François Marie Arouet de Voltaire
Erzählungen
François Marie Arouet de Voltaire

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Der Schwarze und der Weiße

1764

Jedermann in der Provinz Kandahar kennt die Geschichte des jungen Rustan: er war der einzige Sohn eines Mirza des Landes, was so viel sagen will wie Marquis bei uns oder Baron unter den Deutschen. Der Mirza, sein Vater, besaß ein anständiges Vermögen. Man gedachte den jungen Rustan mit einer Fräulein oder Mirzaïn seines Standes zu verheiraten: beide Familien wünschten es leidenschaftlich, er sollte der Trost seiner Eltern werden, seine Frau glücklich machen und es selber mit ihr sein.

Zum Unglück hatte er jedoch die Prinzessin von Kaschmir auf dem Jahrmarkt zu Kabul gesehen, als welcher der bedeutendste Jahrmarkt von der Welt und unvergleichlich besuchter als der zu Bassora und Astrachan ist. Der alte Fürst von Kaschmir aber war aus folgendem Grunde mit seiner Tochter auf den Jahrmarkt gekommen:

Er hatte die beiden seltensten Stücke seines Schatzes verloren: das eine war ein daumengroßer Diamant, in den das Bildnis seiner Tochter vermöge einer Kunst eingegraben war, welche die Indier damals besaßen, die seitdem aber verloren gegangen ist; das andere war ein Wurfspeer, der von selbst dorthin flog, wohin man ihn haben wollte, was unter uns keine gar so außerordentliche Sache ist, in Kaschmir war sie es jedoch.

Ein Fakir seiner Hoheit hatte diese beiden Schätze entwendet und sie der Prinzessin geschenkt. »Hüte diese beiden Stücke aufs sorglichste«, sprach er zu ihr, »dein Schicksal hängt davon ab.« Darauf ging er fort, und man sah ihn niemals wieder. Der Herzog von Kaschmir beschloß in seiner Verzweiflung, auf dem Jahrmarkte zu Kabul nachzuforschen, ob denn unter all den Kaufleuten, die aus allen vier Enden der Welt dort zusammenkommen, nicht einer sei, der seinen Diamanten und seinen Speer hatte. Seine Tochter nahm er stets auf allen seinen Reisen mit sich. Sie trug ihren Diamanten wohl verwahrt in ihrem Gürtel, was aber den Wurfspieß anging, der sich nicht so gut verbergen ließ, so hatte sie ihn sorgsamlichst zu Kaschmir in ihrem großen chinesischen Koffer verschlossen.

Sie und Rustan erblickten sich in Kabul und verliebten sich ineinander mit all der Treuherzigkeit ihrer Jahre und der ganzen zärtlichen Leidenschaft ihres Landes. Die Prinzessin gab ihm als Pfand ihrer Liebe ihren Diamanten, und Rustan versprach ihr bei seiner Abreise, sie in Kaschmir heimlich zu besuchen.

Der junge Mirza hatte zwei Günstlinge, welche ihm als Sekretäre, Stallmeister, Haushofmeister und Kammerdiener dienten. Der eine hieß Topas; er war schön, wohlgewachsen, weiß wie eine Tscherkessin, sanft und diensteifrig wie ein Armenier und weise wie ein Parse. Der andere nannte sich Eben; er war ein ausnehmend hübscher Neger und beflissener und geschickter als Topas: nichts galt ihm für schwierig. Diesen beiden teilte er seinen Reiseplan mit: Topas suchte ihn davon abzubringen mit dem behutsamen Eifer eines Dieners, der nicht mißfallen will: er hielt ihm alles vor, was er aufs Spiel setzen würde. Wie durfte er zwei Familien in Verzweiflung stürzen, wie seinen Eltern ein Messer ins Herz stoßen?! Er brachte Rustan zum Wanken, aber Eben bestärkte ihn wieder und behob alle seine Bedenken.

Es gebrach dem jungen Manne an Geld für eine so lange Reise: der weise Topas hätte ihm keines verschafft, aber Eben sorgte dafür. Er entwendete seinem Herrn geschickt den Diamanten, ließ einen völlig gleichen falschen anfertigen, legte ihn an die Stelle des echten und verpfändete diesen an einen Armenier für einige Tausend Rupien.

