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VI.
Der Wartthurm von Pisino.

Die Festung von Pisino gehört mit zu den wunderlichsten Bauten mittelalterlicher Festungsarchitektur. Sie macht sich mit ihrem feudalen Aussehen sehr malerisch. Es fehlen in ihren langen, gewölbten Hallen nur die Ritter, Schloßfrauen, mit langen, gestickten Gewändern und Spitzenhauben angethan, an den Spitzbogenfenstern, Bogen- oder Armbrustschützen auf den ausgezackten Mauerkränzen, an den Schießscharten ihrer Gallerien, an dem Schutzgatter der Fallbrücken. Das Steinwerk steht noch unbeschädigt da, aber der Gouverneur in seiner österreichischen Uniform, die Soldaten in ihrem neuzeitigen Anzuge, die Wächter und Thorhüter, sie zeigen nichts mehr von dem halb gelben und rothen Kostüm der alten Zeit und bringen einen Mißton in diese prächtigen Ueberreste aus einem verflossenen Zeitalter.

Von dem Wartthurme dieser Festung aus beabsichtigte Graf Sandorf während der letzten Stunden vor seiner Hinrichtung zu entfliehen. Ein unsinniger Versuch, da die Gefangenen nicht einmal wußten, wie der Thurm, der ihnen als Gefängniß diente, beschaffen war, da sie ferner das Land nicht kannten, welches sie nach vollführter Flucht durchkreuzen mußten.

Vielleicht war es gut, daß ihr Wissen in dieser Beziehung gleich Null war. Wären sie besser unterrichtet gewesen, so würden sie wahrscheinlich vor den Schwierigkeiten, besser gesagt vor der Unmöglichkeit eines solchen Unternehmens zurückgebebt sein.

Nicht etwa, weil die Provinz Istrien ungünstige Aussichten auf ein Entkommen bietet, da Flüchtlinge, gleichviel, welche Richtung sie einschlagen würden, in wenigen Stunden stets irgend einen Punkt des Ufers erreichen müssen. Nicht etwa, weil vielleicht die Straßen Pisinos so streng bewacht werden, daß man darauf gefaßt sein muß, nach dem ersten Schritt, den man in ihnen thut, schon wieder ergriffen zu werden. Aber bis dahin war ein Entweichen aus dieser Festung, und besonders aus diesem, von den Gefangenen bewohnten Thurme für eine vollständige Unmöglichkeit gehalten worden. Ein derartiger Gedanke selbst konnte Einem kaum kommen.

Die Lage und die äußere Gestaltung des Wartthurmes der Festung Pisino waren wie folgt beschaffen.

Der Thurm erhebt sich auf derjenigen Seite der Anhöhe, welche an dieser Stelle der Stadt plötzlich ein Ende macht. Wenn man sich über die Brustwehr dieser Terrasse lehnt, so taucht der Blick in einen breiten und tiefen Schlund, dessen steile Wände von langarmigen Schlingpflanzen in unentwirrbarem Gemisch umkränzt werden und schnurgerade in die Tiefe gehen. Nichts unterbricht ihre glatte Fläche. Keine Stufe zeigt sich, mit deren Hilfe man hinauf- oder herunterklettern, nirgends eine Handhabe, auf die man sich stützen könnte. Nur die in willkürlicher Ordnung sich gebenden, glatten, ausgebleichten, unbestimmten Streifen sieht man, welche die schräge Spaltung der Felsen andeuten. Wir haben mit einem Worte einen Abgrund vor uns, der unseren Blick anzieht, fesselt und welcher von dem, was da hinein geworfen wird, gewiß nichts wieder herausgibt.

Oberhalb dieses Abgrundes steigt eine der Seitenwände des Thurmes auf, hie und da ist sie von Fenstern durchbrochen, die den Zellen in den verschiedenen Stockwerken das Licht zuführen. Wenn ein Gefangener sich aus einer dieser Oeffnungen herausgebeugt hätte, so würde er jedenfalls vor Schreck zurückgeprallt sein, wenn ihn nicht ein plötzlicher Schwindel schon zuvor in den Abgrund gerissen haben würde. Und wohin wäre er wohl gerathen, wenn er hinuntergefallen sein würde? Entweder wäre sein Körper auf den am Boden des Abgrundes befindlichen Felsen zerschmettert oder von einem Gießbache fortgeschwemmt worden, dessen Fluth zur Zeit des Wasserganges von den Bergen von einer unwiderstehlichen Kraft ist.

