Jules Verne
Das Testament eines Excentrischen. Erster Band
Jules Verne

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IX. Eins und eins macht zwei

An demselben Tage empfing ein Hôtel – oder richtiger ein nicht zu den renommierteren gehöriger Gasthof, der der Sandy Bar – als Gäste zwei Reisende, die mit dem ersten Zuge nach Calais, einem einfachen kleinen Orte im Staate Maine gekommen waren.

Die beiden Reisenden, ein Mann und eine Frau, die von einer langen und beschwerlichen Fahrt sehr angegriffen aussahen, schrieben sich als Herr und Frau Field ins Fremdenbuch ein. Dieser Name gehört etwa mit den Namen Smith, Johnson und mehreren andern in den Familien angelsächsischen Ursprungs zu den häufigsten. Man muß schon mit ganz besondern Eigenschaften ausgestattet sein, in der Politik, den Künsten oder dem Waffenhandwerk eine hervorragende Stellung erklommen haben oder mit einem Wort ein Genie sein, um die öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen, wenn man diesen weitverbreiteten Namen führt. »Herr und Frau Field«, das sagte also gar nichts, wies nicht auf bedeutendere Persönlichkeiten hin, und der Gastwirth übertrug die Namen in sein eignes Buch, ohne sich weitere Gedanken über deren Träger zu machen.

Zur Zeit waren übrigens in den Vereinigten Staaten keine Namen weiter verbreitet oder wurden von Millionen Lippenpaaren öfter wiederholt, als die der Partner und der des phantastischen Mitglieds des Excentric Club. »Field« hieß aber keiner von den »Sieben«. In Calais kümmerte man sich um die beiden Fields also ebenso wenig wie um beliebige andre Fremde. Die in Rede stehenden machten äußerlich keinen besondern Eindruck, und der Gastwirth fragte sich vielleicht heimlich, wie es mit der Bezahlung stehen werde, wenn die Stunde der Abrechnung schlug.

Was wollte das Ehepaar hier in der kleinen, dicht an der Grenze des Staates und auch im äußersten Nordosten der Union gelegenen Stadt? Warum hatten sie die sechshunderteinundsechzigtausend Einwohner des Staates, der die Hälfte des gewöhnlich Neuengland genannten Gebietes einnimmt, um zwei Einheiten vermehrt?

Das Zimmer im ersten Stockwerke, das Herrn und Frau Field im Gasthofe der Sandy Bar zugewiesen worden war, gehörte nicht zu den stattlichsten und bequemsten – ein Bett für zwei Personen, ein Tisch, zwei Stühle und ein Waschtisch bildeten seine ganze Ausstattung. Das Fenster darin lag nach dem Saint-Croixfluße zu, dessen linkes Ufer zu Canada gehört. Ein einziger Koffer, der in der Hausflur stand, war von einem Bahnbediensteten gebracht worden. In einer Ecke standen zwei dicke Regenschirme und lehnte ein alter Reisesack.

Als Herr und Frau Field, nachdem der Gastwirth, der sie nach diesem Zimmer geführt hatte, wieder fortgegangen war, sich allein sahen, schlossen sie die Thür ab, schoben den Riegel vor und legten das Ohr an die Thürfüllung, um zu prüfen, ob sie auch niemand hören könne.

»Endlich,« sagte der eine, »wären wir ja am Ziele! . . .«

»Ja,« antwortete die andre, »nach wohlgezählten drei Tagen und drei Nächten seit unsrer Abreise!«

»Ich fürchtete schon, die Fahrt nähme gar kein Ende,« fuhr Herr Field fort, indem er die Arme herabsinken ließ, als ob alle seine Muskeln den Dienst versagten.

»Nun, die Geschichte ist ja noch nicht zu Ende,« meinte Frau Field.

»Und wird uns noch ein Heidenstück Geld kosten!

