Jules Verne
Reise durch die Sonnenwelt. Erster Band
Jules Verne

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Fünfzehntes Kapitel

In welchem man sich bemüht, eine Wahrheit zu entdecken, der man sich vielleicht nähert.

Gleich die ersten Stunden der Fahrt verwendete man darauf, die Konsequenzen jener neuen und unerwarteten Tatsache zu besprechen. Gelang es ihnen dabei auch noch nicht, die volle Wahrheit zu ergründen, so durften der Graf, der Kapitän und Leutnant Prokop doch hoffen, einen Schritt weiter in das Geheimnis ihrer sonderbaren Lage einzudringen.

Nun, und was wußten sie denn jetzt unzweifelhaft? Das eine, daß die Dobryna, nachdem sie die Insel Gourbi unter 18° östlicher Länge verlassen, die neu entstandene Küste etwa unter 33° östlicher Länge angetroffen hatte. Es entsprach das also einer Entfernung von fünfzehn Längengraden. Rechnete man hierzu die Länge der Meerenge, auf welcher sie den neuen unbekannten Kontinent durchfahren hatten, zu etwa dreiundeinhalb Grad, dann noch die Strecke von deren östlichem Ausgange bis Gibraltar zu etwa vier Graden, und endlich den Raum zwischen Gibraltar und der Insel Gourbi zu ungefähr sieben Längengraden, so ergab das im Ganzen neunundzwanzig Grade.

Die Dobryna hätte demnach von ihrem Abfahrtspunkte an der Insel Gourbi bis ebendahin zurück, wobei sie genau demselben Breitengrade folgte oder mit anderen Worten eine vollständige Rundfahrt ausführte, annähernd neunundzwanzig Grade zurückzulegen gehabt.

Achtzig Kilometer auf einen Grad gerechnet, ergab das eine Summe von 2320 Kilometern.

Wenn die Insassen der Dobryna anstelle Korfus und der Jonischen Inseln auf Gibraltar trafen, so sagte das, daß der ganze Rest der Erdkugel, im Umfange von 331 Längengraden, vollständig verschwunden war. Hätte man vor der Katastrophe in östlicher Richtung von Malta nach Gibraltar segeln wollen, so hätte man die zweite, östliche Hälfte des Mittelmeeres, den Kanal von Suez, das Rote Meer, das Indische Meer, den Stillen Ozean, das Kap Hoorn und nordöstlich hinauf das Atlantische Meer passieren müssen. Statt dieses ungeheuren Weges hatte eine neue Meerenge von zweihundertsechzig Kilometer Länge hingereicht, die Goëlette nach einem von Gibraltar etwa fünfzig Meilen entfernten Punkte zu führen.

Dieses Resultat ergaben die Berechnungen des Leutnant Prokop, welche selbst unter Annahme der möglichen Fehler doch hinreichten, darauf weitere Schlüsse zu bauen.

»Da die Dobryna also«, sagte Kapitän Servadac, »fast nach ihrem Ausgangspunkte zurückgekehrt ist, ohne den Kurs zu wechseln, so müßte man daraus folgern, daß das Sphäroid der Erde nur noch einen Umfang von 2320 Kilometer hat.«

»Jawohl«, stimmte Leutnant Prokop zu. »Sein Durchmesser verminderte sich damit auf nahezu 740 Kilometer, d. h. er wäre sechzehnmal kleiner als vor der Katastrophe, wo er 12 792 Kilometer betrug. Es unterliegt keinem Zweifel, daß wir eben eine Reise um den noch übrigen Rest der Erde zurückgelegt haben.«

»Das würde allerdings mehrere der von uns beobachteten, so auffälligen Erscheinungen erklären«, sagte Graf Timascheff. »So muß z. B. die Schwere auf einem so außerordentlich verkleinerte Sphäroid vermindert sein, ebenso leuchtet mir ein, daß die Rotation um seine Achse dadurch so beschleunigt wurde, daß die Zeit zwischen zwei Sonnenaufgängen nur noch zwölf Stunden beträgt. Bezüglich der neuen Kreisbahn, welche jenes um die Sonne beschreibt . . .«

Graf Timascheff unterbrach sich, da es ihm nicht zu gelingen schien, diese Erscheinung aus seinem neuen Systeme herzuleiten.

