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Zweiter Theil.

I.
Pescade und Matifu.

Fünfzehn Jahre nach den Ereignissen, welche die Einleitung zu nachfolgender Geschichte bilden, am 24. Mai 1882, war Jahrmarkt in Ragusa, einer der bedeutendsten Städte in den dalmatinischen Provinzen.

Dalmatien ist nur eine schmale, geschickt zwischen dem nördlichen Theile der Dinarischen Alpen, der Herzegowina und dem adriatischen Meere eingeschobene Landenge. Es ist dort gerade noch Raum genug für eine ziemlich eng sitzende Bevölkerung von 400.000 bis 500.000 Seelen.

Ein schöner Menschenschlag sind diese Dalmatiner, nüchtern, trotzdem ihr Land, dem das befruchtende Erdreich fehlt, ein dürres ist, stolz inmitten der zahlreichen politischen Verwandlungen, die sie erlitten, trotzig gegen Oesterreich, an welches sie durch den Vertrag von Campo Formio im Jahre 1815 kamen, schließlich über alle Maßen ehrenhaft; es paßt auf ihr Land die von Herrn Yriarte gebrauchte hübsche Bezeichnung eines »Landes der Thüren ohne Schlösser«.

In vier Kreise ist Dalmatien eingetheilt und diese wiederum theilen sich in einzelne Distrikte: die ersteren sind die von Zara, Spalato, Cattaro und Ragusa. In Zara, als der Hauptstadt der Provinz, ist der Sitz des Generalgouverneurs. In Zara tritt auch der Landtag zusammen, von dem einzelne Mitglieder zum Herrenhause in Wien gehören.

Die Zeiten haben sich seit dem sechzehnten Jahrhundert sehr geändert. Damals setzten noch die Usocken, türkische Flüchtlinge, dieses Meer in Schrecken und führten offenen Krieg mit den Muselmännern wie mit den Christen, mit dem Sultan wie mit der Republik von Venedig. Die Usocken sind heute verschwunden und man findet Spuren von ihnen nur noch in Krain. Die Adria ist heute ein ebenso sicheres Gewässer wie irgend ein anderer Theil des herrlichen und poetischen mittelländischen Meeres.

Ragusa, oder vielmehr der kleine Staat von Ragusa, war lange Zeit hindurch eine Republik gewesen, bereits vor Venedig, das heißt mit anderen Worten seit dem neunten Jahrhundert. Erst 1808 wurde sie durch ein Decret Napoleon's I. dem Königreiche Illyrien einverleibt und zu einem Herzogthum für den Marschall Marmont gemacht. Im neunten Jahrhunderte bereits besaßen die ragusischen Seefahrer, welche alle Meere der Levante befuhren, das alleinige Recht, mit den Ungläubigen Handel zu treiben, ein Recht, welches vom heiligen Stuhl verliehen wurde und Ragusa eine große Bedeutung unter diesen kleinen Republiken des südlichen Europas verschaffte. Ragusa zeichnete sich indessen auch noch durch andere edlere Eigenschaften aus: das Ansehen seiner Gelehrten, der gute Ruf seiner Schriftsteller, der Geschmack seiner Künstler hatten ihm den ehrenden Namen eines slavonischen Athens eingebracht.

Zu einem überseeischen Handel gehört ein Hafen mit gutem Ankergrund und genügender Wassertiefe, der selbst Schiffe mit großem Tonnengehalte aufnehmen kann. Ein solcher Hafen fehlte Ragusa. Der Meerbusen ist schmal und von Felsen in Wasserhöhe umgeben; er kann nur kleine Küstenfahrer oder gewöhnliche Fischerfahrzeuge beherbergen.