»Es kommt hier nicht darauf an, was die Sache kosten wird,« entgegnete die Dame scharf, »sondern darauf, was sie einbringen kann . . .«

»Jedenfalls,« fiel der Herr ein, »war es von uns ein glücklicher Gedanke, unter angenommenem Namen zu reisen.«

»Ein Gedanke, der von mir herrührt . . .«

»Und der ein ganz vortrefflicher war! Stelle Dir nur vor, wie wir sonst auf Gnade und Ungnade den Hôteliers, den Gastwirthen, allen den Leuteschindern preisgegeben gewesen wären, allem Volke, das sich von denen mästet, die in seine Hände gedeihen, und das unter dem Vorwande, daß uns ja doch die Dollars millionenweise zufallen würden!«

»Ja, wir haben recht gethan,« erklärte Frau Field, »und werden auch späterhin alle Ausgaben so viel wie möglich beschränken. Wir haben unser Geld seit drei Tagen auch nicht an den Büffets der Bahnhöfe weggeworfen, und ich hoffe, das wird so weiter gehen . . .«

»Wenn auch . . . klüger wär's doch gewesen, von der ganzen Geschichte abzusehen.«

»Schweig davon, Hermann!« rief Frau Field befehlerischen Tones. »Haben wir nicht ebensoviel Aussicht wie die andern, als die ersten anzukommen?«

»Gewiß, Kate; das Vernünftigste wär' es aber dennoch gewesen, den Vertrag zu unterzeichnen . . . sich die Erbschaft zu theilen . . .

»Das meine ich nicht. Uebrigens erhob ja der Commodore Urrican dagegen Einspruch, und jener X. K. Z. war auch nicht da, seine Zustimmung geben zu können . . .«

»Ja,« unterbrach sie Herr Field, »ich muß Dir gestehen, daß ich diesen X. K. Z, am meisten fürchte. Man weiß nicht, wer er ist, noch wo er sich heute oder morgen befindet. Niemand kennt ihn. Er nennt sich X. K. Z . . .. Ist denn das überhaupt ein Name? . . . Kann es erlaubt sein, sich X. K. Z. zu nennen?«

In dieser Weise machte Herr Field seinem Herzen Luft. Und doch, wenn er sich nicht hinter den Anfangsbuchstaben seines Namens versteckte, hatte er sich ja selbst Field statt Titbury genannt – der Leser wird ihn aus den wenigen, zwischen ihm und der Frau Field gewechselten Worten, aus denen der Geiz der beiden Leute genügend hervorleuchtete, leicht genug erkannt haben.

Es war in der That Hermann Titbury, der dritte Partner, den der Fall der Würfel – eins und eins – nach dem zweiten Felde, dem Staate Maine, verwiesen hatte. Und welches Pech, da dieser Wurf ihn nur um zwei Schritte von dreiundsechzigen vorwärts brachte, während er sich dabei nach der äußersten Nordostspitze der Union begeben mußte!

Maine grenzt nämlich schon an das Dominium von Canada und an Neubraunschweig. In den Bundesstaat seit 1820 aufgenommen, hat es als Ostgrenze den Meerbusen von Passamaquoddy, in den der Saint-Croixstrom ausmündet, und der in zwölf Grafschaften zertheilte Staat sendet zwei Senatoren und fünfzig Deputierte in den Congreß, jene nationale Bai, könnte man nicht mit Unrecht sagen, in die sich alle politischen Ströme der Vereinigten Staaten ergießen.

Herr und Frau Titbury hatten am Abend des 5. Mai ihr Haus in der Robey Street verlassen und wohnten jetzt in diesem recht mittelmäßigen Gasthofe von Calais. Die Gründe, weshalb sie sich eines andern Namens bedienten, sind ja bekannt. Da sie niemand Tag und Stunde ihrer Abreise verrathen hatten, erfolgte diese im strengsten Incognito, ganz wie – nur aus andern Gründen – die Max Real's.