Dieser Abgrund wird dort zu Lande der Buco genannt. Er dient als Recipient für die Wasserfülle eines Baches, der die Foiba geheißen wird. Dieser Bach fließt nur durch eine Höhle ab, die sich allmälig durch die Felsen Bahn gebrochen hat und in sie hinein ergießt er sich mit dem Ungestüme eines Stromes oder einer Springfluth. Wohin geht unter der Stadt fort sein Lauf? Man weiß es nicht. Wo erscheint er wieder? Auch das weiß man nicht. Man kennt von dieser Höhle oder vielmehr von diesem Canale, der sich durch den Schiefer und den Thon seinen Weg gebohrt hat, weder Länge noch Höhe, noch seine Richtung. Wer vermag zu sagen, ob die Gewässer sich nicht an hunderten von Vorsprüngen, an einem Walde von Pfeilern brechen, die als ungeheurer Unterbau Stadt und Festung vollständig tragen. Als einst ein nicht zu hoher und nicht zu niedriger Wasserstand die Benützung eines leichten Bootes gestattete, hatten schon einmal kühne Forscher versucht, den Lauf der Foiba durch diesen dunklen Schlund zu verfolgen; aber das Niedrigerwerden der Wölbungen hatte ihnen bald ein unüberwindliches Hinderniß entgegengestellt. Man wußte eben von der Beschaffenheit dieses unterirdischen Flußlaufes nichts. Vielleicht verlor er sich in irgend einer unsichtbaren Stelle, die sich unterhalb des Niveaus des Adriatischen Meeres gebildet hatte.

So beschaffen also zeigte sich der Buco, von dessen Vorhandensein Graf Sandorf überhaupt keine Ahnung hatte. Da eine Flucht nur durch das einzige Fenster der Zelle, welches sich über dem Buco öffnete, möglich war, so bedeutete diese für ihn einen eben so gewissen Tod, als wenn er sich vor die Front eines Executionspelotons gestellt hätte.

Ladislaus Zathmar und Stephan Bathory warteten nur noch auf den Augenblick des Handelns; sie waren, wenn es sein mußte, bereit, zu bleiben, um dem Grafen Sandorf durch ihre Aufopferung zu Hilfe zu kommen, und eben so entschlossen, ihm zu folgen, wenn ihre Flucht nicht die seinige vereiteln konnte.

»Wir fliehen zusammen, sagte Mathias Sandorf, trennen uns aber, sobald wir draußen angelangt sind.«

Von der Stadt herauf tönte das Schlagen der achten Stunde. Den Verurtheilten blieben also nur noch zwölf Stunden zum Leben.

Die Nacht begann herniederzusinken, allem Anscheine nach blieb sie eine dunkle. Dicke, fast unbeweglich erscheinende Wolken zogen sich schwerfällig am Himmel zusammen. Die schwüle, erstickende Luft schien mit Elektricität durchsättigt, ein heftiges Ungewitter war im Anzuge. Noch zuckten keine Blitze aus diesen, wie Accumulatoren des elektrischen Stromes aufgestellten Dunstmassen, aber schon lief ein dumpfes Grollen an der Gebirgskette entlang, die Pisino einschließt.

Eine unter diesen Verhältnissen ausgeführte Flucht hätte zweifellos einige günstige Aussichten gehabt, wenn sich eben nicht jener unbekannte Abgrund unter den Füßen der Flüchtigen befunden haben würde. In der stockdunkeln Nacht war er nicht zu sehen, beim Tosen des Gewitters war von ihm nichts zu hören.

Wie Graf Sandorf von vornherein eingesehen hatte, war die Flucht nur durch das Fenster der Zelle möglich. An ein Dringen durch die Thür, an ein Eindrücken ihrer starken, eichenen, mit eisernen Beschlägen versehenen Bohlen konnte nicht gedacht werden. Der Schritt einer Schildwache hallte auch von den Fliesen des Korridors wieder. Und wenn man auch schon die Thür glücklich hinter sich gehabt hätte, so würde man sich durch das Labyrinth im Innern der Festung doch nicht hinausgefunden haben. Und wie hätte man durch das Schutzgatter und über die Zugbrücke kommen sollen, die doch gewiß von Soldaten scharf bewacht wurden? Auf der Seite des Buco gab es allerdings keinen Posten. Aber der Buco vertheidigte diese Seite des Wartthurmes besser, als es ein Ring von Soldaten gethan hätte.

Graf Sandorf beschäftigte sich also lediglich damit, zu untersuchen, ob das Fenster ihnen Durchlaß gewähren würde.