Als der Baron diese Rupien erst in der Tasche hatte, war auch schon alles zur Abreise bereit. Man belud einen Elefanten mit dem Gepäck und stieg zu Pferd. Topas sprach zu seinem Herren: »Ich habe mir herausgenommen, Euch Vorstellungen über Euer Unternehmen zu machen, nach dieser Warnung ziemt es sich nun jedoch zu gehorchen: ich bin ganz Euer, ich liebe Euch und will Euch bis ans Ende der Welt folgen, laßt uns unterwegs aber wenigstens das Orakel befragen, das um zwei persische Meilen von hier entfernt ist.« Rustan willigte ein. Das Orakel sprach: »Wenn du gen Osten reisest, wirst du nach Westen kommen.« Rustan begriff nichts von diesem Spruch. Topas blieb dabei, er enthalte nichts Gutes, der stets willfährige Eben jedoch redete seinem Herren ein, er sei ausnehmend günstig.

Es gab noch ein anderes Orakel in Kabul, und sie begaben sich auch dorthin. Dieses Kabuler Orakel antwortete mit diesen Worten: »Wenn du besitzest, wirst du nicht besitzen, bist du Sieger, so siegest du dennoch nicht, und bist du Rustan, so wirst du es nicht bleiben.« Dieser Orakelspruch erschien noch unverständlicher als der vorige. »Hütet Euch«, sagte Topas. »Fürchtet nichts«, rief Eben, und dieser Minister bekam, wie man leicht glauben wird, von seinem Herrn, dessen Leidenschaften und Hoffnungen er anstachelte, stets recht.

Nachdem sie Kabul verlassen hatten, kamen sie durch einen großen Wald, setzten sich zum Essen auf das Moos nieder und ließen die Pferde grasen. Als sie sich nun gerade anschickten, den Elefanten abzuladen, der das Mittagsmahl und das Tischzeug trug, ward man plötzlich gewahr, daß Topas und Eben sich nicht mehr bei der kleinen Karawane befanden. Man rief sie, der Wald hallte von den Namen Eben und Topas wider, die Diener suchten allenthalben nach ihnen und erfüllten den Wald mit ihrem Geschrei – und jedesmal kehrten sie zurück, ohne etwas gesehen zu haben und ohne daß ihnen geantwortet worden wäre. »Wir haben nichts anderes gefunden«, sprachen sie zu Rustan, »als einen Geier, der mit einem Adler kämpfte und ihm alle seine Federn ausriß.« Die Beschreibung dieses Kampfes reizte Rustans Neugier, und er begab sich zu Fuß an den Ort: weder Geier noch Adler waren zu sehen, aber er gewahrte, wie sein noch mit allem Gepäck über und über beladener Elefant von einem mächtigen Nashorn angefallen wurde. Das eine Tier stieß mit seinem Horn, das andere schlug mit seinem Rüssel. Beim Anblick Rustans ließ das Nashorn seine Beute fahren, man brachte den Elefanten zurück, aber die Pferde waren nicht mehr zu finden. »Gar seltsame Dinge geschehen in den Wäldern, wenn man reist«, rief Rustan. Die Diener waren bestürzt und der Herr verzweifelt darüber, zu gleicher Zeit seine Pferde, seinen lieben Neger und den weisen Topas verloren zu haben, für den er stets Freundschaft empfunden hatte, wenn er auch niemals einer Meinung mit ihm gewesen war.

Die Hoffnung, bald zu Füßen der schönen Prinzessin von Kaschmir zu sein, tröstete ihn jedoch, und von ungefähr begegnete er einem großen gestreiften Esel, dem ein stämmiger Bauernlümmel, der schrecklich anzusehen war, hundert Stockschläge verabfolgte. Nichts ist so schön, so selten und im Gang so leicht wie die Esel dieser Gattung. Dieser hier beantwortete die verstärkten Schläge des Unholdes mit einem Gewieher, das eine Eiche hätte entwurzeln können. Der junge Mirza nahm, wie billig, für den Esel Partei, welcher ein gar liebliches Geschöpf war. Der Bauernlümmel lief davon und rief noch dem Esel zu: »Das sollst du mir büßen!« Der Esel dankte dem Befreier in seiner Sprache, drängte sich an ihn, ließ sich liebkosen und liebkoste wieder. Nachdem Rustan sein Mahl verzehrt hatte, saß er auf und schlug mit seiner Dienerschaft, die ihm teils zu Fuß, teils auf dem Elefanten folgte, den Weg nach Kaschmir ein.

Kaum saß er jedoch auf seinem Esel, so wandte sich das Tier, anstatt dem Wege nach Kaschmir zu folgen, gen Kabul. Sein Herr mochte lenken so viel er nur wollte, die Zügel zerren, anziehen, freilassen, mit den Schenkeln drücken, Sporen setzen und von links und rechts peitschen, unentwegt lief das störrichte Tier auf Kabul zu.