Das brachte die Wettlustigen etwas in Verlegenheit, denn wir müssen gestehen, daß man Hermann Titbury bei diesem Wettrennen um Millionen ziemlich gute Aussichten andichtete. Im Laufe der Partie verbesserten sich diese gewiß noch weiter, so daß er wohl zum Favorit des Matches aufsteigen konnte. Er gehörte ja zu den Bevorzugten, denen hienieden alles gelingt, weil sie gewissenlos genug in der Auswahl der Mittel sind, die sie zur Sicherung des Erfolgs anwenden. Sein Vermögen gestattete es ihm, die Einsätze zu erlegen, wenn der Zufall ihn zu solchen nöthigte, und so hoch sie auch sein mochten, er zögerte gewiß nicht, sie in klingender Münze einzuzahlen. Außerdem ließ er sich bei den verschiedenen Fahrten, die ihm doch jedenfalls noch bevorstanden, zu keinen Zerstreuungen oder Abstechern verleiten, wie das wohl von Max Real und Harris T. Kymbale zu erwarten war. Keiner brauchte zu fürchten, daß er auf dem Wege von einem Staate zum andern durch eigne Schuld eine Verzögerung erleiden werde – er befand sich mit absoluter Gewißheit am betreffenden Tage allemal an dem ihm zugewiesenen Orte. Das waren also schwerwiegende Garantien, die Hermann Titbury bot, ganz abgesehen von dem persönlichen Glücke, das ihn in seinem Leben als Geschäftsmann nie im Stiche gelassen hatte.

Das würdige Paar hatte sich bemüht, nicht nur den kürzesten, sondern auch den billigsten Reiseweg durch das fast unentwirrbare Netz von Eisenbahnen herauszufinden, das einem ungeheuern Spinnengewebe gleich das östliche Gebiet der Union bedeckt. Ohne sich irgendwo aufzuhalten, ohne Gefahr zu laufen, an den Bahnhofbuffets oder in den Restaurants von Hôtels ausgeplündert zu werden – denn sie lebten ausschließlich von mitgeführten Mundvorräthen – von einem Zug zum andern so schnell übergehend, wie beim Taschenspieler die Kugel von der rechten zur linken Hand, für die Sehenswürdigkeiten des Landes mit ebensowenig Interesse wie Tom Crabbe, stets in dieselben Gedanken versunken, immer von Unruhe gepeinigt oder höchstens beschäftigt, die täglichen Ausgaben aufzuschreiben und die für die Fahrt mitgenommene Summe zu zählen und wieder zu zählen, sonst am Tage im Halbtraume, in der Nacht im Schlafe – so durchflogen Herr und Frau Titbury Illinois von Westen nach Osten, den Staat Indiana, dann Ohio, ferner New York und schließlich den Staat New Hampshire. Hiermit gelangten sie endlich am Morgen des 8. Mai an die Grenze von Maine, und zwar am Fuße des zur Gruppe der Weißen Berge gehörigen Mount Washington, dessen schneeiger, von Sturm und Hagel umbrauster, fünftausendsiebenhundertfünfzig Fuß (1676 Meter) aufragender Gipfel den Namen des größten Helden der amerikanischen Republik führte.

Von hier aus kamen Herr und Frau Titbury nach Paris, dann nach Lewiston am Androscoggin, einer gewerbfleißigen Stadt mit dem gegenüberliegenden Auburn, dem Rivalen der bedeutenden Stadt Portland, jenes besten Hafens von Neuengland, der sich an der wohlgeschützten Bucht von Casco ausbreitet. Die Eisenbahn brachte sie darauf nach Auguste, der officiellen Hauptstadt von Maine, deren elegante Landhäuser an den Ufern des Kennebec zerstreut sind. Von der Station Bangor mußten sie sich noch in nordöstlicher Richtung nach Baskahogan begeben, wo der Schienenweg aufhört und endlich die Post bis Princeton benutzen, das eine Nebenbahn unmittelbar mit Calais verbindet.

In dieser Weise verlief also, unter häufiger und lästiger Vertauschung der Bahnzüge, die Fahrt von Maine bis hierher. Lustfahrer besuchten dabei freilich gern die Berggegenden, die Moränenfelder, die Seenplateaus des Landes, ebenso wie die tiefen, fast unerschöpflichen Wälder mit mächtigen Eichen, Canadafichten, Ahornbäumen, Buchen und sonstigen Baumarten der nördlichen Landestheile, die vor der Einführung der eisernen Schiffe das Nutzholz für viele Werften lieferten.