»Nun, Herr Graf«, fragte Kapitän Servadac, »was die neue Kreisbahn betrifft? . . .«

»Was ist hierüber deine Ansicht, Prokop?« antwortete der Graf, sich an den Leutnant wendend.

»Vater«, erwiderte Prokop, »zwei Möglichkeiten gibt es nicht, diese veränderte Bahn im Weltraume zu erklären; es gibt nur eine, nur eine einzige!«

»Und diese wäre?« fragte Kapitän Servadac lebhaft und schnell, als habe er eine Vorahnung der Antwort des Leutnants.

»Sie beruht«, fuhr Prokop fort, »in der Annahme, daß sich ein Fragment der Erde unter Mitnahme eines Teiles der Atmosphäre losgelöst hat und nun die Sonnenwelt in einer anderen Bahn umkreist, als die der Erdkugel war.«

Nach dieser so einleuchtend wahrscheinlichen Erklärung sahen sich Graf Timascheff, Kapitän Servadac und Leutnant Prokop eine Weile lang schweigend an. Im strengsten Sinne des Wortes angewurzelt, überdachten sie die unberechenbaren Folgen dieses neuen Zustandes der Dinge. Wenn sich nun wirklich ein ungeheures Stück von der Erdkugel losgelöst hatte, wohin trieb es wohl? Welche Bedeutung war der Exzentrizität der elliptischen Bahn zuzuschreiben, welcher jenes jetzt folgte? Bis zu welcher Entfernung von der Sonne würde es entführt werden? Welche Dauer mochte sein Lauf um das Zentrum der Attraktion haben? Sollte es gleich den Kometen Hunderte von Millionen Meilen hinausgeschleudert oder bald nach der Quelle des Lichtes und der Wärme zurückgeführt werden? Fiel die Ebene seiner Bahn wohl mit der Ekliptik zusammen und durfte man einige Hoffnung hegen, daß dieser losgelöste Teil sich einmal wieder mit der Erdkugel verbinden werde?

Kapitän Servadac war der erste, der das Schweigen unterbrach und fast wider Willen ausrief:

»Zum Teufel, nein! Ihre Erklärung, Leutnant Prokop, trifft zwar nach vielen Seiten zu, ist aber doch nicht annehmbar.«

»Warum, Kapitän?« fragte der Leutnant. »Sie scheint mir im Gegenteil jedem Einwurfe zu begegnen.«

»Nein, nein, einer mindestens wird durch Ihre Hypothese nicht entkräftet.«

»Und welcher wäre das?« fragte Prokop.

»Nun, verstehen wir uns recht«, sagte Kapitän Servadac. »Sie bleiben bei der Ansicht stehen, daß ein Stück der Erdkugel, jetzt also ein neuer Asteroid, der uns trägt und der das Mittelländische Meer von Gibraltar bis Malta umfaßt, durch die Sonnenwelt kreise?«

»Das ist meine Ansicht.«

»Nun gut, Leutnant; wie erklären Sie dann aber das Auftauchen jenes eigentümlichen Kontinentes, der dieses Meer jetzt einrahmt, und speziell die Bildung seiner Küste? Würden wir auf einem Stück der Erdkugel hinweggeführt, so hätte dasselbe doch gewiß sein altes Granit- oder Kalksteinskelett behalten und könnte an der Oberfläche nicht jene mineralischen Bestandteile aufweisen, deren Zusammensetzung uns noch nicht einmal bekannt ist.«

Das war freilich ein gewichtiger Einwurf des Kapitän Servadac gegen die Theorie des Leutnants. Man konnte wohl damit einverstanden sein, daß sich von der Erdkugel ein Fragment losgelöst habe, welches einen Teil der Atmosphäre und des Mittelmeeres entführte; konnte zugeben, daß dessen Bewegungen um sich selbst und in der Bahn um die Sonne nicht mit denen der Erde identisch seien; weshalb aber erhob sich anstelle der fruchtbaren Ufer, welche das Mittelmeer sonst im Süden, Westen und Osten begrenzten, jetzt jene aller Vegetation entbehrende, steile Küstenmauer von so gänzlich unbekannter Natur?