Dieses maß ungefähr drei und einen halben Fuß in der Höhe und zwei Fuß in der Breite. Es erweiterte sich auf der Außenseite der Mauer, die an dieser Stelle an vier Fuß stark sein mochte. Ein eiserner, solide gearbeiteter Querbalken verriegelte es. Er war in die Wand, nahe ihrer inneren Fläche eingelassen. Ein hölzerner Blendkasten, der das Licht nur von oben hereindringen läßt, fehlte hier. Dieser wäre deßhalb nutzlos angebracht gewesen, weil die Oeffnung so angebracht war, daß der Blick nicht in die Schlucht des Buco dringen konnte. Wenn man es also durchsetzte, diesen Querbalken auszureißen oder fortzubringen, so war es leicht, durch das Fenster zu schlüpfen, welches mehr einer in die Mauer einer Festung eingelassenen Schießscharte, als einem solchen glich. Wie aber sollte sich weiter das Herunterklettern an der steilen äußeren Mauer gestalten, wenn der Durchgang durch das Fenster erzwungen war? Mittelst einer Strickleiter? Die Gefangenen besaßen keine und hatten auch keine Gelegenheit gehabt, sich eine solche herzustellen. Mit Benützung der Betttücher? Sie hatten als Unterlagen nur dicke, wollene Decken, welche über Matratzen ausgebreitet waren; diese wiederum lagen auf eisernen Gestellen, die an der Wand der Zelle befestigt waren. Es wäre also trotzdem eine Unmöglichkeit gewesen, durch das Fenster zu entkommen, wenn Graf Sandorf nicht bereits eine eiserne Kette oder vielmehr ein eisernes Kabel entdeckt hätte, das an der Außenwand des Thurmes herabhing und das Ausbrechen erleichtern konnte.

Dieses Kabel war der Conductor des Blitzableiters, der auf dem First des Daches über derjenigen Seite des Thurmes angebracht war, welche sich senkrecht über dem Buco erhob.

»Ihr seht dieses Kabel, sagte Graf Sandorf zu seinen beiden Freunden. Wir müssen den Muth haben und dieses zu unserer Flucht benutzen.

– Den Muth haben wir schon, antwortete Ladislaus Zathmar, aber werden wir auch die Kraft besitzen?

– Was thut das? erwiderte ihm Stephan Bathory. Wenn uns die Kraft verläßt, sterben wir eben einige Stunden früher.

– Wir brauchen nicht zu sterben, Stephan, sagte Mathias Sandorf. Höre nur gut zu, und auch Sie, Ladislaus, achten Sie wohl auf meine Worte. Wenn wir einen Strick besäßen, so würden wir doch nicht zögern, ihn außerhalb des Fensters zu befestigen und uns an ihm auf den Boden herabzulassen? Gut, dieses Kabel ist mehr werth als ein Strick in Folge seiner Steifheit und muß uns das Herunterkommen erleichtern. Wir brauchen nicht daran zu zweifeln, daß es, wie alle Conductoren von Blitzableitern, mit eisernen Klammern an der Mauer befestigt sein wird. Diese Klammern bilden für uns eben so viele feste Stützpunkte für unsere Füße. Da das Kabel also fest an der Mauer sitzt, so haben wir Schwankungen desselben nicht zu befürchten, eben so wenig brauchen wir um Schwindelanfälle besorgt zu sein, da es Nacht ist und wir nichts von der Leere unter uns sehen können. Dieses Fenster eröffnet uns einen Ausgang und mit kaltem Blute und mit etwas Muth werden wir die Freiheit uns erkaufen. Möglicherweise wagen wir dabei unser Leben. Aber wenn die Hoffnung auf ein glückliches Entkommen sich auch nur im Verhältniß von 10 zu 100 uns bietet, so hat das wenig zu sagen, weil, wenn uns die Wächter morgen Früh in der Zelle noch vorfinden, uns der Tod so sicher ist wie 100 zu 100.

– Sei es also! rief Ladislaus Zathmar.

– Wo mag dieses Kabel enden? fragte Stephan Bathory.

