Jules Verne
Reise durch die Sonnenwelt. Erster Band
Jules Verne

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Dreiundzwanzigstes Kapitel

Welches von einem hochwichtigen Ereignis handelt, das die ganze Kolonie in Aufregung versetzt.

Drei Stunden nach Sonnenuntergang erhob sich am 23. März der Mond am entgegengesetzten Horizonte und zeigte sich den Blicken der Gallia-Bewohner schon im letzten Viertel.

Binnen vier Tagen war dieser Satellit also vom Syzigium nach der Quadratur vorgeschritten, woraus sich eine etwa eine Woche lang andauernde Periode der Sichtbarkeit desselben oder ein Mondwechsel nach je fünfzehn bis sechzehn Tagen ableiten ließ. Für die Gallia erschienen also die Mondmonate ebenso wie die Sonnentage auf die Hälfte verkürzt.

Drei Tage später, am 26. März, trat der Mond in Konjunktion zu der Sonne und entzog sich vorläufig der Beobachtung.

»Wird er denn wieder erscheinen?« fragte Ben-Zouf, der sich als dessen erster Entdecker sehr warm für den Satelliten interessierte.

Und wahrlich, nach so zahlreichen kosmischen Erscheinungen, deren Ursache noch jeder Erklärung trotzte, durfte man diese Bemerkung Ben-Zoufs nicht für eine ganz müßige halten.

Bei ganz heiterem Himmel und sehr trockener Atmosphäre sank das Thermometer am 26. bis auf zwölf Grad (C.) unter Null.

In welcher Entfernung von der Sonne mochte sich die Gallia jetzt befinden? Welchen Weg hatte sie wohl seit dem Datum zurückgelegt, welches das letzte aus dem Meere aufgefischte Dokument bezeichnete? Von den Gallia-Bewohnern hätte es keiner zu sagen vermocht, denn die scheinbare, weitere Verkleinerung der Sonnenscheibe konnte nicht einmal einer annähernden Abschätzung als Unterlage dienen. Es war sehr bedauerlich, daß der anonyme Gelehrte dem Meere nicht neuere Notizen mit den Resultaten seiner letzten Beobachtungen anvertraut hatte. Ganz vorzüglich beklagte Kapitän Servadac, daß diese eigentümliche Korrespondenz mit einem Landsmann – denn er blieb dabei, daß jener ein solcher sei – nicht ferner stattfinden könne.

»Übrigens«, äußerte er sich gegen seine Gefährten, »ist es recht gut möglich, daß er seine Etuis- oder Büchsen-Briefsendungen auch weiter fortgesetzt hat, aber keine an der Insel Gourbi oder der Küste des Warm-Landes angelangt ist. Jetzt nach Erstarrung des Meeres schwindet uns jede Hoffnung, einen ferneren Brief von diesem Originale zu erhalten.«

In der Tat war das Meer, wie der Leser weiß, vollkommen zugefroren. Dieser solide Zustand trat damals an die Stelle des flüssigen beim prächtigsten Wetter, als nicht der geringste Wind das Wasser des Gallia-Meeres bewegte. Infolge davon fror dessen Oberfläche auch ganz glatt zu, wie die eines Sees oder des Bassins eines Schlittschuhläufer-Clubs. Keine Erhöhung, keine Blase, kein Spalt zeigte sich hier. Es war eine reine, flecken- und fehlerlose Eisfläche, welche sich über Gesichtsweite hinaus erstreckte.

Welch gewaltiger Unterschied gegenüber dem gewöhnlichen Aussehen der erstarrten Polarmeere, vorzüglich dicht vor einer Packeismauer! Da sieht man nichts als Eisberge, Spitzhügel, übereinander getürmte und ohne alle Unterstützung des Gleichgewichtes schwebend erhaltene Blöcke. Die Eisfelder stellen in der Tat nichts anderes dar als eine Anhäufung regellos durcheinandergeworfener Eisstücke; Trümmer, welche die strenge Kälte für eine Zeitlang in der wunderlichsten gegenseitigen Lage zusammenkittet; Eisberge mit leicht zerbrechlicher Basis, deren Gipfel die höchsten Masten der Walfischfahrer überragt.