Rustan geriet in Schweiß, mühte sich ab, verzweifelte . . . als er einem Kamelhändler begegnete, der ihn also ansprach: »Herr, du hast da einen recht boshaften Esel, der dich dorthin bringt, wohin du gar nicht willst; wenn du ihn mir überlassen wolltest, würde ich dir vier meiner Kamele zur Auswahl geben.« Rustan dankte der Vorsehung, ihm einen so guten Handel zugeschanzt zu haben. »Wie unrecht hatte nicht Topas,« rief er, »als er mir sagte, meine Reise würde einen unglücklichen Verlauf nehmen«, und damit stieg er auf das schönste Kamel, die drei anderen hielten sich hinterdrein, und so erreichte er seine Karawane wieder und sah sich nun auf dem Wege seines Glücks.

Kaum war er jedoch vier persische Meilen vorangekommen, so wurde er von einem tiefen, breiten und reißenden Strome angehalten, der gischtumspülte Felsblöcke dahinrollte. Die beiden Ufer waren grausige Abstürze, die das Auge schwindeln und den Mut gefrieren ließen. Kein Mittel hinüber zu gelangen, keines nach rechts oder links auszubiegen. »Ich fange zu fürchten an,« sagte Rustan, »Topas möchte recht gehabt haben, meine Reise zu tadeln, und ich großes Unrecht, sie zu unternehmen: wenn er hier wäre, könnte er mir wenigstens irgend einen guten Rat geben; hätte ich noch Eben, würde er mich trösten und Auswege finden, aber alles hat mich im Stiche gelassen.« Seine Verlegenheit wurde durch die Bestürzung seiner Truppe noch vergrößert. Die Nacht war schwarz, und man verbrachte sie unter lautem Wehklagen. Schließlich schläferten Ermüdung und Niedergeschlagenheit den verliebten Reisenden ein. Mit Tagesanbruch wachte er auf und sah eine schöne Marmorbrücke über den Strom geschlagen, von einem Ufer zum anderen.

Ausrufe, Schreie der Freude und Verwunderung erschollen! War es möglich? War es ein Traum? Welches Wunder! Welches Entzücken! Sollen wir hinüber zu schreiten wagen? Die ganze Truppe kniete nieder, erhob sich, ging zur Brücke, küßte den Boden, blickte zum Himmel empor, streckte die Arme aus, setzte zitternd die Füße auf, lief hin und her, war außer sich, und Rustan sagte: »Für dies Mal ist der Himmel mir günstig; Topas wußte nicht, was er sagte, die Orakel sprachen zu meinen Gunsten: Eben hatte recht! Warum ist er nur nicht hier?«

Kaum befand sich die Truppe jenseits des Stromes, so stürzte die Brücke auch schon mit furchtbarem Getöse in die Fluten hinab. »Um so besser, um so besser,« schrie Rustan, »Gott sei gelobt, der Himmel sei gesegnet! Er will nicht, daß ich zurückkehre in mein Land, wo ich doch nur ein einfacher Edelmann gewesen wäre. Er will, ich soll die heiraten, die ich liebe: und dann werde ich Fürst von Kaschmir sein! Auf diese Weise werde ich dadurch, daß ich meine Geliebte besitze, meine kleine Grafschaft in Kandahar nicht besitzen, ich werde Rustan sein, und es doch nicht sein, da ich ja dann ein großer Fürst bin: so läßt sich ein guter Teil des Orakels zu meinen Gunsten auslegen, und ebenso wird es mit dem Rest ergehen, ach, ich bin überglücklich! Warum ist nur Eben nicht bei mir; ich vermisse ihn tausendmal mehr als Topas.«

Er zog noch ein paar persische Meilen in der allergrößten Fröhlichkeit weiter, gegen das Ende des Tages aber versperrte ein Berggürtel, der steiler war als ein Festungswall und höher als der Turm zu Babel gewesen, wäre er je vollendet worden, auf allen Seiten der furchtgeschüttelten Karawane den Weg.

Alle schrien: »Gott will, daß wir hier umkommen; er hat die Brücke nur zertrümmert, um uns alle Hoffnung auf Rückkehr zu benehmen, und das Gebirge hat er nur errichtet, um uns jede Möglichkeit des Weiterschreitens zu rauben! Oh Rustan, oh unglückseliger Baron, wir werden Kaschmir niemals erblicken und niemals wieder den Boden von Kandahar betreten.«

Der brennendste Schmerz, die überwältigendste Niedergeschlagenheit folgten in Rustans Seele auf die maßlose Freude, die er empfunden, und auf die Hoffnungen, an denen er sich berauscht hatte: nun war er weit davon entfernt, die Prophezeiungen zu seinem Vorteile zu deuten. »Oh Himmel, oh du väterlicher Gott, warum mußte ich meinen Freund Topas verlieren!«