– Wahrscheinlich in einem Brunnen, erwiderte Mathias Sandorf, aber jedenfalls außerhalb des Thurmes, und mehr verlangen wir ja nicht. Ich weiß und sehe nur das Eine, daß uns am Ende der Kette die Freiheit – vielleicht winkt.«

Graf Sandorf täuschte sich in seiner Annahme, daß das Kabel mit eisernen Haken an der Mauer befestigt wäre, nicht; dieselben waren in gewissen Zwischenräumen in die Wandung eingesetzt. Sie gewährten eine größere Möglichkeit des Hinabkommens, weil die Flüchtlinge sie wie die Sprossen einer Leiter benutzen konnten und sie durch dieselben vor einem zu jähen Heruntergleiten geschützt wurden. Aber was sie nicht wußten, war, daß der eiserne Leitungsdraht vom Kamme des Plateaus an, von welchem die Mauer des Wartthurmes aufstieg, frei und unbefestigt hin und her schwankte und daß sein unterstes Ende in das Wasser der Foiba selbst tauchte, die zu dieser Zeit durch die letzten Regengüsse besonders stark angeschwollen war. Dort, wo sie festen Boden zu finden hofften, auf dem Grunde der Schlucht, gähnte ein Strudel, dessen Gewässer sich mit Ungestüm in die Höhle des Buco ergossen. Wenn sie das gewußt hätten, wären sie vor dem Versuche einer Flucht zurückgeschreckt? Nein, gewiß nicht!

»Tod um Tod! hatte Mathias Sandorf gesagt, wir werden sterben, nachdem wir Alles versucht haben werden, um dem Tode zu entgehen.«

Vor allen Dingen galt es, sich einen Weg durch das Fenster zu bahnen. Die eiserne Klammer, welche es versperrte, mußte ausgerissen werden. Würde das ohne ein Brecheisen, ohne Zange, ohne irgend ein Werkzeug wohl zu ermöglichen sein? Die Gefangenen besaßen nicht einmal ein Messer.

»Das Uebrige wird nicht schwer sein, sagte Mathias Sandorf, aber das ist vielleicht unausführbar. Ans Werk!«

Mit diesen Worten zog sich Graf Sandorf bis zum Fenster hinauf; er ergriff die Klammer kräftig mit der einen Hand und fühlte, daß es vielleicht auch ohne große Mühe gelingen würde, sie auszureißen.

Die eisernen Stangen saßen in der That etwas locker in ihren Mauerhöhlen. Das zu ihrer Befestigung dienende Steinwerk bot einen nur mittelmäßigen Widerstand. Sehr wahrscheinlich war das Kabel des Blitzableiters, bevor gewisse Ausbesserungen gemacht worden waren, in einem sehr schlechten Leitungszustande gewesen. Der elektrische Funke war alsdann, von der eisernen Fensterklammer angezogen, in die Mauer selbst gedrungen, und man weiß, wie grenzenlos, so zu sagen, seine Kraft ist. Aus diesem Grunde zeigten sich jetzt Brüche in den Höhlen, in denen die Enden der eisernen Stangen ruhten, und eine Zerbröckelung des Gesteins, die bereits zu einem schwammigen Zustande desselben geführt hatte, als wenn es von Millionen von elektrischen Funken durchsiebt worden wäre.

Stephan Bathory war es, der mit wenigen Worten eine Erklärung dieser Erscheinung gab, sobald er sie seinerseits in Augenschein genommen hatte.

Hier handelte es sich aber nicht um wissenschaftliche Erklärungen, sondern um schnelles Zugreifen, da jeder Augenblick kostbar war. Wenn es gelang, die Enden der eisernen Stangen dadurch frei zu machen, daß man die Schutzsteine ihrer Höhlen springen ließ, so würde es auch vielleicht zu ermöglichen sein, das Fensterkreuz nach außen zu drängen und so eine breitere, von innen nach außen gehende Oeffnung zu schaffen; dann wollte man es in die Tiefe fallen lassen. Der Lärm, den der Fall machte, konnte inmitten der lang dahinrollenden Donnerschläge nicht gehört werden, die sich schon in unaufhörlicher Folge über die niedrigeren Zonen des Himmels fortpflanzten.

»Wir können aber die Steine doch nicht mit unseren Händen losreißen? meinte Ladislaus Zathmar.

– Nein, erwiderte Graf Sandorf. Wir brauchen irgend ein Stück Eisen, eine Klinge –«

Etwas Derartiges war allerdings von Nöthen. So zerreiblich auch die Mauerwand an den betreffenden Stellen erschien, so wären trotzdem die Nägel abgebrochen und die Finger hätten sich bei dem Versuche, den Stein mürbe zu machen, blutig geschunden. Wenn man das Werk beginnen wollte, mußte man wenigstens einen Nagel zur Verfügung haben.

Graf Sandorf blickte in dem unbestimmten Lichte, welches vom schwach beleuchteten Flur durch den Thürknauf in die Zelle drang, um sich. Er tastete mit der Hand die Mauern ab, in denen sich vielleicht noch ein eingeschlagener Nagel befand. Er fand indessen nichts.

