie der Schöpfer vollendetster Werke »sich selbst vollkommen klar wird« (so schreibt er an seinen treuen Uhlig); diese Klarheit benötigen wir aber alle, heute nicht weniger als vor fünfzig Jahren, wollen wir erfahren, wie es um Wagners Kunstabsichten wirklich bestellt ist. Denn niemals kommen wir in die Lage, seine Kunst so zu erleben, wie er sie innerlich gedacht und gelebt hat; selbst Bayreuth kann uns (abgesehen von allen künstlerischen Unüberwindlichkeiten der Gegenwart) nur einen Abglanz bieten, etwa wie die Sachsen und Brabanter Lohengrin vom fernen Gral erzählen hören, ihn aber doch nicht erblicken; und zwar darum, weil für Wagner das Ideal der Kunst von dem Ideal des Lebens nicht getrennt werden kann; durch keine Macht; der bloße Gedanke hieran wäre die Verleugnung seines Lebenswerkes. Woraus sich aber nun des weiteren ergibt, daß wer Wagners Schriften nicht kennt, nie und nimmer seine Werke richtig zu empfinden und zu erleben vermag.

Hier ist aber die Gelegenheit gegeben, einen noch tieferen Blick in das Wesen des Zusammenhanges zwischen den Kunstwerken und den Schriften dieses Meisters zu werfen. Ein Vergleich soll unserem Auge den Weg dazu weisen.