Während er unter tiefen Seufzern und inmitten seines verzweifelten Gefolges Tränen vergießend diese Worte aussprach, öffnete sich urplötzlich der Schoß der Berge vor ihm, ein langer überwölbter, von hunderttausend Fackeln erhellter Gang dehnte sich vor den geblendeten Augen, und Rustan schrie auf, und seine Leute brachen in die Kniee und fielen vor Erstaunen auf den Rücken und schrien Wunder über Wunder und riefen: »Rustan ist ein Liebling Wischnus, ist Brahmas Geliebter, er wird der Herr der Welt werden!« Rustan glaubte es. Er war außer sich und hoch über sich selbst erhoben. »Ach Eben, mein geliebter Eben, wo bist du? Warum bist du nicht Zeuge all dieser Wunder! Wie habe ich dich nur verloren? Schöne Prinzessin von Kaschmir, wann werde ich Eure Lieblichkeit wiedererblicken?«

Er zog mit seinen Dienern, seinem Elefanten und seinen Kamelen in das Berggewölbe hinein, und auf der anderen Seite kam er in eine blumenübersäte, von Bächen gerahmte Wiese, und am Ende der Wiese liefen bis ins Unabsehbare hinein von Bäumen eingefaßte Wege, und am Ende dieser Wege war ein Fluß, an dessen Ufern tausend Landhäuser mit herrlichen Gärten lagen. Überall hörte Rustan singen und spielen, überall sah er Reigen und Tänze. Er beeilte sich, über eine der Brücken des Flusses zu gelangen, und den ersten Menschen, dem er begegnete, fragte er, welch schönes Land dies sei?

Und der, den er angesprochen, antwortete ihm: »Ihr seid im Lande Kaschmir! Ihr sehet die Bewohner in Freuden und Lustbarkeiten, denn wir feiern die Hochzeit unserer schönen Prinzessin, die sich mit dem Fürsten Barbabu vermählt, dem ihr Vater sie zugesprochen hat. Möge Gott ihrer Glückseligkeit Dauer gewähren!« Bei diesen Worten sank Rustan in Ohnmacht. Der kaschmirische Edelmann glaubte, er sei von Krämpfen befallen, und ließ ihn in sein Haus tragen, wo er lange bewußtlos blieb. Man sandte nach den beiden geschicktesten Ärzten des Landes, sie befühlten den Puls des Kranken, der, sobald er nur wieder ein wenig zum Bewußtsein gekommen war, Seufzer ausstieß, die Augen rollte und von Zeit zu Zeit ausrief: »Topas, Topas, wie recht hattest du nicht!«

Einer der beiden Ärzte sagte zu dem kaschmirischen Edelmanne: »Ich erkenne an seinem Tonfall, daß er ein junger Mann aus Kandahar ist, dem die Luft unseres Landes nicht bekommt, man muß ihn wieder in seine Heimat schaffen; an seinen Augen sehe ich ferner, daß er toll geworden ist, vertrauet ihn mir an, ich will ihn in seine Heimat bringen und gesund machen.« Der andere Arzt versicherte, er sei nur aus Gram krank, man müsse ihn auf die Hochzeit der Prinzessin führen und tanzen lassen. Während sie untereinander berieten, kam der Kranke zur Besinnung, die beiden Arzte wurden verabschiedet und Rustan blieb mit seinem Wirte allein.

»Edler Herr,« sprach er zu ihm, »ich bitte Euch um Verzeihung, daß ich vor Euch in Ohnmacht gefallen bin. Ich weiß wohl, daß sich dieses nicht schickt. Ich bitte Euch inständigst, meinen Elefanten zum Dank für die Freundlichkeiten annehmen zu wollen, die Ihr mir erwiesen habt.« Darauf erzählte er ihm all seine Abenteuer, hütete sich aber wohl, ihm den Zweck seiner Reise zu nennen. »Im Namen Wischnus und Brahmas,« sprach er endlich, »sagt mir, wer dieser glückliche Barbabu ist, der die Prinzessin von Kaschmir heiratet, sagt mir, weshalb ihr Vater ihn sich zum Eidam erwählt und weshalb die Prinzessin ihn als Gatten angenommen hat?«

»Edler Herr,« erwiderte ihm der Edle aus Kaschmir, »die Prinzessin hat Barbabu keineswegs angenommen, im Gegenteil, während das ganze Land voller Freude ihre Heirat feiert, schwimmt sie in Tränen. Sie sitzt im Turm ihres Schlosses eingesperrt und will keine der Lustbarkeiten sehen, die man für sie veranstaltet.« Als Rustan diese Worte vernahm, fühlte er sich wie neugeboren, und der Schmelz seiner Farben, die vor seinem Schmerze dahingewelkt waren, flog wieder über sein Angesicht. »Sagt mir, ich bitte Euch,« fuhr er fort, »weshalb der Fürst von Kaschmir darauf besteht, seine Tochter einem Barbabu zu geben, den sie nicht will?«