Leutnant Prokop vermochte diesen Einwurf nicht zu beantworten und tröstete sich nur mit der Hoffnung, daß die Zukunft noch Licht über bisher dunkle Punkte verbreiten werde. Jedenfalls veranlaßte ihn Kapitän Servadacs Einrede nicht, eine Hypothese aufzugeben, welche so vieles vorher Unerklärliche aufhellte. Die erste Ursache der ganzen Veränderung entging ihm freilich auch noch jetzt. Sollte man annehmen, daß eine expansive Wirkung zentraler Kräfte ein solches Bruchstück aus der festen Erdrinde habe lösen und in den Weltraum hinausschleudern können? Das war doch sehr unwahrscheinlich. Wie viele Rätsel gab dieses großartige Problem zu lösen!

»Alles in allem«, sagte Kapitän Servadac zum Schlusse, »kommt ja sehr wenig darauf an, auf einem neuen Gestirn durch die Sonnenwelt zu fliegen, wenn uns nur Frankreich begleitet.«

»Frankreich . . . und Rußland!« fügte Graf Timascheff hinzu.

»Und Rußland!« wiederholte der Stabsoffizier, der sich beeilte, die legitime Reklamation des Grafen anzuerkennen.

Wenn es aber wirklich nur ein Stück der Erdkugel war, das sich in einer neuen Ellipse um die Sonne bewegte, und wenn auch dieses Bruchstück eine Kugelgestalt hatte – wobei es notwendigerweise nur sehr beschränkte Dimensionen aufweisen konnte – mußte man dann nicht befürchten, daß ein Teil Frankreichs und mindestens der größte Teil Rußlands mit der alten Erde in Verbindung geblieben sei? Ebenso England, bezüglich dessen schon das sechs Wochen lang andauernde Ausbleiben aller Nachricht und Aufhören jeder Verbindung zwischen Gibraltar und dem Vereinigten Königreiche darauf hinzudeuten schien, daß weder zu Land noch zu Wasser, weder durch die Post noch durch den Telegrafen eine Kommunikation möglich sei. Wenn die Insel Gourbi wirklich, wie das fortwährende Gleichbleiben der Tage und Nächte vermuten ließ, im Äquator des Asteroiden lag, so mußten die beiden Pole im Norden und Süden von der Insel gleichmäßig und zwar so weit voneinander entfernt sein, als der bei der Fahrt der Dobryna gefundene halbe Umfang, also 1160 Kilometer. Der Nordpol war also gegen 580 Kilometer nördlich von der Insel Gourbi, der Südpol ebensoweit südlich von derselben zu suchen. Bestimmte man diese Punkte auf der Karte, so fiel der Nordpol nicht über die Küste der Provence hinaus, der Südpol aber in die afrikanische Wüste etwa in den neunundzwanzigsten Grad der Breite.

Hatte nun Leutnant Prokop wohl recht, auf der Annahme seines neuen Systemes zu beharren? War in der Tat ein so gewaltiges Stück von der Erdkugel abgerissen worden? Keiner vermochte das endgültig zu entscheiden. Die Lösung des Problems gehörte der Zukunft; vielleicht erscheint aber doch die Annahme nicht zu kühn, daß Leutnant Prokop, wenn er auch die volle Wahrheit noch nicht erkannte, ihr doch einen bedeutenden Schritt nähergekommen war.

Jenseits der engen Spalte, welche unfern Gibraltar die beiden äußersten Enden des Mittelmeeres verband, traf die Dobryna das herrlichste Wetter an. Der Wind begünstigte ihre Fahrt, und unter der doppelten Hilfe der Brise und des Dampfes kam sie desto schneller nach Norden vorwärts.