Dann hatte er den vielleicht ausführbaren Gedanken, einen Fuß der eisernen Bettstellen, welche an der Wand befestigt waren, abzubrechen. Alle drei begannen diese Arbeit und bald störte Stephan Bathory die Thätigkeit der Genossen durch einen halblauten Zuruf.

Der Stift einer der Metallstäbe, deren Lage über Kreuz den Bettboden bildete, hatte nachgegeben. Man brauchte diesen locker gewordenen Stab nur an seinem einen Ende zu fassen, ihn nach links und nach rechts mehrere Male zu drehen, um ihn ganz von dem Gestelle los zu bekommen.

Das war im Handumdrehen geschehen. Graf Sandorf besaß nun ein Werkzeug von fünf Zoll Länge und einem Zoll Breite, das er am Handgriff mit seinem Halstuche umwickelte; dann kehrte er zur Fensteröffnung zurück und begann den äußeren Rand der vier Höhlungen zu bearbeiten.

Sein Arbeiten konnte natürlich nicht ohne Geräusch abgehen. Glücklicherweise wurde es vom Grollen des Donners übertönt. Während der Pausen, die das Gewitter machte, verhielt sich auch Graf Sandorf still, nachher nahm er seine Arbeit, die schnell vorrückte, um so emsiger wieder auf.

Stephan Bathory und Ladislaus Zathmar horchten an der Thür, um ihn zu unterbrechen, sobald der Posten sich der Thür näherte.

Ein »Pst« entschlüpfte plötzlich den Lippen von Ladislaus Zathmar; das Arbeiten hörte sofort auf.

»Was gibt es? fragte Stephan Bathory.

– Hören Sie!« antwortete Zathmar.

Er hatte sein Ohr dem Brennpunkte der ellipsoidalen Wölbung nahe gebracht und von Neuem zeigte sich die akustische Erscheinung, welche den Gefangenen das Geheimniß des Verrathes offenbart hatte.

Folgende Sätze konnten noch in kurzen Pausen von den Lauschern aufgefangen werden:

»Morgen ... Freiheit ... gesetzt ...«

— — — — — — — — — —

»Ja ... Gefangenenliste ... aufgenommen ... und ...«

— — — — — — — — — —

»Nach der Execution ... dann ... ich werde mit meinem Kameraden Zirone in Sicilien zusammentreffen, woselbst er mich erwarten soll ...«

— — — — — — — — — —

»Sie würden keinen so langen Aufenthalt ... Thurm von ...«

— — — — — — — — — —

Augenscheinlich plauderten Sarcany und ein Aufseher zusammen. Sarcany sprach jetzt auch den Namen eines gewissen Zirone aus, der bei der Angelegenheit betheiligt gewesen zu sein schien; Mathias Sandorf prägte denselben sorgfältig seinem Gedächtnisse ein.

Unglücklicherweise schlug das letzte Wort, dessen Kenntniß den Gefangenen von großem Nutzen gewesen wäre, nicht an ihr Ohr. Gegen das Ende des letzten Satzes ertönte ein heftiger Donnerschlag, und während der elektrische Funke am Blitzableiter herniederfuhr, sprangen Strahlenbüschel auf das metallene Band hinüber, das Graf Sandorf in der Hand hatte. Ohne den Seidenstoff, mit dem es umwickelt war, hätte der Graf durch den elektrischen Strom sicher den Tod gefunden.

Das letzte Wort, der Name des Wartthurmes, war also in dem heftigen Krachen des Donners verhallt. Die Gefangenen hatten es nicht verstehen können; wissen zu können, in welcher Festung sie eingesperrt waren, durch welche Provinz ihre Flucht gehen mußte, wie sehr hätte das die Aussichten auf ein gutes Gelingen des Ausbruches vermehrt, der unter so schwierigen Verhältnissen begonnen wurde!

Graf Sandorf hatte wieder seine Thätigkeit aufgenommen. Drei Löcher waren schon so weit ausgebrochen worden, daß die Eisenstangen bequem hinausgingen. Das vierte wurde beim Leuchten der unaufhörlich den Himmelsraum durchfurchenden Blitze in Angriff genommen.

Um zehn ein halb Uhr war das Werk vollständig gethan. Das von den Wänden befreite Fensterkreuz ließ sich durch die Oeffnung schieben. Man brauchte es nur noch hindurch zu stoßen, damit es jenseits der Mauer zu Boden fallen konnte. Das geschah, sobald Ladislaus Zathmar den Wachposten auf dem Flur sich entfernen hörte.

Das aus der jenseitigen Fensteröffnung gestoßene Fensterkreuz überstürzte sich und verschwand.

