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Eine philosophische Erzählung.
1752
Auf einem der Planeten, die um den Fixstern namens Sirius kreisen, lebte ein junger Mann von großen geistigen Gaben, den ich während seiner letzten Reise nach unserem kleinen Ameisenhaufen kennen zu lernen die Ehre gehabt habe. Er hieß Mikromegas, ein Name, der allen Großen gar wohl ansteht. Der junge Mann maß acht Meilen in der Länge; unter acht Meilen verstehe ich vierundzwanzigtausend geometrische Schritte, einen jeden zu fünf Fuß.
Studenten der Algebra, also dem Publikum stets sehr nützliche Leute, werden auf der Stelle die Feder ergreifen und folgendes ausrechnen: da Herr Mikromegas, der Bewohner des Sirius, vom Scheitel bis zur Sohle vierundzwanzigtausend Schritte, also hundertundzwanzigtausend Fuß maß, und wir Erdenbürger kaum fünf Fuß lang sind, und andererseits unsere Erdkugel einen Umfang von neuntausend Meilen hat, so werden sie herausrechnen, sage ich, daß die Weltkugel, die Herrn Mikromegas hervorgebracht hat, notwendig genau einen einundzwanzig Millionen sechshunderttausendmal größeren Umkreis haben müsse, als unsere kleine Erde, und dies ist auch etwas völlig Einfaches und Gewöhnliches in der Natur. Die Staaten einiger Fürsten Deutschlands und Italiens, welche sich in einer halben Stunde gar leicht umschreiten lassen, sind im Vergleich mit dem türkischen, moskowitischen oder chinesischen Reiche nur ein äußerst schwaches Abbild von der wunderbaren Verschiedenheit, welche die Natur in allen ihren Schöpfungen geoffenbart hat.
Da die Gestalt seiner Exzellenz die von mir angegebene Höhe hatte, werden alle unsere Bildhauer und Maler ohne Sträuben zugeben, daß sein Leibesumfang ungefähr fünfzigtausend Fuß messen mußte, was eine sehr hübsche Proportion ergab. Da seine Nase ein Drittel seines schönen Gesichtes und sein schönes Gesicht den siebenten Teil der Länge seines schönen Körpers ausmachte, so muß festgestellt werden, daß die Nase des Sirioten sechstausenddreihundertdreiunddreißig Fuß und noch einen Bruchteil mehr maß, was zu beweisen war.
Was seinen Geist anbelangt, so wäre er einer der gebildetsten Menschen gewesen, die bei uns hätten vorkommen können: er wußte gar viele Dinge und hatte einige sogar selber entdeckt. Er zählte kaum zweihundertundfünzig Jahre und studierte, wie es Brauch war, an dem Jesuitenkollegium seines Planeten, als er kraft seines Verstandes mehr als fünfzig Aufgaben des Euklid löste, also achtzehn mehr als Blaise Pascal, welcher, nachdem er zweiunddreißig spielend gelöst, nach dem Bericht seiner Schwester später ein ziemlich mittelmäßiger Geometer und ein sehr schlechter Metaphysiker wurde. Gegen das vierhundertundfünfzigste Jahr, am Ausgang der Kindheit also, sezierte er viele jener kleinen Insekten, welche kaum hundert Fuß im Durchmesser haben und mit gewöhnlichen Mikroskopen nicht sichtbar sind; er schrieb darüber ein sehr gewissenhaftes Buch, das ihm jedoch einige Unannehmlichkeiten eintrug. Der Mufti seiner Heimat, ein äußerst unwissender, unleidlicher Kleinigkeitskrämer, entdeckte in seinem Buche verdächtige, anstößige, vermessene, freigeistige und nach Ketzerei riechende Sätze und verfolgte ihn heftig: es handelte sich um die Feststellung, ob die Grundform der siriotischen Flöhe urverwandt sei mit der Form der Wegschnecken. Mikromegas verteidigte sich mit großem geistigen Geschick und brachte die Weiber auf seine Seite: der Prozeß dauerte zweihundertundzwanzig Jahre. Schließlich ließ der Mufti das Buch von Rechtsgelehrten verdammen, die es nicht gelesen hatten, und den Verfasser traf das Verbot, achthundert Jahre lang nicht bei Hofe zu erscheinen.
Diese Verbannung von einem Hofe, dessen Leben und Weben aus Kabalen und Kleinigkeiten bestand, bereitete ihm nur geringen Kummer. Er machte ein lustiges kleines Spottlied auf den Mufti, was dieser sich nicht weiter zu Herzen nahm, und schickte sich an, von Planet zu Planet zu reisen, um, wie man sagt, seine Herzens- und Geistesbildung zu vollenden. Wer nur in der Postkutsche oder der Berline zu reisen gewohnt ist, würde sicherlich vor Erstaunen außer sich geraten über die Beförderungsmittel von dort oben, denn wir auf unserem kleinen Schmutzhäufchen hienieden vermögen nichts zu begreifen, was jenseits unseres Gebrauches liegt. Unser Reisender kannte gar wunderbar alle Gesetze der Schwere und alle anziehenden und abstoßenden Kräfte und wußte sich ihrer so gut zu bedienen, daß er bald mit Hilfe eines Sonnenstrahles, bald unter Benutzung der Fahrgelegenheit eines Kometen mit allen seinen Begleitern von Weltkugel zu Weltkugel fuhr, wie ein Vogel von Ast zu Ast fliegt. In kurzer Zeit durchquerte er die Milchstraße, und ich halte mich für verpflichtet mitzuteilen, daß er zwischen den Sternen, mit denen sie besät ist, niemals jene schönen Himmelsgefilde entdeckte, die der berühmte Vikar Derham[Ein englischer Gelehrter, der Verfasser der astronomischen Theologie und einiger anderer Werke, in denen er das Dasein Gottes durch die Naturwunder zu beweisen sucht.] mit seinem Fernrohre gesehen zu haben sich rühmt. Nicht etwa, daß ich behauptete, Herr Derham habe schlecht gesehen, da sei Gott vor, aber Mikromegas ist doch eben an Ort und Stelle gewesen und ist ein vortrefflicher Beobachter, ich will jedoch beileibe niemandem widersprechen. Mit wohlberechneter Wendung gelangte Mikromegas auf die Kugel des Saturn. Wie gewohnt er es auch war, neue Dinge zu sehen, so konnte er sich doch beim Anblick der Winzigkeit dieses Himmelskörpers und seiner Bewohner zunächst nicht jenes überlegenen Lächelns erwehren, das bisweilen auch den Weisesten überkommt. Der Saturn ist ja auch kaum neunhundertmal größer als die Erde, und die Saturnbürger sind Zwerge, welche nur ungefähr tausend Klafter messen. Anfangs machte er sich mit seinen Begleitern ein wenig lustig darüber, wie etwa ein italienischer Musiker über Lulli's Musik lachen muß, wenn er nach Frankreich kommt. Da der Siriote jedoch einen vortrefflichen Verstand besaß, begriff er schnell, daß ein denkendes Wesen nicht notwendig lächerlich sein mußte, weil es nur sechstausend Fuß in der Länge maß. Nachdem er anfangs die Saturnier in Erstaunen versetzt, ward er bald vertraut und vertrauter mit ihnen. So knüpfte er denn auch die engste Freundschaft mit dem Sekretär der Akademie des Saturns, einem Manne von großem Verstande, der in Wahrheit allerdings nichts selber erfunden hatte, über die Erfindungen anderer aber trefflich zu berichten wußte und ganz leidliche Verschen und gewaltige Berechnungen machte. Um den Lesern Genüge zu tun, will ich hier ein seltsames Gespräch wiedergeben, das Mikromegas eines Tages mit dem Herrn Sekretär hatte.[In dem saturnischen Zwerg wird Herr von Fontenelle, der Sekretär der Pariser Akademie, verspottet.]