Glücklicherweise hat eine halbe Meile nördlich von Ragusa, auf der inneren Seite einer der Ausbuchtungen der Bai von Ombla-Fumera, eine Laune der Natur einen jener vorzüglichen Häfen gebildet, welche nach allen Richtungen selbst der bedeutendsten Schifffahrt zu Hilfe kommen. Dieser Hafen ist Gravosa, er ist vielleicht der beste längs der ganzen dalmatinischen Küste. Dort finden selbst Kriegsschiffe eine hinlängliche Wassertiefe vor. Die Hafenanlage bietet für Trockendocks und für Schiffswerfte genügend Raum; dort können auch die großen Packetboote anlaufen, denen in Zukunft alle Meere der Erdkugel unterthan sein werden.

Die Straße von Ragusa nach Gravosa ist in Folge dieses günstigen Umstandes ein vollkommener Boulevard geworden; schöne Bäume stehen zu beiden Seiten, ebenso reizende Landhäuser; die Bevölkerung, die sich jetzt auf 16.000 bis 17.000 Menschen beläuft, benützt diese Straße mit Vorliebe.

An obengenanntem Tage gegen vier Uhr Nachmittags konnte man beobachten, daß die Einwohner Ragusas in Folge des schönen Frühlingstages zahlreich nach Gravosa strömten.

In dieser Vorstadt – wenn man Gravosa, das allerdings vor den Thoren der Stadt liegt, so nennen kann – wurde ein locales Fest gefeiert mit verschiedenen Belustigungen, Buden fremder Händler, Musik und Tanz unter freiem Himmel, Marktschreiern, Akrobaten und Tausendkünstlern, deren Rufe, Instrumente, Lieder in den Straßen bis auf die Quais des Hafens hinaus großen Lärm machten.

Dem Fremden bot sich an diesem Tage eine günstige Gelegenheit, die verschiedenen Typen der slavischen Rasse, untermischt mit Zigeunern in den mannigfaltigsten Schattirungen kennen zu lernen. Doch nicht nur diese Nomaden waren zum Feste herbeigekommen, um daselbst die Neugier der Besucher auszubeuten, auch die Land- und Bergbewohner hatten Theil genommen an den öffentlichen Lustbarkeiten.

Frauen zeigten sich sehr zahlreich, Damen aus der Stadt, Bäuerinnen aus der Umgegend, Fischerinnen von der Küste. Die Kleidung der Einen zeigte das Bestreben, die neuesten Moden des abendländischen Europas aufzunehmen. Der Aufputz der Anderen wechselte, wenigstens in Kleinigkeiten, mit jedem District, dem seine Trägerinnen entstammten: Weiße, an den Armen und der Brust mit Stickereien versehene Hemden, vielfarbige Röcke, mit tausenden von silbernen Stiften besetzte Gürtel – ein vollkommenes Mosaik, in dem die Farben ineinander gingen wie in einem persischen Teppiche – weiße Hauben auf den mit buntfarbigen Bändern durchflochtenen Haaren, die vom Schleier überdeckte »Okronga«, die wie der »Puskul« des orientalischen Turbans über den Rücken fällt, Beinharnische und Stiefel, die mit Bastschnüren am Fuße befestigt werden. Zur Krönung dieses Staates trug man Kostbarkeiten in Form von Armbändern, Halsketten oder Geldstückchen in hunderterlei Manieren zum Schmucke des Halses, der Arme, der Brust und der Hüften. Diese Kleinodien konnte man selbst am Anzuge der Bauern bemerken, welche die schillernden Stickereien ebenfalls nicht verschmähen, die den Saum der Kleiderstoffe schmücken.

Doch unter allen diesen ragusischen Kleidungen, welche selbst die Seeleute mit Anmuth zu tragen verstanden, waren die der Commissionäre – einer mit Vorrechten ausgestatteten Körperschaft – ganz danach angethan, vornehmlich die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Wahrhaftige Orientalen schienen sie zu sein, diese Lastträger mit Turban, Weste, Kamisol, faltigem türkischem Beinkleid und Pantoffeln. Sie würden den Quais von Galata oder dem Platz Top'hane in Constantinopel nicht zur Schande gereicht haben.

