Jules Verne
Das Testament eines Excentrischen. Erster Band
Jules Verne

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VII. Der Erste reist ab

Am folgenden Tage zeigte der große Bahnhof von Chicago ein Bild ganz besondrer Belebtheit. Was die Ursache derselben war? . . . Offenbar die Anwesenheit eines Reisenden in Touristentracht mit seinen Malgeräthschaften auf dem Rücken und begleitet von einem jungen Neger, der eine leichte Reisetasche und über die Schultern gehängt einen Rucksack trug. Der junge Mann schickte sich an, den Achtuhr-Vormittagszug zu benutzen.

Der Bundesrepublik fehlt es nicht an Bahnlinien; diese durchziehen ihr Gebiet nach allen Richtungen. Der Buchwerth aller Eisenbahnen der Vereinigten Staaten übersteigt vierundvierzig Milliarden Mark, und ihr Betrieb erfordert ein Personal von siebenhunderttausend Beamten und Angestellten. In Chicago allein verkehren täglich dreihunderttausend Reisende und im Laufe eines Jahres kommen daselbst zehntausend Tonnen Zeitungen und Briefe zur Beförderung.

Es liegt also auf der Hand, daß jeder der sieben Partner, wohin ihn die Laune der Würfel auch verschlug, stets schnelle Gelegenheit fand, sich dahin zu begeben. Neben den vielverzweigten Eisenbahnen gab es dazu ja auch noch größere und kleinere Strom- und Seedampfer und Fahrgelegenheiten auf Canälen und Flüssen. Grade Chicago liegt sehr bequem, dahin zu gelangen oder von da wegzureisen.

Max Real, der von seinem Ausfluge am vergangenen Abend heimgekehrt war, verbarg sich noch unter der das Auditorium füllenden Menschenmenge, als die Zahlen vier und vier von Meister Tornbrock verkündigt wurden. Niemand wußte, daß er anwesend war, keiner hatte von seiner Rückkehr Kenntniß. Bei der Aufrufung seines Namens entstand denn auch ein beängstigendes Stillschweigen, das aber bald von der schmetternden Stimme des Commodore Urrican unterbrochen wurde.

»Nicht da!« rief er von seinem Platze aus.

»Hier!« erschallte es als Antwort.

Vom Beifallsjubel der Menge begrüßt, hatte Max Real die Bühne erstiegen.

»Sind Sie bereit, abzureisen?« fragte der Vorsitzende des Excentric Club, der sich dem Künstler näherte.

»Bereit abzureisen und . . . zu gewinnen!« antwortete der junge Maler lächelnd.

Der Commodore Urrican hätte ihn am liebsten wie ein Papuacannibale mit Haut und Haar verschlungen.

Der liebenswürdige Harris T. Kymbale trat freundlich an ihn heran.

»Glückliche Reise, Kamerad!« sagte er ganz aufrichtig.

»Die wünsche ich auch Ihnen, wenn der Tag kommt, wo Sie Ihr Bündel zu schnüren haben werden!« erwiderte Max Real.

Damit wechselten beide noch einen herzlichen Händedruck.

Weder Hodge Urrican noch Tom Crabbe, der eine wüthend, der andre stumpfsinnig wie immer, hielt es für angezeigt, sich den Glückwünschen des Journalisten anzuschließen.

Das Ehepaar Titbury vereinigte sich nur in dem einen Wunsche, daß sich alle ungünstigen Wechselfälle des Spiels auf das Haupt des ersten Abreisenden niedersenken möchten, daß er in den Schacht von Nevada gerathen, sich in das Gefängniß von Missouri verirren möchte, und sollte er auch gleich bis ans Ende seines Lebens darin sitzen bleiben müssen.

An Lissy Wag vorüberkommend, verbeugte sich Max Real respectvoll.

»Mein Fräulein,« sagte er, »Sie werden mir gestatten, Ihnen recht viel Glück zu wünschen . . .«

»Damit sprechen Sie aber gegen Ihr eignes Interesse, mein Herr,« erwiderte das junge Mädchen etwas verwundert.

»Das thut nichts, mein Fräulein, seien Sie überzeugt, daß ich Ihnen den besten Erfolg wünsche!«

»Ich danke Ihnen, Herr Real!« antwortete Lissy Wag.

»Ein recht netter Mann, dieser Max Real,« flüsterte da Jovita Foley ihrer Freundin zu, »und noch hübscher von ihm, wenn er, seinem Wunsche entsprechend, Dich wirklich zuerst ans Ziel kommen läßt!«

Nach Schluß dieser Vorgänge entleerte sich allmählich der Saal des Auditoriums, und das Ergebniß des ersten Wurfs verbreitete sich sofort durch die ganze Stadt.

Der »Match Hypperbone« – wie man allgemein zu sagen pflegte – hatte seinen Anfang genommen.

Im Laufe des Abends vollendete Max Real seine Reisevorbereitungen, die ihm keine Schwierigkeiten machten, und am folgenden Morgen umarmte er zum Abschied seine Mutter, unter dem Versprechen, ihr möglichst oft zu schreiben. Dann verließ er die Nr. 3997 der Halsted Street mit dem getreuen Tommy, und zehn Minuten vor Abgang des gewählten Zuges trafen beide zu Fuß auf dem Bahnhofe ein.