In diesen arktischen und antarktischen Meeren ist nichts stabil, nichts unbeweglich; das Packeis ist eben nicht aus Bronze gegossen; ein Windstoß, eine Temperaturveränderung erzeugen dort häufig sehr auffällige Veränderungen des ganzen Bildes. Das Ganze gleicht fast einer Reihenfolge feenhafter Dekorationen. Hier dagegen lag das Gallia-Meer bewegungslos in Fesseln und erschien noch ruhiger als im flüssigen Zustande, wo seine Oberfläche der Einwirkung des Windes unterlag. Die endlose weiße Fläche war ebener als die Plateaus der Sahara oder die Steppen Rußlands – gewiß wenigstens für sehr lange Zeit. Über diesen gleichsam gefangenen Meeresfluten verstärkte sich der Eispanzer mit der zunehmenden Kälte und mußte seine Festigkeit bewahren bis zum Tauwetter – wenn ein solches jemals wieder eintrat.

Die Russen waren den Anblick der gefrorenen nördlichen Meere gewöhnt, welche sich als sehr unregelmäßig kristallisierte Flächen darstellen. Sie betrachteten dieses, einem Binnensee gleich ebene Gallia-Meer also mit großer Verwunderung, aber auch mit großer Befriedigung, denn die vollkommen glatte Eisfläche lud ja geradezu zum Schlittschuhlaufen ein. Die Dobryna besaß auch ein ganzes Sortiment Schlittschuhe, welche den Liebhabern dieses Vergnügens zur Verfügung gestellt wurden. Solche Liebhaber ließen nicht auf sich warten. Die Russen unterrichteten die Spanier, und bei diesen schönen Tagen mit zwar lebhafter, aber doch erträglicher Kälte gab es auf der Gallia bald niemanden mehr, der sich nicht in der Ausführung der elegantesten Kurven übte. Die kleine Nina und der junge Pablo vollbrachten wahre Wunderwerke und wurden mit herzlichen Bravos überschüttet. Der zu jeder gymnastischen Übung geschickte Kapitän Servadac tat es bald seinem Lehrmeister, dem Grafen Timascheff, gleich, und auch Ben-Zouf machte Fortschritte, freilich war er schon mehrmals auf dem großen Bassin des Montmartre-Platzes – »und das gab einem Meere nichts nach« – Schlittschuh gelaufen.

Diese an und für sich sehr heilsame Körperübung gewährte den Bewohnern von Warm-Land gleichzeitig eine nützliche Zerstreuung. Im Falle der Not konnte man sich ihrer als schnellen Beförderungsmittels bedienen. Wirklich legte Leutnant Prokop, allerdings der anerkannt vorzüglichste Schlittschuläufer von allen, die Strecke von Warm-Land bis zur Insel Gourbi, d. h. zehn Lieues oder sechs Meilen, mehrmals binnen zwei Stunden zurück.

»Das wird auf der Gallia also die Stelle der Eisenbahnen unserer alten Welt einnehmen«, sagte Kapitän Servadac. »Übrigens ist ja der Schlittschuh nichts als eine bewegliche, am Fuße des Fahrenden befestigte Schiene.«