Die Festfreude hatte bereits den Höhepunkt erreicht. Weder die Buden in den Straßen noch die auf den Quais leerten sich. Es gab auch noch etwas ganz Besonderes zu sehen, das ganz dazu angethan war, eine große Anzahl Neugieriger anzulocken: den Stapellauf eines Trabocolo, eines eigenartigen Fahrzeuges, das man nur auf der Adria vorfindet; ein solches Schiff trägt zwei Maste und zwei Focksegel, die an der obersten und untersten Leik angeschlagen werden.

Der Stapellauf sollte um sechs Uhr Abends vor sich gehen und der Kiel des Trabocolo, von seinen Stützen bereits befreit, erwartete nur noch die Wegräumung des Hemmschuhes, um in das Meer gleiten zu können.

Bis dahin wetteiferten die Seiltänzer, fliegenden Musikanten, Akrobaten, um mit ihrem Talent oder ihrer Geschicklichkeit das schauende Publikum möglichst zufrieden zu stellen.

Die Musikanten, das muß man zugestehen, fanden den größten Zuspruch. Unter ihnen wiederum hatten die Guzlaspieler die bedeutendste Einnahme. Zur Begleitung ihres eigenthümlichen Instrumentes sangen sie mit hohltönender Stimme die Lieder ihrer Heimat und diese waren es wohl Werth, daß man stillstand und lauschte.

Die Guzla, deren sich diese Virtuosen der Landstraße bedienen, besteht aus mehreren Stricken, die über ein ausgehöhltes Griffbrett gespannt sind und einzig und allein mit einer einfachen Darmseite bestrichen werden. Was die Stimme dieser Sänger betrifft, so gehen ihr die Noten gewiß nicht aus, weil sie wenigstens ebensoviele aus dem Kopfe wie aus der Brust herausholen.

Einer dieser Musikanten – ein großer gelbhäutiger und schwarzhaariger Bursche, der sein Instrument, ähnlich einem abgemagerten Cello zwischen den Knieen hielt – begleitete in Haltung und mit Bewegungen sein Lied:

Wenn der Gesang erklingt,
Der Gesang der Zigeunerin,
Achte wohl wie sie ihn singt,
Wie er aus der Kehle dringt,
Achte der Zigeunerin!

Hältst du dich noch fern von ihr,
Wächst die Gluth der schwarzen Augen,
Und du fühlst wie an der Fremden
Deine Sinne fest sich sangen.

Wenn der Gesang erklingt,
Der Gesang der Zigeunerin,
Achte Wohl wie sie ihn singt,
Wie er aus der Kehle dringt,
Achte der Zigeunerin!

Nach diesen ersten Strophen ging der Sänger mit seinem muldenartigen Instrumente bei den Umstehenden der Reihe nach herum und bettelte um die Gabe einiger Kupfermünzen. Die Einnahme schien ihm wohl etwas dürftig vorzukommen, denn er kehrte an seinen Platz zurück und versuchte seine Hörer durch eine zweite Strophe geschmeidiger zu machen:

Ruht auf dir ihr großes Auge,
Dunkel wie des Liedes Wort,
Zittern deines Herzens Schläge,
Ihr gehört's, sie nimmt's mit fort.

Wenn der Gesang erklingt
Der Gesang der Zigeunerin,
Achte Wohl wie sie ihn singt,
Wie er aus der Kehle dringt.
Achte der Zigeunerin!

Ein Mann im Alter von 50 bis 55 Jahren hörte gelassen dem Vortrage des Zigeuners zu, er schien von solchen poetischen Verführungen nichts zu halten, denn seine Geldbörse hatte sich bis dahin noch nicht aufgethan. Es war nun allerdings auch keine Zigeunerin, die während ihres Gesanges ihn »mit dem großen dunklen Auge« anblickte, sondern ein ganz gewöhnlicher langer Teufel, der sich zum Interpreten hergab. Er wollte gerade seinen Platz verlassen, ohne Jenen mit einer Kleinigkeit bedacht zu haben, als ein junges Mädchen, die ihn begleitete, ihn festhielt und sagte:

»Ich habe kein Geld bei mir, Vater. Ich bitte Dich, gib diesem braven Manne etwas.«

Der Guzlaspieler erhielt vier oder fünf Kreuzer, die ihm ohne Vermittlung des jungen Mädchens sicher entgangen wären. Ihr Vater war reich und keineswegs geizig; er wollte sich also nicht etwa aus diesem Grunde ohne eine Gabe entfernen, sondern gehörte wahrscheinlich zu Denjenigen, die am menschlichen Elend ungerührt vorübergehen.