Wird erst eine hinreichende Zeit perspektivisch verjüngend gewirkt haben – stellen wir uns eine Spanne von zweihundert Jahren vor – die Musiker und die Dichter des neunzehnten Jahrhunderts, verloren unter Hunderten von Nachfolgern, werden dann dem Auge des Lebenden bis zur Unsichtbarkeit zusammengeschrumpft sein; um so deutlicher werden aber – neben der einsam abseits stehenden Sphinxgestalt Beethovens – zwei Gewaltige in die Höhe ragen: Goethe und Wagner. Einen stärkeren Kontrast kann es kaum zwischen Poeten geben; hier jedoch fasse ich nur einen Punkt ins Auge und lasse alles übrige unbeachtet. Goethes Dichtungen gelten bekanntlich allgemein als »Konfessionen«; verschiedene Aussprüche von ihm sind dahin verstanden worden; voraussichtlich werden die Literarhistoriker nach wie vor das hierdurch veranlaßte Gesellschaftsspiel der Identifikation an seinen Werken treiben; die nicht philologisch Interessierten werden aber jedenfalls immer mehr einzig nach der Person Goethes selbst in diesen vorgeblichen »Konfessionen« fragen, weil diese zunehmend alles Interesse beanspruchen muß; und da wird sich denn nach und nach herausstellen, daß Goethe nirgendwo zu finden ist. Einen Merck und eine Lili und einen Einsiedel usw. kann der Philologe verhältnismäßig leicht vortäuschen, weil sie nur oberflächlich bekannt sind; bei einem Herder wird es schon bedenklich, und bei einem Goethe stimmt zuletzt gar nichts. Goethe, ein unter Schädeln und Pergamenten, in staubigen Gewölben eingeschlossener Faust! Goethe, ein von Reue in den Wahnsinn gejagter Orest! Goethe, ein kranker, schmachtender Tasso! Goethe, ein unschlüssiger, hin und her wankender, den Bestimmungen anderer folgender Wilhelm Meister! Alles und jedes doch gar zu absurd. Und so wird allmählich die Besinnung eintreten, daß selten ein Richter so wenig wie gerade Goethe sich selbst dichterisch dargestellt oder gar verherrlicht hat. Natürlich kann auch er – wie jeder – nur aus dem Stoff aufbauen, den er eingesammelt hat; »Poetischer Gehalt ist Gehalt des eigenen Lebens«, schreibt er einmal; doch er formt diesen Gehalt des Lebens um, und seine höchste Dichterwonne – was er selber genießt und was er anderen als Genuß bereiten will – ist das reine Erblicken des Phantasiebildes, das Gemälde, entworfen, nachdem die Leidenschaft wie ein Gewitter erquickend sich ergangen hat und nur mehr verklärt am Horizonte hängt als Folie zu dem durchsichtigen Vorderund Mittelgrunde. Ganz anders bei Wagner. Was ihn vor allen Dramatikern der alten und neuen Zeit auszeichnet, ist die unerhörte Kraft und Bestimmtheit des Ausdruckes; dieser Ausdruck entspringt persönlichstem Erlebnis. Von der zartesten, noch unbewußten Regung im Innern bis zu dem Rasen und dem Wahnsinn der entfesselten Leidenschaft: jeder Ton steht ihm zur Verfügung, und mit diesem Ton erfaßt er auch unser Herz und zwingt uns so zu fühlen, wie er fühlt. Der Eine ist hier alles. Goethes Gegenwart kann man selbst in Dichtung und Wahrheit bisweilen vergessen, so vollkommen geht er in die umgebende Welt auf; Wagners Gegenwart kann man nie vergessen. Und worauf ich im Augenblicke hinziele, ist folgende Erkenntnis: in einem anderen Sinne als Goethes Werke bringen diejenigen Wagners wirkliche »Konfessionen«. Zunächst bleibt diese Tatsache durch die Wahl der Gegenstände verhüllt; unter Göttern, Göttersöhnen, Helden vermuten wir keinen unserer Gegenwart ungehörigen Menschen. Und doch: all dieses Gigantische, Himmelsstürmende, Gottverwandte, die nie zu sättigende Sehnsucht nach Liebe, die ekstatische Hingabe, das erhabene Entsagen, die Versenkung in mystische Erkenntnisse, das Erflehen der Erlösung, der furchtlos wahrhaftige Blick auf vergehende Welten und der verzweifelte Kampf um neue ...... all dieses ist Wagners eigenes Leben; so war er, so schlug sein Herz, so sann sein Hirn; dieser poetische Gehalt ist wirklich und buchstäblich »Gehalt seines eigenen Lebens«. Eine derartige Erkenntnis im einzelnen ausbauen zu wollen, wäre kindisch; außerdem ist es dazu heute noch zu früh; viel Schlacke einer schwerlastenden Gegenwart muß in den Abgrund der wohltätig verschlingenden Vergessenheit fallen, und manche Erinnerung an armselige Umgebung muß durch der Zeiten Dunst harmonisch abgestimmt werden, ehe diese Gestalt in ihren wahren Verhältnissen den Menschen vor Augen tritt. Vorderhand möge der Hinweis genügen. Wer aber, diesem Hinweis folgend, ernsthaft bestrebt sein will, ins Innerste der Werke Wagners einzudringen, kann seiner Schriften nicht entbehren. Denn hier erst wird er es begreifen lernen, wie der Fliegende Holländer aus Wagners eigener Sehnsucht entsteht, von allen seinen Irrfahrten und Leiden im Tode Ruhe zu finden, Tannhäuser aus seiner eigenen Sehnsucht – an Stelle aller ihn erstickend umgebenden, kleinherzigen Philisterhaftigkeit – nach ungeheucheltem, antikem, schönheitstrunkenem Sinnenrausch reiner, starker Liebe, »nach dem Genusse eines mit allen Sinnen zu fassenden, mit aller Kraft des wirklichen Seins fest und innig zu umschließenden Gegenstandes«, Lohengrin aus seiner Sehnsucht »aus der Höhe nach der Tiefe«, der Sehnsucht »nach Verstandensein durch die Liebe«, d. h. nach Vertrauen der Menschen in die göttliche Sendung, die sein Busen beherbergte, kurz, nach allem, dessen Wagner in jenem Augenblicke bedurft hätte und was die Welt ihm verweigerte und noch heute verweigert. Einzig das eigene Erlebnis hat diese poetische Gewalt dem Dramatiker verliehen. Auch die Verneinung einer Welt, die nur auf dem »durch Lug, Trug und Heuchelei organisierten und legalisierten Mord und Raub« ruht (vgl. S. 148) und ihre Ersetzung durch eine andere, bessere Gesellschaftsordnung: das ist bei Wagner keine politischsoziale Theorie, sondern ein rastlos gebietendes Bedürfnis seines innersten Daseins; auch hier handelt es sich um »Gehalt des eigenen Lebens«; er und seine Kunst lehnen alle Kompromisse ab; daß er jeden Augenblick bereit sei, das Leben für diese Revolution oder Regeneration hinzugeben, hat er durch die Tat bewiesen. Nur aus diesem heiligen Ernst der Überzeugung, aus dieser heiligen Sehnsucht nach einem Besseren erwuchs die Kraft, uralte Mythen in ihrer unvergänglichen symbolischen Bedeutung zu erfassen und der Welt als die ewige Wahrheit vorzuhalten. Wer dieser Spur folgt, wird auch die eigentliche Quelle der unerhörten Ausdrucksgewalt in Wagners Werken entdecken; denn es handelt sich nicht allein um die supreme Beherrschung der Form und um die virtuose Verwendung der Mittel, noch weniger um die Geistesgewandtheit allein, aus dem Wust einer vermoderten, verderbten, unverständlichen Überlieferung das Lebensfähige herauszuschälen und für alle Zeiten an das Gewölbe des Sichtbaren zu bannen, sondern zu alledem kommt noch eine moralische Kraft hinzu, etwas, was nicht das Hirn, sondern nur das Herz geben kann: die beiden Gewalten nämlich – Verzweiflung und Hoffnung – welche allein den Menschen zu einem gänzlichen Verzehren seiner selbst im Übermaß des Wollens und des Vollbringens vermögen. In dem Ring, in dem »Ergänzungsakt« des Tristan und in dem heiter-ernsten Nebenspiel der Meistersinger, sowie in dem abschließenden Mysterium des Parsifal ringt eine Menschenseele – zwischen Hoffen und Verzweifeln – um ihr Heil und dadurch zugleich um das Heil der Welt; unsere indischen Weisen wußten es wohl: sich selbst erlösen und die Welt erlösen ist ein und dasselbe. Was im Holländer, Tannhäuser und Lohengrin persönliches Erlebnis gewesen war, erweitert sich zu Weltendimensionen; persönlich bleibt es aber nichtsdestoweniger, denn es ist nicht weniger das Erlebnis des Einen.