Herr und Frau Titbury – angeblich Field – waren in Calais frühzeitig am 9. Mai eingetroffen, eigentlich auch recht vorzeitig, da sie hier bis zum 19. bleiben mußten. Sie sollten in der kleinen Stadt, einem einfachen Hafen für Binnenschifffahrt mit wenigen tausend Einwohnern, also zehn volle Tage zubringen und wußten doch nicht, was sie beginnen sollten, bis ein Telegramm von Meister Tornbrock sie wieder von hier abrief.

Und doch bietet das so abwechslungsreiche Gebiet von Maine Gelegenheit zu den schönsten Ausflügen. Nach Nordwesten zu liegt die herrliche Gegend, die der Khatadinberg überragt, der aus den Waldmassen eines Seenplateaus bis dreitausendfünfhundert Fuß (1066 Meter) aufsteigt. Ferner findet sich da die sechsunddreißigtausend Seelen zählende Stadt Portland, der Geburtsort des Dichters Longfellow, und belebt infolge ihres bedeutenden Handels mit den Antillen und mit Südamerika. Sie hat zahlreiche Denkmäler, Parke und Gärten, die von den kunstliebenden Einwohnern mit großem Geschmack gepflegt werden; weiter das bescheidene Brunswick mit seinem berühmten Bowdoin-College, dessen Gemäldesammlung zahlreiche Kunstfreunde heranzieht. Zu vergessen sind auch nicht, weiter im Süden an den Küsten des Atlantischen Oceans, die in der warmen Jahreszeit von den reichen Familien der Nachbarstaaten vielbesuchten Seebäder. Wer von jenen nicht wenigstens einige Wochen, vorzüglich auf der wunderschönen Insel Mount-Desert und hier im Bar Harbor verweilte, der ginge zu Hause jedes Ansehens verlustig.

Solche Ausflüge freilich von zwei von ihrer Felsenbank losgerissenen und dann neunhundert Meilen weit beförderten Mollusken zu verlangen, das wäre vergebliche Liebesmüh gewesen – nein, diese verließen Calais keinen Tag und keine Stunde lang. Sie blieben ganz für sich, erwogen ihre Aussichten und verwünschten instinctiv die andern Partner, nachdem sie sich schon hundertmal die Verwendung des neuen Vermögens überlegt hatten, wenn der Zufall sie zu zweihundertfünfzigfachen (Mark-)Millionären machen sollte. Ob sie dadurch wohl nicht in einige Verlegenheit kämen? . . .

Sie . . . wegen jener Millionen? . . . Keine Sorge! Sie würden schon verstehen, diese in sichern Werthpapieren, in Bank-, Bergwerks- und Industrieactien anzulegen und würden ihr ungeheures Einkommen einstreichen, ohne es für wohlthätige Zwecke zu verzetteln. Den Ueberschuß legten sie dann wieder zinstragend an, ohne sich etwas für verfeinerten Lebensgenuß oder für Vergnügungen zu gönnen, kurz, sie lebten dann gewiß ganz wie früher, nur ihrer Liebe für Dollarstücke hingegeben, verzehrt von der auri sacra fames als arme Schlucker, als Knicker, als Mitglieder der Akademie des Grauen Elends!

Wahrlich, wenn das Schicksal dieses widerwärtige Ehepaar begünstigte, mußte es ganz besondre Gründe dazu haben – welche, das wäre wohl schwer zu errathen gewesen. Und dann geschah das zum Nachtheile der andern Partner, die – selbst ohne Tom Crabbe oder den Kommodore Urrican auszuschließen – jedenfalls der Schätze William J. Hypperbone's würdiger waren und davon gewiß einen besseren Gebrauch machen würden.

Jetzt befinden sich die beiden, unter dem Namen Field verborgen, also am nordöstlichen Ende des Bundesgebiets in der kleinen Stadt Calais. Sie langweilen sich in ihrer Ungeduld und sehen nur theilnahmslos zu, wie die Fischerfahrzeuge mit jeder Ebbe hinausziehen und, mit ihrer Beute an Makreelen, Häringen und Salmen beladen, mit der Fluth zurückkehren. Dann schließen sie sich wieder in ihrem Zimmer der Sandy Bar ein und zittern bei dem Gedanken, daß ihr Geheimniß durchschaut, ihr wahrer Name bekannt werden könnte.