Nachdem seine Exzellenz sich zu Boden gelegt, und der Sekretär sich seinem Antlitze genähert hatte, sagte Mikromegas: »Man muß doch zugeben, daß die Natur recht mannigfaltig ist.« »Ja,« antwortete der Saturnier, »die Natur ist wie ein Beet, dessen Blumen . . .« »Ach,« unterbrach der andere, »verschonen Sie mich mit Ihrem Beet.« »Sie ist,« nahm der Sekretär seine Rede wieder auf, »wie eine Versammlung von Blonden und Braunen, deren Haartrachten . . .« »Was habe ich denn mit Ihren Blonden zu schaffen?« rief der Siriote. »Dann ist sie also wie eine Gemäldegalerie, deren einzelne Werke . . .« »Nein, nein doch,« rief der Siriote, »die Natur ist immer nur wie die Natur. Warum Vergleiche für sie suchen?« »Um Ihnen zu gefallen«, antwortete der Sekretär. »Ich will aber durchaus nicht, daß man mir gefalle, sondern vielmehr, daß man mich belehre: beginnen Sie zunächst damit, mir zu sagen, wieviel Sinne die Menschen auf Ihrer Weltkugel haben?« »Wir haben deren zweiundsiebenzig,« erwiderte der Akademiker, »und klagen tagtäglich über diese geringe Zahl. Unsere Phantasie übersteigt unsere Bedürfnisse, wir fühlen uns mit unseren zweiundsiebenzig Sinnen, unserem Ringe und unseren fünf Monden allzu beschränkt, denn trotz all unserer Wißbegier und der ziemlich großen Zahl von Leidenschaften, die in unseren zweiundsiebenzig Sinnen ihren Ursprung haben, bleibt uns doch vollauf Zeit, uns zu langweilen.« »Das glaube ich schon,« erwiderte Mikromegas, »denn wir auf unserer Kugel haben an die hundert Sinne, und dennoch bleibt uns irgend ein unbestimmtes Sehnen, irgend eine unbestimmte Unruhe, die uns unaufhörlich daran gemahnt, wie wenig wir doch eigentlich sind, und daß es noch viel vollkommenere Wesen geben muß. Ich bin ein wenig umhergekommen und habe Sterbliche gesehen, die weit unter uns standen, und solche, die uns gar sehr überlegen waren, aber ich bin nirgendwo solchen begegnet, die nicht mehr Wünsche als wirkliche Bedürfnisse und mehr Bedürfnisse als Befriedigung empfunden hätten. Vielleicht werde ich eines Tages in das Land gelangen, wo es an nichts fehlt, aber bisher hat mir niemand über ein solches Land bestimmte Nachrichten zu geben vermocht.« Der Saturnier und der Siriote ergingen sich nun in allerlei Vermutungen, aber nach vielen sehr geistvollen und verschwommenen Überlegungen mußten sie doch wieder auf die Tatsachen zurückkommen. »Wie lange leben Sie hier?« fragte der Siriote. »Ach, kurz, sehr kurz«, erwiderte der kleine Mann vom Saturn. »Genau wie bei uns,« rief der Siriote, »auch wir beklagen uns stets über die Kürze! Es scheint dies ein allgemeines Naturgesetz zu sein.« »Ach,« sagte der Saturnier, »wir leben nur fünfhundert große Sonnenwenden (nach unserer Weise gezählt, bedeutet das ungefähr fünfzehntausend Jahre). Sie sehen wohl, daß das fast in dem Augenblicke sterben heißt, in dem man geboren wird. Unser Dasein ist ein Punkt, unsere Dauer ein Augenblinken, unsere Weltkugel ein Stäubchen; kaum hat man angefangen, ein wenig zu lernen, so kommt auch schon der Tod, noch ehe man irgendwelche Erfahrung gesammelt hat. Deshalb wage ich meinerseits auch keinen einzigen Vorsatz zu fassen, ich fühle mich wie ein Wassertropfen inmitten eines unermeßlichen Ozeans. Vor allem Ihnen gegenüber schäme ich mich der lächerlichen Gestalt, die ich in dieser Welt herumtrage.«
Mikromegas erwiderte ihm: »Wenn Sie kein Philosoph wären, würde ich Sie durch die Mitteilung zu betrüben fürchten, daß unser Leben siebenhundertmal länger währet als das Ihre, aber Sie wissen nur allzu gut, daß wenn man seinen Leib den Elementen zurückgeben und die Natur in einer anderen Gestalt neu beleben muß, was nämlich sterben heißt, daß es beim Eintreten dieses Augenblickes der Umwandlung genau dasselbe ist, ob man eine Ewigkeit oder nur einen Tag lang gelebt hat. Ich bin in Ländern gewesen, wo man tausendmal länger lebte als bei mir zu Hause, und dennoch sah ich, daß man auch dort noch murrte. Allenthalben gibt es jedoch verständige Menschen, die ihr Schicksal auf sich zu nehmen und dem Schöpfer der Natur dafür zu danken wissen: er hat über dieses Weltenall eine Überfülle von Mannigfaltigkeiten mit einer wunderbaren Art von Einheitlichkeit ausgeschüttet. So sind zum Beispiel alle denkenden Wesen verschieden, und dennoch sind sie im Grunde einander alle gleich durch die Gift des Denkens und Wünschens. Allenthalben ist die Materie vorhanden, auf jeder Weltkugel aber hat sie verschiedene Eigenschaften. Wie viele solcher verschiedenen Eigenschaften zählen Sie an Ihrer Materie?« »Wenn Sie,« sagte der Saturnier, »jene Eigenschaften meinen, ohne die wir den Fortbestand unserer Weltkugel, so wie sie ist, für unmöglich halten, so zählen wir deren dreihundert, wie Ausdehnung, Undurchdringlichkeit, Beweglichkeit, Schwere, Teilbarkeit und was dergleichen mehr ist.« »Wahrscheinlich genügt diese kleine Zahl für die Absichten, die der Schöpfer mit Ihrer kleinen Wohnstätte hegte«, erwiderte der Reisende. »Ich bewundere in allem seine Weisheit. Überall sehe ich Verschiedenheit, aber auch Ausgeglichenheit überall. Ihre Weltkugel ist klein, und klein sind auch die Bewohner. Sie haben wenig Empfindungen, Ihre Materie wenig Eigenschaften, alles das ist ein Werk der Vorsehung. Welche Farbe hat Ihre Sonne, wenn man es genau untersucht?« »Sie zeigt eine sehr gelbliche Weisse,« sagte der Saturnier, »und wenn wir einen ihrer Strahlen zerlegen, so finden wir, daß er sieben Farben enthält.« »Unsere Sonne neigt dem Roten zu,« sagte der Siriote, »und wir haben neununddreißig Grundfarben. Nicht eine einzige von allen den Sonnen, denen ich nahe gekommen bin, ist einer anderen ähnlich, wie es bei Ihnen kein Gesicht gibt, das nicht verschieden wäre von allen anderen.«