Zu dem hier angedeuteten wahrhaften Erfassen der Werke Wagners kann keiner gelangen, der achtlos an dem Schatze vorbeigeht, in welchem uns die Zeugnisse seines Wollens, Hoffens, Denkens, Tuns aufbewahrt sind.


Wozu nun die vorliegende Auswahl? Sie will als Einführung dienen und zu weiterem Studium anregen. Die Nachteile einer Auswahl liegen auf der Hand; Schriften, die nicht willkürlich, sondern aus Lebensbedürfnis entstehen, gehören organisch zusammen und bilden zusammen eine Einheit, wie das Leben selbst; hier aber fehlen die Bindeglieder; diesem Nachteil muß der Herausgeber tunlichst entgegenzuwirken suchen. Ich habe darum weder aus den Schriften zur Kunstlehre (wie Kunstwerk der Zukunft oder Oper und Drama), noch aus denen zur allgemeinen Kulturlehre (wie Staat und Religion oder Religion und Kunst) etwas aufgenommen; denn sie machen zusammen ein Ganzes aus: nicht nur bildet Wagners Auffassung von der Würde der Kunst die Sonne in seiner Auffassung von der Würde der Menschheit und demnach auch der menschlichen Gesellschaft, sondern die Revolutionsgedanken seiner Jugend und die Regenerationsgedanken seines Alters ergänzen sich gegenseitig und besitzen für die Erkenntnis der Persönlichkeit und ihrer Werke den gleichen Wert. Dieser reiche Schatz – von Kunst und Revolution (1849) bis zu Heldentum und Christentum (1881) – bleibe also dem Leser für die geeignete Stunde aufbewahrt.Hans von Wolzogen hat vor einigen Jahren einen Band Ausgewählte Schriften herausgegeben, enthaltend die wichtigsten Beiträge der letzten Lebensjahre zu den allgemeinen Kulturfragen; würde nun sein Band und der vorliegende durch einen dritten ergänzt, der die Züricher Hauptschriften über das neue Kunstwerk enthielte, der Leser bekäme eine gedrängte Übersicht des Wichtigsten.