Calais liegt ja nicht so tief im Innern von Maine verloren, daß die Gerüchte von dem berühmten Match seinen Bewohnern nicht hätten zu Ohren kommen können. Sie wußten recht gut, daß ihr Neuenglandstaat dabei als das zweite Feld des Spieles galt, und der Telegraph hatte ihnen mitgetheilt, daß der zweite Ausfall des Würfelns – eins und eins – den Partner Hermann Titbury zwang, sich in ihrer Stadt aufzuhalten.

So verstrichen der 9., 10., 11. und 12. Mai unter schlimmster Langeweile in der wenig Zerstreuung bietenden Stadt. Auch Max Real würde es hier nicht besser ergangen sein. Wenn man nur längs der mit Holzbauten besetzten Straßen hingehen oder auf den verkehrsarmen Quais umherspazieren konnte, verging die Zeit unendlich langsam. Da nun die Depesche, die die nächste Reise vorschreiben sollte, erst am 19. zu erwarten war, mußte sich einer mit unendlicher Geduld rüsten, um die noch übrigen sieben langen Tage auszuhalten.

Und doch bot sich dem Titbury'schen Ehepaar hier die verlockendste Gelegenheit zu einem Abstecher ins Ausland, da sie dazu nur den Saint-Croixstrom, dessen linkes Ufer zur Dominion of Canada gehörte, zu überschreiten brauchten.

Hermann Titbury war auch ein solcher Gedanke gekommen und am Morgen des 13. machte er sogar einen dahin zielenden Vorschlag.

»Nein, zum Kuckuck mit diesem Hypperbone!« rief er ärgerlich, »warum mußte er auch grade die unangenehmste Stadt von Maine wählen, um dahin die Partner zu verbannen, die das Unglück haben, zu Anfang der Partie die Nummer zwei zu bekommen!«

»Vorsichtig, Hermann!« ermahnte ihn Kate Titbury mit leiser Stimme. »Wenn Dich nun jemand hörte . . . Da das Geschick uns einmal nach Calais verschlagen hat, werden wir uns wohl oder übel in Calais so lange wie nöthig aufhalten . . .«

»Ist es uns denn nicht einmal erlaubt, die Stadt zeitweise zu verlassen?«

»Gewiß . . . doch mit der Einschränkung, nie über das Bundesgebiet hinauszugehen.«

»So ist es uns also schon verboten, das andre Flußufer zu besuchen?«

»Unbedingt verboten, Hermann. Das Testament schreibt ausdrücklich vor, daß die Partner innerhalb der Grenzen der Vereinigten Staaten zu bleiben haben.«

»Und wenn's geschähe, wer wüßte es wohl?« warf Mr. Titbury ein.

»Ich begreife Dich nicht, Hermann!« erwiderte die Matrone mit schon lauterer Stimme. »Bist Du es wirklich, den ich sprechen höre? . . . Ich erkenne Dich gar nicht mehr! . . . Und wenn man nun später erführe, daß wir die Grenze überschritten hatten? . . . Oder wenn irgend ein Unfall uns jenseits derselben zurückhielte? . . . Wenn wir zur entscheidenden Zeit – am 19. – nicht wieder hier wären? . . . Doch gleichgiltig . . . ich will es nicht!«

Die herrschsüchtige Mrs. Titbury hatte offenbar recht, es nicht zu wollen. Weiß einer denn vorher, was sich in der nächsten Zeit ereignen mag? . . . Nehme man einmal an, es erfolge ein Erdbeben . . . Neubraunschweig löste sich vom Festlande . . . dieser Theil Amerika erlitte eine Lagenveränderung . . . zwischen den beiden Ländern entstände ein gähnender Abgrund . . . wie hätte einer dann am bestimmten Tage im Telegraphenamte nachfragen können, und liefe er nicht Gefahr, von dem Match ausgeschlossen zu werden? . . .

»Nein, den Strom können und dürfen wir nicht überschreiten,« erklärte Mrs. Titbury mit größter Bestimmtheit.