Nach mehreren Fragen dieser Art erkundigte er sich, wieviele artverschiedene Wesenheiten man auf dem Saturn zähle. Er erfuhr, daß man ihrer nur ungefähr dreißig annähme, wie Gott, den Raum, die Materie, die mit Ausdehnung begabten Wesen, welche fühlen und denken, die denkenden Wesen, welche keine Ausdehnung haben, die Wesen, die einander durchdringen, solche, die einander nicht durchdringen usw. Der Siriote, bei dem man dreihundert zählte und der auf seinen Reisen noch dreitausend andere entdeckt hatte, setzte den Philosophen vom Saturn in maßloses Erstaunen. Nachdem sie einander ein wenig von dem mitgeteilt, was sie wußten, und gar viel von dem, was sie nicht wußten, und so einen Sonnenumlauf miteinander verschwatzt hatten, beschlossen sie endlich, eine kleine philosophische Reise zusammen zu unternehmen.
Unsere beiden Philosophen waren gerade bereit, mit einer recht hübschen Ausrüstung an mathematischen Instrumenten in die Atmosphäre des Saturns hinauszusegeln, als die Geliebte des Saturniers, die Wind davon bekommen hatte, unter Tränen herbeistürzte, um ihrerseits Verwahrung dagegen einzulegen. Sie war ein hübscher kleiner Braunkopf, der nur sechshundertundsechzig Klafter maß, aber durch vielerlei Zierlichkeiten diese Winzigkeit seines Körpers wieder ausglich. »Oh, du Grausamer,« schrie sie, »nachdem ich dir fünfzehnhundert Jahre lang widerstanden, willst du mich jetzt, da ich mich dir endlich hingegeben und kaum hundert Jahre in deinen Armen verbracht habe, nun willst du mich verlassen, um mit einem Riesen aus einer anderen Welt auf Reisen zu gehen? Geh, du bist nur neugierig, wahre Liebe hast du niemals gefühlt; wärest du ein echter Saturnier, würdest du auch treu sein. Wohin willst du, und was willst du? Unsere fünf Monde irren ja weniger herum als du, und unser Ring ist arm an Wechsel neben dir: aber das ist ausgemacht, niemals wieder werde ich jemanden lieben.« Der Philosoph umarmte sie und weinte mit ihr trotz all seiner Philosophie, und nachdem sie dann gründlich in Ohnmacht gefallen war, ging sie davon und tröstete sich mit einem kleinen einheimischen Schulmeister.
Unterdessen reisten unsere beiden Wißbegierigen ab. Sie sprangen zuerst auf den Ring, den sie ziemlich flach fanden, wie ein erlauchter Bewohner[Huygens.] unserer kleinen Weltkugel richtig erraten hat, und von dort aus begaben sie sich von Mond zu Mond. An dem letzten flog ganz dicht ein Komet vorbei und sie sprangen mit ihrem Bedienten und ihren Instrumenten hinauf. Nachdem sie ungefähr hundertundfünfzig Millionen Meilen zurückgelegt hatten, begegneten sie den Trabanten des Jupiter. Sie stiegen auf den Jupiter selbst hinüber und verbrachten dort ein Jahr, in dessen Verlauf sie gar schöne Geheimnisse erfuhren, die gegenwärtig ohne die Herren Inquisitoren unter der Presse sein würden, denn diese fanden einige Behauptungen allzu schroff: ich habe aber das betreffende Manuskript in der Bücherei des hochwürdigen Bischofs von . . . gelesen; er ließ mich alle seine Bücher mit der ihm eigenen Bereitwilligkeit und Güte sehen, welche man niemals genug wird preisen können.
Wir wollen jedoch zu unseren Reisenden zurückkehren. Nachdem sie den Jupiter verlassen, durchquerten sie einen Raum von ungefähr hundert Millionen Meilen und kamen an dem Planeten Mars vorbei, der, wie man weiß, fünfmal kleiner ist als unsere kleine Kugel. Sie sahen zwei diesem Planeten dienende Monde, die den Blicken unserer Astronomen bisher entgangen sind. Ich weiß wohl, daß der Pater Castel gegen das Vorhandensein dieser beiden Monde sogar recht ergötzlich schreiben wird, aber ich wende mich an die, welche aus Übereinstimmungen Schlüsse zu ziehen gewöhnt sind. Diese wackeren Philosophen werden nämlich wissen, wie schwer es für den von der Sonne so weit entfernten Mars halten würde, dieser beiden Monde zu entbehren. Wie dem nun aber auch sein möchte, unsere beiden Freunde fanden den Mars so klein, daß sie dort keinen Platz zum Niederlegen und Schlafen zu finden fürchteten, und so setzten sie denn ihren Weg wie zwei Reisende fort, die ein schlechtes Dorfwirtshaus verschmähen und bis zur nächsten Stadt weiterwandern wollen. Aber der Siriote und sein Gefährte sollten es gar bald zu bereuen haben. Sie drangen lange vorwärts und fanden nichts. Endlich gewahrten sie ein Lichtchen . . . die Erde; das war wahrlich zum Erbarmen für Leute, die vom Jupiter kamen. Aus Furcht jedoch, ein zweites Mal Grund zur Reue zu haben, beschlossen sie an Land zu steigen. Sie begaben sich auf den Schwanz des Kometen, fanden ein Nordlicht eben bereit, vertrauten sich ihm an und landeten auf der Erde am südlichen Ufer der Ostsee, und zwar am fünften Juli eintausendsiebenhundertundsiebenunddreißig neuen Stils.
