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III.
Der Great-Eyry

Mit dem nächsten Morgenrote verließen wir, Herr Smith und ich, Morganton auf dem Wege, der längs des linken Ufers des Satawba-River nach dem Flecken Pleasant-Garden hinführt.

Die beiden Führer begleiteten uns. Der dreißigjährige Harry Horn und der fünfundzwanzigjährige James Bruck wohnten beide in Morganton und hielten sich hier dienstbereit für die Touristen, die die schönsten Punkte der Blauen und der Cumberlandberge, welche die Doppelkette der Alleghanys bilden, besuchen wollten. Unerschrockene Bergsteiger mit kräftigen Armen und Beinen, gewandt und erfahren, kannten sie gründlich diesen Teil der Gegend bis zum Fuß der Kette.

Ein mit zwei tüchtigen Pferden bespannter Wagen sollte uns bis zur Westgrenze des Staates befördern. Er enthielt Nahrungsmittel nur für drei Tage, da sich unser Ausflug über diese Zeit hinaus jedenfalls nicht ausdehnen würde. Die Auswahl unserer Bedürfnisse war dem Herrn Smith überlassen gewesen, und so führten wir geschmortes konserviertes Rindfleisch, große Stücke Schinken, eine gar gekochte Rehkeule, ein Tönnchen Bier, mehrere Flaschen Whisky und Branntwein, sowie Brot in hinreichender Menge im Wagen mit uns. Trinkwasser lieferten uns die Bergquellen, die von den zu dieser Jahreszeit hier recht häufigen Platzregen gespeist werden, voraussichtlich in Überfluß.

Es bedarf wohl kaum besonderer Erwähnung, daß der Bürgermeister von Morganton als eingefleischter Jäger auch sein Gewehr und seinen Hund Nisko, der neben dem Wagen hertrabte, mitgenommen hatte. Nisko sollte ihm das Wild zutreiben, wenn wir uns im Wald oder auf Ebenen befänden, er mußte aber für die Zeit, wo wir den Berg bestiegen, mit dem Kutscher in der Farm von Wildon zurückbleiben. Wegen zu überschreitender Spalten und schwierig zu erklimmender Felsen hätte er uns doch nicht nach dem Great-Eyry folgen können.

Der Himmel war fast klar und die Luft jetzt Ende April, wo in Amerika oft noch ein recht rauhes Klima zu finden ist, von angenehmer Frische. Unter einer wechselnden, in der Hauptsache vom Atlantischen Ozean her wehenden Brise, zogen einzelne Wolken schnell am Firmamente hin. Dazwischen blitzten helle Sonnenstrahlen hernieder und beleuchteten die ganze Gegend mit ihrem goldigen Scheine.

Am ersten Tage erreichten wir Pleasant-Garden, wo wir beim Ortsvorsteher, einem vertrauten Freunde des Herrn Smith, übernachten sollten. Mit lebhaftem Interesse betrachtete ich diese Gegend, wo Feldstücke mit Sümpfen und Sümpfe mit Zypressenhainen abwechseln, in der aber immer mehr Dörfer und Einzelgehöfte entstehen. Die gut unterhaltene Straße führt hier durch die Wäldchen hindurch, dort an sumpfigen Stellen und angebauten Landstücken vorüber, ohne je einen größeren Umweg zu beschreiben. In schwach sumpfigem Boden erheben sich die schönsten Zypressen mit schlankem, geradem Stamme, der unten etwas verdickt ist und ganz nahe dem Erdboden kleinere, kugelförmige Knorren, eine Art Kniee aufweist, woraus man im Lande Bienenkörbe herstellt. In dem durch das blaßgrüne Laub streichenden Winde wiegten sich ihre langen grauen Fasern, jene »spanischen Bärte«, die von den Zweigen des unteren Geästes bis zur Erde herabreichen.

Eine reiche Tierwelt belebte die Waldungen der Gegend. Vor unserem Gespanne flüchteten sich größere und kleinere Arten von Feldmäusen und flatterten farbenprächtige Papageien kreischend auf. Dann wieder entwichen vor uns in schnellen Sprüngen zahlreiche Beutelratten, die ihre Jungen in der Bauchtasche trugen, und in großen Völkern flogen allerlei Vögel zwischen den Kronen von Bananen, Fächerpalmen und von Orangenbäumen umher, deren Triebe nur auf den ersten warmen Frühlingshauch warteten, sich sogleich zu öffnen. Hier und da erschienen Dickichte von Rhododendrons, die so verwirrt durcheinander gewachsen waren, daß kein Wanderer hätte hindurchdringen können.