»Ja, Du hast recht, das können wir nicht,« lenkte Herr Titbury ein, »und ich weiß jetzt gar nicht, wie ich auf einen solchen Gedanken gekommen bin. Wahrhaftig, seit der Abreise von Chicago bin ich gar nicht mehr ich selbst! . . . Diese verwünschte Fahrt hat mich zu stark angegriffen. Wir, die wir bis jetzt aus unserm Hause in der Robey Street kaum um eine Nasenlänge herausgeguckt haben . . . wir unternehmen plötzlich – und in unsern Jahren! – so weite Reisen! Nein, wär' es nicht vielleicht vernünftiger gewesen, zu Hause zu bleiben und die ganze Geschichte abzuschlagen?«

»O, sechzig Millionen Dollars sind es schon werth, einmal die gewohnte Bequemlichkeit zu opfern!« erklärte Frau Titbury. »Du wiederholst Dich etwas zu oft, Hermann!«

Jedenfalls wurde Saint-Stephen, der Stadt der Dominion, die am entgegengesetzten Ufer des Saint-Croix liegt, die Ehre, das Titbury'sche Ehepaar zu empfangen, vorläufig nicht zu theil.

Man sollte nun meinen, daß so vorsichtige, so überaus kluge Leute, die weit mehr Garantien boten, als die andern Partner, gegen jeden unangenehmen Zwischenfall geschützt wären, daß sie sich nie bei einem Fehltritt ertappen ließen und daß ihnen nichts widerfahren könnte, was ihre Aussichten auf Erfolg trübte. Der Zufall liebt es freilich, grade mit den Vorsichtigsten zu scherzen, ihnen Fallen zu stellen, denen sie mit all ihrer Weisheit nicht entgehen, und es ist deshalb nur vernünftig, immer mit ihm zu rechnen.

Am Morgen des 14. fiel es nun Herrn und Frau Titbury ein, noch einen kleinen Ausflug zu unternehmen. Natürlich sollte sich dieser nicht weit, höchstens bis zwei oder drei Meilen von Calais ausdehnen. Nebenbei bemerkt, hat diese Stadt ihren französischen Namen bekommen, weil sie in den Vereinigten Staaten am äußersten Ende ganz ebenso liegt wie ihre Namensschwester in Frankreich; der Staat Maine aber wurde so von den ersten Ansiedlern benannt, die sich daselbst unter der Regierung Karls I. von England niederließen.

Das Wetter war gewitterhaft; vom Horizonte stiegen schwere Wolken herauf und die Wärme drohte drückend zu werden. Ein schlecht gewählter Tag für einen Ausflug, der zu Fuß, längs des rechten Saint-Croixufers hin, unternommen werden sollte.

Gegen neun Uhr verließen Herr und Frau Titbury ihren Gasthof, wandten sich dem Strome zu und spazierten dann außerhalb der Stadt im Schatten von Bäumen hin, zwischen deren Aesten Tausende von Eichhörnchen hin und her sprangen.

Schon vorher hatten sie sich bei dem Gastwirth darüber unterrichtet, daß in der Umgebung keine wilden Thiere umherschweiften. Hier gab es weder Wölfe noch Bären – höchstens einige Füchse. Man konnte sich also sorglos in diese Wälder wagen, die früher fast den ganzen Staat Maine als ein grünes Nadelmeer bedeckten.

Selbstverständlich beschäftigten sich Herr und Frau Titbury nicht im mindesten mit den wechselnden Landschaftsbildern, die sich vor ihnen aufrollten. Sie sprachen nur von ihren Mitbewerbern, von denen, die schon vor ihnen unterwegs waren, wie von denen, die erst nach ihnen aufbrechen sollten; sie fragten sich, wo Max Real und Tom Crabbe heute sein möchten und wie es mit dem X. K. Z. stände, der ihnen am meisten Unruhe einflößte.

Als nach zweiundeinhalbstündigem Marsche die Mittagszeit herankam, dachten sie nach dem Gasthof der Sandy Bar zurückzukehren, um ein zweites Frühstück zu genießen. Da sie bei der drückenden Hitze aber recht durstig geworden waren, kehrten sie in einer Gastwirthschaft ein, die sich am Stromufer kaum eine halbe Meile von der Stadt entfernt erhob.