Nachdem sie sich eine Weile ausgeruht hatten, aßen sie zu ihrem Frühstück zwei Berge, die ihre Bedienten ihnen ziemlich sauber zubereiteten. Darauf wollten sie das kleine Land, auf dem sie sich befanden, näher in Augenschein nehmen. Sie gingen zunächst von Norden nach Süden. Die gewöhnlichen Schritte des Sirioten und seiner Leute waren ungefähr dreißigtausend Fuß lang: der Zwerg vom Saturn lief atemlos hinterher, er mußte aber auch ungefähr zwölf Schritte machen, wenn der andere nur einmal zutrat. Man stelle sich (wenn derartige Vergleiche denn überhaupt erlaubt sind) ein recht kleines Schoßhündchen vor, das hinter einem Hauptmann der Garde des Königs von Preußen herlaufen wollte.
Da die beiden Ausländer ziemlich schnell vorwärts kamen, hatten sie die Erdkugel in sechsunddreißig Stunden umschritten. Die Sonne, oder vielmehr die Erde macht diese Reise allerdings innerhalb eines Tages, aber man muß dabei bedenken, daß man weit bequemer geht, wenn man sich um seine eigene Achse dreht, als wenn man auf seinen Füßen marschiert. Sie gelangten also wieder auf den Punkt, von dem sie ausgegangen waren, nachdem sie unterwegs jene für sie kaum wahrnehmbare Pfütze, das Mittelländische Meer genannt, und jenen anderen kleinen Weiher gesehen hatten, der unter dem Namen der Große Ozean den ganzen Maulwurfshaufen umschließt. Beim Durchschreiten war's dem Zwerge niemals höher denn bis zu den Waden gegangen, und der Siriote hatte sich kaum die Fersen naßgemacht. Beim Kommen und Gehen, obenherum und untenherum, hatten sie alles getan, was nur irgend in ihrer Macht stand, um zu erkennen, ob diese Weltkugel bewohnt sei oder nicht. Sie bückten sich, legten sich nieder und tasteten überall umher, aber da weder ihre Augen noch ihre Hände in einem Verhältnis zu den kleinen Wesen standen, die hier einherkrochen, so machten sie nicht die geringste Wahrnehmung, die sie hätte vermuten lassen können, daß wir und unsere Mitbrüder, die anderen Bewohner dieser Erdkugel, der Ehre teilhaftig wären zu leben.
Der Zwerg, der bisweilen ein wenig allzu schnell urteilte, entschied zunächst, daß es niemanden auf der Erde gebe, und sein erster Grund dafür war, daß er niemanden gesehen hatte. Mikromegas gab ihm höflich zu verstehen, daß solcherweise urteilen schlecht urteilen sei, »denn,« sagte er, »Sie schauen mit Ihren kleinen Augen gewisse Sterne fünfzigster Größe nicht, welche ich noch ganz deutlich wahrnehme, möchten Sie daraus schließen, daß diese Sterne nicht existieren?« »Aber ich habe ja auch sorgsam umhergetastet!« erwiderte der Zwerg. »Jedoch schlecht gefühlt«, antwortete der andere. »Aber,« rief der Zwerg, »diese Weltkugel ist doch so schlecht gestaltet, alles ist so unregelmäßig und von einer Form, die mich völlig lächerlich deucht, alles erscheint mir hier wie mitten im Chaos: sehen Sie nur diese schmalen Bäche, von denen keiner fadengrade läuft, und diese Teiche, die weder rund, noch viereckig, noch länglichrund, noch irgendwie sonst regelmäßig geformt sind, und all diese kleinen spitzigen Körner, mit denen diese Kugel ausgebuckelt ist und die mir die Füße aufgeschunden haben! (Er wollte von den Gebirgen sprechen.) Beachten Sie auch die Gestalt der ganzen Kugel, wie platt ist sie nicht an den Polen, wie ungeschickt dreht sie sich nicht um die Sonne, nämlich derart, daß die Gegenden um die Pole notwendig unfruchtbar sein müssen! Was mich im Letzten zu der Annahme treibt, es könne hier niemand leben, ist der Eindruck, daß vernünftige Leute nicht würden hierbleiben wollen.« »Gut,« sprach Mikromegas, »vielleicht sind es eben auch keine vernünftigen Leute, die hier wohnen. Jedenfalls hat es den Anschein, als sei dieses alles nicht für nichts und wieder nichts gemacht. Es erscheint Ihnen alles unregelmäßig hier, sagen Sie; ja, auf dem Saturn und dem Jupiter ist eben alles nach der Schnur gezogen! Vielleicht herrscht gerade aus diesem Grunde hier ein gewisser Wirrwarr. Habe ich Ihnen nicht schon gesagt, ich hätte auf meinen Reisen stets Mannigfaltigkeit angetroffen?« Auf alle diese Gründe erwiderte der Saturnier, und ihr Streit würde nie ein Ende genommen haben, hätte Mikromegas glücklicherweise nicht in der Hitze des Wortgefechts die Schnur seiner diamantenen Halskette zerrissen, so daß die Diamanten zu Boden fielen: es waren hübsche, kleine, ziemlich ungleichförmige Steine, von denen die größten vierhundert und die kleinsten fünfzig Pfund wogen. Der Zwerg hob einige auf, und als er sie vor seine Augen brachte, gewahrte er, daß die Diamanten durch die Art ihres Schliffes vortreffliche Vergrößerungsgläser waren. Er nahm also ein kleines Vergrößerungsglas von hundertundsechzig Fuß im Durchmesser und hielt es vor sein Auge; Mikromegas wählte eines von zweitausendfünfhundert Fuß. Sie waren vortrefflich, aber zunächst sah man mit ihrer Hilfe noch nichts, sie mußten erst richtig eingestellt werden. Endlich sah der Bewohner des Saturn etwas kaum Wahrnehmbares, das sich zwischen zwei Wogen in der Ostsee bewegte: es war ein Wal. Er ergriff ihn sehr geschickt mit dem kleinen Finger, legte ihn auf den Nagel seines Daumens und zeigte ihn dem Sirioten, der zum zweiten Male über das Übermaß von Winzigkeit der Bewohner unserer Weltkugel in ein lautes Gelächter ausbrach. Überführt, daß unsere Welt bewohnt sei, verfiel der Saturnier nun sofort darauf, zu wähnen, sie sei es nur von Walfischen, und da er ein großer Denker war, wünschte er festzustellen, woher so ein kleines Stäubchen seine Bewegung nähme, und ob es Vorstellungen, einen Willen und Freiheit dieses Willens besäße. Mikromegas ward dadurch sehr in Verlegenheit gesetzt, er untersuchte das Tier mit äußerster Geduld, und als Ergebnis dieser Untersuchung stellte er auf, es dürfe unmöglich angenommen werden, daß darin eine Seele wohne. Die beiden Reisenden neigten also dem Gedanken zu, daß auf unserem Erdenrund nichts Geistiges vorhanden sei, als sie mit Hilfe der Vergrößerungsgläser etwas entdeckten, das größer als ein Walfisch war und auf der Ostsee schwamm. Man weiß, daß gerade zu genau jener Zeit eine Philosophenschar vom Polarkreise zurückkehrte, wo sie Beobachtungen angestellt hatte, auf die bisher noch niemand verfallen war. Die Zeitungen berichteten, ihr Schiff sei im Bottnischen Meerbusen gescheitert, und sie hätten sich nur mit knapper Mühe retten können, aber man vermag eben in dieser Welt den Ereignissen niemals in die Karten zu sehen. Ich will genau erzählen, wie sich die Sache zutrug, ohne etwas von dem meinigen hinzuzutun, was für einen Geschichtsschreiber keine geringe Anstrengung bedeutet.