In diesem Augenblicke gerade schwieg das Unwetter. Graf Sandorf lauschte aufmerksam, um von dem Geräusche etwas zu vernehmen, welches dieses schwerfällige Stück durch das Aufschlagen auf den Boden verursachen mußte. Er vernahm nichts.

»Der Thurm muß auf einem hohen Felsen erbaut sein, der das Thal beherrscht, bemerkte Stephan Bathory.

– Was thut die Höhe? sagte Sandorf. Das Kabel des Blitzableiters muß jedenfalls den Boden irgendwo erreichen, denn sonst könnte es nicht functioniren. Wir werden ihn also ebenfalls erreichen, ohne einen Sturz befürchten zu müssen.«

Eine im Allgemeinen richtige Annahme, die sich in diesem Falle jedoch als falsch erwies, weil das Ende der Leitung in das Wasser der Foiba führte.

Das Fenster stand offen, der Augenblick der Flucht war gekommen.

»Wir wollen uns nun folgendermaßen verhalten, Freunde, sagte Graf Sandorf. Ich bin der Jüngste und, wie ich glaube, auch der Kräftigste. Ich werde also zuerst versuchen, am Blitzableitungsdraht hinunter zu gleiten. Sobald ein unmöglich schon jetzt vorauszusehender Umstand mich hindern sollte, den festen Boden zu erreichen, werde ich vielleicht noch die Kraft haben, wieder bis zum Fenster hinaufzuklimmen. Zwei Minuten später schlüpfst Du, Stephan, mir nach. Abermals nach zwei Minuten nehmen Sie, Ladislaus, denselben Weg. Wenn wir Drei unten am Fuße des Thurmes wieder vereinigt sind, werden wir je nach den Umständen weiter überlegen, was zu thun ist.

– Wir werden Dir gehorchen, Mathias, antwortete Stephan Bathory. Wir werden thun, was Du uns zu thun befiehlst, und werden gehen, wohin Du uns schicken wirst. Wir wollen aber nicht, daß Du den Haupttheil der Gefahr für Dich allein in Anspruch nimmst ...

– Unser Leben ist nicht so viel werth als das Ihrige, setzte Graf Zathmar hinzu.

– Es ist in Anbetracht des Actes der Gerechtigkeit, den wir zu erfüllen haben, sehr viel werth, antwortete Mathias Sandorf, und wenn nur ein Einziger von uns am Leben bleibt, so wird er derjenige sein, der Gerechtigkeit zu üben hat. Umarmt mich, Freunde!«

Die drei Männer umschlossen sich mit Herzlichkeit, und es schien, als hätten sie aus dieser Umarmung größere Entschlossenheit geschöpft.

Während Ladislaus Zathmar an der Thür der Zelle Stellung nahm, schlüpfte Graf Sandorf in die Oeffnung. Einen Augenblick später hing er über dem Abgrund. Seine Knie schlossen sich fest an das eiserne Kabel, Hand über Hand ließ er sich herunter, wobei er mit den Füßen die Klammern möglichst zu erreichen suchte, um einen Augenblick auf ihnen ruhen zu können.

Das Unwetter wüthete indessen mit der schrecklichsten Heftigkeit. Es regnete nicht, aber der Wind pfiff entsetzlich. Die Blitze folgten unmittelbar auf einander. Ihre Strahlen umzuckten in Zickzack-Linien den Wartthurm, der durch seine isolirte Lage in einer bedeutenden Höhe sie besonders anzog. Die Spitze des Blitzableiters funkelte in einem weißen Lichte, das der elektrische Strom in der Gestalt eines Strahlenbüschels dort entzündet hatte, und sein Schaft schwankte unter den Stößen der Windsbraut.

Man begreift, welche Gefahr damit verknüpft war, sich an dieser Leitung festzuhalten, durch die unaufhörlich der elektrische Strom zu den Gewässern im Buco herniederfloß. Wenn der Apparat sich in gutem Zustande befand, so brauchte man nicht sehr besorgt zu sein, getroffen zu werden, denn die außerordentliche Leitungsfähigkeit des Metalles, welche derjenigen des menschlichen Körpers weit überlegen ist, mußte den kühnen Kletterer am Kabel schützen. Sobald aber die Spitze des Blitzableiters auch nur ein wenig abgestumpft war, sobald die Fortpflanzungsfähigkeit des Drahtes eine Lücke zeigte oder ein Bruch an seinem unteren Theile entstanden war, war auch die Möglichkeit eines Einschlagens des Blitzes durch die Vereinigung der beiden Ströme, des positiven und des negativen, So wurde 1753 Richeman durch einen faustgroßen Funken getödtet, obgleich er einige Schritte von dem Blitzableiter entfernt stand, dessen Leitung er unterbrochen hatte. gegeben, auch ohne ein gleichzeitiges Aufleuchten des Blitzstrahles, das heißt, also lediglich durch die Spannung des im fehlerhaften Apparate aufgehäuften Fluidums.