Im Zimmer der Schänke fanden sie mehrere Tische mit Leuten besetzt, die schäumende Bierkrüge vor sich stehen hatten.

Herr und Frau Titbury nahmen seitwärts von jenen Platz und überlegten zunächst, was sie sich bringen lassen sollten. Porter oder Ale schien ihnen nicht zu passen.

»Ich fürchte, diese Getränke könnten zu kalt sein,« meinte Frau Titbury. »Wir sind in Schweiß gebadet, und da läuft man Gefahr . . .«

»Du hast recht, Kate; ein tüchtiges Seitenstechen ist schnell geholt«, antwortete ihr Gatte.

Dann wendete er sich an den Schänkwirth.

»Bitte, uns einen Grog von Whisky!«

Der Wirth stutzte nicht wenig.

»Von Whisky, sagten Sie?«

»Ja . . . oder auch von Gin.«

»Wo haben Sie Ihren Erlaubnißschein?«

»Meinen Erlaubnißschein? . . .« rief Titbury, der über diese Frage nicht wenig erstaunte.

Das würde nicht der Fall gewesen sein, hätte er vorher daran gedacht, daß Maine zu den Staaten gehört, die den Alkohol grundsätzlich in Acht und Bann gethan haben. In Kansas, Norddakota, Süddakota, in Vermont, New Hampshire, vor allem aber in Maine ist es verboten, alkoholische, destillierte oder gegohrene Getränke herzustellen und zu verkaufen. In jedem Orte giebt es jedoch Communalbeamte, die solche für Geld an Leute abgeben, welche sie zu medicinischen oder industriellen Zwecken kaufen. Die betreffenden Getränke müssen auch vorher von einem Staatscommissar untersucht sein. Wer dieses Gesetz, und sei es auch nur durch eine unüberlegte Frage, verletzt, verfällt schwerer, zur Unterdrückung des Alkoholismus ausgeworfener Strafe.

Kaum hatte Titbury die letzten Worte gesprochen, als ein Herr auf ihn zutrat.

»Sie haben keinen vorgeschriebenen Erlaubnißschein? . . .«

»Nein . . . den habe ich weder, noch weiß ich . . .«

»So erkläre ich Sie schuldig der Uebertretung des Gesetzes . . .«

»Einer Uebertretung . . . inwiefern? . . .«

»Weil Sie Whisky oder Gin verlangt haben.«

Der Herr entpuppte sich als ein Außenbeamter. Er schrieb die Namen des Herrn und der Frau Field in sein Taschenbuch und bedeutete ihnen, daß sie am nächsten Tage würden vor dem Richter erscheinen müssen.

Das Ehepaar eilte verlegen und beschämt nach seinem Gasthofe zurück und verbrachte hier den Tag und die Nacht in gedrücktester Stimmung. Hatte Frau Titbury den Gedanken gehabt, jenes Wirthshaus zu betreten, so fiel Herrn Titbury der nicht minder beklagenswerthe zur Last, einen Grog einem Glase Ale oder Porter vorgezogen zu haben. Welcher Geldstrafe würden sie nun verfallen! Das gab Streit und gegenseitige Vorwürfe bis zum nächsten Tage.

Der Richter, ein gewisser R. T. Ordak, war der unangenehmste, mürrischste und reizbarste Mann, den man sich nur denken kann. Als die »Uebelthäter« am nächsten Vormittage vor ihm in der Amtsstube erschienen, achtete er gar nicht auf die höfliche Begrüßung, womit sie eintraten, sondern stellte nur kurze, barsche Fragen an die beiden Leute. Ihr Name? . . . Herr und Frau Field . . . Ihr Wohnort? . . . Sie gaben aufs Gerathewohl Harrisburg in Pennsylvanien an. Beruf? . . . Rentiers. Da verurtheilte er sie ohne weitere Verhandlung wegen Verletzung der im Staate Maine bezüglich der alkoholischen Getränke giltigen Vorschriften zu hundert Dollars Buße.