Am Abend trafen wir in Pleasant-Garden ein und fanden hier für die Nacht ein recht gutes Unterkommen. Der folgende Tag mußte nun genügen, die Farm von Wildon am Fuße der Bergkette zu erreichen.

Pleasant-Garden ist ein Flecken oder Weiler von geringem Umfange. Der Ortsvorsteher nahm uns hier mit freundlicher Zuvorkommenheit auf. Eine heitere Tafelrunde vereinigte uns in einem größeren Zimmer der hübschen, von Buchen überschatteten Wohnstätte, die unser Wirt besaß. Natürlich drehte sich das Gespräch beim Essen hauptsächlich um unser Vorhaben, die Verhältnisse im Innern des Great-Eyry auszukundschaften.

»Ja ja, Sie tun recht daran, sagte unser Wirt. So lange man noch nicht weiß, was da oben vorgeht oder sich verbirgt, werden unsere Landleute keine ruhige Stunde mehr haben.

– Seit dem letzten Aufflackern der Flammen aus dem Great-Eyry, fragte ich, hat sich aber doch wohl nichts besonderes mehr ereignet?

– Nicht das geringste, Herr Strock. Von Pleasant-Garden aus kann man den oberen Rand des Berges bis zu dem ihn überragenden Black-Dome deutlich erkennen. Bisher ist von dorther kein weiteres Geräusch gehört, kein Feuerschein mehr beobachtet worden. Und wenn sich ein Regiment von Teufeln da oben eingenistet hätte ... jetzt hat es den Anschein, als ob sie ihre Höllenküche vollendet hätten und einstweilen nach einem anderen Zufluchtsorte in den Alleghanys ausgezogen wären.

– Na, ich hoffe doch, rief Herr Smith, daß sie sich nicht aus dem Staube gemacht haben werden, ohne erkennbare Spuren – vielleicht ein paar Schwanzendchen oder Hörnerspitzen – zurückgelassen zu haben!«

Den nächsten Tag, den 29., stand unser Wagen beim Morgengrauen schon zur Weiterfahrt bereit. Herr Smith nahm seinen und ich meinen Platz wieder ein. Vom Kutscher angetrieben, trabten die Pferde schnellen Schrittes dahin. Am Ende dieses zweiten Reisetages sollten wir also in der Farm von Wildon, zwischen den ersten Ausläufern der Blauen Berge Halt machen.

Die Umgebung hier zeigte noch völlig den früher geschilderten Charakter. Auch hier wechselten Waldungen und Sümpfe – die zweiten nur kleiner als die vor Pleasant-Garden, weil sich der Erdboden mit der Annäherung an den Gebirgsstock allmählich hob – in gleicher Regelmäßigkeit miteinander ab. Das Land war auch weniger bevölkert. Nur selten sah man winzige Dörfer, die unter mächtigem Buchengeäst verborgen lagen, oder vereinzelte Gehöfte, die von zahlreichen Rios aus den Bergschluchten, lauter Zuflüssen des Satawba, bewässert wurden.

Die Tier- und die Pflanzenwelt waren die gleichen, wie am Tage vorher, auch gab es hier genug Wild, jeden Jäger vollauf zu befriedigen.

»Ich wäre wahrlich versucht, die Flinte in die Hand zu nehmen und nach Nisko zu pfeifen, sagte Herr Smith. Das ist ja das erste Mal, daß ich hier vorüberkomme, ohne die Rebhühner und die Hasen mit Schrot und Blei zu begrüßen! ... Die braven Tiere werden mich gar nicht wiedererkennen! ... Doch nein, solange es uns nicht an Proviant fehlt, haben wir ja etwas anderes im Kopfe ... die Jagd auf Geheimnisse!