Beide wandten sich durch die Menge anderen nicht weniger lärmenden Schaustellungen zu, während der Guzlaspieler in die benachbarte Schänke ging, um das erhaltene Geld in Flüssigkeiten umzusetzen. Der scharfe, von der Pflaume destillirte »Slibovitz« wurde augenscheinlich nicht geschont, doch lief er wie Honigwasser durch die ausgepichte Kehle des Zigeuners.

Nicht allen unter freiem Himmel »arbeitenden« Sängern oder Seiltänzern wurde in gleicher Weise die Gunst des Publikums zu Theil. Zu denen, an welchen man ziemlich gleichgiltig vorüberging, gehörten zwei Akrobaten, die sich vergeblich auf der Estrade ihrer Bude abmühten, Zuschauer anzulocken.

Hinter dieser Estrade hing eine mit schreienden Farben übermalte, in ziemlich schlechtem Zustande bereits befindliche Leinwand herab; die Malerei stellte wilde, in Wasserfarben ausgeführte Thiere in denkbar abenteuerlichsten Gestaltungen vor, Löwen, Schakale, Hyänen, Tiger, Schlangen und so weiter; alle diese Thiere sprangen, bäumten und wanden sich inmitten der unwahrscheinlichsten Landschaften. Hinter diesem Vorhange befand sich eine kleine Arena, die von einer alten Segelleinwand eingeschlossen wurde. Dieselbe wies so viele Löcher auf, daß das Auge des Indiscreten unwillkürlich hier festgebannt wurde – den Schaden hatte natürlich die Einnahme.

An der Vorderseite, auf einer der schlecht befestigten Zeltstangen war ein im Rohzustande befindliches gewöhnliches Brett aufgenagelt, das folgende fünf, mit dick aufgetragener Kohle geschriebene Worte enthielt:

 

Pescade und Matifu
französische Akrobaten.

 

In ihrer äußeren Erscheinung und zweifellos auch in moralischer Hinsicht waren die beiden Männer so grundverschieden, wie eben nur zwei Menschen sein können. Ihre gleiche Abstammung hatte sie wahrscheinlich anfänglich einander genähert, um fortan gemeinsam durch die Welt zu ziehen und den »Kampf des Lebens« zu kämpfen. Sie stammten Beide aus der Provence.

Woher mochten ihnen wohl die wunderlichen Namen gekommen sein, welche in ihrer fernen Heimat vielleicht als ihre Spitznamen gegolten hatten? Waren sie etwa den beiden bekannten geographischen Punkten entlehnt, zwischen denen sich der Golf von Algier öffnet – Kap Matifu und das Vorgebirge Pescade? Man ging in der letzteren Annahme nicht fehl; beide Namen waren angenommen, und sollten das Riesenhafte ihrer Leistungen, ähnlich wie der Name Atlas, auf ihren Kämpfen in der Fremde bezeichnen.

Kap Matifu ist eine gewaltige, mächtige unerschütterliche Anhöhe und erhebt sich auf der äußersten nordöstlichen Spitze der ungeheuren Rhede von Algier; sie scheint die Wuth der Elemente zu mißachten und den Ausspruch zu verdienen:

Ihre unzerstörbare Masse hat die Zeit ermüdet.

Denselben Eindruck machte auch der Athlet Matifu; er schien ein Alcide, ein Porthos, ein glücklicher Nebenbuhler der Ompdrailles, von Nicolas Creste und anderen berühmten Ringkämpfern zu sein, welche die Zierden der Arenen des südlichen Frankreichs bilden.