Inzwischen möge dieses bescheidene Bändchen dazu dienen, ihn – wenn ich so sagen darf – mit der Stimme Wagners vertraut zu machen, mit dieser Stimme, nicht wenn sie in der göttlichen Eingebung des Kunstwerkes, sondern wenn sie mit sich selber und den nächsten Freunden redet und ratet. Jede Stimme hat etwas Überraschendes; sie verrät mehr als das bloße Wort sagt; sie ist wie eine Ergänzung zu dem Blick des Auges. Ich wünschte, der Leser möchte mit Vertrauen und Verehrung dieser Stimme lauschen. Liest er in dieser rechten Stimmung die drei Schriften, die zu einer ersten autobiographischen Gruppe vereinigt sind, er wird viel über Wagner lernen, und sich gewiß wundern, daß er diese Nähe nicht früher aufgesucht habe. Die zweite Gruppe von drei Schriften soll zur Erholung nach dem erschütternden Eindruck der Erlebnisse dienen. Die vollendete Einfachheit der Pariser Novellen, von denen wir zwei bringen, wirkt auf jeden, der bisher gewohnt war, Wagner nur an dem Maßstab des Liebestodes und der Götterdämmerung zu messen, im ersten Augenblick fast befremdend; es sind aber kleine Meisterwerke, die wir immer mehr schätzen, je genauer wir sie kennen lernen; das Zarteste in dem Herzen des Liebevollen – sein Verhältnis zu den großen Meistern seiner Kunst – wird hier bloßgelegt; und stets dabei die sprudelnde Heiterkeit, die auch im Leben dem Menschen eigen war. Mit »Wieland« bekommt der Fernerstehende einen Einblick in den Reichtum der wenig bekannten dramatischen Fragmente Wagners, zugleich eine willkommene Ergänzung zu den Ausführungen in »Eine Mitteilung an meine Freunde« (vgl. S. 129). In einer dritten Abteilung finden sich wiederum drei Schriften vereinigt, von denen eine jede Wagners Kulturtätigkeit von einer bestimmten Seite am Werke zeigt: die erste gilt der reinen Kunst, die zweite der Kunst im Zusammenhang des Lebens, die dritte dem Leben, wie es das Auge des Künstlers erblickt. In der Schrift über die Neunte Symphonie Beethovens sehen wir den noch jugendlichen Meister höchste, gottgegebene Kunst gegen Stümper und Neider durchsetzen, dem ganzen deutschen Volk zum Heil; in dem Brief über die Goethestiftung lernt der Leser einen der vielen Ansätze zu jenem Festspielgedanken kennen, der grundlegend für Wagners Auffassung der Kunst und somit auch der Kultur ist, – denn nur aus dem Ernst unermüdlicher Arbeit kann die Möglichkeit hervorgehen, ein als heilig erkanntes Ziel zu erreichen, nicht aus Theaterspekulationen; wie aber dieser Ernst und diese Selbstlosigkeit aufzufassen sind, sobald wir die Kunst nicht als egoistische Sondererscheinung, sondern als einen Ausdruck des wahrhaftig – innerlich und äußerlich – gelebten Lebens erkennen, das ersieht der Leser aus der Abhandlung über die Vivisektion, in bezug auf Stil, Prägnanz, Einfachheit, Klarheit, Kraft, vielleicht das Höchste, was Wagner in der stummen Prosa des gedruckten Wortes geleistet hat.

Möge denn dieses Bändchen das Seinige zur Vertiefung der Kenntnis Wagners beitragen.

Houston Stewart Chamberlain.

Bayreuth, im September 1910.


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