– Und möchten wir von der, setzte ich hinzu, nicht als Schneider zurückkommen!«

Im Laufe des Vormittags kamen wir über eine endlos erscheinende Ebene, wo Zypressen und Fächerpalmen nur noch kleine Gruppen bildeten. Über Sehweite hinaus erhoben sich, ohne Ordnung verstreut, kleine Erdhaufen, worin eine ganze Welt von Nagetieren lebte. Hier tummelten sich, zu ganzen Völkern vereinigt, viele tausend Eichhörnchen von der Art, die in Amerika unter dem Namen »Wiesenhunde« bekannt ist. So hat man die Tiere aber nicht genannt, weil sie äußerlich in irgend einer Hinsicht dem Geschlechte der Hunde ähnelten, sondern nur, weil sie oft etwa wie Möpse kläffen. Als wir in raschem Trabe durch diese Gegend fuhren, mußten wir uns wirklich vor dem unaufhörlichen Gebell die Ohren zustopfen.

In den Vereinigten Staaten ist es überhaupt nicht selten, daß man auf volkreiche Ansiedlungen von Vierfüßlern trifft. Unter anderen erwähnen die Naturforscher eine solche, die ihren Namen Dog-Ville (Hundestadt) mit vollem Rechte führt und die reichlich eine Million vierfüßiger Bewohner haben soll.

Diese Eichhörnchen, die sich von Wurzeln, Blättern und auch von Heuschrecken, nach denen sie sehr lüstern sind, ernähren, sind übrigens – also abgesehen von dem Lärm, den sie verursachen – ganz harmlose Tiere.

Das Wetter hatte sich gut gehalten und dabei wehte eine erquickende, frische Brise. Man darf überhaupt nicht glauben, daß hier unter dem fünfunddreißigsten Breitengrade in Nord- und Südkarolina ein besonders warmes Klima herrsche. Die Winter sind daselbst oft recht streng, so daß viele Orangenbäume durch den Frost zugrunde gehen, und es ist keine Seltenheit, das Bett des Satawba mit Eisschollen erfüllt zu sehen.

Am Nachmittage bekamen wir die Kette der Blauen Berge, die noch sechs (amerikanische) Meilen von uns entfernt waren, auf lange Strecken hin zu Gesicht. Ihr Kamm hob sich deutlich von dem fast klarblauen Himmel ab, über den nur einzelne leichte Wolken hinzogen. An ihrem unteren Teile so dicht bewaldet, daß die Äste der Koniferen sich untereinander verwirrten, trug sie auch weiter oben auf den schwärzlichen Felsmassen noch einige Bäume von recht seltsamem Aussehen. Da und dort strebten verschiedene spitze Gipfel von merkwürdiger Gestalt empor, auf der rechten Seite alle überragt von dem 2044 Meter hohen Black-Dome, dessen mächtiges Haupt zuweilen in den Strahlen der Sonne erglänzte.

»Haben Sie diesen Dom schon jemals bestiegen, Herr Smith, fragte ich?

– Nein, antwortete dieser, man sagt auch allgemein, daß das sehr schwierig sei. Übrigens haben einige Touristen den Gipfel wirklich erklommen, sie berichten aber, daß man von da aus auch nichts von dem Innern des Great-Eyry erblicken könne.

– Das ist ganz richtig, erklärte der Führer Harry Horn, ich habe mich selbst davon überzeugt.

– Vielleicht war da das Wetter gerade nicht günstig, bemerkte ich.

– O nein, Herr Strock, im Gegenteil: sehr klar. Die Wände des Great-Eyry sind aber zu hoch und verhindern jeden Einblick.

– Wohlan, rief Herr Smith, ich würde gar nicht böse sein, den Fuß auf eine Stelle zu setzen, die noch kein Mensch betreten hat!«

Der Great-Eyry schien heute vollkommen ruhig zu sein, wenigstens stiegen weder Dämpfe noch Flammen daraus empor.

Gegen fünf Uhr hielt unser Wagen vor der Farm von Wildon. Die hier beschäftigten Leute beeilten sich, den Gutsherrn zu begrüßen.

Hier sollten wir nun die letzte Nacht zubringen.

Sofort wurden die Pferde abgeschirrt und nach einem Stalle geführt, wo sie reichliches Futter vorfanden; den Wagen schob man in einen Schuppen.

Der Kutscher sollte in Wildon unsere Rückkehr erwarten. Herr Smith zweifelte keinen Augenblick daran, daß unser Unternehmen mit Erfolg gekrönt sein würde, wenn wir wieder nach Morganton zurückkämen.

Der Gutsverwalter von Wildon versicherte uns auch, daß seit einiger Zeit am Great-Eyry nichts Auffallendes wahrzunehmen gewesen wäre.