Dieser Riese – »man muß es sehen, um es zu glauben«, wäre man vielleicht versucht zu sagen – war fast sechs Fuß groß; er hatte einen mächtigen Kopf, die Schultern im Verhältniß, eine Brust wie ein Schmiedeblasebalg, Beine wie ein zwölfjähriges Laßreis, Arme wie die Zugstangen an Maschinen und Hände wie Blechscheeren. Hier zeigte die menschliche Kraft ihr ganzes Können und doch würde man überrascht gewesen sein, zu hören, daß dieser Koloß kaum sein zweiundzwanzigstes Lebensjahr erreicht hatte.

Dieser mit mittelmäßiger Intelligenz begabte Hüne besaß ein gutes Herz, einen anspruchslosen und sanften Charakter. Er kannte weder Haß noch Zorn. Er wäre nicht im Stande gewesen, Jemandem weh zu thun. Kaum daß er es wagte, Jemand die Hand zu drücken, weil er fürchtete, sie in der seinigen zu zerquetschen.

Nichts in seinem Wesen ließ den Tiger ahnen, über dessen Kräfte er verfügte. Er gehorchte jedem Worte, jedem Fingerzeige seines Genossen, als hätte eine Laune der Schöpfung ihn zum Riesensohne dieses Hanswurstes gemacht.

Auf der andern Seite des Golfes von Algier liegt an der äußersten westlichen Spitze, dem Kap Matifu gegenüber, das Vorgebirge Pescade, eine dünne, langgestreckte, steinreiche Landzunge, die sich weit hinaus in das Meer erstreckt. Diesem Vorgebirge hatte der andere Künstler seinen Namen Pescade entlehnt, ein zwanzigjähriger, kleiner, schmächtiger junger Mann, der kaum den vierten Theil in Pfunden wog von dem, was der andere in Kilos schwer war; er war aber dafür geschmeidig, behend, einsichtsvoll, von einem unverwüstlichen Humor im Glück und Unglück, in seiner Art ein Philosoph, erfinderisch und praktisch – ein vollkommener Affe, doch ohne die Bosheit dieses Thieres – und auf Leben und auf Tod unzertrennlich von dem gutmüthigen, schwerfälligen Dickhäuter, den er durch alle Fährnisse und Zufälligkeiten des Artistenlebens bugsirte.

Sie waren Beide von Beruf Akrobaten und besuchten die Jahrmärkte. Matifu, oder Kap Matifu – wie man ihn nannte – war Ringkämpfer, zeigte Proben seiner Stärke, bog Eisenstangen auf seinem Ellenbogen, hob mit gestrecktem Arme die schwersten Leute unter seinen Zuschauern und jonglirte mit seinem jüngeren Genossen gerade so, als wenn ein gewöhnlicher Mensch mit einem Billardballe spielt. Pescade oder Pointe Pescade – so hieß er gemeinhin – parodirte, sang, trieb Narrheiten und konnte das Publikum niemals genug mit seinen Hanswurstiaden unterhalten; er erregte ferner Aufsehen durch seine equilibristischen Productionen, die er geschickt zur Ausführung brachte und geradezu Staunen durch seine Kartenkunststücke, die ihn an die Seite der besten Taschenkünstler stellten, denn es gelang ihm, selbst die argwöhnischsten Menschen durch irgend welche Zufalls- oder Berechnungskniffe vollständig zu täuschen.

»Ich habe meine Prüfung der Reife bestanden,« wiederholte er mit Vorliebe.

Aber »warum, werden Sie mir sagen« – ebenfalls eine vertrauliche Ansprache von Pointe Pescade – warum sahen an jenem Tage auf dem Quai von Gravosa gerade diese beiden armen Teufel die Zuschauer anderen Schaustellungen das Geld zutragen? Warum drohte jenen die magere Ausbeute – und sie brauchten das liebe Geld doch so sehr nothwendig – ganz zu entschwinden? Eine unbegreifliche Thatsache.