»Dies verhält sich so,« erwiderte der aus Kaschmir: »ist Euch bekannt, daß unser erlauchter Fürst einen großen Diamanten und einen Wurfspeer verloren hat, an denen sein Herz über die Maßen hing?« »Ja,« sagte Rustan, »ich weiß es wohl.« »So vernehmet dann also,« sagte sein Wirt, »daß unser Fürst aus Verzweiflung darüber, von diesen beiden Schätzen nichts gehört zu haben, obgleich er nach ihnen lange durch die ganze Welt hat suchen lassen, demjenigen seine Tochter versprach, der ihm den einen oder den anderen wiederbringen würde. Nun ist ein Edelmann namens Barbabu gekommen und hat den Diamanten gebracht – und morgen heiratet er die Prinzessin.«

Rustan erbleichte, stammelte ein paar höfliche Worte, verabschiedete sich von seinem Wirt und eilte auf seinem Dromedar in die Hauptstadt, wo die Feierlichkeit vor sich gehen sollte. Er gelangte vor das Schloß des Fürsten, gab vor, ihm wichtige Dinge mitzuteilen zu haben, und bat um eine Audienz. Man erwiderte, der Fürst sei mit Vorbereitungen für die Hochzeit beschäftigt. »Gerade wegen dieser Hochzeit will ich ihn ja sprechen!« Er drängte so sehr, daß er vorgelassen ward. »Mein Fürst,« sprach er, »Gott möge all Eure Tage mit Ruhm und Herrlichkeit krönen! Euer Schwiegersohn ist ein Spitzbube.«

»Ein Spitzbube! Was untersteht Ihr Euch! Darf man so zu einem Herzog von Kaschmir über den Eidam sprechen, den er sich erwählt hat?« »Ja, ein Spitzbube,« wiederholte Rustan, »und um es Eurer Hoheit zu beweisen: hier bringe ich Euch Euren Diamanten.«

Über die Maßen verwundert, verglich der Herzog die beiden Diamanten, und da er sich nicht allzugut darauf verstand, vermochte er nicht zu entscheiden, welches der echte sei. »Da sind nun zwei Diamanten,« rief er, »und ich habe nur eine Tochter! In welch seltsame Verlegenheit bin ich geraten!« Er ließ Barbabu kommen und fragte ihn, ob er ihn hintergangen habe? Barbabu schwur, er habe seinen Diamanten von einem Armenier gekauft: Rustan sagte nicht, von wem er den seinen hatte, aber er schlug einen Ausweg des Endes vor: es möge seiner Hoheit gefallen, ihn auf der Stelle mit seinem Nebenbuhler kämpfen zu lassen. »Es ist nicht genug, daß Euer Eidam nur einen Diamanten bringt,« sagte er, »er muß auch Beweise seiner Tapferkeit ablegen: und sollte es Euch nicht belieben, daß der, so den anderen tötet, die Hand der Prinzessin erhält?« »Ausgezeichnet,« erwiderte der Fürst, »das wird ein ausnehmend schönes Schauspiel für den Hof abgeben: kämpfet nur ja recht schnell miteinander, der Sieger soll, wie es Brauch ist in Kaschmir, die Waffen des Besiegten zu eigen haben und meine Tochter heiraten.«

Die beiden Bewerber stiegen sogleich in den Hof hinab. Auf der Treppe saß eine Taube und ein Rabe. Der Rabe schrie: »Kämpfet, kämpfet miteinander«, die Taube: »Kämpfet nicht.« Der Fürst mußte hierüber lachen, die beiden Nebenbuhler jedoch beachteten es kaum: sie begannen den Kampf, und alle Höflinge bildeten einen Kreis rings um sie. Die Prinzessin, die sich noch immer in ihrem Turme verborgen hielt, hatte dem Schauspiel nicht beiwohnen wollen; sie war weit davon entfernt zu ahnen, daß ihr Geliebter in Kaschmir sei, und vor Barbabu empfand sie einen solchen Abscheu, daß sie nichts sehen wollte. Der Kampf nahm den besten Verlauf von der Welt. Barbabu wurde stracks getötet, und das Volk war entzückt darüber, weil er häßlich, Rustan hingegen sehr hübsch war: fast immer ist es dies, was über die öffentliche Gunst entscheidet.