Daß das Schienennetz um die Stadt Chicago nach jeder Richtung hin ausstrahlt, wußte Max Real schon längst; er konnte also zwischen den zwei oder drei Bahnlinien, die von hier nach Kansas führen, leicht die ihm passendste wählen. Kansas grenzt zwar nicht an Illinois, wird von diesem aber nur durch den Staat Missouri geschieden. Die von dem jungen Maler zurückzulegende Strecke betrug auch nur fünfhundertfünfzig bis sechshundert (amerikanische) Meilen, je nachdem er die eine oder die andre Linie vorzog.

»Ich kenne Kansas noch nicht,« sagte er für sich, »und das ist ja eine Gelegenheit, die ›amerikanische Wüste‹, wie man das Land früher nannte, in Augenschein zu nehmen. Unter den dortigen Ansiedlern befinden sich obendrein nicht wenige französische Canadier . . . ich werde da also unter Landsleuten sein, denn es ist mir ja nicht verwehrt, den Weg nach dem Orte, wo ich bleiben soll, nach Belieben zu wählen.«

Nein, das war nicht verboten. Auch der darum befragte Meister Tornbrock hatte sich in diesem Sinne ausgesprochen. William J. Hypperbone's hinterlassene Vorschrift bestimmte nichts weiter, als daß er sich nach Fort Riley in Kansas zu begeben habe, und daß er dort am vierzehnten Tage nach der Abreise eingetroffen sein müsse, um durch Telegramm die Augenzahl des zweiten, ihn betreffenden Wurfs, des achten in der Spielpartie, mitgetheilt zu erhalten. Unter den fünfzig Staaten, die auf der Karte in der uns bekannten Weise geordnet waren, gab es nicht mehr als drei, wohin und nach dem darin bestimmten Orte die Partner sich so schnell als möglich zu begeben hatten, da sie dort möglicherweise schon durch die nächste Entscheidung der Würfel abgelöst werden konnten, das waren Louisiana, das neunzehnte Kartenfeld mit dem Gasthause, Nevada, das einunddreißigste Feld mit dem Schachte, und Missouri, das zweiundfünfzigste Feld mit dem Gefängnisse.

Max Real konnte nun gar nicht besser thun, als seinem Bestimmungsorte auf dem »Schülerwege«, wie man in Frankreich sagt, zuzustreben. Ein Hitzkopf, wie der Commodore Urrican, oder ein Geizhals, wie Hermann Titbury, würde freilich nicht so viel Geduld und Geld daran setzen, gemächlich zu reisen. Solche Leute begäben sich mit Volldampf möglichst schnell und ohne unterwegs auch etwas sehen zu wollen nach ihrem Reiseziele.

Max Real hatte sich folgenden Weg ausgewählt: Statt unmittelbar nach Kansas City, schräg von Osten nach Westen durch Illinois und Missouri zu fahren, wollte er den Grand Trunk benützen, den Schienenweg, der bei einer Länge von dreitausendsiebenhundertsechsundachtzig Meilen von New York nach San Francisco – »von Ocean zu Ocean«, sagt man in Amerika – hinführt. Eine weitere Fahrt von etwa fünfhundert Meilen sollte ihn nach Omaha an der Grenze von Nebraska bringen, und von da wollte er sich auf einem der Dampfer, die den Missouri hinabfahren, nach der Hauptstadt von Kansas begeben. Endlich würde er, als Tourist und als reisender Künstler, am bestimmten Tage in Fort Riley eintreffen.

Als Max Real den Bahnhof betrat, fand er da viele Neugierige versammelt. Ehe sie große Summen an die von heute ab geltende Partie wagten, wollten die Wettenliebhaber mit eignen Augen den Ersten sehen, der sich auf die Reise machte. Obwohl bisher noch keine Wetteinsätze, die nach größerer oder geringerer Wahrscheinlichkeit des Erfolgs zu bemessen waren, angenommen wurden, wollte man sich den jungen Maler bei seiner Abreise doch wenigstens angesehen haben. Flößte sein Auftreten Vertrauen ein? . . . War er in »guter Form«? . . . Konnte man ihn als Favorit ansehen, obwohl die Möglichkeit, daß er mehrfache Einsätze zahlen müßte, die Befürchtung erweckte, ihn unterwegs aufgehalten zu sehen?

Max Real hatte, wir müssen es gestehen, nicht das Glück – doch was kümmerte er sich darum! – seinen Mitbürgern zu gefallen, schon weil er alle seine Malgeräthschaften bei sich trug. Jonathan, ein praktischer Mann, meinte, es handle sich hier nicht darum, Landschaften zu sehen und Bilder zu malen, sondern als Partner, nicht aber als Künstler zu reisen. Seiner Ansicht nach hatte die von William J. Hypperbone erklügelte Partie die Bedeutung einer nationalen Frage, die es verdiente, ernst genommen zu werden. Ging einer der »Sieben« nicht mit allem Eifer, mit aller ihm zu Gebote stehenden Kraft daran, so war das eine Nichtachtung der großen Mehrzahl der Bürger des freien Amerika. Die Folge dieser Betrachtungen war denn auch, daß keiner der enttäuschten Anwesenden sich entschloß, denselben Zug zu besteigen, um Max Real wenigstens bis zu dessen erstem Ziele zu begleiten und ihm sozusagen als Schrittmacher zu dienen. Die Bahnwagen füllten sich nur mit Leuten, die aus geschäftlichen Gründen von Chicago weggerufen wurden.

Max Real konnte es sich also ganz nach Belieben auf einer der Bänke bequem machen, und Tommy konnte noch neben ihm Platz nehmen, denn die Zeit war vorbei, wo die Weißen die Anwesenheit eines Farbigen in ihrem Wagenabtheil nicht geduldet hätten.