Mikromegas langte mit der Hand behutsam nach der Stelle, wo der Gegenstand zu sehen war, streckte zwei Finger aus, zog sie aber im Augenblick darauf, aus Furcht fehlzugreifen, wieder zurück, öffnete und schloß sie dann endlich, erfaßte dabei mit großer Geschicklichkeit das Schiff, auf dem sich jene Herren befanden, hütete sich, aus Angst es zu zerquetschen, vor jedem Druck, und legte es wiederum auf seinen Nagel. »Wahrlich, dies Tier ist doch von dem ersten recht verschieden«, rief der Zwerg vom Saturn. Der Siriote legte das vermeintliche Tier in die hohle Hand. Die Reisenden und die Schiffsmannschaft, welche sich von einem Wirbelwinde emporgehoben geglaubt und sich jetzt auf einer Art Felsen wähnten, fingen alle an hin und her zu laufen; die Matrosen nahmen Weintonnen, warfen sie auf Mikromegas Hand und sprangen ihnen nach; die Geometer ergriffen ihre Quadranten, ihre Sektoren und ihre lappländischen Mädchen und kletterten auf die Finger des Sirioten herab. Es waren ihrer so viele, daß er endlich etwas sich regen fühlte, das ihm die Finger kitzelte. Die Gelehrten bohrten einen eisenbeschlagenen Stock einen Fuß tief in seinen Zeigefinger, und an diesem leisen Stechen erkannte er, daß aus dem kleinen Tier etwas auf seine Hand hinaus gekrochen sein mußte, aber mehr konnte er darüber noch nicht mutmaßen. Das Vergrößerungsglas, das einen Walfisch und ein Schiff gerade erkenntlich werden ließ, vermochte nichts über ein so winzig kleines Wesen, wie der Mensch es ist. Ich möchte niemandes Eitelkeit verletzen, bin aber verpflichtet, die Wichtigtuer zu bitten, hier mit mir eine kleine Betrachtung anzustellen: wenn man die Größe des Menschen ungefähr auf fünf Fuß ansetzt, so ist unsere Gestalt auf der Erde nicht größer als auf einer Kugel von zehn Fuß Umfang ein Tier aufragen würde, dessen Höhe ungefähr den sechshunderttausendsten Teil eines Daumens betrüge. Man stelle sich eine Wesenheit vor, welche die Erde in ihrer Hand zu halten vermöchte und Organe im Verhältnis zu den unseren besäße – und es könnte gar gut sein, daß eine große Zahl solcher Wesenheiten existiert – und nun bedenke man bitte, was sie über jene Schlachten denken würden, die uns zwei Dörfer eingebracht, welche dann wieder zurückgegeben werden mußten.
Wenn irgendein Hauptmann der großen Grenadiere jemals dieses Werk lesen sollte, so wird er, des bin ich sicher, die Helme seiner Truppen um zwei ganze große Fuß erhöhen lassen, aber, ich sage es ihm im voraus, er mag es anstellen, wie er nur will, er und die Seinen werden doch immerdar unendlich klein bleiben.
Welcher wunderbaren Feinfühligkeit bedurfte es also nicht seitens unseres Philosophen vom Sirius, dieser Stäubchen, von denen ich soeben gesprochen, gewahr zu werden. Als Leuwenhoek und Hartsoeker als erste die Samenkörner erblickten, aus denen wir entstehen, oder sie zu erblicken glaubten, machten sie nicht im entferntesten eine so erstaunliche Entdeckung. Welche Freude empfand nicht Mikromegas, als er jene kleinen Körperchen hin und her kribbeln sah, und alle ihre Wendungen und Vornahmen untersuchte und verfolgte! Wie schrie er nicht auf! mit welcher Freude drückte er nicht eines seiner Vergrößerungsgläser in die Hände seines Reisegefährten! »Ich sehe sie,« riefen alle beide zu gleicher Zeit, »oh, sie tragen Lasten, sie bücken sich, sie richten sich auf.« Und während sie dieses sprachen, zitterten ihnen die Hände vor Freude, so neue Dinge zu sehen, und vor Furcht, sie zu verlieren. Der Saturnier, der sich von einem Übermaß des Zweifels zu einem Übermaß der Gläubigkeit hinüberfreute, glaubte wahrzunehmen, daß sie an ihrer Fortpflanzung arbeiteten. »Oh,« rief er, »ich habe die Natur auf frischer Tat ertappt.«[Ein von Fontenelle bei einem Bericht über naturwissenschaftliche Beobachtungen glücklich gefundener Ausdruck.] Aber er ließ sich durch den Schein täuschen, was nur allzu oft geschieht, mag man sich nun eines Vergrößerungsglases bedienen oder nicht.