Ihre Sprache – ein ganz annehmbares Gemisch des Provençalischen und Italienischen – genügte vollkommen, um sie den dalmatinischen Besuchern verständlich zu machen. Ihre Eltern hatten sie nie gekannt, sie waren richtige Augenblickskinder gewesen und so hatten sie sich, seit sie ihre provençalische Heimat verlassen, schlecht und recht durchgeholfen, sie besuchten die Märkte und Messen, lebten eher schlecht als recht, aber lebten wenigstens und wenn sie auch nicht alle Tage frühstücken konnten, so aßen sie wenigstens regelmäßig zu Abend, das genügte ihnen, denn – um mit Pointe Pescade zu reden – man muß nicht das Unmögliche verlangen.

Und wenn der tapfere Junge es auch nicht am besagten Tage verlangte, so versuchte er es wenigstens, er gab sich alle Mühe, ein Dutzend Neugieriger vor seinem Schaugerüst zu versammeln, mit der Hoffnung, sie sich zum Betreten seiner ärmlichen Arena entschließen zu sehen. Doch weder seine Redensarten, denen ihre fremdländische Aussprache etwas Gefälliges gab, noch seine schlechten Witze, die das Glück eines Possendichters begründet hätten, noch sein Gesichterschneiden, das einem Heiligen in der Nische irgend einer Kirche ein Lachen abgenöthigt hätte, noch seine Verdrehungen und Hüftenverschlingungen, wahre Wunder der Verrenkungskunst, noch das Spielen seiner Clownperrücke, deren Bockbartspitze über dem rothen Stoff seines Wamses auf und niederwippte, noch seine des römischen Pulcinello oder des florentinischen Stentarello würdigen Sprünge, übten eine Anziehungskraft auf das Publikum aus.

Und dabei befanden sich Beide schon seit mehreren Monaten inmitten der slavischen Bevölkerung.

Nach dem Verlassen der Provence waren sie – man könnte sagen Einer auf dem Andern – über die Seealpen in die Lombardei, in das mailändische und venetianische Gebiet hinuntergestiegen, Kap Matifu, berühmt durch seine Stärke, Pointe Pescade durch seine Gewandtheit. Ihr Ruf hatte sie veranlaßt, nach Triest zu wandern. Von Triest waren sie durch Istrien an die dalmatinische Küste gekommen, nach Zara, Spalato, Ragusa; sie fanden eben bei ihrem Weiterwandern ein besseres Auskommen, als wenn sie dieselbe Tour noch einmal in umgekehrter Richtung gemacht hätten. Wo sie einmal gewesen, da waren sie bekannt und hatten sie sich überlebt; wohin sie aber zum ersten Male kamen, da flossen ihnen durch ihre ungewöhnliche und neuartige Kunstfertigkeit jedenfalls einige Einnahmen zu. Jetzt mit einem Male bemerkten sie zu ihrem Schrecken, daß ihre Tournee, die glänzend nie gewesen war, recht bedenklich zu werden begann. Die armen Kerle hatten begreiflicher Weise jetzt nur noch den einen Wunsch – sie wußten nur nicht, wie sie ihn verwirklichen sollten – in ihr Vaterland, in die Provence heimkehren zu können, um nie wieder so weitführende abenteuerliche Fahrten anzutreten. Aber sie schleppten eine Kugel am Fuße, die des Elends, und es war hart, mehrere hundert Meilen mit dieser Kugel am Fuße zurücklegen zu müssen.

Ehe an die Zukunft gedacht werden konnte, verlangte die Gegenwart noch ihr Recht, mit anderen Worten, die Sorge um das Abendbrot konnte noch nicht als gesichert betrachtet werden. Nicht ein Kreuzer befand sich in der Casse, sofern man diese anspruchsvolle Bezeichnung der Schnupftuchecke beilegen darf, in welche Pointe Pescade gewöhnlich das Vermögen der beiden Geschäftstheilnehmer einzuwickeln pflegte. Vergeblich mühte er sich auf dem Schaugerüst ab. Vergeblich schallte sein verzweiflungsvolles Lärmen über den Platz. Vergeblich stellte Kap Matifu seine Muskeln zur Schau, deren Sehnen wie die Verästelungen des Epheus um einen knorrigen Stamm sich ausnahmen. Kein Vorübergehender zeigte Lust, den Raum innerhalb der Leinwand zu betreten.