Endlich ertönte die Pfeife, der Zug setzte sich in Bewegung und die mächtige Locomotive athmete fauchend durch ihre oben erweiterte Esse, aus der mit Dampf vermischte Funkengarben emporsprühten.

Unter der auf dem Bahnsteig zurückgebliebenen Menge aber hätte man den Commodore Urrican bemerken können, der dem ersten Abreisenden drohende Blicke nachschleuderte.

Was die Witterung betraf, ließ sich die Reise schlecht an. Man darf nicht vergessen, daß in Amerika unter dieser Breite – obwohl sie der des nördlichen Spanien entspricht – der Winter im April noch nicht zu Ende ist. Ueber den weiten, von keinem Berge unterbrochenen Landstrecken hält er bis zu dieser Zeit des Jahres an, und die aus den Polargebieten heranziehenden atmosphärischen Strömungen machen sich da oft noch recht empfindlich bemerkbar. Weicht später die Kälte auch vor den Strahlen der Maisonne, so toben doch Stürme noch häufig genug. Auch heute verhüllten niedrig stehende Wolken, aus denen der Regen bald herunterprasselte, den Horizont und zogen ihm recht enge Grenzen. Das war recht verdrießlich für einen Maler, der Lichteffecte und sonnige Landschaften zu sehen wünscht. Immerhin war es rathsamer, die Vereinigten Staaten im zeitigen Frühjahr zu durchstreifen, denn später herrscht dort oft eine unerträgliche Hitze. Es war ja auch zu erwarten, daß das schlechte Wetter nicht über den laufenden Monat hinaus anhalten werde, und schon verkündeten einzelne Anzeichen eine bevorstehende klimatische Aenderung.

Hier noch ein Wort über den jungen Neger, der schon seit zwei Jahren bei Max Real in Diensten stand und diesen auf seiner, an Ueberraschungen jedenfalls reichen Fahrt begleiten sollte.

Wie der Leser weiß, war es ein siebzehnjähriger, also frei geborener Jüngling, da die Emancipation der Sclaven bereits vor mehr als dreißig Jahren bei Beendigung des großen Bürgerkrieges, zur Ehre Amerikas und der Menschlichkeit, erfolgt war.

Der Vater und die Mutter Tommy's lebten zur Zeit der Sclaverei als Eingeborne des Staates Kansas, wo der Kampf zwischen Abolitionisten und virginischen Farmern besonders heftig getobt hatte. Tommy's Eltern war – es verdient das hervorgehoben zu werden – kein so hartes Los beschieden gewesen, sie hatten ein besseres Dasein gehabt, als viele ihresgleichen. Unter einem guten Herrn, einem mitfühlenden und gerechten Manne stehend, hatten sie sich fast wie zur Familie gehörig betrachtet. Als dann das Gesetz, das die Sclaverei aufhob, erschien, wollten sie ihren Herrn ebensowenig verlassen, wie diesem der Gedanke kam, sich von ihnen zu trennen.

Tommy war also von Geburt an frei, und nach dem Tode seiner Eltern und ihres Herrn fühlte er sich – war es ein Einfluß von Atavismus oder der Erinnerung an die glücklichen Tage der Kindheit – sehr bedrückt, als er plötzlich dem Leben und dessen Bedürfnissen ganz allein gegenüberstand. Vielleicht begriff sein junges Gehirn noch nicht die Vortheile, die der große Act der Emancipation ihm sicherte, wenn er nur auf seine eigne Kraft, sich durchs Leben zu schlagen, angewiesen war, wenn er an den nächsten Tag denken mußte, er, der sich niemals um die Zukunft bekümmert hatte und für den die Gegenwart alles war. Es giebt thatsächlich solche arme Farbige noch weit mehr, als man wohl allgemein glaubt, die es – sie sind eben Kinder geblieben – beklagen, daß sie freie Diener geworden sind, nachdem sie früher Sclaven gewesen waren.

Zum Glück für Tommy war dieser unserm Max Real empfohlen worden. Er war intelligent, offenherzig, führte sich gut und schenkte denen treue Zuneigung, die ihm nur einige Liebe bewiesen. So schloß er sich an den jungen Künstler an, bei dem er auch eine recht gesicherte Stellung finden sollte.

Eins nur beklagte er, ohne daraus ein Hehl zu machen, daß er seinem Herrn nicht ganz und gar, mit dem Leibe ebenso wie mit der Seele gehörte.

»Doch warum?« fragte Max Real.

»Weil ich, wenn Sie mein Herr so wie früher einer wären, wenn Sie mich gekauft hätten, ganz Ihnen gehörte.«

»Welchen Vortheil hättest Du davon, mein Junge?«

»Ei, doch den, daß Sie mich nicht kurzer Hand wegschicken könnten, wie einen Diener, mit dem man nicht mehr zufrieden ist.«

»Aber, Tommy, wer spricht denn davon, Dich wegzuschicken? . . . Uebrigens, wenn Du mein Sclave wärst, könnt' ich Dich ja verkaufen . . .«

»O, mein lieber Herr, das wäre doch ein Unterschied und jedenfalls sichrer . . .«

»In keiner Weise, Tommy.«

»Doch . . . doch . . . und dann stünde es auch mir nicht frei, zu gehen!«

»Na, sei nur ruhig; ich bin ja mit Dir zufrieden. Ich werde Dich schon noch kaufen.«

»Und von wem . . . ich gehöre doch niemand? . . .«

»Von Dir . . . von Dir selbst . . . wenn ich einmal reich bin . . . und so theuer, wie Du dann willst!«

Tommy nickte wie zustimmend mit dem Kopfe, seine Augen leuchteten glänzender auf und er lächelte, wobei eine Doppelreihe blendend weißer Zähne zum Vorschein kam, so glücklich machte ihn der Gedanke, sich noch einmal an seinen Herrn zu verkaufen, um diesen nur noch mehr zu lieben.