Graf Sandorf wußte wohl, welcher Gefahr er sich aussetzte. Aber ein mächtigeres Gefühl als der Trieb der Selbsterhaltung machte ihm Muth. Er ließ sich langsam, vorsichtig, inmitten der elektrischen Ströme nieder, die ihn vollständig einhüllten. Sein Fuß suchte längs der Mauer jeden Haken und ruhte einen Augenblick auf demselben. Dann, wenn ein greller Blitz den unter ihm gähnenden Abgrund erleuchtete, versuchte er, jedoch vergebens, die Tiefe mit den Augen zu ermessen.

Als Mathias Sandorf sich an sechzig Fuß unterhalb des Fensters der Zelle befand, fühlte er unter sich einen festeren Stützpunkt. Es war eine Art Mauerbank, die einige Zoll über die Grundmauer hinausragte. Das Kabel endete hier noch nicht, es führte noch weiter hinab und von hier an – was der Flüchtige aber nicht wissen konnte – war es unbefestigt; es zog sich bald dicht an der Felswand entlang, bald hing es frei in der Luft, wenn es an einigen Vorsprüngen, die den Abgrund überragten, sich stieß.

Graf Sandorf machte hier Halt, um Athem zu schöpfen. Seine beiden Füße ruhten auf der Bank, seine Hände ließen das eiserne Tau nicht los. Er ahnte, daß er die unterste Steinschicht des Thurmes erreicht hatte. Er konnte indessen nicht abschätzen, in welcher Höhe dieser das tiefer liegende Thal beherrschte.

»Es muß sehr tief liegen,« dachte er bei sich.

Große, aufgescheuchte, durch das blendende Licht der Blitze erschreckte Vögel umflatterten ihn mit heftigen Flügelschlägen; sie tauchten, anstatt sich in die Lüfte zu erheben, in die Tiefe hinab. Daraus konnte der Graf schließen, daß ein Abgrund sich unter ihm öffnen mußte.

In diesem Augenblicke ließ sich ein Geräusch weiter oben am Kabel vernehmen. Bei dem flüchtigen Scheine eines Blitzes sah Mathias Sandorf sich eine dunkle Masse von der Mauer ablösen.

Es war Stephan Bathory, der nun ebenfalls aus dem Fenster schlüpfte. Er hatte sofort den metallenen Leitungsdraht erfaßt und glitt langsam dem Grafen Sandorf nach. Dieser erwartete ihn mit fest auf die Steinwand gestemmten Füßen. Dort mußte Stephan Bathory seinerseits Halt machen, während sein Gefährte den Weg fortsetzen wollte.

In wenigen Augenblicken standen Beide, von der Mauerbank getragen, neben einander.

Sobald der letzte Donner verhallt war, konnten sie sich verständigen.

»Wo bleibt Ladislaus? fragte Sandorf.

– Er wird in einer Minute hier sein, erwiderte Stephan Bathory.

– Steht es oben schlimm?

– Durchaus nicht.

– Schön! Ich werde also Ladislaus Platz machen und Du, Stephan, wirst hier warten, bis er Dich erreicht.

– Einverstanden.«

Ein mächtiger Blitzstrahl hüllte sie für einen Augenblick ein. Da das durch das Kabel laufende Fluidum bis in ihre innersten Nerven gedrungen war, so glaubten sie sich halb zerschmettert.

»Mathias, Mathias! schrie Stephan Bathory unter dem Eindrucke eines Schreckens, dessen er nicht Herr werden konnte.

– Kaltes Blut! Ich steige hinab! Folge mir dann!« antwortete Graf Sandorf.

Und schon hatte er den Draht fester gefaßt, in der Absicht, bis zu der nächsten, tiefer gelegenen Klammer hinunter zu steigen, dort wieder festen Fuß zu fassen und seinen Genossen zu erwarten.

Da plötzlich ließen sich von der Höhe des Wartthurmes herab wirre Rufe vernehmen. Sie schienen aus dem Fenster der Zelle zu dringen. Dann tönten deutlich zu ihnen die Worte herab:

»Rettet Euch!«

Es war die Stimme Ladislaus Zathmar's.