»Verdammt hartleibig, diese Dalmatiner, sagte Pointe Pescade.

– Die reinen Pflastersteine, echote Kap Matifu.

– Ich glaube bestimmt, daß es uns Mühe kosten wird, uns heute einen Feiertag zu leisten. Wir werden wandern müssen, Kap Matifu.

– Um wohin zu gehen?

– Du bist sehr neugierig, erwiderte Pointe Pescade.

– Sage es nur.

– Nun was würdest Du von einem Lande halten, in dem man ganz gewiß täglich ein Mal essen könnte.

– Wie heißt dieses Land, Pointe Pescade?

– O, es liegt weit, sehr, sehr weit von hier ... und selbst noch weiter als sehr weit, Kap Matifu.

– Am Ende der Erde.

– Die Erde ist endlos, antwortete Pointe Pescade in schulmeisterndem Tone. Wenn sie ein Ende hätte, so würde sie nicht rund sein, wenn sie nicht rund wäre, könnte sie sich nicht drehen, wenn sie sich nicht drehen würde, wäre sie unbeweglich, und wenn sie unbeweglich wäre ...

– Nun dann? fragte Kap Matifu.

– Würde sie auf die Sonne fallen, in kürzerer Zeit als es mir möglich wäre, ein Kaninchen zu stehlen.

– Und dann?

– Und dann würde eintreten, was einem ungeschickten Jongleur passirt, wenn zwei seiner Kugeln in der Luft zusammentreffen. Krach! Alles zerbricht, fällt und das Publikum pfeift und verlangt sein Geld wieder; man muß es ihm wiedergeben und man kann natürlich an dem betreffenden Tage nicht zu Abend essen.

– Wenn die Erde auf die Sonne fällt, bekommen wir also kein Abendbrod?« fragte Kap Matifu.

Und er versenkte sich in die unendlichen Folgen, welche dieser furchtbare Umstand nach sich ziehen könnte. Er setzte sich in eine Ecke der Estrade, kreuzte die Arme über sein Tricot, nickte mit dem Kopfe, wie eine chinesische Pagode und sagte nichts mehr, sah nichts mehr, hörte nichts mehr. Er war vollständig von der unlogischen Aneinanderreihung seiner Gedanken in Anspruch genommen. In seinem dicken Kopfe ging Alles drunter und drüber. In seinem Innern schien sich Alles wie in einem Strudel rund herumzudrehen. Dann kam es ihm so vor, als flöge er hoch, sehr hoch ... immer noch höher und noch höher als sehr hoch. Die Ausdrucksweise Pointe Pescades in Verbindung mit der Entfernung der Dinge von einander hatte ihn stark mitgenommen. Plötzlich ließ man ihn los, er fiel ... in seinen eigenen Bauch, das heißt in die Leere.

Ein Alpdrücken hatte ihn befallen. Der Aermste erhob sich mit gespreizten Händen blindlings von seinem Schemel. Beinahe wäre er von der Höhe des Gerüstes heruntergefallen.

»He, Kap Matifu, was ist Dir? schrie Pointe Pescade; er ergriff seinen Kameraden am Arm und zerrte ihn nicht ohne Mühe nach rückwärts.

– Ich ... ich ... was mir ist?

– Ja ... Dir!

– Ich habe, stotterte Kap Matifu, während er seine Gedanken wieder allmälig sammelte, was ein schwieriges Stück Arbeit schien, obgleich ihrer nicht viele waren, ich ... ich muß mit Dir sprechen, Pointe Pescade.

– Rede, mein guter Kap, rede nur und besorge nicht, daß man Dich hört. Fort, Zuschauer, fort!«

Kap Matifu ließ sich auf dem Gerüste nieder und holte mit seinem kräftigen Arme, aber so sanft, als hätte er Furcht, ihm ein Glied zu zerbrechen, seinen tapferen Gefährten zu sich heran.


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