Wir sagten nach Norden, nicht nach Osten, denn das Küstengebiet Spaniens war, mindestens zwischen Gibraltar und Alicante, vollständig verschwunden. Weder Malaga, noch Almeria, das Kap von Gata oder das von Palos, noch auch Karthagena, fanden sich an den Stellen ihrer geographischen Koordinaten. Das Meer hatte alle diese Teile der spanischen Halbinsel bedeckt, und die Goëlette mußte bis zur Höhe von Sevilla segeln, nicht um die Küste Andalusiens, sondern um eine ganz gleiche steile Uferwand zu treffen, wie jene jenseits Maltas.

Von diesem Punkte aus schnitt das Meer tief in das Land hinein und bildete einen spitzen Winkel, dessen Scheitel etwa Madrid einnehmen mußte. Dann verlief das Ufer wieder in der Richtung nach Süden, griff nun seinerseits in das alte Meeresbassin ein und verlängerte sich, einer drohenden Kralle ähnlich, oberhalb der Balearen.

Als sich die Seefahrer, um etwaige Spuren dieser wichtigen Inseln aufzufinden, etwas von ihrer Route entfernten, machten sie einen ganz unerwarteten Fund.

Es war am 21. Februar acht Uhr morgens, als einer der Matrosen, der am Vorderteile der Goëlette die Wache hatte, plötzlich ausrief:

»Eine Flasche im Meer!«

Diese Flasche konnte möglicherweise ein wertvolles, auf den damaligen Zustand der Dinge bezügliches Dokument enthalten.

Auf den Ruf des Matrosen waren Graf Timascheff, Hector Servadac, der Leutnant, alle nach dem Vorderteile geeilt. Die Goëlette manövrierte so, daß sie sich dem bezeichneten Gegenstande näherte, der dann auch bald aufgefischt und an Bord gehißt wurde.

Es war keine Flasche, sondern ein Lederetui, von der Art, wie man sie zur Aufbewahrung mittelgroßer Fernrohre zu benutzen pflegt. Der Deckelteil zeigte sich sorgfältig mit Wachs verkittet, und wenn das Etui erst vor kurzer Zeit ausgeworfen war, so hatte das Wasser aller Wahrscheinlichkeit nach nicht hineindringen können.

Leutnant Prokop musterte in Gegenwart des Grafen Timascheff und des Stabsoffiziers aufmerksam das Etui. Kein Fabrikzeichen deutete auf seinen Ursprung. Das Wachs, mit dem es verschlossen war, zeigte sich unversehrt und hatte auch noch einen Petschaftabdruck deutlich bewahrt, auf dem man die Buchstaben P. R. erkannte. Der Behälter ward geöffnet und der Leutnant zog aus ihm ein vom Wasser noch vollkommen verschontes Papier hervor, nur ein einfaches viereckiges Blättchen, das offenbar aus einem Notizbuche gerissen war und auf dem sich in großer, verkehrt geneigter Schrift folgende mit Frage- und Ausrufungszeichen reich versehenen Worte fanden:

»Gallia???
»Ab sole, au 15. févr., dist.: 59 000 000 l.!
»Chemin parcouru de janv. au févr.: 32 000 000 l.
»Va bene! All right! Parfait!!!«

Deutsch: Gallia???
Von der Sonne, am 15. Febr., Entf.: 35 400 000 Meilen!
Durchlaufener Weg vom Jan. bis Febr.: 49 200 000 M.
Geht gut! Ganz wohl! Vortrefflich!!!

»Was soll das bedeuten?« fragte Graf Timascheff, als er das Blatt nach allen Seiten gewendet hatte.

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Kapitän Servadac; »nur eines ist sicher, daß der Verfasser dieses Dokumentes, wer es auch immer sei, am 15. Februar noch lebte, denn das Schriftstück trägt dieses Datum.«

»Unzweifelhaft«, stimmte Graf Timascheff zu.

Das Dokument selbst war nicht unterzeichnet. Nichts deutete auf seinen Ursprungsort. Es fanden sich darin lateinische, italienische, englische und französische Worte, letztere in überwiegender Anzahl.

