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XV

Die Weltstadt, dieses Labyrinth eines steinernen Riesen-Ohres, in dessen ungezählten Gehörgängen Millionen Stimmen widerhallten, mochte viele solche tauben Stellen haben, wie die Ecke der Marienstraße in dieser Nacht eine war.

Stundenlang gingen Ullrich und das Mädchen Franz auf und ab, rauchend, murmelnd, horchend; ihr Weg war wie der Pendel einer Uhr ohne Zifferblatt. Nichts war hörbar als nur das wohlige Murmeln dieser leisen und herzlichen Stimme, die wie der Atemzug der schlafenden Nacht klang. Hier und da das Rülpsen eines Betrunkenen, der Stoßseufzer einer zur Überfüllung verdammten Seele.

Merkwürdig stille Stunden! Wie heilsam unterbrachen sie den Monolog des Ehrgeizes, der das Leben Ullrichs bisher gewesen war. Nein, auch sie unterbrachen diesen entsetzlichen Monolog noch immer nicht. Sie schwebten nur als ein besänftigender Oberton darüberhin. –

Wie gut verstand Herr Ullrich, daß die Menschen zu diesem Mädchen kamen, um Sanftmut bei ihm zu kaufen. Und daß die Ärmsten ihr Eier und Butter brachten, den bescheidensten Tribut, um viel reicherer Gaben teilhaftig zu werden. Dieses Mädchen Franz, in seinem demütigen Stolz, dem Leben eine noch ziemlich unversehrte Brust bieten zu können, ahnte nichts von dem Gewinn, den ihre Klienten davontrugen, in wer weiß welche Häuser und Verhältnisse.

So ein würdiger, höchst unwürdiger Greis, ein lüsterner Büßer in seinem härenen Havelock, ein kinderloser Vater vielleicht, ein vor dem Tode Einsamer: wer weiß, aus welchem Gedränge unerträglicher Erinnerungen, aus welchem Wust von Wucher und schnöder Berechnung er sich zu Franz flüchten mußte, zuletzt noch.

Und wohl ihm, daß zuletzt noch ein Franz bereit stand, Ecke Marienstraße, vom wüsten Volk der Gegend gekannt und geachtet, von den Häschern der bürgerlichen Sicherheit geschont und umgangen, von ähnlich bedürftigen Brüdern genährt und geatzt und ausgeplündert.

Ullrich verbrachte die ganze Nacht mit ihr; er begleitete sie sogar auf ihr Zimmer, um sie nicht verlassen zu müssen, um weiter bei ihr bleiben zu dürfen. Und er wunderte sich gar nicht, daß die fieberheiße Mädchenhaftigkeit, die sie ihm auf ihrem lumpigen Bette gerne bot, ihn wie Barmherzigkeit labte.

Die Frage Franzens, ob auch er, wie alle anderen, wiederkommen würde, bejahte er in aller Bescheidenheit. Auch war Franz in dieser Hinsicht ohne Sorge, sie war dem feinen Herrn gegenüber ihrer Sache ebenso sicher wie etwa, wenn es ein halbverhungerter Kommis gewesen wäre.

»Du mußt ja auch nicht wiederkommen,« sagte sie sanftmütig und heiter, »ich habe ja genug Bekannte. Ich werde zu tun haben, solange ich lebe; und ich lebe nicht mehr lang.«

Das war weder eine Klage noch ein Wunsch. Das wurde ganz ohne Bedauern gesagt, aber auch nicht aus verzweifelter Sucht nach dem Ende. Es klang nicht müde, es klang eher sorglos und frisch und ohne alle Schwere. Franz kannte keine Sentimentalität, und ihre gute Laune war kein Galgenhumor, sondern Bedürfnislosigkeit.

Wie Franz Weib war, das machte sie allen Frauen, die Ullrich bis jetzt gekannt hatte, völlig unähnlich. Es gab also diesen unhörbaren Seufzer der Erleichterung, wenn das gestockte Blut aufzuckt und sich beruhigt. Es gab diese magere Hand, die schwerlos war, weil sie so wenig Fleisch hatte, und die das Geheimnis kannte, Stirnen zu glätten und Augen zu kühlen.

Das war die Schwester unter den Zelten, die törichte Jungfrau, die hinausging und ihr Öl verschwendete. Ihr Lämpchen brannte spärlich, aber mehr Licht brauchte sie nicht; denn ihre Augensterne gaben hellen Schein.

»Lasset den Luxus den Reichen!« So stand über ihrem Bett geschrieben. Mindestens hätte eine solche Inschrift dort ihren Sinn gehabt.

Und ihr Bett verschloß sich auch den Reichen nicht. Aber es war eine Zuflucht den Armen und Ärmsten. Das wäre ihre Legende gewesen, wenn sie eine gehabt hätte. An diesem Morgen hörte Herr Ullrich, zum ersten Male wieder seit Jahren, das Gepiepse und Gelalle der erwachenden Vogelstimmen.

Franz frühstückte mit Herrn Ullrich auf dem Bahnhof Friedrichstraße. Gegen Morgen legte sich ihr Fieber, und sie wurde fahl und matt, wie eine Motte, die sich kaum noch hinschleppen kann. Jetzt mußte sie schlafen gehen. »Aber du bist auch nicht gesund,« sagte sie zu Ullrich, »du hast ein Gemütsleiden.«

Herr Ullrich ging in den Kristall-Palast. Dort badete er, saß lange im heißen Wasser, duschte kalt, ließ sich massieren und rasieren, dann schlief er drei Stunden auf einem Sofa, welches, wie er es fühlte, allein in der weiten Welt stand.


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