Das war denn doch zu stark! So sehr er sich sonst zu beherrschen wußte, und trotz der Bemühungen seiner Gattin, ihn zu beruhigen, konnte Herr Titbury seinen Ingrimm jetzt doch nicht bemeistern. Er wurde heftig, bedrohte den Richter R. T. Ordak, und der Richter R. T. Ordak verdoppelte die Buße – noch einmal hundert Dollars wegen Mißachtung des Gerichts.

Diese »Zugabe« machte Titbury noch wüthender. Zweihundert Dollars über die Kosten, die schon entstanden waren, um bis zum äußersten Ende dieses verwünschten Staates Maine zu gelangen! Ganz außer sich, ging dem Uebelthäter alle Klugheit soweit verloren, daß er sogar den Vortheil, den sein Incognito ihm bot, opferte.

Mit verschränkten Armen, das Gesicht purpurroth und Frau Titbury mit ungewohnter Heftigkeit zurückstoßend, beugte er sich über den Schreibtisch des Richters und rief:

»Wissen Sie denn, mit wem Sie es zu thun haben? . . .«

»Mit einem Ungeschliffenen, den ich hiermit zu dreihundert Dollars Strafe verurtheile, weil er bei seinem unpassenden Benehmen verharrt,« erwiderte R. T. Ordak, dem jetzt auch sozusagen die Galle überlief.

»Dreihundert Dollars!« kreischte Frau Titbury auf und sank halb ohnmächtig auf eine Bank nieder.

»Jawohl,« bestätigte der Richter mit Betonung jeder Silbe, »drei . . . hundert . . . Dollars . . . Strafe für Herrn Field aus Harrisburg in Pennsylvanien!«

»Nun gut,« schrie Titbury, indem er mit der Faust auf den Tisch hämmerte, »so hören Sie denn, daß ich gar nicht Field aus Harrisburg in Pennsylvanien bin!«

»So? . . . Wer sind Sie denn sonst?«

»Rentier Titbury aus Chicago in Illinois . . .«

»Aha, also einer, der sich erlaubt, unter falschem Namen umherzureisen!« fiel der Richter ein, als ob er sagen wollte: Also noch ein Vergehen zu den übrigen!

»Ja . . . Rentier Titbury aus Chicago, der dritte Partner im Match Hypperbone, der zukünftige Erbe eines ungeheuren Vermögens!«

Diese Erklärung schien auf R. T. Ordak gar keine Wirkung auszuüben. Der Beamte, der ebenso unparteiisch wie schnell fertig mit seinem Urtheil war, machte mit diesem dritten Partner nicht mehr Umstände wie mit jedem beliebigen Hafenarbeiter.

Mit pfeifender Stimme und als ob jedes Wort ihm ein besonderes Vergnügen bereitete, erklärte er:

»So wird also Herr Titbury aus Chicago die dreihundert Dollars Strafe erlegen; außerdem aber verurtheile ich ihn wegen Beilegung eines falschen Namens an Gerichtsstelle noch zu achttägiger Haft.«

Das schlug dem Faß den Boden aus, und jetzt sank Herr Titbury, seiner Sinne nicht mehr mächtig, neben Frau Titbury auf der Bank zusammen.

Acht Tage Haft, und in fünf Tagen sollte die erwartete Depesche eintreffen – am 19. sollte er wieder abreisen, um sich vielleicht nach dem andern Ende der Vereinigten Staaten zu begeben. War er dann am bestimmten Tage nicht an Ort und Stelle, so bedeutete das den Ausschluß aus der angefangenen Partie . . .

Es liegt auf der Hand, daß das für Titbury ein weit ernsteres Ding war, als wenn er nach dem zweiundfünfzigsten Felde, dem Staate Missouri und dort in das Gefängniß von Saint-Louis versetzt worden wäre. Hier hätte ihm wenigstens die Möglichkeit gewinkt, durch einen seiner Partner wieder befreit zu werden, im Gefängniß von Calais aber durch das Urtheil des Richters R. T. Ordak eingesperrt, mußte er seine Strafe jedenfalls bis zum Ende absitzen.

 


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