Der Sieger bekleidete sich mit dem Kettenhemd, der Schärpe und dem Helm des Besiegten und zog unter dem Klang der Fanfaren, geleitet von dem gesamten Hofstaat, vor die Fenster seiner Geliebten. Das Volk schrie: »Schönste Prinzessin, kommt und seht Euren schönen Gemahl, der seinen garstigen Nebenbuhler getötet hat«, und ihre Frauen wiederholten diese Worte. Die Prinzessin steckte zum Unglück den Kopf aus dem Fenster, und da sie die Rüstung eines Mannes sah, den sie verabscheute, lief sie von Verzweiflung gepackt an ihren chinesischen Koffer und schleuderte den unheilvollen Wurfspeer, der ihren geliebten Rustan an der Blöße zwischen Harnisch und Helm durchbohrte. Er stieß einen lauten Schrei aus, und in diesem Schrei glaubte die Prinzessin die Stimme ihres unglücklichen Geliebten wiederzuerkennen.

Sie eilte mit fliegenden Haaren, den Tod in Herz und Antlitz, hinab. Rustan war schon über und über blutend in die Arme ihres Vaters gesunken. Sie erblickt ihn! Oh welche Sekunde, welcher Anblick, welches Wiedererkennen, unaussprechlich in seiner Qual, in seiner Zärtlichkeit, in seinem Entsetzen. Sie wirft sich über ihn und umschlingt ihn mit ihren Armen: »Du empfängst«, sprach sie zu ihm, »die ersten und die letzten Küsse von deiner Geliebten und Mörderin.« Sie zieht den Spieß aus der Wunde, stößt ihn in ihr Herz und stirbt auf dem angebeteten Geliebten. Der bestürzte entsetzte Vater war nahe daran, gleich ihr zu sterben, und versuchte vergebens sie ins Leben zurückzurufen. Sie war nicht mehr. Er verfluchte den unheilvollen Speer, zerbrach ihn in Stücke und warf seine beiden verhängnisvollen Diamanten weit von sich fort, und während man anstatt der Hochzeit das Begräbnis seiner Tochter vorbereitete, ließ er den blutüberströmten Rustan, in dem noch ein letzter Hauch von Leben war, in sein Schloß tragen.

Man legte ihn auf ein Bett nieder, und das erste, was er zu beiden Seiten dieses Totenbettes erblickte, waren Topas und Eben. Seine Überraschung gab ihm ein wenig Kraft wieder: »Ah, ihr Grausamen,« rief er, »warum hattet ihr mich verlassen! Wäret ihr dem unglücklichen Rustan zur Seite gewesen, würde die Prinzessin vielleicht noch leben.« »Ich habe Euch nicht für einen einzigen Augenblick verlassen«, sagte Topas. »Ich war Euch stets zur Seite«, rief Eben.

»Oh, was sagt ihr,« antwortete Rustan mit ersterbender Stimme, »warum beleidigt ihr mich in meiner letzten Stunde.« »Ihr dürft mir Glauben schenken«, sagte Topas. »Ihr wißt, daß ich diese unheilvolle Reise niemals gebilligt habe, weil ich ihre schrecklichen Folgen voraussah. Ich bin der Adler gewesen, der gegen den Geier kämpfte und von ihm entfedert wurde; ich war der Elefant, der mit dem Gepäck davon lief, um Euch zur Rückkehr in Euer Vaterland zu zwingen; ich war der gestreifte Esel, der Euch wider Euren Willen stets zu Eurem Vater zurücktragen wollte, ich war es, der Eure Pferde zerstreute, ich war's, der den Strom erschuf, um Euch am Weiterreisen zu hindern, ich habe die Berge errichtet, die Euch den so verhängnisvollen Weg versperren sollten; ich war der Arzt, der Euch die heimatliche Luft verordnete, ich war die Taube, die Euch vom Kampfe abriet!«

»Und ich,« sagte Eben, »ich war der Geier, der den Adler entfederte, und das Nashorn, das dem Elefanten hundert Hörnerstöße versetzte, und der Unhold, der den gestreiften Esel prügelte, und der Kaufmann, der Euch die Kamele gab, um Euch Eurem Untergange zuzutreiben! Ich habe die Brücke gebaut, die Ihr überschrittet, ich grub die Bergschlucht, die Ihr durchquertet, ich bin der Arzt, der Euch zum Weiterreisen ermutigt, und der Rabe, der Euch zum Kampfe angefeuert hat.«

»Ach, gedenke doch der Orakelsprüche,« sagte Topas: »Wenn du gen Osten wanderst, wirst du im Westen sein.« »Ja,« sagte Eben, »man begräbt hier die Toten, das Antlitz nach Westen gerichtet: das Orakel war klar, warum hast du es nicht verstanden? Du hast besessen und besaßest doch nicht, denn du hattest zwar den Diamanten, aber er war falsch, du wußtest es nur nicht, du bist Sieger – und stirbst, du bist Rustan und hörst auf, es zu sein, denn du hast deine Tage vollendet.«