Das Abendessen nahmen wir an gemeinsamem Tische mit den Leuten der Farm ein, und unser Schlaf wurde in der ganzen Nacht auf keine Weise gestört.

Am nächsten Tage sollte die Besteigung des Berges mit dem Morgenrot ihren Anfang nehmen. Die Höhe des Great-Eyry beträgt nur achtzehnhundert Fuß (549 Meter); sie ist also nicht bedeutend und bleibt hinter der mittleren Höhe der Alleghanys zurück. Wir konnten also voraussetzen, daß uns keine übermäßige Anstrengung bevorstünde. Einige Stunden mußten ja genügen, den oberen Rand des Bergstockes zu erreichen. Vielleicht bot der Weg freilich unvorhergesehene Schwierigkeiten, wenn wir etwa auf Abgründe stießen oder auf gefährlichen und beschwerlichen Pfaden große Umwege machen mußten. Das war uns unbekannt und bildete sozusagen die Kehrseite unseres Unternehmens. Die Führer hatten uns, wie erwähnt, darüber im voraus nicht aufklären können. Mich beunruhigte vor allem, daß man hierzulande den oberen Felsenkranz des Great-Eyry allgemein für unübersteiglich ansah. Bestimmt erwiesen war das freilich noch nicht, und wir konnten vorläufig annehmen, daß durch den kürzlich erfolgten Absturz eines Felsblockes eine Öffnung in dem Gesteinskranze entstanden sei.

»Wie dem auch sei, sagte zu mir Herr Smith, nachdem er die erste Pfeife von den zwanzigen, die er tagsüber rauchte, angezündet hatte, wir wollen frisch aufs Ziel losgehen. Was die Frage betrifft, ob die Besteigung mehr oder weniger Zeit beansprucht ...

– Nun, fragte ich, ihn unterbrechend, wir sind doch nach wie vor entschlossen, was wir vorhaben, bis ans Ende durchzuführen?

– Das versteht sich, Herr Strock.

– Mein Chef hat mich beauftragt, diesem verteufelten Great-Eyry seine Geheimnisse auf jeden Fall zu entreißen.

– Und wir entreißen sie ihm, er mag wollen oder nicht, erwiderte Herr Smith, der den Himmel zum Zeugen seines Versprechens anrief. Er muß sie enthüllen, wären wir selbst genötigt, deshalb bis in die Eingeweide des Berges hinabzudringen.

– Da sich unser Ausflug aber über den heutigen Tag hinaus verlängern könnte, setzte ich hinzu, erscheint es wohl ratsam, uns mit Nahrungsmitteln zu versehen.

– Keine Sorge, Herr Strock! Die Führer haben Proviant für zwei Tage in ihren Rucksäcken, und wir selbst ziehen doch auch nicht mit leeren Taschen aus. Hab' ich auch meinen braven Nisko in der Farm zurückgelassen, so hab' ich doch die Flinte mitgenommen. In den Talschluchten der Ausläufer und in den bewaldeten Lagen des Berges kann es an Wild nicht fehlen. Dann wird ein Feuerchen gemacht, die Jagdbeute zuzubereiten, wenn wir da oben nicht schon ein loderndes Feuer vorfinden.

– Ein loderndes Feuer, Herr Smith?

– Ja, warum denn nicht, Herr Strock? ... Denken Sie doch an die Flammen, die prächtigen Flammen, die unseren Bauern einen so tödlichen Schreck eingejagt haben. Weiß denn jemand, ob deren Herd schon völlig erkaltet ist oder ob unter der Asche das Feuer noch weiterglimmt? Besteht hier im Innern ein Krater, so haben wir's auch mit einem Vulkan zu tun, und ein Vulkan ist niemals so gänzlich erloschen, daß man nicht irgendwo noch ein Fünkchen fände. Offen gestanden, das wäre mir ein jämmerlicher Vulkan, der nicht mehr genug Feuer bewahrte, ein Ei zu sieden und eine Kartoffel zu rösten. Doch ... das wird sich ja bald zeigen!«

Ich gestehe offen ein, daß ich mir in dieser Beziehung noch gar keine Ansicht gebildet hatte. Mein Befehl lautete dahin, zu erkunden, was der Great-Eyry eigentlich sei ... wenn das ohne augenscheinliche Gefahr möglich wäre. Nun, das sollte geschehen, und die Leute wüßten dann, woran sie wären. Im Grunde aber wünschte ich – ist das bei einem Manne, der vom Dämon der Neugierde besessen ist, nicht ganz natürlich? – ja würde es mich glücklich machen und mir durch den Widerhall, den meine Mission fände, zur größten Befriedigung dienen, daß und wenn dieser Great-Eyry der Mittel- und Ausgangspunkt von Erscheinungen wäre, deren Ursache zu entdecken mir gelänge.