Selbstverständlich war der junge Farbige hoch erfreut, ihn auf dieser Reise durch die Vereinigten Staaten begleiten zu dürfen. Es hätte ihm schweren Kummer bereitet, jenen allein abreisen zu sehen, auch wenn es sich nur um eine Trennung auf wenige Tage gehandelt hätte. Wer konnte aber wissen, ob die unter so seltsamen Umständen zu Stande gekommene Partie, wenn kein merkwürdiger Zufall ihre schnelle Beendigung herbeiführte, nicht Wochen lang, vielleicht viele Monate lang dauerte, ehe einer den dreiundsechzigsten Staat erreichte.

Mochte die Reise nun kurz oder lang werden, jedenfalls war der erste Tag zwischen den von Dunst und Regen erblindeten Fenstern des Waggons recht häßlich. Man fuhr durchs Land dahin, ohne etwas davon zu sehen. Alles – Himmel, Felder, Städte, Flecken, Häuser, Bahnhöfe – verlor sich in dem von den Malern verabscheuten grauen Tone. Nur schattenhaft trat das Landschaftsbild von Illinois aus den auf der Erde lagernden Dunstmassen hervor. Man sah nur die hohen Schornsteine der Mehlmühlen von Napiersville und die Dächer der Uhrenfabriken von Aurora – doch so gut wie nichts von Oswego, Yorkville, Sandwich, Mendoza, von Princeton oder Rock Island und seiner prächtigen Brücke über den Missouri, dessen geschäftiges Wasser die »Insel des Felsens« umrauscht, nichts von dem zu einem Arsenal verwandelten Staatsbesitzthum, wo Hunderte von Kanonen mit den Mündungen nach einem grünen Hag und blüthenprangenden Büschen hinausstarren.

Max Real war recht enttäuscht. Flog er so unter Regenschauern dahin, so konnte er keine später verwendbaren Eindrücke von der Landschaft in sich aufnehmen. Er hätte ebenso gut den ganzen Tag schlafen können – was Tommy übrigens gewissenhaft that.

Gegen Abend hörte der Regen auf, die Wolken zogen hoch am Himmel hin. Die Sonne verschwand hinter dem rothgolden leuchtenden Horizonte. Das war ein Hochgenuß für Künstleraugen. Fast sofort brach dann aber die Dämmerung herein und verdunkelte die Gegend, durch die die geodätische Grenze zwischen Iowa und Illinois verläuft. Trotz einer klaren Nacht bot auch die Fahrt durch den Nachbarstaat Max Real keine Befriedigung, so daß ihm bald die Augen zufielen, die er erst mit dem nächsten Frühroth wieder aufschlug.

Vielleicht hatte er aber doch Ursache zu bedauern, am Tage vorher bei Rock Island nicht ausgestiegen zu sein.

»Ja . . . das war unrecht . . . sehr unrecht,« murmelte er beim Erwachen für sich hin. »Die Zeit ist mir ja nicht so knapp zugemessen, und jetzt bin ich kaum vierundzwanzig Stunden von zu Hause weg. Den Tag, den ich für Omaha bestimmt habe, hätte ich Rock Island widmen sollen. Von da nach Davenport, der Stadt am Ufer des Mississippi, hat man nur den mächtigen Strom zu überschreiten, und dabei hätte ich ihn endlich gesehen, den berühmten ›Vater der Gewässer‹, dessen ganzen Verlauf ich vielleicht zu befahren berufen bin, wenn der Zufall mich nach den Gebieten in der Mitte der Union verschlägt!«

Für solche Betrachtungen war es jetzt freilich zu spät. Der Zug flog schon mit vollem Dampf durch die Ebenen von Iowa. Max Real konnte nichts sehen von Iowa City im gleichnamigen Thale, das sechzehn Jahre lang die Hauptstadt des Staates bildete, noch von Des Moines, der wirklichen Hauptstadt, an deren Stelle zuerst ein altes, an der Vereinigung des Flusses dieses Namens mit dem Racoon errichtetes Fort stand, und die jetzt eine, von einem dichten Eisenbahnnetz umschlossene Stadt von fünfzigtausend Einwohnern geworden ist.

Die Sonne stieg endlich herauf, als der Zug bei Council Bluff, nahe der Grenze des Staates, anhielt, nur drei Meilen von Omaha, einer bedeutenden Stadt von Nebraska, dessen natürliche Grenze der Missouri bildet.

Hier erhob sich einst das »Riff des Rathes«, auf dem sich die Indianerstämme des Fernen Westens versammelten. Von hier gingen auch die Kriegszüge und Handelsexpeditionen aus, die allmählich nähere Kenntniß über die von der vielfachen Verzweigung der Felsengebirge bedeckten Gebiete und über Neumexiko verbreiten sollten.

Max Real sollte diese erste Station der Union Pacificbahn nicht »verpassen«, wie er am Tage vorher schon so viele andre Städte »verpaßt« hatte.

»Aussteigen!« sagte er laut.

»Sind wir denn schon angekommen?« fragte Tommy, mühsam die Augen öffnend.