Inzwischen fiel die Temperatur allmählich weiter und erreichte im Mittel fünfzehn bis sechzehn Grad unter Null. Gleichzeitig mit der Wärme verminderte sich auch das Licht, so als ob die Sonnenscheibe stets von dem Monde, wie bei einer partiellen Finsternis, bedeckt wäre. Über alle Gegenstände war nur eine Art Zwielicht gegossen, was einen recht betrübenden Anblick gewährte und moralisch so niederschlagend wirkte, daß man alle Ursache hatte, dagegen anzukämpfen. Wie sollten auch die von der Erdkugel Verbannten nicht an ihre Verlassenheit denken, da sie früher mitten im Strome des Menschenlebens existiert hatten? Wie hätten sie vergessen können, daß die schon so viele Millionen Meilen von der Gallia wandelnde Erde sich weiter und weiter von ihnen entfernte? Durften sie annehmen, jene überhaupt einmal wiederzusehen, da dieser von ihr losgesprengte Block immer tiefer und tiefer in den interplanetarischen Weltraum eindrang? Jetzt sicherte sie sogar noch nichts davor, daß sie einst aus der Sphäre der Sonnenattraktion heraustreten und sich nach dem Zentrum der Anziehung einer anderen Sonne zu bewegen könnten.

Graf Timascheff, Leutnant Prokop und Kapitän Servadac waren übrigens die einzigen Mitglieder der Gallia-Kolonie, welche sich eine solche Eventualität vorstellen konnten. Ihre Begleiter dagegen durchschauten die Geheimnisse und Gefahren der Zukunft nicht so weit und standen, fast ohne jede klare Vorstellung davon, nur unter dem Einflusse einer in den Annalen des Sonnensystems bis jetzt unerhörten Lage. Man mußte sich also entweder durch Arbeiten oder Vergnügungen zu zerstreuen suchen, und so bot jene Übung im Schlittschuhlaufen eine sehr glückliche Abwechslung gegen die Eintönigkeit der übrigen täglichen Arbeiten.

Wenn wir sagten, daß alle Bewohner von Warm-Land mehr oder weniger an jener gesundheitsfördernden Leibesübung teilnahmen, so erleidet das doch eine Ausnahme bezüglich Isaak Hakhabuts.

Trotz aller Rauheit der Temperatur war der Jude seit der Hierherfahrt von der Insel Gourbi noch nicht wieder zum Vorschein gekommen. Entsprechend Kapitän Servadacs Gebote, sich jedes Umganges mit ihm streng zu enthalten, hatte ihn auch niemand auf der Hansa aufgesucht. Eine dünne Rauchsäule nur, welche aus dem Ofenrohre seiner Kabine aufstieg, verriet noch seine Anwesenheit an Bord. Es kostete ihn das freilich seinen eigenen Vorrat an Heizmaterial, so gering dieser auch war, während ihm doch im Nina-Bau die vulkanische Wärme umsonst zur Verfügung stand. Er scheute aber sogar diese erhöhten Kosten nicht, um nur auf der Hansa bleiben zu können, statt das gemeinschaftliche Leben außerhalb der Tartane zu teilen. Wer hätte während seiner Abwesenheit denn die kostbare Ladung überwacht?

Übrigens lagen die Tartane und die Goëlette so vorzüglich, daß sie auch der Unbill eines überlangen Winters widerstehen konnten. Leutnant Prokop hatte auf die Sicherung der Schiffe die größte Sorgfalt verwendet. Fest vertäut in der geschützten Bucht und jetzt von dem starren Eispanzer umklammert, waren sie beide völlig unbeweglich. Man hatte auch die Vorsicht gebraucht, das Eis neben und unter ihrem Rumpfe schräg abzuhacken, so daß dieses nur am Kiel in direkter Verbindung stand, ein Verfahren, welches die Überwinternden in arktischen Meeren stets einzuhalten pflegen. So sicherte man die Fahrzeuge vor der Pressung des Eises, die sie sonst leicht eindrückt. Hob sich das ganze Eisfeld, so mußten Goëlette und Tartane mit emporsteigen, bei etwa eintretendem Tauwetter aber ebenso in ihre Schwimmlinie langsam zurücksinken.