Mikromegas, ein weit besserer Beobachter als sein Zwerg, erkannte deutlich, daß die Stäubchen miteinander sprachen, und machte seinen Gefährten darauf aufmerksam; doch mißmutig über seinen Irrtum in Sachen des Zeugungsgeschäftes, wollte dieser nicht glauben, daß derartige Tiergattungen einander Gedanken mitteilen könnten. Er sprach ebensoviele Sprachen wie der Siriote, aber er hörte die Stäubchen nicht, und so folgerte er, daß sie nicht sprechen könnten: wie sollten auch andererseits die Sprachorgane dieser kaum wahrnehmbaren Wesen gestaltet sein, und was konnten sie einander zu sagen haben? Um zu sprechen, muß man denken, oder wenigstens beinahe denken; dachten sie aber, so hatten sie auch so etwas wie eine Seele, und so etwas wie eine Seele dieser Tiergattung zuzuschreiben, erschien ihm völlig albern. »Sie haben ja doch aber,« rief der Siriote, »noch eben erst geglaubt, daß sie sich mit der Ausübung der Liebe befaßten, und glauben Sie, man könne der Liebe obliegen, ohne zu denken und Worte auszusprechen oder doch wenigstens sich einander verständlich zu machen? Wollen Sie gar aufstellen, daß es schwieriger sei, einen Vernunftgrund als ein Kind hervorzubringen? Für mich ist das eine wie das andere ein großes Rätsel. »Ich wage nicht mehr, weder etwas zu glauben, noch etwas zu bestreiten,« sagte der Zwerg, »ich habe keine Meinung mehr. Wir wollen zunächst diese Würmer zu untersuchen trachten – und erst nachher darüber streiten.« »Das war wohl gesprochen«, erwiderte Mikromegas. Und allsobald zog er eine Schere hervor, schnitt sich die Nägel, rollte aus dem Schnitzel seines Daumennagels auf der Stelle eine Art großen Sprachrohrs wie einen mächtigen Schalltrichter, und steckte sich die Spitze ins Ohr. Der obere Rand des Trichters umschloß das Schiff und die ganze Besatzung: auch die schwächste Stimme drang in die kreisförmig gelagerten Fasern des Nagels, so daß dank seines Erfindungsgeistes der Philosoph von dort oben deutlich das Summen der Käfer von hier unten vernahm. In wenigen Stunden gelangte er dahin, die einzelnen Worte zu unterscheiden und schließlich Französisch zu verstehen. Der Zwerg brachte es ebenfalls fertig, aber es wurde ihm viel schwerer. Mit jedem Augenblick wuchs das Erstaunen der Reisenden, sie hörten winzig kleine Milben ziemlich vernünftig sprechen: dieses Naturspiel dünkte ihnen unerklärlich. Man wird gerne glauben wollen, daß der Siriote und sein Zwerg vor Ungeduld brannten, mit den Stäubchen ein Gespräch anzuknüpfen, aber der Zwerg besorgte, seine Donnerstimme und gar die des Mikromegas möchte die Milben so völlig betäuben, daß sie nichts zu verstehen vermöchten. Es galt also die Stimmen zu dämpfen; zu diesem Behufe steckten sie sich eine Art kleiner Zahnstocher in den Mund, deren sehr verjüngte Enden dicht neben das Schiff hinunterragten. Der Siriote hielt den Zwerg auf seinen Knien, und das Schiff mit seiner Besatzung auf einem Nagel, er senkte den Kopf und flüsterte. Nach all diesen und noch vielen anderen Vorsichtsmaßregeln begann er endlich folgendermaßen seine Rede:
»Unsichtbare Käfer, die im Abgrunde des Unendlich-Kleinen entstehen zu lassen der Hand des Schöpfers gefallen hat, ich danke ihm dafür, daß er mir solche unergründliche Geheimnisse zu offenbaren geruht. Vielleicht würde man an meinem Hofe euch anzuschauen verschmähen, ich aber verachte niemanden und trage euch meinen Schutz an.«
Wenn jemals jemand erstaunt gewesen ist, so waren es die Leute, welche diese Worte vernahmen. Sie vermochten nicht zu erraten, woher sie kamen. Der Schiffspfarrer sagte die Teufelbeschwörungsgebete her, die Matrosen fluchten, und die Philosophen schufen schnell ein System, mit welchem sie es aber auch immer versuchten, sie konnten nie und nimmer erkennen, wer zu ihnen sprach. Der Zwerg vom Saturn, der eine etwas leisere Stimme als Mikromegas hatte, setzte ihnen nun in kurzen Worten auseinander, mit welcher Gattung sie es zu tun hätten, berichtete ihnen von der Reise vom Saturn herunter, sagte ihnen, wer Herr Mikromegas sei, und nachdem er sie wegen ihrer Kleinheit bedauert hatte, fragte er sie, ob sie sich stets in diesem elenden, der völligen Nichtsheit so dicht benachbarten Zustande befunden hätten, was sie auf einer Weltkugel trieben, die doch Walfischen zu gehören scheine, ob sie glücklich seien, ob sie sich vermehrten, ob sie eine Seele hätten und noch hundert dergleichen Fragen mehr.
Ein Klugschwätzer aus der Philosophenschar, der etwas beherzter als seine Genossen und außerdem ärgerlich war, daß man an seiner Seele zweifelte, beobachtete den Fragesteller durch einen auf einen Quadranten gestellten Diopter, wechselte zweimal den Standort und sprach vom dritten aus folgendermaßen: »Weil Sie tausend Klafter von der Sohle bis zum Scheitel messen, Herr, bilden Sie sich wohl ein, Sie seien ein . . .« »Tausend Klafter,« rief der Zwerg, »gerechter Himmel, woher kann er unsere Größe wissen! Tausend Klafter! Er irrt sich um keinen Zoll! Wie, dieses Staubkorn hat mich gemessen, es ist Mathematiker, es kennt meine Größe und ich, der ich es nur durch ein Vergrößerungsglas sehe, ich kenne die seine noch nicht.« »Ja, ich habe Sie gemessen,« sprach der Naturwissenschaftler, »und ich könnte gern auch noch Ihren großen Begleiter messen.« Der Vorschlag wurde angenommen; seine Exzellenz legten sich ihrer Länge nach hin, denn hätte er sich aufrecht hingestellt, so wäre sein Kopf allzu hoch über den Wolken gewesen. Unsere Philosophen steckten ihm einen großen Baum an einen Ort, den der Doktor Swift nennen würde, den ich mich aber aus meiner großen Achtung vor den Damen mit seinem Namen zu bezeichnen wohl hüten werde, und dann schlossen sie mit Hilfe einer Reihe zusammengebundener Dreiecke, daß das, was sie sahen, ein hundertundzwanzigtausend Fuß großer junger Mann sei.