»Man ist allemal angekommen, wenn man sich irgendwo befindet.«

Nach dieser nicht mißzuverstehenden Antwort sprangen beide, der eine den Rucksack auf dem Rücken, der andre eine Reisetasche in der Hand, auf den Bahnsteig hinaus.

Das nächste Dampfboot sollte vom Quai von Omaha erst um zehn Uhr vormittags abgehen. Jetzt war es erst um sechs, es fehlte demnach nicht an Zeit, Council Bluff am linken Ufer des Missouri zu besuchen. Das geschah denn auch nach einem schnell eingenommenen Frühstück. Dann wanderten der zukünftige Herr und der zukünftige Sclave zwischen den beiden Bahnstrecken hin, die nach zwei über den Strom führenden Brücken verlaufen und so zwei Verbindungswege mit der Hauptstadt von Nebraska bilden.

Der Himmel hatte sich aufgeheitert. Die Sonne sandte schon frühzeitig ihre Strahlenbündel durch die Risse der Wolken, die ein leichter Ostwind über die Ebene trieb. Wie schön war es, nach vierundzwanzigstündiger Einsperrung im Bahnwagen so freien, elastischen Schrittes dahinzuwandern!

Max Real konnte freilich nicht daran denken, eine Skizze der vor ihm liegenden Landschaft aufzunehmen. Vor seinen Augen dehnte sich ein langes, dürres Ufergelände hin, das für den Pinsel eines Malers ganz und gar nicht verlockend aussah. Der junge Mann ging auch graden Wegs auf den Missouri zu, auf den großen Nebenstrom des Mississippi, der ehemals Misé Souri, Peti Kanoui, d. h. in der Indianersprache der »Schlammige Fluß«, hieß und dessen Lauf von der Quelle an hier schon dreitausend Meilen (etwa 5000 Kilometer) lang war.

Max Real hatte einen Gedanken, der ohne Zweifel weder dem Commodore Urrican noch dem Traineur Tom Crabbe's, ja nicht einmal Harris T. Kymbale gekommen wäre: er wollte sich so viel wie möglich der Neugier des Publicums entziehen. Deshalb hatte er auch schon in Chicago über den von ihm einzuschlagenden Weg gegen niemand gesprochen. Die Stadt Omaha interessierte sich ja nicht weniger als die übrigen Städte für diese Partie des Edeln Vereinigte Staatenspiels, und hätte sie gewußt, daß der zuerst Abgereiste diesen Morgen in ihren Mauern weilen sollte, so wäre einer so wichtigen Persönlichkeit gewiß ein ehrenvoller Empfang bereitet worden.

Omaha ist eine ziemlich bedeutende Stadt und zählt, einen Vorort im Süden eingerechnet, reichlich hundertfünfzigtausend Einwohner. Es war der Boom – von Reclus treffend die Periode der Reclame, der Speculation, der Agiotage und gleichzeitig die emsiger Arbeit genannt – der sie, wie manche andre Stadt, mit allem Zubehör von Industrie und Civilisation aus einer Wüste aufwachsen ließ. Wie hätten die Omahier als geborene Spieler der Versuchung widerstehen können, auf den oder jenen Partner zu wetten, den der blinde Zufall durch die Gebiete der Union sendete? Und hier war einer, der sich nicht herabließ, ihnen seine Anwesenheit zu verrathen! Offenbar that Max Real nichts, sich die Gunst seiner Mitbürger zu erwerben. Er begnügte sich, in einem bescheidenen Hotel zu speisen, ohne seinen Namen und Stand bekanntzugeben. Es war ja möglich, daß der Zufall ihn noch mehrmals nach Nebraska oder nach den Staaten zurückführte, wohin der westliche Theil des Grand Trunk verlief. In Omaha nimmt der lange Schienenweg seinen Anfang, der zwischen dieser Stadt und Ogden den Namen Pacific Union, und zwischen Ogden und San Francisco den Namen Southern Pacific führt. Unter den Linien, die Omaha mit New York verbinden, hat der Reisende nur die Qual der Wahl.

Max Real spazierte also unerkannt durch die hervorragendsten Quartiere dieser Stadt, deren Straßen, ganz wie die des benachbarten Council Bluff, an ein Schachbrett erinnern, so regelmäßig und rechtwinklig liegen die von ihnen gebildeten vierundfünfzig Felder aneinandergereiht.

Um zehn Uhr kehrte der junge Maler mit Tommy durch den nördlichen Theil der Stadt nach dem Missouri zurück und ging am Quai bis zur Landungsstelle des Dampfers hinunter.

Der »Dean Richmond« lag zur Abfahrt bereit Seine Kessel schnauften wie ein Betrunkener, sein Balancier wartete nur auf den Befehl, sich über dem Spardeck in Bewegung zu setzen. Die Zeit eines Tages sollte für den »Dean Richmond« ausreichen, die hundertfünfzig Meilen (250 Kilometer) bis Kansas City zurückzulegen.

Max Real und Tommy nahmen ihre Plätze auf dem Oberdeck des Hintertheils ein.

Hätten die Passagiere gewußt, daß hier ein Teilnehmer an der berühmten Partie mit ihnen auf den Wogen des Missouri bis Kansas City fahren wollte, das hätte einen begeisterten Empfang gegeben! Max Real bewahrte aber auch hier das strengste Incognito, und Tommy hätte es nicht gewagt, ihn zu verrathen.