Während er dieses sprach, entwuchsen dem Leibe des Topas vier weiße Flügel, und vier schwarze sproßten aus Ebens Leib. »Was sehe ich«, rief Rustan. Topas und Eben aber antworteten zu gleicher Zeit: »Du siehst deine beiden Genien!« »Ach, meine Herren,« sprach der unglückliche Rustan zu ihnen, »worauf lasset ihr euch ein! Und warum denn zwei Genien für einen armseligen Menschen?« »So will's das Gesetz,« sagte Topas, »jeder Mensch hat seine zwei Genien zu haben, Plato hat es zuerst ausgesprochen und andere haben es später wiederholt. Du siehst, daß nichts wahrer sein kann: ich, der ich zu dir spreche, ich bin dein guter Genius, meine Aufgabe war es, über dir zu wachen bis zum letzten Augenblick deines Lebens – ich habe sie treulich erfüllt meine Aufgabe.«

»Aber,« sagte der Sterbende, »wenn es dein Amt gewesen, mir zu dienen, so bin ich also von höherer Art als du, und wie kannst du da zu sagen wagen, du seiest mein guter Genius, da du mich in allem hast getäuscht werden lassen, was ich unternahm, und mich nun elendiglich sterben lassest, mich und meine Geliebte!« »Ach, es war dein Schicksal«, sagte Topas. »Wenn das Schicksal das ist, was alles vollbringt,« sagte der Sterbende, »was nützet dann noch ein Genius? Und du Eben, du mit deinen vier schwarzen Flügeln, du bist augenscheinlich mein böser Genius?« »Du sagst es«, antwortete Eben. »Aber warst du denn auch der böse Genius meiner Prinzessin?« »Nein, sie hatte den ihren, ich habe ihm nach besten Kräften beigestanden!« »Oh, verfluchter Eben, wenn du so böse bist, so entstammst du also nicht demselben Schöpfer, wie Topas, so seid ihr beiden also von zwei verschiedenen Mächten geschaffen worden, von denen die eine ihrem Wesen nach gut, die andere aber schlecht ist?« »Das ist keine notwendige Folgerung,« erwiderte Eben, »immerhin aber eine große Bedenklichkeit.« »Es ist nicht möglich,« rief der Dahinscheidende, »daß ein gütiges Wesen einen so unheilbringenden Genius erschaffen hätte.« »Möglich oder nicht,« erwiderte Eben, »die Sache verhält sich, wie ich dir sage.« »Ach, mein armer Freund,« rief Topas, »siehst du denn nicht, daß jener Hallunke dort noch jetzt die Bosheit besitzet, dich zum Streiten zu bringen, um dein Blut zu erhitzen und die Stunde deines Hinganges zu beschleunigen?« »Geh, ich bin kaum zufriedener mit dir als mit ihm,« versetzte der traurige Rustan; »er gesteht wenigstens ein, daß er mir hat Böses zufügen wollen, aber auch du, der du doch vorgabst, mich zu schirmen, auch du bist mir zu nichts nütze gewesen.« »Das tut mir herzlich leid«, sprach der gute Genius. »Mir auch,« sagte der Sterbende, »in all dem ist jedoch etwas, das ich nicht begreife.« »Ich auch nicht«, sagte der arme gute Genius. »In wenigen Augenblicken werde ich darüber belehrt werden«, sagte Rustan. »Das wollen wir noch erst sehen«, erwiderte Topas. Und damit verschwand alles. Rustan fand sich in seinem Vaterhause, das er nicht verlassen, und in seinem Bette wieder, in dem er eine Stunde lang geschlafen hatte.

In Schweiß gebadet und völlig verwirrt, fuhr er jach auf und rief und schrie und klingelte in fliegender Hast. Gähnend eilte sein Kammerdiener Topas herbei, die Nachtmütze auf dem Kopf. »Bin ich tot, bin ich lebendig?« rief Rustan, »wird auch die schöne Prinzessin von Kaschmir mit heiler Haut davonkommen?« . . . »Träumt mein gnädigster Herr?« fragte Topas kühl.