Das Gallia-Meer war jetzt also in seiner ganzen Ausdehnung zugefroren, und hatte sich Leutnant Prokop gelegentlich seines letzten Besuches der Insel Gourbi auch überzeugen können, daß auch nach Norden, Osten und Westen keine Grenzen des Eisfeldes zu sehen waren.

Eine einzige Stelle dieses ungeheuren Bassins blieb allein von dieser Erstarrung frei: Jener Teich, wenn man so sagen darf, am Fuße der Hauptaushöhlung, in den sich ununterbrochen der glühende Lavastrom ergoß. Hier blieb das Wasser in seinem Felsenrahmen stets vollkommen offen und begannen sich da und dort unter dem Einflusse der strengen Kälte ja einige Eisnadeln zu bilden, so verzehrte sie das Feuer doch im nächsten Augenblicke wieder. Das Wasser zischte und verflüchtigte sich in Berührung mit der Lava, und eine Art immerwährenden Siedens hielt seine Moleküle stets in wallender Bewegung. Dieser kleine Meeresteil hätte den Fischern wohl gestattet, ihrer Kunst mit einigem Erfolge nachzugehen. Aber wie Ben-Zouf sagte, »die Fische darin waren zu hart gesotten, um anzubeißen!«

Mit den ersten Tagen des April änderte sich die Witterung; der Himmel bedeckte sich, ohne daß deshalb eine Steigerung der Temperatur stattfand. Der Thermometerfall stand hier eben nicht mit dem jeweiligen Zustande der Atmosphäre in Verbindung, noch auch mit der größeren oder geringeren Dunstmenge in derselben. Es verhielt sich mit der Gallia in der Tat nicht so, wie mit den Polarzonen der Erdkugel, welche notwendig unter dem Einflusse des Atmosphärenzustandes stehen und deren Winter infolge der von einem Kompaßpunkte zum anderen springenden Luftströmungen doch gewisse Unterbrechungen aufweisen. Die Kälte des neuen Sphäroides vermochte keine fühlbaren thermometrischen Schwankungen zu veranlassen. Sie rührte in der Hauptsache ja nur von ihrer Entfernung von der Quelle alles Lichtes und aller Wärme her und mußte auch ferner zunehmen, bis sie die von Fourier als untere Temperaturgrenze des freien Weltraumes berechneten Grade erreichte.

Zu dieser Zeit entstand einmal auch ein wirklicher Sturm, ein Sturm zwar ohne Schnee oder Regen, während dessen Dauer aber der Wind mit fast unvergleichbarer Heftigkeit wütete. Als er sich auf die Feuermassen stürzte, welche den Hauptsaal äußerlich abschlossen, brachte er daselbst höchst merkwürdige Wirkungen hervor. Dabei mußte man sich gegen die Lavateile, die er nach innen blies, sorgsam schützen. Daß er das Feuer verlöschen sollte, daran war nicht im entferntesten zu denken. Im Gegenteil steigerte der Orkan dadurch, daß er die Lava mit Sauerstoff sättigte, nur noch die Glut, etwa wie ein ungeheurer Ventilator. Manchmal wuchs der Druck des Windes so sehr an, daß der flüssige Vorhang einen Augenblick zerriß und ein kalter Luftstrom in die Höhle eindrang; die Spalte schloß sich aber augenblicklich wieder, so daß man diese durchgreifende Lufterneuerung eher für günstig als für verderblich ansah.

Am 4. April begann der neuerdings erworbene Mond sich in Gestalt eines zarten Halbmondes wieder neben der Irradiation der Sonne abzuheben. Er tauchte also nach einer Periode von etwa acht Tagen wieder auf, ganz wie man es seiner schon beobachteten Bewegung nach vermutet hatte. Die mehr oder minder begründete Befürchtung, ihn niemals wiederzusehen, ging also zu Ben-Zoufs besonderer Freude nicht in Erfüllung, und der neue Satellit schien bestimmt, regelmäßig seine halbmonatliche Kreisbahn um die Gallia zu beschreiben.