Um zehn Uhr zehn Minuten wurden die Sorrtaue losgeworfen, die mächtigen Schaufeln der Räder peitschten das Wasser und der Dampfer glitt in der Strömung des Flusses hin, worauf zahlreiche Bimssteinstücke schwammen, die an den Quellen in den Schluchten der Felsengebirge losgerissen worden waren.

Längs der flachen, grünenden Ebenen von Kansas bieten die Ufer des Missouri nirgends den malerischen Anblick, den ihnen stromaufwärts vielfache Anhäufungen von Felsen verleihen. Hier wird der gelbliche Strom nicht mehr von Katarakten, Barren oder Schleusen unterbrochen, auch nicht durch Wirbel und Stromschnellen gestört. Schon angeschwellt durch die Wassermassen vieler, aus fernen Gegenden Canadas kommender Zuflüsse, gewinnt er hier durch zahlreiche Nebenflüsse, deren wichtigster der Yellowstone River ist, bedeutend an Breite.

Der »Dean Richmond« glitt hurtig inmitten der Flottille von kleineren Dampfern und Segelfahrzeugen hin, die die untere Stromstrecke beleben, denn die obere, stromaufwärts liegende Strecke ist kaum schiffbar, da sie im Winter vom Eise verschlossen und in der Hitze des Sommers nahezu trocken gelegt wird.

Das Schiff gelangte zunächst nach Platte City, an dem Flusse, der dem Staate einen seiner Namen giebt, denn er heißt auch der Nebraska. Offenbar richtiger ist aber der Name Platte, denn er windet sich zwischen flachen, grasbestandenen und fast waldlosen Gebieten hin und hat auch nur geringe Tiefe. Fünfundzwanzig Meilen weiter hin lief der Dampfer Nebraska City an, den Platz, der den eigentlichen Hafen von Lincoln, der Hauptstadt des Staates, bildet, obgleich diese noch um fünfundzwanzig Meilen westlich von dem Strome liegt.

Im Laufe des Nachmittags konnte Max Real in der Höhe von Atchinson einige Skizzen aufs Papier werfen und auch einen hübschen Punkt in der Nähe von Leavenworth, wo der Missouri mit einer der schönsten Brücken seines ganzen Verlaufs überspannt ist. Hier war es, wo 1827 ein Fort zum Schutze des Landes gegen wilde Indianerstämme errichtet wurde.

Kurz vor Mitternacht kamen der junge Maler und Tommy in Kansas City an. Sie hatten nun noch zwölf Tage übrig, das Fort Riley zu erreichen, wohin sie sich gemäß der Bestimmung William J. Hypperbone's zu begeben hatten.

Zunächst suchte Max Real ein gutes Hotel auf, wo er nach vierundzwanzigstündiger Eisenbahn- und vierzehnstündiger Dampferfahrt eine ruhige Nacht verbrachte.

Der folgende Tag wurde dem Besuche der Stadt gewidmet, eigentlich der zwei Städte, denn es giebt zwei Kansas am rechten und am linken Ufer des Missouri, der hier eine enge Schleife bildet. Durch den Kansas River getrennt, gehört aber die eine Stadt zum Staate Kansas, die andre zum Staate Missouri. Die zweite ist bei weitem bedeutender, sie hat hundertdreißigtausend Einwohner, während die erstere deren nur achtunddreißigtausend zählt. Lägen beide in dem nämlichen Staate, so würden sie thatsächlich nur ein einziges Gemeinwesen bilden.

Uebrigens lag es nicht in Max Real's Absicht, weder in dem Kansas von Kansas, noch in dem Kansas von Missouri länger als vierundzwanzig Stunden zu verweilen. Die beiden Städte gleichen sich wie zwei Damenbretter, und wer die eine gesehen hat, hat auch die andre gesehen. Am Morgen des 4. Mai brach Max Real denn auch auf, um sich nach Fort Riley zu begeben; jetzt gedachte er aber als Künstler zu reisen. Wohl benutzte er wiederum die Eisenbahn, war aber entschlossen, an allen Stationen, die ihm gefielen, auszusteigen und die Umgebung zu durchstreifen, wovon er für seine Mappe manche Bereicherung erhoffte. Wenn er auch als erster abgereist war, brauchte er ja nicht auch als erster an dem bestimmten Ziele einzutreffen.

Hier dehnte sich nicht mehr die einstmalige »amerikanische Wüste« vor seinen Augen aus. Die weite Ebene erhebt sich nach Westen zu allmählich bis zur Höhe von fünfhundert Toisen (1 Toise gleich 1.95 Meter) an der Grenze von Colorado. Ihre seichten Bodenwellen sind von tiefen, bewaldeten Gründen unterbrochen und zuweilen durch unübersehbare Steppen getrennt, worauf einst die Kansas-, die Lochnasen-, die Oteasindianer und andre mit dem Sammelnamen Rothhäute bezeichnete Stämme hausten. Die Ursache der vollständigen Veränderung der hiesigen Gegend war aber das Verschwinden der Cypressenhaine und Tannenwaldungen gewesen, an deren Stelle auf den Savannen Anpflanzungen von Millionen von Obstbäumen traten, und die gleichzeitige Errichtung von Baumschulen zur Instandhaltung der Obst- und Weingärten. Ungeheure Flächen, die der Cultur des damals in Aufnahme gekommenen Sorgho zum Zwecke der Zuckergewinnung dienten, wechselten mit Gerste-, Roggen-, Buchweizen- und Weizenfeldern, die Kansas zu einem der reichsten Gebiete der Union machen.