»Ah,« schrie Rustan, »was ist denn aus dem Unhold Eben mit seinen vier schwarzen Flügeln geworden? Er ist schuld, daß ich eines so grausamen Todes sterben muß!« – »Gnädiger Herr, Eben schnarcht gemächlich über uns, befehlt Ihr, daß er herabgerufen werde?« »Der Bösewicht! Seit vollen sechs Monaten verfolgt er mich! Wer anderes denn er hat mich auf den verdammten Jahrmarkt zu Kabul gebracht! Nur er hat mir den Diamanten entwendet, den mir die Prinzessin geschenkt hatte; er allein hat meine Reise verursacht und den Tod meiner Prinzessin, und den Speerwurf, an dem ich nun sterbe in der Blüte meiner Jahre.«

»Kommet zu Euch,« sagte Topas, »niemals seid Ihr in Kabul gewesen, eine Prinzessin von Kaschmir gibt es nicht, denn ihr Vater hat einzig und allein zwei Knaben gehabt, die augenblicklich die Schule besuchen, und auch einen Diamanten habt Ihr nie besessen; die Prinzessin kann nicht gestorben sein, da sie niemals geboren wurde, und Euch selber geht es wunderbar gut.«

»Wie! Du hättest mich in dem Bette des Fürsten von Kaschmir nicht auf den Tod vorbereitet? Hast du mir nicht gestanden, du seiest, um mich vor all meinem Unglück zu bewahren, Adler, Elefant, gestreifter Esel, Arzt und Taube gewesen?« »Ihr habt das alles nur geträumt, mein gnädigster Herr, unsere Gedanken hängen im Schlafe nicht mehr von uns ab als im Wachen. Gott hat es gefallen, Euch diese Gedankenreihe durch den Kopf gehen zu lassen, wahrscheinlich um Euch eine Lehre zu geben, die Ihr nützen sollet.«

»Du machst dich lustig über mich,« erwiderte Rustan, »wie lange habe ich denn geschlafen?« »Kaum eine Stunde, gnädigster Herr.« »Wohlan, du verdammter Klugschwätzer, wie kann es sein, daß ich im Verlauf einer Stunde vor sechs Monaten in Kabul gewesen, von dort zurückgekehrt, nach Kaschmir gereist und dorten mitsamt der Prinzessin und Barbabu gestorben bin?« »Gnädiger Herr, nichts ist einfacher. Ihr hättet in weit kürzerer Zeit eine wirkliche Reise um die Welt machen und noch viel mehr Abenteuer erleben können.

Könnt Ihr denn in einer Stunde nicht ein Kompendium der Geschichte der Perser von Zoroaster lesen? Und dennoch umfaßt dieses Kompendium achthunderttausend Jahre. Alle diese Ereignisse ziehen innerhalb einer Stunde nacheinander an Euren Augen vorüber, also müsset Ihr mir zugeben, daß es Brahma ebenso leicht sein würde, sie in die Spanne einer Stunde zusammenzuballen, wie über einen Zeitraum von achthunderttausend Jahren zu verstreuen, das ist genau dasselbe. Stellt Euch vor, die Zeit drehe sich auf einem Rade, dessen Durchmesser unendlich sei; unter diesem ungeheuren Rade befände sich eine unzählige Menge ineinandergeschachtelter Räder, das mittelste sei unwahrnehmbar klein und mache eine unendliche Zahl von Umdrehungen genau in derselben Zeit, in der das große Rad nur eine einzige zurücklegt. Es ist klar, daß alle Ereignisse, vom Anbeginn der Welt bis zu ihrem Ende, nacheinander in weit weniger Zeit als dem hunderttausendsten Teil einer Sekunde vor sich gehen könnten, ja, man könnte sogar sagen, es geschehe dem so.«

»Ich verstehe von alledem nichts«, sagte Rustan. »Wenn's Euch beliebt,« erwiderte Topas, »so besitze ich einen Papagei, der es Euch gar leicht verständlich machen könnte: er ist einige Zeit vor der Sintflut geboren und mit in der Arche gewesen; er hat viel gesehen. Dennoch ist er erst ein und ein halbes Jahr alt: er wird Euch seine überaus interessante Geschichte gern erzählen.«

»Holet mir schnell Euren Papagei,« sagte Rustan, »er soll mir die Zeit vertreiben, bis ich wieder einschlafen kann.« »Er ist bei meiner Schwester, der Nonne,« erwiderte Topas; »ich will ihn holen, Ihr werdet zufrieden sein mit ihm, sein Gedächtnis ist treu, er erzählt schlicht, ohne jede Sucht, stets geistreich zu sein, und ohne alle Redensarten.« »Um so besser,« sagte Rustan, »so liebe ich Geschichten.« Man brachte ihm den Papagei und der Vogel hub folgendermaßen zu sprechen an:

 

NB. Fräulein Katharina Vadi hat die Geschichte des Papageis niemals in der Mappe ihres verstorbenen Vetters, des Verfassers dieser Geschichte, auffinden können. In Anbetracht der Zeit, in der dieser Papagei gelebt hat, ist das wirklich schade.


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