François Marie Arouet de Voltaire
Erzählungen
François Marie Arouet de Voltaire

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Die beiden Getrösteten

Der große Philosoph Citophilos sagte eines Tages zu einer Frau, die mit gar gutem Grunde trostlos war: »Gnädige Frau, Englands Königin, die Tochter des großen vierten Heinrichs, ist ebenso unglücklich gewesen wie Sie: man verjagte sie aus ihren Reichen, auf dem Meere wäre sie beinahe in einem Sturm umgekommen, und ihren königlichen Gatten hat sie auf dem Schafott sterben sehen.« »Das alles tut mir um ihretwillen leid,« sagte die Dame und machte sich daran, ihr eigenes Mißgeschick zu beweinen.

»Aber erinnern Sie sich doch der Maria Stuart,« sagte Citophilos. »Sie liebte aufs züchtigste einen wackeren Musiker, der einen gar schönen Baß hatte. Ihr Gatte tötete ihr den Musiker vor ihren eigenen Augen, und später ließ ihr ihre liebe Freundin und Base, die gute Königin Elisabeth, welche Jungfrau zu sein behauptete, auf einem schwarz ausgeschlagenen Schafott den Hals abschneiden, nachdem sie sie achtzehn Jahre lang gefangen gehalten hatte.« »Wie grausam das war,« antwortete die Dame und sank in ihre Schwermut zurück.

»Vielleicht haben Sie auch«, sagte der Tröster, »von der schönen Johanna von Neapel sprechen gehört, welche gefangen gesetzt und erwürgt wurde.« »Ich habe eine dunkle Erinnerung daran,« sagte die Betrübte.

»Ich muß Ihnen auch«, fuhr der andere fort, »das seltsame Erlebnis einer Fürstin erzählen, die zu meiner Zeit einmal nach dem Abendessen entthront wurde und dann auf einer öden Insel gestorben ist.« »Ich kenne die ganze Geschichte,« erwiderte die Dame.

»Wohlan, so will ich Ihnen denn erzählen, was einer anderen großen Fürstin widerfahren ist, die ich in der Philosophie unterrichtete. Sie hatte einen Liebhaber, wie eben alle großen und schönen Prinzessinnen einen haben: ihr Vater kam in ihr Gemach und überraschte den Liebhaber, dessen Gesicht feurig flammte und dessen Auge funkelte wie ein Karfunkelstein – und auch das Antlitz der Dame war recht belebt. Dem Vater mißfiel nun das Gesicht des jungen Mannes dermaßen, daß er ihm die ungeheuerste Backpfeife verabfolgte, die jemals auf seinem Territorium gegeben worden ist. Der Liebhaber ergriff eine Feuerzange und schlug dem Schwiegervater damit ein Loch in den Kopf, von dem er mit knapper Not genas, die Narbe der Wunde trägt er noch heute. Die bestürzte Geliebte sprang aus dem Fenster und verstauchte sich dabei derart den Fuß, daß sie nun sichtlich hinkt, obwohl sonst ihr Wuchs wunderbar geblieben ist. Der Liebhaber wurde zum Tode verurteilt, weil er einem sehr großen Fürsten ein Loch in den Kopf geschlagen. Sie können sich den Zustand denken, in den die Prinzessin geriet, als man ihren Geliebten zum Henken führte: während sie im Kerker saß, habe ich sie oft und lange gesehen, sie sprach mir niemals von etwas anderem denn von ihrem Unglück.«

»Warum wollen Sie also nicht, daß auch ich an das meine denke?« sagte die Dame nun zu ihm. »Weil man«, erwiderte der Philosoph, »daran nicht denken soll, und weil es Ihnen schlecht ansteht, zu verzweifeln, nachdem so viele große Damen derart unglücklich gewesen sind. Denken Sie an Hekuba, denken Sie an Niobe!« »Ach,« sagte die Dame, »wenn ich zu ihrer oder zu der Zeit jener vielen schönen Prinzessinnen gelebt hätte, und Sie würden ihnen zum Troste von meinem Unglück erzählt haben, glauben Sie, sie hätten auf Sie gehört?«

Am nächsten Morgen verlor der Philosoph seinen einzigen Sohn und wäre vor Leid fast darüber gestorben. Die Dame ließ eine Liste aller Könige aufsetzen, welche gleichfalls ihre Kinder verloren hatten, und brachte sie dem Philosophen: er las sie, fand sie sehr genau, weinte aber dennoch darum nicht weniger. Drei Monate später sahen sie sich wieder und waren verwundert, an einander eine gar heitere Stimmung zu gewahren. Sie ließen der Zeit eine schöne Bildsäule errichten mit der Inschrift:

Der einzigen Trösterin

 


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