Unsere Besteigung sollte nun in folgender Weise vor sich gehen: Als Vortrab die beiden Führer, denen es oblag, gangbare Wege zu wählen; hinter beiden Elias Smith und ich, einer neben dem andern oder einer hinter dem andern hintrabend, je nachdem es die Breite der Pfade zuließ.

Zuerst drangen jetzt Harry Horn und James Bruck in eine breite und nur sanft ansteigende Talschlucht ein. Diese wand sich längs steiler Abhänge hin, wo Büsche mit zapfenförmigen Beeren und schwärzlichen Blättern, große Farne und wilde Johannisbeersträucher so wirr durcheinandergemengt standen, daß es unmöglich gewesen wäre, sich einen Weg hindurchzubrechen.

Eine Unmenge Vögel belebten die Waldmassen, darunter, als die lautesten, Papageien, die unaufhörlich schwatzten und die Luft mit ihrem scharfen Schrei erfüllten. Kaum hörte man die Eichhörnchen durch die Gebüsche schlüpfen, obwohl ihrer Hunderte umhersprangen.

Der Lauf eines Bergbaches, dem die Schlucht als Bett diente, schlängelte sich launisch neben den Bergrücken der Kette hinauf. In der Regenzeit oder nach ergiebigem Gewitterregen mochte er wohl in rauschenden Fällen herabstürzen. Da er aber offenbar nur vom himmlischen Naß gespeist wurde, war hiervon jetzt nichts zu sehen, was darauf hinwies, daß er nicht aus einer Quelle auf der Höhe herstammen könnte.

Nach halbstündiger Wanderung wurde das Emporsteigen so beschwerlich, daß wir gezwungen waren, uns bald rechts, bald links hin zu wenden und zuweilen recht beträchtliche Umwege zu machen. Die Schlucht wurde allmählich fast ungangbar und der Fuß fand beinahe nirgends mehr einen zuverlässigen Stützpunkt. Wir mußten uns hier an Grasbüschel anklammern, dort auf den Knien fortkriechen, und unter solchen Verhältnissen konnten wir vor Sonnenuntergang jedenfalls nicht auf den Berg hinaufgelangen.

»Na wahrhaftig, rief Herr Smith tief aufatmend, jetzt begreif' ich, daß sich Touristen nur selten an den Great-Eyry herangewagt haben, so selten, daß mir davon eigentlich gar nichts zu Ohren gekommen ist.

– Ja freilich, antwortete ich, hier winkte auch großer Mühe nur geringer Lohn, und wenn wir nicht ganz besondere Gründe hätten, unseren Versuch auch zu Ende zu führen ...

– Ja, das ist richtig, erklärte Harry Horn. Mein Kamerad und ich haben den Black-Dome schon auf verschiedenen Wegen bestiegen, solchen Schwierigkeiten sind wir dabei aber niemals begegnet.

– Schwierigkeiten, die hier noch zu unbesieglichen Hindernissen anwachsen könnten,« setzte James Bruck hinzu.

Jetzt drängte sich uns die Frage auf, nach welcher Seite wir einen schräg aufwärts führenden Weg suchen sollten. Zur Rechten und zur Linken erhoben sich Dickichte von Bäumen und Gesträuchen. Jedenfalls mußten wir uns dahin wenden, wo die Felswände weniger steil abfielen. Arbeiteten wir uns durch die Waldmasse bis zu deren Saume hindurch, so fanden meine Begleiter und ich vielleicht einen gangbareren Pfad. Blind darauf los durften wir indes nicht gehen. Es galt ja, daran zu denken, daß die östlichen Abhänge der Blauen Berge überhaupt kaum zu erklimmen sind, da sie in der ganzen Ausdehnung der Gebirgskette in fünfziggrädigem Winkel abfallen.