Ein üppiger Flor von Blumen der verschiedensten Arten bekränzte die Ufer des Kansas, darunter vor allem zahllose Gruppen von Beifuß mit seinen wolleähnlichen Blättern, von dem hier mehr kraut- und dort mehr strauchartige Exemplare die Luft mit erfrischendem Terpentinduft sättigten.

Während er so von Station zu Station ging, vier bis fünf Meilen weit ins Land hinaus wanderte und zahlreiche Bilderskizzen zeichnete, gebrauchte Max Real eine ganze Woche, ehe er nach Topeka kam, wo er am Nachmittage des 13. Mai eintraf.

Topeka ist die Hauptstadt von Kansas, die ihren Namen von den wild wachsenden Kartoffeln hat, welche auf den Thalabhängen der Umgebung vielfach vorkommen. Die Stadt liegt am südlichen Ufer des Wasserlaufs und hat am andern Ufer noch eine dazu gerechnete Vorstadt.

Hier sollte einen halben Tag Rast gemacht werden, eine Rast, die Max Real und dem jungen Neger gleichzeitig nöthig war und die erst am nächsten Tage durch eine Besichtigung der Hauptstadt unterbrochen wurde. Ihre zweiunddreißigtausend Bewohner ahnten gar nicht, daß der berühmte Partner unter ihnen weilte, dessen Name schon auf allen Maueranschlägen prangte. Und doch erwartete man sozusagen schon, daß er hier durchkäme. Man sagte sich, daß er, um nach Fort Riley zu gelangen, keine andere Bahnlinie als die von Kansas nach Topeka benutzen könnte. Dennoch sollten sich die Leute in ihrer Erwartung getäuscht sehen, denn Max Real fuhr am Morgen des 14. weiter, ohne daß seine Anwesenheit auch nur einen Augenblick vermuthet worden wäre.

Fort Riley, an der Vereinigung des Smoky Hill und des Republicanflusses, liegt nur sechzig Meilen von hier. Max Real konnte da also bequem am heutigen Abend oder, wenn ihm der Einfall kam, auf dem Wege noch einmal einen kleinen Ausflug zu machen, doch am folgenden Tage eintreffen. Wirklich entschloß er sich, die Eisenbahn auf der Station Manhattan noch einmal zu verlassen. Es fehlte aber nicht viel, daß er hierdurch gleich im Anfange der Partie aufgehalten worden und des Rechtes der weitern Betheiligung daran verlustig gegangen wäre.

Der Künstler in ihm hatte eben den Sieg davongetragen über die Schachfigur, die der Zufall durch diese Gegend führte.

An der vorletzten Station, kaum drei bis vier Meilen vor Fort Riley abgestiegen, hatten sich Max Real und Tommy am Nachmittage nach dem linken Ufer des Kansas begeben. Da ein halber Tag zum Wege dahin und zum Rückwege bequem ausreichen mußte, auch wenn sie ihn zu Fuß zurücklegten, glaubten sie das ohne Bedenken unternehmen zu können.

Daß Max Real gleich am Ufer des Stromes Halt machte, hatte seine Ursache in der lieblichen Landschaft, die sich hier plötzlich seinen Blicken darbot. An einer scharfen Biegung des Flusses, wo Schatten und Licht um den Vorrang stritten, erhob sich einer der letzten Bäume eines alten Cypressenhains. An seinem Fuße lag eine alte, verlassene Hütte und dahinter dehnte sich eine weite Prairie mit vielen Blumen, vorzüglich mit Sonnenblumen, bis über Sehweite hinaus. Jenseits des Kansas zeigte sich ein Hintergrund von Grün mit tiefdunkeln Tönen, auf dem da und dort glänzendes Sonnenlicht spielte. Das Ganze erschien zu einem Bilde wie geschaffen.

»Welch herrliches Stückchen Erde!« sagte Max Real für sich. »Binnen zwei Stunden werde ich mit seiner Skizzierung fertig sein!«

Freilich war, wie wir sehen werden, er es, der dabei bald »fertig« geworden wäre.

Sein Skizzenbuch im Deckel des Farbenkastens eingeklemmt, saß der junge Maler am Uferabhange und arbeitete schon drei Viertelstunden, ohne seine Aufmerksamkeit etwas anderm zuzuwenden, als sich ein entferntes Getöse – ein quadrupedante sonitu Virgil's – in der Richtung nach Osten zu erhob. Man hätte glauben können, es rühre von einer gewaltigen Reitermasse her, die über die an das linke Stromufer grenzende Ebene galoppierte.

Obwohl Tommy sich eben noch dem bei ihm beliebten Halbschlummer am Fuße eines Baumes hingab, war er es doch zuerst, der über den seltsamen Lärm stutzte.

Während sein Herr noch nichts hörte, wenigstens nicht einmal den Kopf umwandte, erhob er sich und stieg am Ufer einige Schritte hinauf, um einen weitern Ausblick zu haben.

Das Geräusch verdoppelte sich und am Horizont wirbelte eine dichte Staubwolke auf, die eine ziemlich frische Brise nach Westen hin trieb.

Tommy eilte erschrocken zurück und auf seinen Herrn zu.

»Herr Real!« rief er.

Der in seine Arbeit vertiefte Maler schien gar nicht daran zu denken, eine Antwort zu geben.

»Herr Real!« wiederholte der Neger mit unruhiger Stimme, seinem Herrn die Hand auf die Schulter legend.

