Jules Verne
Reise durch die Sonnenwelt. Erster Band
Jules Verne

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Drittes Kapitel

Worin man sieht, wie die dichterische Begeisterung Kapitän Servadacs durch einen fatalen Stoß unterbrochen wird.

Ein Gourbi ist nichts anderes als eine aus Rüststangen erbaute und mit Stroh, das die Eingeborenen »Driß« nennen, gedeckte Hütte. Etwas mehr als ein arabisches Zelt, bleibt eine solche Wohnung doch weit hinter einem Haus aus Bruch- oder Backsteinen zurück.

Der von Kapitän Servadac bewohnte Gourbi bestand alles in allem aus einem einzigen Zimmer, das seinen Gästen kaum den notdürftigsten Raum gewährt hätte, wenn er nicht mit einem verlassenen, aus Steinen errichteten Wachthause zusammengehangen hätte, das Ben-Zouf und die beiden Pferde beherbergte. Früher diente dieses Wachthaus einer Genieabteilung und enthielt noch einige Werkzeuge wie Hacken, Äxte, Schaufeln, usw.

Von Komfort konnte in dem Gourbi natürlich keine Rede sein, er bildete ja auch nur einen provisorischen Zufluchtsort. In bezug auf Nahrung und Wohnung waren übrigens weder der Kapitän noch seine Ordonnanz besonders wählerisch.

»Mit ein wenig Philosophie und einem guten Magen ist man überall gut aufgehoben«, wiederholte Hector Servadac gern.

Mit der Philosophie stand's bei ihm aber wie mit dem Geld beim Gaskogner, der immer etwas in der Börse hat, und was den Magen betraf, so hätte das ganze Wasser der Garonne durch den des Kapitäns laufen können, ohne ihn nur einen Augenblick zu belästigen.

Ben-Zouf, wenn wir einmal die Metempsychose gelten lassen, mußte in seinem früheren Leben ein Strauß gewesen sein, von dem er sich noch jene phänomenalen Eingeweide bewahrt hatte, welche Kieselsteine ebenso leicht verdauen wie Hühnerpastete.

Die beiden Einsiedler in dem Gourbi waren übrigens mit Vorräten für einen Monat wohlversorgt; eine Zisterne lieferte ihnen Trinkwasser im Überfluß, die Dachsparren des Stalles strotzten von Futter, und dazu konnte die überaus fruchtbare Ebene zwischen Tenez und Mostagenem mit den reichen Gegenden der Mitidja wetteifern. Das Wild war hier nicht gar so selten, und einem Offizier des Stabes ist es niemals verboten, bei seinen Streifzügen eine Jagdflinte mitzuführen, wenn er nur seine Winkelmaßinstrumente und das Zeichenbrett nicht vergißt.

Als Kapitän Servadac nach dem Gourbi zurückgekehrt war, aß er mit einem Appetite, den die Promenade fast zum Heißhunger ausgebildet hatte. Ben-Zouf verstand sich ausgezeichnet auf die Verwaltung der Küche. Aus seiner Hand konnten geschmacklose Gerichte gar nicht hervorgehen. Er salzte und würzte und pfefferte militärisch. Aber, wie gesagt, er sorgte auch für zwei Magen, welche der schärfsten Gewürze spotteten und über die die Gastralgie keine Herrschaft hatte.

Nach dem Essen und während seine Ordonnanz die Reste der Mahlzeit sorgfältig in seinem »Unterleibsschranke« unterzubringen suchte, verließ Kapitän Servadac den Gourbi, um frische Luft zu schöpfen, und promenierte rauchend am Rande der Küste.

Die Nacht sank herab. Schon seit einer Stunde war die Sonne verschwunden hinter den dichten Wolken und unter dem Horizonte, den die Ebene in der Richtung nach dem Cheliff zu scharf abgrenzte. Der Himmel bot einen eigentümlichen Anblick, den kein Beobachter kosmischer Erscheinungen ohne Erstaunen wahrgenommen hätte. Gegen Norden nämlich, wo es schon so dunkel war, daß sich der Gesichtskreis etwa bis auf einen halben Kilometer einengte, zitterte ein rötlicher Lichtschein auf den oberen Dunstschichten der Atmosphäre. Man entdeckte weder regelmäßige Streifen, noch eine deutliche Lichtstrahlung von einem gemeinsamen Mittelpunkte aus. Nichts ließ also etwa ein Nordlicht vermuten, dessen prächtige Erscheinung übrigens fast ausschließlich nur unter dem Himmel höherer Breitengrade sichtbar wird. Ein Meteorolog wäre also gewiß in Verlegenheit gekommen, zu sagen, von welchem Phänomen diese herrliche Beleuchtung der letzten Nacht des Jahres herrührte.

Kapitän Servadac war aber kein Meteorolog vom Fach. Man darf annehmen, daß er seit dem Verlassen der Schule seine Nase wohl niemals wieder in das Lehrbuch der Kosmographie gesteckt hatte. Gerade diesen Abend war er auch keineswegs in der Stimmung, die Himmelskugel mit besonderer Aufmerksamkeit zu betrachten. Er flanierte und rauchte. Dachte er vielleicht allein an das Rencontre, das ihn morgen früh mit Graf Timascheff zusammenführen sollte? Wenn ein solcher Gedanke manchmal sein Hirn durchkreuzte, so geschah es gewiß nicht, um ihn mehr als nötig gegen den Grafen einzunehmen. Die beiden Gegner fühlten in der Tat keinen Haß gegeneinander, trotzdem sie Rivalen waren. Es handelte sich hierbei ja nur darum, einer Situation ein Ende zu machen, bei der einer von zweien allemal zuviel ist. Hector Servadac hielt Graf Timascheff gewiß für einen Ehrenmann, und der Graf seinerseits konnte für den Offizier nur die höchste Achtung haben.