Das Beste blieb es unter allen Umständen, uns auf den besonderen Instinkt der beiden Führer und vorzüglich auf James Bruck zu verlassen. Ich glaube, der wackere Bursche hätte bezüglich der Gewandtheit einem Affen und bezüglich der schnellen Beweglichkeit einer Eidechse als Vorbild dienen können. Leider würden weder Elias Smith noch ich uns haben dahin wagen können, wohin der kühne junge Mann sich ohne Besorgnis wagte.

Was mich angeht, hoffte ich allerdings nicht zurückzubleiben, denn das Klettern war mir sozusagen angeboren und an Körperanstrengungen war ich gewöhnt. Wo James Bruck vorwärts kam, wollte ich auch vorwärts kommen, wenn es mich auch einige Schrammen und Risse kostete. Mit dem ersten Beamten von Morganton, der weniger jung, weniger kräftig, dabei größer und beleibter war, und der auch nicht so sicher auftrat, lag die Sache freilich anders. Augenscheinlich hatte er sich bisher nach Kräften bemüht, nicht zurückzubleiben. Zuweilen schnaufte er wie ein Seehund, und ich veranlaßte ihn manchmal gegen seinen Willen, erst einmal wieder ordentlich Atem zu schöpfen.

Kurz, wir sahen mehr und mehr ein, daß die Besteigung des Great-Eyry eine längere Zeit beanspruchen werde, als wir vorausgesetzt hatten. Wir glaubten anfänglich, den oberen Felsenkranz gegen elf Uhr zu erreichen, und jetzt waren wir in der Mittagstunde voraussichtlich noch um mehrere hundert Fuß davon entfernt.

Gegen zehn Uhr gab der eine Führer, nach wiederholten Versuchen, einen gangbaren Aufstieg zu entdecken und nach mancherlei Umwegen, die uns dann und wann wieder rückwärts führten, das Zeichen zum Anhalten. Wir hatten den oberen Rand der bewaldeten Strecke erreicht. Hier standen die Bäume vereinzelter und gestatteten einen Ausblick nach dem eigentlichen Felsblocke des Great-Eyry.

»He, he! stieß Herr Smith hervor, während er sich an eine große Fächerpalme lehnte, ein bißchen Ruhe und Rast und eine kleine Mahlzeit zur Stärkung würden mir jetzt nicht unangenehm sein.

– So ein Raststündchen? fragte ich.

– Ja; nachdem Beine und Lunge ihre Schuldigkeit getan haben, möge auch der Magen einmal arbeiten!«

Dagegen erhob niemand Einspruch: wir mußten daran denken, die verlorenen Kräfte wieder zu ersetzen. Einigermaßen beunruhigte uns freilich der Anblick der Berglehne bis zum Fuße des eigentlichen Great-Eyry. Über uns erhob sich drohend eine der völlig kahlen Partien, die man im Lande »Blads« zu nennen pflegt. Zwischen ihrem zerrissenen Gestein war kein Weg zu erkennen. Das machte auch unseren Führern Sorge, wie ich aus den Worten schloß, die Harry Horn an seinen Kameraden richtete.

»Das wird nicht gerade leicht werden! sagte er.

– Vielleicht überhaupt unmöglich,« antwortete James Bruck.

Diese Äußerungen machten mir einen wirklichen Verdruß. Kam ich zurück, ohne den Great-Eyry erstiegen zu haben, so bedeutete das den gänzlichen Mißerfolg meiner Mission, ganz abgesehen davon, daß dann auch meine Neugier unbefriedigt blieb, und wenn ich mich dann bei Herrn Ward wieder meldete, spielte ich gewiß eine recht traurige Rolle. –

Jetzt wurden also die Taschen und die Rucksäcke geöffnet; wir stärkten uns mit kaltem Fleisch nebst Brot, sprachen der Flasche aber nur wenig zu. Nach dem frugalen Mahle, das kaum eine halbe Stunde gedauert hatte, war Herr Smith der erste, der sich erhob und zum Weitergehen anschickte.

James Bruck nahm dabei wieder die Spitze ein, und wir hatten ihm nur zu folgen und darauf zu achten, daß wir nicht zurückblieben.

Nur langsam ging es vorwärts. Unsere Führer verhehlten gar nicht ihre Verlegenheit, und wiederholt mußte Harry Horn noch eine Strecke vorausgehen, um auszukundschaften, welche Richtung wir einzuschlagen hätten.