»Nun, was willst Du denn, Tommy?« fragte dieser, während er sich nicht stören ließ, mit der Pinselspitze ein wenig Terra di Siena und Scharlach zu mischen.

»Lieber Herr . . . hören Sie denn nichts?« rief Tommy ängstlich.

Es hätte einer freilich taub sein müssen, um das Trappeln der geräuschvollen Galoppade nicht zu hören. Max Real legte jetzt sofort die Palette ins Gras nieder, sprang empor und eilte selbst den Uferabhang hinauf.

Nur fünfhundert Schritt von ihm stürmte eine ungeheure Menge großer Thiere heran, die mächtige Staub- und Dampfwolken aufwirbelten . . . eine Art Lawine, die sich über die Ebene hinwälzte und aus der ein wüthendes Wiehern erschallte. In wenigen Augenblicken mußte diese Lawine das Stromufer erreichen. Nur nach Norden zu schien ein Entfliehen vor ihr möglich. Max Real raffte also seine Geräthe zusammen und eilte, Tommy schon vor ihm, in dieser Richtung hin.

Die Thierherde, die sich mit größter Schnelligkeit näherte, bestand aus mehreren Tausenden von Pferden und Mauleseln, die der Staat früher auf einem besondern Weidegebiete am Ufer des Missouri gezüchtet hat. Seitdem aber die Automobilen und die Fahrräder in Aufnahme gekommen sind, sind die »Hyppomobilen« – man verirrte sich gelegentlich wirklich zu diesem Worte – sich selbst überlassen worden und schweifen nun beliebig durch das Land. Durch irgend etwas erschreckt, mochte die Herde wohl schon stundenlang umhergejagt sein und, da nichts sie aufhalten konnte, die Felder und jungen Anpflanzungen zerstört haben. Stellte auch der Strom ihr kein unüberwindliches Hinderniß entgegen, so konnte niemand sagen, bis wohin die tollen Thiere noch galoppieren möchten.

Max Real und Tommy, die über Hals und Kopf davon liefen, erkannten, daß sie sehr bald eingeholt sein und unter den Hufen der Herde zermalmt werden würden. Da gelang es ihnen im letzten Augenblicke, auf die niedrigen Aeste eines Nußbaums zu klettern, des einzigen Baumes, der in der weiten Ebene aufragte.

Es war jetzt fünf Uhr nachmittags.

Auf den Aesten saßen beide gesichert und ließen so die ganze Thierherde nach dem Strome hin an sich vorübersausen.

»Schnell! . . . Nun schnell!« rief Max Real, als jede Gefahr vorüber war.

Tommy beeilte sich kaum, den Ast, worauf er rittlings saß, zu verlassen.

»Schnell, sag' ich Dir, oder ich komme um sechzig Millionen Dollars und kann aus Dir nie einen gewöhnlichen Sclaven machen!«

Max Real scherzte hier nur, denn noch lief er nicht Gefahr, in Fort Riley verspätet einzutreffen. Statt dem Bahnhofe zuzustreben, von dem er jetzt ziemlich entfernt war und wo er wahrscheinlich auch keinen zur Abfahrt bereiten Zug gefunden hätte, schlenderte er gelassen weiter in die Ebene hinaus, so lange, daß ihm in der Dunkelheit schließlich die am Himmel hell glänzenden Sterne als Wegweiser dienen mußten.

So endete also der letzte Ausflug der ersten Reisestrecke, und noch hatte es am Kirchthurme der Stadt nicht acht Uhr geschlagen, als Max Real und Tommy vor dem Jackson Hotel standen.

Der zuerst Abgereiste befand sich damit an dem Orte, den William J. Hypperbone als achtes Feld gewählt hatte. Wie er darauf gekommen war? . . . Vielleicht weil, wenn Missouri wegen seiner Lage im geographischen Mittelpunkte der Union, der Centralstaat genannt werden konnte, Kansas andrerseits diese Bezeichnung verdiente, weil es die geometrische Mitte einnimmt, und hier liegt Fort Riley wieder genau im Herzen des Staates.

In Hinsicht hierauf ist auch nahe bei Fort Riley ein Denkmal an der Stelle errichtet worden, wo sich die zwei Hauptflüsse des Staates, der Smoky Hill und der Republican, vereinigen.

Mochte der Grund der Wahl nun dieser oder sonst einer gewesen sein, jedenfalls befand sich Max Real heil und gesund in Fort Riley. Am nächsten Morgen ging er vom Jackson Hôtel, wo er abgestiegen war, nach dem Postamte und erkundigte sich an dem betreffenden Schalter, ob ein Telegramm an seine Adresse eingelaufen sei.

»Ihr Name, mein Herr?« fragte der Beamte.

»Max Real.«

»Max Real . . . aus Chicago? . . .«

»Wie Sie sagen . . . in eigner Person . . .«

»Und einer der Teilnehmer an der großen Partie des Edeln Vereinigte Staatenspiels? . . .«

»Ganz richtig.«

Im vorliegenden Falle war es ja unmöglich, ein Incognito zu bewahren, und schnell verbreitete sich nun in der Stadt die Neuigkeit, daß Max Real hier weile.

Der junge Maler kam infolgedessen, zu seinem großen Aerger, unter dröhnenden Hurrahs nach dem Hotel zurück. Hierher sollte ihm, sofort nach deren Eingange, die Depesche überbracht werden, die ihm mittheilte, wie viel Augen beim zweiten Würfeln für ihn gefallen waren und wohin ihn nun die Laune des unerforschlichen Schicksals verschlüge.

 


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