Um acht Uhr abends kehrte Kapitän Servadac zurück in das einzige Zimmer des Gourbi, das neben seinem Feldbette einen kleinen Arbeitstisch auf Stellhölzern und einige Koffer enthielt, die den Dienst von Schränken verrichteten. Die nötigen Küchenarbeiten besorgte die Ordonnanz nicht in dem Gourbi, sondern in dem benachbarten Wachthause, und dort schlief der brave Bursche auch, wie er sagte, den »Schlaf des Gerechten«! Das hinderte ihn aber nicht, volle zwölf Stunden zu schlafen, und auch darüber hinaus wäre er noch eine Wette mit einem Murmeltiere eingegangen.

Kapitän Servadac, der gar nicht solche Eile hatte, zu schlummern, setzte sich an den mit seinen Instrumenten bedeckten Tisch. Mechanisch ergriff er mit der einen Hand den roten und blauen Stift und mit der anderen den Reduktionszirkel. Dann begann er auf dem Pauspapier vor sich verschieden gefärbte ungleiche Linien zu ziehen, welche einer strengen topographischen Aufnahme nicht im geringsten ähnlich sahen.

Unterdessen wartete Ben-Zouf, der noch keinen Befehl erhalten hatte, sich schlafen zu legen, in einer Ecke, und versuchte zu schlafen, was ihm nur die sonderbare Aufgeregtheit seines Kapitäns sehr erschwerte.

In der Tat hatte nicht der Stabsoffizier, sondern der gaskognesche Poet an dem Arbeitstische Platz genommen. Ja? Hector Servadac quälte sich auf die beste Art und Weise. Er bearbeitete mit aller Kraft dieses Rondeau, das sich so ungeheuer bitten ließ. Focht er wohl mit dem Zirkel, um seinen Versen eine genaue mathematische Form zu sichern? Verwandte er einen mehrfarbigen Stift, um den rebellischen Reimen mehr Abwechslung zu geben? Fast hätte man das glauben können. Doch, wie dem auch sei, es war eine sauere Arbeit.

»Ei, zum Kuckuck!« rief er, »was mußte ich auch diese Form eines Quatrain wählen, die mich zwingt, die Reime, wie die Flüchtlinge in einer Schlacht, immer wieder vorzuführen? Aber bei allen Teufeln, ich werde kämpfen! Man soll nicht sagen, daß ein französischer Offizier vor einigen Reimen Reißaus genommen hätte. Ein einzelner Vers, der gleicht etwa einem Bataillon! Die erste Kompanie hat schon Feuer gegeben! – Er wollte sagen, das erste Quatrain. – Nun, vorwärts die anderen!«

Die bis aufs Messer verfolgten Reime schienen endlich zu gehorchen, denn bald entstand eine rote und eine blaue Linie auf dem Papier:

Was nützt das schöne Reden all,
das sich Vertrauen stiehlt! . . .

»Was Teufel quält sich nur mein Kapitän?« fragte sich Ben-Zouf, der sich hin- und herdrehte. »Da ficht er nun schon eine Stunde herum, wie ein Gelbschnabel, der vom halbjährigen Urlaub zurückkehrt.«

Hector Servadac durchmaß den Gourbi, eine willenlose Beute seiner dichterischen Begeisterung:

Wenn bei der leeren Worte Schwall
das Herz nichts fühlt?

»Es steht fest, er macht Verse», sagte sich Ben-Zouf, indem er sich in seine Ecke zurückzog. »Ja, das ist ein geräuschvolles Geschäft, da ist nicht an schlafen zu denken.«

Er ließ ein dumpfes Knurren hören.

»He, Ben-Zouf, was hast du denn?« fragte Hector Servadac.

»Nichts, mein Kapitän, mich drückt nur der Alp!«

»Der Teufel soll dich holen!«

»Wäre mir schon recht, und zwar gleich auf der Stelle«, murmelte Ben-Zouf, »vorzüglich wenn der Gottseibeiuns keine Verse macht!«

»Dieser Esel hat mich im schönsten Fluß unterbrochen!« wetterte der Kapitän. »Ben-Zouf!«

»Hier, Herr Kapitän!« versetzte die Ordonnanz und erhob sich, die eine Hand an der Mütze, die andere an der Hosennaht.

»Muckse nicht, Ben-Zouf! Muckse nicht, ich bin eben bei der glücklichen Vollendung meines Rondeau!«

Und mit begeisterter Stimme und den Gestikulationen eines großen Poeten fügte Hector Servadac hinzu:

Oh, glaub mir, meine Lieb' ist echt,
ich ruf dir's ehrlich zu,
daß ich dich liebe heiß und recht.
Und für . . .

Das letzte Wort war noch nicht gesprochen, als Kapitän Servadac und Ben-Zouf mit unerhörter Gewalt zu Boden geworfen wurden.

 


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