Da sprach Mikromegas die folgenden Worte: »Mehr als je sehe ich ein, daß man niemals über ein Ding nach seiner scheinbaren Größe urteilen soll. Oh Gott, der du Wesenheiten, die so verächtlich erscheinen, mit Verstand begabt hast, dir macht das Unendlich-Kleine ebensowenig wie das Unendlich-Große, und wenn's denn möglich ist, daß noch kleinere Wesen leben als diese hier, so könnten sogar sie einen höheren Verstand haben, als jene herrlichen Tiere, die ich im Himmel gesehen habe und deren Fuß allein diese Weltkugel bedecken würde, zu der ich hinuntergestiegen bin.«
Einer der Philosophen antwortete ihm, er könne sich mit voller Gewißheit für versichert halten, daß es in der Tat vernunftbegabte Wesen gäbe, die um vieles kleiner seien als der Mensch. Er erzählte ihm nun, nicht alles, was Virgil Märchenhaftes über die Bienen berichtet hat, aber das, was Swammerdam entdeckt und Réaumur zergliedert hat. Und schließlich verkündete er ihm, daß es Tiere gäbe, die für die Bienen das seien, was die Biene für den Menschen ist und was der Siriote selber für jene unendlich großen Tiere sei, von denen er gesprochen, und wiederum diese großen Tiere für andere Wesenheiten, vor denen sie anzuschauen seien wie Staubgekörn. Allmählich wurde die Unterhaltung interessant, und Mikromegas sprach folgendermaßen:
Oh ihr geistbegabten Atome, in denen seine Geschicklichkeit und seine Macht zu offenbaren dem ewigen Schöpfer hat gefallen wollen, ihr müsset doch gar reiner Freuden auf eurem Erdenballe genießen, denn da ihr nur so wenig Materie besitzet und ganz aus Geist gemacht erscheint, müsset ihr euer Leben damit verbringen, zu lieben und zu denken, denn das ist das wahre Leben des Geistes. Nirgendwo habe ich echte Glückseligkeit angetroffen, aber hienieden muß sie herrschen.« Auf diese Rede hin schüttelten alle Philosophen die Köpfe, und einer von ihnen, der die anderen an Freimütigkeit übertraf, gestand treuherzig, daß wenn man eine kleine Anzahl gar gering angesehener Bewohner ausnähme, so bestände der Rest aus einer Schar von Tollen, Bösen und Unglücklichen. »Wir haben,« sagte er, »mehr Materie, als uns nötig ist, um viel Böses zu tun, wenn anders das Böse von der Materie kommt, und zuviel Geist, wenn es dem Geiste entspringt. Ist Ihnen zum Beispiel wohl bekannt, daß zur Stunde, da ich zu Ihnen spreche, hunderttausend mit Hüten bedeckte Narren unserer Artung hunderttausend andere Tiere, die mit einem Turban bedeckt sind, töten oder von ihnen niedergemetzelt werden, und daß man es fast auf der ganzen Erde seit unvordenklichen Zeiten so gehalten hat?«[Es ist der russisch-türkische Krieg von 1737 gemeint.] Der Siriote erbebte und fragte, welches der Grund solcher entsetzlichen Kämpfe zwischen so gebrechlichen Tieren sein könne? »Es handelt sich,« erwiderte der Philosoph, »um einige Schmutzhaufen,[Die Krim.] die so groß wie Ihre Hacken sind! Und nicht etwa, daß ein einziger von diesen Millionen Menschen, die sich gegenseitig würgen, auch nur einen Strohhalm von diesem Erdhaufen forderte, sondern es handelt sich nur darum, festzustellen, ob sie einem gewissen Manne, den man Sultan nennt, oder einem anderen Manne gehören sollen, der, ich weiß nicht warum, Cäsar genannt wird. Weder der eine noch der andere hat jemals das kleine Fleckchen Erde gesehen, um das es sich handelt, noch wird einer von beiden es jemals sehen, und auch fast keines jener Tiere, die sich gegenseitig erwürgen, hat jemals das Tier erblickt, für das sie es tun.«
»Oh ihr Elenden,« schrie der Siriote empört auf, »kann man einen solchen Taumel sinnloser Raserei fassen! Es kommt mich wahrlich die Lust an, drei Schritte zu machen und mit drei Fußtritten diesen ganzen Ameisenhaufen lächerlicher Mordgesellen zu zerstampfen.« »Geben Sie sich nicht die Mühe, sie wirken schon selber genug an ihrem Untergang. Vernehmen Sie, daß jedesmal nach Verlauf von zehn Jahren immer nur der hundertste Teil von diesen Elenden übrig bleibt; und hätten sie in dieser Zeit auch niemals das Schwert gezogen, Hunger, Anstrengung oder Unmäßigkeit rafft sie dennoch fast alle dahin. Überdies verdienen nicht sie bestraft zu werden, sondern jene faulenzenden Unholde, die von ihren Stuben aus um die Zeit ihrer Verdauung die Metzelei von einer Million Menschen befehlen und danach Gott dafür feierlich danken lassen.« Der Reisende fühlte sich von Mitleid ergriffen für die kleine menschliche Rasse, in der er so erstaunliche Widersprüche entdeckte. »Da ihr zu der kleinen Zahl der Weisen gehört,« sprach er zu den Herren, »und offenbar niemanden für Geld tötet, so sagt mir bitte, womit ihr euch beschäftigt?« »Wir zergliedern Fliegen,« antwortete der Philosoph, »wir messen Linien, wir stellen Zahlen zusammen, wir sind in zwei oder drei Punkten, die wir begriffen haben, einig miteinander, und streiten uns über zwei- oder dreitausend andere, die wir nicht verstehen.« Sofort ergriff den Sirioten und den Saturnier ein Gelüst, den denkenden Atomen allerlei Fragen zu stellen, um zu erfahren, in welchen Dingen sie denn einig miteinander seien? »Wie groß schätzt ihr die Entfernung vom Hundsstern bis zum großen Sternbild der Zwillinge?« Sie antworteten alle auf einmal: »Zweiunddreißig und einen halben Grad.« »Wie weit rechnet ihr von hier bis zum Mond?« »Rund gerechnet sechzig Erdradiusse.« »Wieviel wiegt eure Luft«, und damit glaubte er sie zu fangen, aber alle antworteten ihm, die Luft wöge ungefähr neunhundertmal weniger als ein gleiches Volumen leichtesten Wassers und neunzehntausendmal weniger als Dukatengold. Der kleine Zwerg vom Saturn war über ihre Antworten so erstaunt, daß er sich versucht fühlte, dieselben Leute, denen er eine Viertelstunde vorher noch den Besitz einer Seele abgesprochen, allesamt für Hexenmeister zu halten.