Infolge des Verschwindens alles übrigen kultivierten Erdbodens hatten sich, wie wir wissen, alle in der Atmosphäre der Gallia mit entführten Vögel nach der Insel Gourbi geflüchtet. Dort hatte der angebaute Boden zu ihrer Ernährung während der schönen Tage wohl vollkommen hingereicht, und so sah man sie damals auch in Scharen von vielen Tausenden sich auf der Insel niederlassen.

Mit Eintritt der dauernden Kälte aber bedeckten sich die Felder dort sehr bald mit Schnee, der an der Oberfläche zu einer so harten Kruste zusammenfror, daß sie auch der kräftigste spitze Schnabel nicht mehr zu durchbrechen vermochte. Dieser Umstand veranlaßte wieder eine ganz allgemeine Auswanderung der Vögel, die sich nun, durch ihren Instinkt geleitet, Warm-Land zum Wohnsitz erkoren.

Dieser Kontinent hatte ihnen zwar auch keine Nahrung zu bieten, aber er war doch bewohnt. Statt die Menschen zu fliehen, suchten die Vögel sich diesen vielmehr zu nähern. Aller täglich außerhalb der Galerien abgelagerte Abfall verschwand augenblicklich, doch es hätte ungeheurer Mengen desselben bedurft, um diese Tausende von Individuen jeder Art zu sättigen. Bald wagten sich, durch Kälte und Hunger getrieben, einige hundert Stück Geflügel in den engen Tunnel und erwählten sogar die inneren Räume des Nina-Baues zu ihrer Wohnung.

Man mußte bei der Unerträglichkeit dieses Zustandes also wieder daran denken, auf jene Jagd zu machen. Es bot das wiederum eine Ablenkung von den täglichen Arbeiten, und die Jäger der kleinen Kolonie gingen denn auch fleißig ans Werk. Die Anzahl dieser Vögel war eine so bedeutende, daß ihr Einzug mehr einem massenhaften Überfall von Feinden glich. Sie waren so verhungert und infolgedessen so gierig, daß sie den Leuten, welche im großen Saale aßen, fast die Fleischschnitten und Brotstückchen aus der Hand rissen. Man verfolgte sie nun mit Steinwürfen, Stockschlägen, selbst mit Flintenschüssen, doch nur nach einer ganzen Reihe von Gefechten erreichte man es, sich dieser lästigen Gäste wenigstens teilweise zu entledigen, während man einige Pärchen zur Erhaltung der Rasse schonte.

Ben-Zouf spielte hierbei den Oberjägermeister. Oh, wie er sich da fühlte und wie er kommandierte! Wieviel Soldatenkraftworte verschwendete er gegen die armen Vögel! Und wieviele verzehrte man im Laufe einiger Tage von den eßbaren Gattungen darunter, wie wilde und langgeschwänzte Enten, Rebhühner, Schnepfen, Bekassinen usw. Es schien sogar, als ob die Jäger diesen Arten mit verdoppeltem Eifer nachstellten.

Nach und nach ward wieder Ordnung im Nina-Bau. Nur etwa hundert Eindringlinge nisteten noch in schwer zugänglichen Löchern des Felsens. Allmählich betrachteten sich diese Eindringlinge als rechtmäßige Besitzer und verwehrten anderen selbst den Eingang. Es kam endlich scheinbar zu einem Waffenstillstand zwischen den um den Wohnsitz streitenden Teilen, und so überließ man durch schweigende Übereinkunft den Hitzköpfen gern die Polizeiverwaltung der Bergwohnung. Und wie wußten sie diese zu handhaben! Jeder unglückliche Vogel, der sich gegen Recht und Privilegium in die Galerien verirrte, wurde von seinen unerbitterlichen Stammverwandten entweder fortgetrieben oder umgebracht.

Eines Tages, es war am 15. April, hörte man am Ausgange der Hauptgalerie Nina laut um Hilfe rufen.