»Eine Mystifikation kann das nicht wohl sein«, meinte Kapitän Servadac. »Es liegt auf der Hand, daß dieses Dokument auf die neue kosmographische Ordnung Bezug nimmt, deren Folgen auch wir empfinden. Das Etui, in dem es sich befand, gehörte irgendeinem Beobachter an Bord eines Schiffes . . .«

»Nein, Kapitän«, fiel Leutnant Prokop ins Wort, »dann hätte es jener in einer Flasche verschlossen, in der es besser als in dem Lederfutteral vor der Feuchtigkeit geschützt war. Ich glaube vielmehr, irgendein Gelehrter, der allein auf einem verschonten Punkte einer Küste übriggeblieben ist, hat, um die Resultate seiner Beobachtungen bekanntzugeben, dazu diesen Behälter benutzt, der ihm augenblicklich vielleicht minder wertvoll erschien, als seine Flasche.«

»Am Ende kommt darauf wenig an«, sagte Graf Timascheff. »Jetzt scheint es mir nutzbringender, den Inhalt dieses sonderbaren Dokumentes zu enträtseln, als sich über dessen Urheber den Kopf zu zerbrechen. Wir wollen es Wort für Wort vornehmen. Also zuerst, was bedeutet dieses Gallia?«

»Ich kenne keinen größeren oder kleineren Planeten, der diesen Namen führte«, bemerkte Kapitän Servadac.

»Kapitän«, begann da der Leutnant Prokop, »erlauben Sie, bevor wir weitergehen, eine Frage an Sie zu stellen.«

»Mit Vergnügen.«

»Sind Sie nicht der Meinung, daß gerade dieses Dokument meine letztere Hypothese zu unterstützen scheint, nach welcher ein Fragment der Erdkugel in den Weltraum hinausgeschleudert wäre?«

»Ja . . . vielleicht . . .« antwortete Hector Servadac ». . . obwohl der Einwurf bezüglich der sonderbaren Grundstoffe, aus der das Innere unseres Asteroiden gebildet ist, noch immer fortbesteht.«

»In diesem Falle«, fügte Graf Timascheff hinzu, »hätte jener Gelehrte dem neuen Gestirn also den Namen Gallia gegeben.«

»Das scheint demnach ein französischer Gelehrter gewesen zu sein?« bemerkte Leutnant Prokop.

»Man könnte es glauben«, bestätigte Kapitän Servadac. »Beachten Sie, daß unter den achtzehn Worten des Dokumentes sich elf französische Worte befinden gegenüber drei lateinischen, zwei italienischen und zwei englischen. Es deutet diese Mischung auch darauf hin, daß besagter Gelehrter, in der Ungewißheit darüber, in welche Hände sein Dokument fallen werde, einzelne Worte verschiedener Sprachen verwendete, um desto sicherer verstanden zu werden.«

»Gut, wir nehmen also an, Gallia sei der Name des neuen Asteroiden, der um die Sonne kreist«, sagte Graf Timascheff, »und gehen nun weiter zu den Worten: ›Von der Sonne, Entfernung am 15. Februar, fünfunddreißig und vier Zehntel Millionen Meilen‹«.

»Das entspricht offenbar der Entfernung«, erklärte Leutnant Prokop, »welche die Gallia von der Sonne trennte, als sie die Bahn des Mars durchschnitt.«

»Gut«, antwortete Graf Timascheff, »das wäre also ein erster Punkt des Dokumentes, der mit unseren Beobachtungen übereinstimmt.«

»Ganz genau«, bekräftigte Leutnant Prokop.