Endlich sprach Mikromegas zu ihnen: »Da ihr so gut über das Bescheid wisset, was um euch ist, wisset ihr wahrscheinlich noch mehr über das, was in euch ist: so saget mir bitte, was eure Seele ist und auf welche Weise ihr eure Gedanken bildet?« Die Philosophen redeten wiederum alle auf einmal, aber sie waren alle verschiedener Meinung. Der älteste unter ihnen zitierte Aristoteles, ein anderer sprach den Namen Descartes aus, wieder ein anderer nannte Malebranche, ein vierter Leibniz, ein fünfter Locke. Ein alter Peripatetiker rief voller Selbstvertrauen ganz laut: »Die Seele ist eine Entelechie und eine Vernünftigkeit, aus der sie Kraft gewinnt, das zu sein, was sie ist, dies stellt Aristoteles ausdrücklich auf, Seite 633 der Ausgabe des Louvre:
Ἐντελέχεια ἐστὶ usw.
»Ich verstehe nicht allzu gut griechisch«, sagte der Riese. »Ich auch nicht«, sagte die philosophische Milbe. »Warum zitieren Sie dann aber einen gewissen Aristoteles auf griechisch?« fragte der Siriote. »Weil man doch eben,« erwiderte der Gelehrte, »das, was man gar nicht begreift, in der Sprache zitieren muß, die man am wenigsten versteht.«
Nun ergriff der Kartesianer das Wort und sagte: »Die Seele ist eine reine Geistigkeit, welche schon im Leibe ihrer Mutter alle metaphysischen Begriffe empfängt und, wenn sie ihn verlassen hat, in die Schule gehen und dort alles von neuem lernen muß, was sie schon so gut wußte und niemals wieder wissen wird.« »Dann verlohnte es sich also nicht,« erwiderte das Achtmeilentier, »daß deine Seele im Bauch deiner Mutter schon so wissend war, wenn du mit dem Bart am Kinn so unwissend sein mußt. Aber was verstehst du unter Geist?« »Was fragen Sie mich da,« rief der Denker, »ich habe keine Ahnung, man sagt jedoch, er sei keine Materie!« »Weißt du dann wenigstens, was Materie ist?« »Gewiß!« erwiderte der Mensch. »Dieser Stein zum Beispiel ist grau, hat die und die Form und seine drei Dimensionen, er besitzt Schwere und ist teilbar!« »Wohlan,« rief der Siriote, »dies Ding da, das dir teilbar, schwer und grau zu sein scheint, willst du mir gefälligst sagen, was es ist? Du siehst nur ein paar Eigenschaften, aber den Urgrund des Dinges, kennst du den?« »Nein,« erwiderte der andere. »Also weißt du auch nicht, was Materie ist!«
Darauf richtete Herr Mikromegas das Wort an einen anderen Weisen, den er ebenfalls auf seinem Daumen hielt, und fragte ihn, was denn seine Seele sei und was sie täte. »Nichts,« antwortete der philosophische Jünger des Malebranche, »Gott allein tut alles für mich, ich erblicke alles in ihm, tue alles in ihm, und er bewirkt alles, ohne daß ich daran teilhabe.« »Überhaupt nicht da zu sein, käme auf dasselbe heraus«, entgegnete der Weise vom Sirius. »Und du, mein Freund,« wandte er sich an einen Leibnizianer, der ebenfalls da war, »was ist deine Seele?« »Sie ist,« erwiderte der Leibnizianer, »ein Zeiger, der die Stunden weiset, während mein Leib die Glocken spielen läßt, oder, wenn Sie so wollen, läßt auch meine Seele die Glocken spielen, während mein Leib die Stunden anzeigt, oder meine Seele ist der Spiegel des Weltalls und mein Leib der Rahmen des Spiegels, das ist doch völlig klar.«
Ein kleiner Anhänger Lockes stand dicht daneben, und als endlich auch an ihn das Wort gerichtet wurde, sagte er: »Ich weiß nicht, auf welche Weise ich denke, aber ich weiß, daß ich niemals anders gedacht habe denn auf Veranlassung meiner Sinne. Daß es unkörperliche, geistige Wesenheiten gibt, daran zweifle ich nicht; daß es Gott aber unmöglich sein sollte, der Materie Geist zu verleihen, das bezweifle ich stark. Ich verehre die ewige Macht, und es steht mir nicht zu, sie zu begrenzen, ich stelle nichts auf, sondern bescheide mich, zu glauben, daß da mehr Dinge möglich sind, als man meinen möchte.«
Das Tier vom Sirius lächelte, es fand diesen da nicht zum wenigsten weise, und der Zwerg gar würde ohne den ungeheuren körperlichen Größenunterschied den Locke-Anhänger in seine Arme geschlossen haben. Zum Unglück aber war noch ein anderes kleines Tierchen in viereckiger Mütze da, das allen anderen kleinen philosophischen Tierchen das Wort abschnitt; es sagte, ihm sei das ganze Geheimnis offenbar, denn es stände im Summarium des Thomas von Aquino, und darauf sah er die beiden Himmelsbewohner vom Kopf bis zu den Füßen an und machte ihnen klar, daß sie selber und ihre Monde, ihre Sonnen, ihre Sterne und alles einzig für den Menschen gemacht sei. Auf diese Rede hin warfen sich unsere beiden Reisenden einander in die Arme und erstickten beinahe in jenem nicht zu unterdrückenden Lachen, das nach Homer ein Gut der Götter ist; ihre Schultern und ihre Bäuche schüttelten sich, und in diesen Lachkrämpfen fiel das Schiff vom Nagel des Sirioten in eine Hosentasche des Saturniers hinab. Die beiden gutherzigen Riesen suchten lange danach, endlich fanden sie die Besatzung wieder und stellten sie fein säuberlich auf die Beine. Der Siriote hielt die kleinen Milben wieder in seiner Hand und sprach mit großer Güte zu ihnen, obgleich er auf dem Grunde seines Herzens ein wenig erbost darüber war, daß die unendlich Kleinen einen fast unendlich großen Dünkel besaßen. Er versprach ihnen, ein schönes philosophisches Buch für sie zu schreiben, und zwar eigens für ihren Gebrauch winzig klein. In diesem Buche sollten sie den Endzweck der Dinge angegeben finden. Und er überreichte ihnen vor seiner Abreise in der Tat dieses Buch: es wurde nach Paris in die Akademie der Wissenschaften getragen; als aber der Sekretär es öffnete, fand er nur leere Blätter: »Ah,« rief er, »ich hatte es geahnt!«