Pablo erkannte ihre Stimme und überholte sogar Ben-Zouf, um seiner kleinen Freundin zu Hilfe zu eilen.

»Komm! Komm schnell!« rief Nina, »sie werden mich töten!«

Pablo sah, als er nahe genug war, etwa ein halbes Dutzend großer Seemöwen das Mädchen wütend umflattern. Nur mit einem Stocke bewehrt, stürzte er sich in den ungleichen Kampf, und es gelang ihm auch, die beutegierigen Seevögel zu verjagen, freilich nicht ohne daß er einige empfindliche Schnabelhiebe davontrug.

»Was hast du denn, Nina?« fragte er.

»Da sieh, Pablo!« antwortet das kleine Mädchen, indem sie jenem einen Vogel wies, den sie zärtlich an die Brust drückte.

Ben-Zouf kam jetzt auch hinzu und nahm den Vogel aus den Händen des Mädchens.

»Das ist ja eine Taube!« rief er erfreut.

Es war in der Tat eine solche, und zwar eine Brieftaube, was ihre leicht bogenförmig geschweiften und am Ende abgestumpften Flügel bewiesen.

»Ah«, rief plötzlich Ben-Zouf, »bei allen Heiligen des Montmartre, sie trägt ein Beutelchen am Halse!«

Bald darauf wurde die Taube Hector Servadac übergeben, und alle liefen in der gemeinschaftlichen Wohnung, neugierig und verwundert über den unerwarteten Ankömmling, zusammen.

»Da kommt ja Nachricht von unserem gelehrten Herrn«, rief sogleich Hector Servadac. »Nach geschlossener Schifffahrt benutzt er Vögel als Briefboten. Wenn er nur dieses Mal seinen Namen und seine Adresse angegeben hätte!«

Der kleine Beutel war bei dem Kampfe der Taube gegen die Seemöwen etwas zerrissen worden. Bei dessen Eröffnung fand man darin folgende kurze, lakonisch abgefaßte Notiz:

Gallia.
Zurückgelegter Weg vom 1. März bis 1. April: 39 700 000 Lieues (22⅓ Millionen Meilen).
Entfernung von der Sonne: 110 000 000 Lieues (66 Mill. Meilen).
Im Vorübergange Nerina entführt.
Lebensmittel gehen bald aus und . . .

Der von den Schnäbeln der Möwen zerrissene Rest der Depesche war nicht weiter lesbar.

»Oh, verteufeltes Pech!« rief Hector Servadac. »Hier standen gewiß noch Unterschrift, Datum und Ortsangabe! Heute ist auch der ganze Text in französischer Sprache abgefaßt, und gewiß ist, der ihn schrieb, ein Franzose, und wir sind außerstande, ihm zu Hilfe zu kommen!«

Graf Timascheff und Leutnant Prokop kehrten noch einmal nach dem Platze zurück, an dem die Vögel sich herumgebissen hatten, in der stillen Hoffnung, noch ein abgerissenes Papierstückchen, einen Namen, eine Unterschrift oder irgendeine Hindeutung zu finden, die ihnen auf die Spur des unbekannten Unglücklichen helfen könnte . . . ihre Bemühungen waren umsonst.

»Sollten wir denn niemals erfahren, wo sich dieser einzige Überlebende von der alten Erde aufhält?« fragte Kapitän Servadac.

»Ei«, rief da plötzlich die kleine Nina, »Freund Zouf, sieh einmal hier!«

Mit diesen Worten zeigte sie Ben-Zouf die Taube hin, die sie immer sorgfältig in den Händen hielt.

Auf dem linken Flügel des Vogels sah man sehr deutlich einen Farbenstempel-Abdruck, in welchem nur ein einziges Wort, aber gerade dasjenige, dem die höchste Bedeutung zukam, zu lesen war; es lautete: »Formentera«.

 


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