Dabei blieb er wohl zwanzig Minuten lang aus. Endlich zurückgekehrt, wies er nach Nordosten hin und marschierte dann unverdrossen weiter. In der bezeichneten Richtung erhob sich der Black-Dome etwa in der Entfernung von drei bis vier Meilen. Wie bekannt, wäre es nutzlos gewesen, diesen zu ersteigen, da man von seinem Gipfel selbst mit einem starken Fernrohr nichts vom Innern des Great-Eyry sehen konnte.

Der Aufstieg ging nur beschwerlich und langsam von statten, vorzüglich über die glatten Abhänge hin, auf denen einzelne Gesträuche standen oder dürftige Grasbüschel den Boden stellenweise bedeckten. Wir waren kaum zweihundert Fuß höher hinaufgekommen, da blieb James Bruck plötzlich vor einer Art tiefer Furche stehen, die sich an dieser Stelle durch den Erdboden hinzog. Da und dort zeigten sich herausgerissene und abgebrochene Wurzeln, zertrümmerte Zweige und zu Pulver zermalmte Steinbrocken, so, als ob eine Lawine vom Bergabhange hinuntergerollt wäre.

»Hier wird der große Felsblock vorübergedonnert sein, der sich seinerzeit vom Great-Eyry abgelöst hat, bemerkte James Bruck.

– Kein Zweifel, antwortete Elias Smith, und dann meine ich, ist es das Beste, wir folgen dem Wege, den er sich bei dem Hinabrollen gebrochen hat.«

Das geschah denn auch und erwies sich als richtig. Der Fuß fand hier einen sicheren Stützpunkt in den Vertiefungen, die der Felsblock auf seinem Wege hinterlassen hatte. Der Aufstieg erfolgte nun unter besseren Verhältnissen und fast in gerader Linie, so daß wir um halb zwölf den oberen Rand des Blad erreicht hatten.

Nur hundert Schritt vor uns, doch reichlich hundert Fuß hoch, starrten hier die Felsmauern empor, die den Great-Eyry vollständig einrahmen.

Von dieser Seite gesehen, bot die Einfassung des Berges einen höchst phantastischen Anblick, mit kegelförmigen Spitzen, dünnen Nadeln und unter anderem einem Felsen, der das Bild eines riesigen, im Auffliegen begriffenen Adlers vortäuschte. Von Osten her schien die Bergwand völlig unersteigbar zu sein.

»Wir wollen kurze Zeit rasten, schlug Herr Smith jetzt vor, und dann zusehen, ob es möglich ist, den Great-Eyry zu umkreisen.

– Jedenfalls, bemerkte Harry Horn, hat sich vor einiger Zeit jener Felsblock an dieser Seite abgelöst, und dennoch sieht man keine Bresche in dem Felskranze.«

Horn hatte sicherlich recht: der Felssturz mußte von dieser Seite des Blad aus erfolgt sein.

Nach einer Rast von zehn Minuten erhoben sich die beiden Führer und auf ziemlich schlüpfrigem und steilem Wege erreichten wir bald den Rand des Plateaus. Jetzt konnten wir am Fuße der Felsmasse herumgehen, die sich bei einer Höhe von fünfzig Fuß wie die Wand eines Korbes ausbauchte, so daß es, selbst wenn wir Stufen hätten benützen können, doch unmöglich gewesen wäre, die obere Kante der Umfassung zu erklimmen.

In meiner Vorstellung nahm der Great-Eyry eine mehr und mehr phantastische Gestalt an, und wenn er von Drachen, bösen Geistern und Chimären bewohnt gewesen wäre, die hier zu seiner Bewachung hausten, so hätte mich das auch nicht weiter verwundert.

Inzwischen wanderten wir längs dieser Umwallung hin, die in Anbetracht ihres regelmäßigen Aufbaues einem Werke von Menschenhand ähnelte. Doch nirgends zeigte sich eine Unterbrechung des Wallkranzes, nirgends ein Spalt in dem Gestein, durch den man hätte zu schlüpfen versuchen können. Überall starrte der Kamm empor ... überall unersteigbar.

Nachdem wir dem Rande des Plateaus eine Stunde lang gefolgt waren, befanden wir uns wieder an der Ausgangsstelle, wo wir an dem Blad zuletzt Halt gemacht hatten.

Ich konnte meinen Ärger über ein solches Mißgeschick nicht unterdrücken, und Herr Smith schien darüber nicht weniger verdrießlich zu sein.