Fast gleichzeitig zuckte ein greller Feuerstrahl aus der Mauer hervor, gefolgt von einem echolosen, scharfen Knall. Das war nicht die gezackte Linie eines Blitzes, was da das Dunkel theilte, das war nicht das Krachen des Donners, was da die Luft durchhallte. Ein Flintenschuß war aufs Gerathewohl, wie man annehmen mußte, aus einer Schießscharte des Thurmes abgegeben worden. Mochte er nun ein Signal für die Wächter bedeuten oder war den Flüchtlingen eine Kugel nachgeschickt worden, gleichviel – die Flucht war entdeckt.

Der Posten auf dem Flur hatte in der That ein verdächtiges Geräusch gehört, er hatte Hilfe herbei gerufen und war mit fünf oder sechs Aufsehern in die Zelle gedrungen. Das Fehlen von zwei Gefangenen war natürlich sofort bemerkt worden. Der Zustand des Fensters zeigte deutlich, wo entlang sie ihren Weg genommen hatten. Ladislaus Zathmar hatte sich, ehe man ihn zurück zu halten vermochte, noch schnell aus der Fensteröffnung herausgebeugt und den Freunden die warnenden Worte zugerufen.

»Der Unglückliche! rief Stephan Bathory. Sollen wir ihn verlassen, Mathias, sollen wir ihn verlassen?«

Ein zweiter Schuß wurde abgefeuert; diesmal mischte sich sein Knall mit dem Grollen des Donners.

»Gott erbarme sich seiner! antwortete Graf Sandorf. Wir müssen fort, und wäre es auch nur, um ihn zu rächen. Komm', Stephan, komm'!«

Es war die höchste Zeit. Andere Fenster in den unteren Stockwerken des Thurmes wurden geöffnet. Abermals entluden sich einige Gewehre. Man hörte auch lautes Stimmengewirr. Vielleicht schnitten gar die Aufseher dadurch, daß sie auf der unteren Mauerbank des Thurmes herbeikamen, den Flüchtigen den Weg ab. Vielleicht wurden diese auch von den Kugeln getroffen, die ihnen von anderen Theilen des Thurmes aus nachgesendet wurden.

»Komm'!« schrie Mathias Sandorf noch einmal.

Und er ließ sich schnell an dem Kabel weiter herab; Stephan Bathory folgte ihm sofort nach.

Beide bemerkten jetzt, daß dasselbe unbefestigt in der Leere unterhalb des Mauerkranzes einherschwankte. Stützpunkte, Wandklammern, die ein Ausruhen und Athemholen ermöglichten, waren nicht mehr vorhanden. Beide waren nun dem Schlenkern dieser losen Kette preisgegeben, welche ihnen in die Hände schnitt. Sie kletterten weiter mit fest angeschlossenen Knien, ohne sich halten zu können, während die Kugeln ihnen um die Ohren pfiffen.

Auf diese Weise rutschten sie in einer Minute wohl an achtzig Fuß herunter; es schien ihnen, als wäre der Abgrund, der sie umfing, bodenlos. Schon tönte das Gebrüll des aufgerührten Gewässers zu ihnen herauf. Es wurde ihnen nun klar, daß das Kabel zu einem reißenden Wasser führen mußte. Aber was thun? Sie hätten vielleicht versucht, am Leitungsdrahte wieder hinauf zu klimmen, allein es fehlte ihnen die Kraft, die Basis des Thurmes wieder zu erreichen. Da man damit auch nur den sicheren Tod eingetauscht hätte, so war es schon angenehmer, ihn hier in der Tiefe zu finden.

Gerade jetzt ließ sich ein furchtbarer Donnerschlag inmitten einer anhaltenden elektrischen Feuergarbe vernehmen. Obwohl die Spitze des Blitzableiters auf dem Dachfirst des Wartthurmes nicht direct von dem Blitze getroffen worden war, so war die Spannung des Fluidums diesmal doch eine so starke, daß der Leitungsdraht seiner ganzen Länge nach weiß erglühte, wie ein Platinafaden durch die Entladung einer elektrischen Batterie oder Säule.

Stephan Bathory schrie vor Schmerz auf und ließ, getroffen, die Hände los.

Mathias Sandorf sah ihn, zum Greifen nahe, mit ausgebreiteten Armen an sich vorbei hinabfliegen.

Er mußte ebenfalls das eiserne Kabel, das ihm die Hände verbrannte, fahren lassen und stürzte von einer Höhe von mehr als vierzig Fuß in den Strudel der Foiba, in den gähnenden Rachen der unbekannten Höhle des Buco.


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