»Durchlaufener Weg vom Januar bis Februar«, fuhr Graf Timascheff lesend fort, »neunundvierzig und zwei Zehntel Millionen Meilen.«

»Es bezieht sich diese Angabe«, sagte Hector Servadac, »offenbar auf die von der Gallia in ihrer neuen Bahn durchmessene Strecke.«

»Ganz gewiß«, stimmte ihm Leutnant Prokop bei, »und zwar mußte die Umlaufsgeschwindigkeit, entsprechend den Kepplerschen Gesetzen, oder, was auf dasselbe hinauskommt, der in gleichen Zeiträumen durchlaufene Weg progressiv kleiner werden. Die höchste von uns beobachtete Temperatur fiel mit dem 15. Januar zusammen. Höchstwahrscheinlich befand sich die Gallia zu der Zeit in ihrem Perihel, d. h. in der geringsten Entfernung von der Sonne, und bewegte sich damals mit einer doppelten Geschwindigkeit gegenüber der der Erde, welche nur siebzehntausendzweihundertachtzig Meilen in der Stunde erreicht.«

»Das klingt alles sehr schön«, ließ sich Kapitän Servadac vernehmen, »leider verrät es uns nur nicht, bis zu welcher Entfernung von der Sonne sich die Gallia in ihrem Aphel bewegen wird, und was wir von der Zukunft zu hoffen oder zu fürchten haben.«

»Nein, Kapitän«, antwortete Leutnant Prokop; »doch mittels genauer Beobachtungen auf verschiedenen Punkten der Gallia-Bahn müssen wir mit Hilfe der allgemeingültigen Gravitationsgesetze dahin gelangen, die Elemente dieser Bahn zu bestimmen . . .«

»Und folglich«, fiel Kapitän Servadac ein, »den Weg, den die Gallia in dem Sonnensysteme einhalten wird.«

»In der Tat«, äußerte sich Graf Timascheff, »wenn die Gallia ein Asteroid ist, so unterliegt sie, wie alle beweglichen Körper, den Gesetzen der Mechanik, und die Sonne bestimmt ihre Bahn ebenso wie die der Planeten. Von dem Augenblicke an, als sich dieses Fragment von der Erde löste, fesselten es auch die unsichtbaren Ketten der allgemeinen Anziehungskraft und bestimmten genau seine spätere Flugbahn.«

»Wenigstens so lange«, setzte Leutnant Prokop hinzu, »als nicht später vielleicht ein anderer Himmelskörper störend in diese Bahn eingreift. Im Vergleich mit den übrigen Körpern des Himmelssystems ist die Gallia nur winzig klein, und die anderen Planeten könnten leicht einen merkbaren Einfluß darauf ausüben.«

»Jedenfalls«, meinte Kapitän Servadac, »könnte die Gallia leicht einem unangenehmen Zusammenstoß ausgesetzt sein und dadurch von dem rechten Wege abweichen. Übrigens, meine Herren, bedenken Sie, daß wir hier sprechen, als wären wir erwiesenermaßen Bewohner dieser Gallia. Wer beweist uns denn aber, daß diese Gallia nicht etwa der hundertsiebzigste, neuentdeckte kleine Planet ist?«

»Nein, nein«, erwiderte Leutnant Prokop, »davon kann nicht die Rede sein. Die teleskopischen Planeten bewegen sich alle nur in einer schmalen, zwischen der Bahn des Mars und des Jupiters gelegenen Zone. Sie nähern sich infolgedessen der Sonne niemals so sehr, wie die Gallia zur Zeit ihres Perihels. Diese Tatsache kann nicht angezweifelt werden, da das Dokument mit unseren eigenen Hypothesen hierin vollständig übereinstimmt.«

»Leider fehlen uns«, sagte Graf Timascheff, »die zu jenen astronomischen Beobachtungen notwendigen Instrumente, so daß wir die Bahnelemente unseres Asteroiden zu berechnen außer Stande sind.«

»Wer weiß«, meinte Hector Servadac, »zuletzt wird vielleicht auch diese Schwierigkeit beseitigt.«

»Was die letzten Worte des Dokumentes betrifft«, fuhr Graf Timascheff fort, ›Va bene! All right! Parfait!!!‹ so bedeuten sie wohl gar nichts . . .«

»Außer, daß der Verfasser«, fiel Hector Servadac ein, »damit hat ausdrücken wollen, wie entzückt er von dem neuen Zustande der Dinge sei, und daß er alles wunderschön in dieser schönsten der Welten finde.«

 


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