»Alle Teufel! rief er, wir sollen also nicht erfahren, was sich im Innern dieses vermaledeiten Great-Eyry verbirgt ... ob er einen Krater bildet ...

– Ob er ein Vulkan ist oder nicht, fiel ich ein. Jedenfalls ist jetzt hier kein Geräusch zu hören, jedenfalls steigt kein Rauch auf, züngeln keine Flammen empor, überhaupt zeigt sich nichts, was auf einen bevorstehenden Ausbruch hindeutete.«

Tatsächlich herrschte außen und innen das tiefste Schweigen. Kein rauchgemengtes Dampfwölkchen drang nach außen hervor, kein Widerschein glänzte an den Wolken, die ein mäßiger Ostwind über den geheimnisvollen Berg hinwegtrieb. Der Erdboden war ebenso ruhig wie die Luft. Kein unterirdisches Rollen, kein Erzittern des Bodens unter unseren Füßen machte sich bemerkbar ... überall herrschte die feierliche Stille der großen Höhen.

Hier sei gleich eingeflochten, daß der Umfang des Great-Eyry – abgeschätzt nach der Zeit, die wir gebraucht hatten, ihn zu umkreisen, und unter Berücksichtigung der Schwierigkeiten, die wir auf dem schmalen Plateau zu überwinden hatten – elf bis zwölfhundert Fuß betragen mochte. Seinen Umfang im Innern konnten wir unmöglich beurteilen, da uns die Dicke der ihn umschließenden Felswand unbekannt war.

Natürlich erwies sich die Umgebung völlig wüst und öde, und es erschien mir begreiflich, daß sich hier kein lebendes Wesen zeigte, mit Ausnahme einiger riesiger Raubvögel, die über dem Great-Eyry kreisten.

Unsere Uhren wiesen jetzt die dritte Nachmittagsstunde.

»Und wenn wir hier auch bis zum Abend blieben, rief Herr Smith mit ärgerlicher Stimme, da wüßten wir auch nicht mehr als jetzt! Wir müssen wieder aufbrechen, Herr Strock, wenn wir vor der Nacht in Pleasant-Garden zurück sein wollen.«

Da ich ihm nicht antwortete und auch den Platz, wo ich saß, nicht verließ, trat er an mich heran.

»Nun, Herr Strock, fuhr er fort, Sie sagen ja gar nichts! Haben Sie mich etwa nicht verstanden?«

Ich muß gestehen, daß es mich viel Überwindung kostete, wieder hinabzusteigen, ohne meinen Auftrag erledigt zu haben. Auch fühlte ich, mit dem gebieterischen Verlangen auszuharren, daß meine Neugier sich nur verdoppelte.

Doch was sollte ich tun? Lag es in meiner Macht, die mächtige Wallmauer zu durchbrechen oder die trotzigen Felsen zu erklimmen?

Ich mußte mich wohl oder übel fügen, und nach einem letzten Blicke auf den Great-Eyry folgte ich meinen Begleitern, die schon die Abhänge des Blad hinunterglitten.

Der Rückweg erfolgte ohne besondere Schwierigkeiten und ohne größere Anstrengung. Schon vor fünf Uhr überschritten wir die letzten Ausläufer der Bergmasse und der Verwalter von Wildon empfing uns in dem Speisezimmer, wo schon Erfrischungen und ein nahrhaftes Essen für uns bereit stand.

»Sie haben also nicht in das Innere eindringen können? fragte uns der Mann.

– Nein, antwortete Herr Smith; ich fange wahrlich an zu glauben, daß der ganze Great-Eyry nur in der Einbildung unserer braven Landleute existiert!«

Halb neun Uhr erwartete uns vor dem Hause der Wagen des Ortsvorstehers von Pleasant-Garden, wo wir die Nacht zubringen sollten.

Während ich vergeblich zu schlafen versuchte, fragte ich mich, ob es nicht das richtigste sei, mich für einige Tage in dem Flecken einzuquartieren und eine wiederholte Besteigung unter kundiger Führung zu veranstalten. Leider war kaum zu erwarten, daß eine solche erfolgreicher sein werde als die erste.

Schließlich erschien es mir am ratsamsten, nach Washington zurückzukehren und dem Herrn Ward Bericht zu erstatten. So verabschiedete ich mich denn am Abend des nächsten Tages in Morganton von Herrn Smith und begab mich nach dem Bahnhofe, wo der Schnellzug nach Raleigh zum Abgange bereit stand.


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