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XI

Wenn eines Tages der Mensch sein Kostüm auszieht, – und das ist nicht nur der Körper, in den er eingekleidet ist, Kleid, das mit ihm wächst und wankt; sondern auch das Ich, in das wir eingesperrt und eingewachsen sind –; wenn also der Mensch alle seine Kleider, außen und innen, abgenützt hat und sie ablegt: dann senken wir, was davon übrigbleibt, in die Grube, auf daß es uns nicht mehr im Wege herumliege.

Aber der merkwürdige Muttersohn, der, solange er nach Atem rang, unermüdlich darauf aus war, beachtet und gelobt zu werden; der alles nur Erdenkliche anstellte, um seinen Reiz und Schein, seinen Schatten zur Geltung zu bringen; dieser umgekehrte Schlemihl; dieser unsagbar Applausbedürftige; dieser geborene und schließlich gestorbene Kulissenreißer: sollte er wirklich von der Szene verschwunden und jeder Kritik enthoben sein – während die Millionen Fachfaller, bis nach China und zu den Eskimos hin, es weitertreiben durften?

Wir wollen dieses Äußerste nicht annehmen, wollen uns nicht halsbrecherisch in den Nihilismus stürzen, als ob mit der irdischen Garderobe auch alle Rollen für immer im Grabe abzugeben wären.

War es für einen Mann und Namen wie etwa Herrn Ullrich nicht schon bei Lebzeiten unerträglich genug, daß an Abenden, da er eine Hauptrolle spielte, soundso viele andere Schauspieler in andern Theatern der Welt Erfolge einheimsten, die ihm versagt bleiben mußten?

Wir wollen die Schrecken des Todes nicht übertreiben. Im Gegenteil, es ist zu hoffen, daß da drüben endlich der Mensch vor die wahre Kritik gelangt, vor das älteste Gericht und den ranghöchsten Rezensenten! Daß, wo die Seelen nackt hintreten, ein Auge sie prüft, dem das Verborgene offenkundig geworden ist, und das hinter die Falten der Individualität späht – und vielleicht doch endlich irgend etwas für ewig gelten läßt, und wäre es auch nur ein Stück Wagenpartie, ein winziges Detail, einen Ton, einen Blick!

Todesfurcht, die wahre Todesfurcht –: ist die leider niemals ganz abzuweisende Befürchtung, man könnte vor der allerhöchsten Kritik am Ende doch nicht bestehen; Lebensfurcht aber nenne ich die Angst, daß alle unsere Erfolge dereinst noch einmal überprüft werden müssen.

Todesfurcht war es, was Herr Ullrich sein Leben lang erlitt, wenn er am Tage der Kritik nach den Zeitungen griff. Da sträubte sich sein Haar, und sein Atem ward klamm, und ein Schüttelfrost der Agonie ging durch seine Gebeine.

Und weil die Vorhänge des Schlafzimmers geschlossen waren, mußte er die Buchstaben der Tagespresse dicht an sein noch verklebtes Auge halten, um sie zu entziffern. –

Dieses aber las er an jenem Morgen in der wichtigsten Zeitung: »Man kann Gnadenbrot essen, gewiß – es ist ja ein verbreitetes Nahrungsmittel –, man kann es schlingen oder langweilig kauen, man kann daran ersticken – wie ich es würde, ich …: Herr Ullrich jedoch hat Gnadenbrot gefletschert … Man kann in Demut gehen und stehen – man kann Demut tänzeln, unbedingt – aber Herr Ullrich hat einen Demut-Twostep exekutiert. Demut-Modetanz … Amerikanisierte Demut, nicht Russen-beseelte.

Man kann sich schlicht verneigen und gravitätisch, man kann zusammenklappen wie ein Taschenfeitel – wie ein Hampelmann der Selbsterniedrigung, mit durchschnittenen Stolz – Sehnen …: – Herr Ullrich aber schlug, indem er sich verneigte, die Volte – ein Pfauenrad seiner Demut schlug er! – O Eitelkeit Europas, von Newa-Wässern unbenetzt …! – So, wenn die Gnade fehlt; so, wenn Erniedrigung und Beleidigung virtuos verabreicht, nicht wesenhaft erlitten wird. Ein Star der Demut, Herr Ullrich …

Ein blondes Wunder – die Klee! – … Selbstlose Süßigkeit …!«

Herr Ullrich ballte die Faust, welche die Zeitung hielt. »Auch du wirst, allerdings erst im Jenseits, vor deinem Kritiker stehen, auch deine Demut wird rezensiert werden, am Jüngsten Tage!« – Aber die Faust zitterte, sie hatte nicht die Kraft, die Zeitung festzuhalten.

Und sofort suchten diese schlaff gewordenen Hände, alle übrigen Blätter zu Boden fegend, nach der Gegeninstanz, die es Gott sei Dank gab, nach jener Zeitung, in der jedesmal, wie nach höherer Fügung, das Gegenteil von dem stand, was in dieser Zeitung zu lesen war. Sprach hier eine Seele, so prüft dort die Vernunft. War jenes das blühende Laub, so war dieses die knorrige Wurzel. Was tat die Wurzel? Wankte auch sie? Oder hielt sie noch fest?

Aber Ullrich konnte es nicht rasch genug erfahren, denn die Buchstaben tanzten Two-Step vor seinen unglücklichen Augen.

»Vornotiz. – ›Das Gnadenbrot‹, eine sentimentale Anekdote von Turgeniew, füllte mit Müh und Not einen unwesentlichen Abend, der wohl dem Charakterspieler Ullrich dazu dienen sollte, sich auf Kosten des Publikums und seiner Kollegen auszuleben. Herunter von der, übrigens für die groben Maskenkünste von vorgestern typischen, Perücke bis auf die chargierten Füße frönte Herr Ullrich einem Spezialistentum, das kalt ließ. Die Bühnenecke, in der er mit erklügelten Details paradierte, war nicht in den dramatischen Raum einbezogen. So war die von Herrn Ullrich im Stich gelassene Regie des Abends einzig und allein auf das zusammengehaltene Spiel von Fräulein Klee angewiesen, insofern sie eine Steigerung ins allgemein Gültige zu erreichen versuchte. Die Direktion befreie sich endlich von den privaten Gelüsten beliebter Hauptdarsteller. Die Niederlage des Herrn Ullrich war zugleich eine verlorene Schlacht für das ganze um seinen inneren Bestand kämpfende Theater!«

»Ach, das hat ihm der Regisseur eingeblasen!« schrie es in Herrn Ullrich auf. –

Kein Zweifel, die beiden Herren hüben und drüben waren sich einig. Es war Herr Ullrich gestern geglückt, die Antinomie der Schöpfung aufzuheben. –

Und er kroch unter die Decke, so daß er ganz und gar von ihr bedeckt war, und ward bis am späten Nachmittag nicht mehr gesehen. –

Von Zeit zu Zeit öffnete die Frau leise die Türe, horchte nach dem Bett hinein, blickte auf den unberührten Kaffee und verschwand wieder. Sie wagte nicht zu rufen. –

Wie Herr Ullrich so in der warmen finsteren Mulde des Bettes verkrochen lag, vielleicht schlief er, vielleicht weinte er. – So wie ja auch der ehrgeizkranke Achilles, obwohl ein großer, großer Held, vor seiner Mutter Thetis geweint hat. Ja, die alten Griechen sind die geborenen Schauspieler gewesen.


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