Jules Verne
Das Testament eines Excentrischen. Erster Band
Jules Verne

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VIII. Tom Crabbe unter Führung John Milner's

Elf durch fünf und sechs, das war immerhin kein zu verachtender Wurf, wenn nicht einem der Spieler neun durch sechs und drei oder vier und fünf zufielen und dieser damit nach dem sechsundzwanzigsten oder dem dreiundfünfzigsten Felde verwiesen wurde.

Zu beklagen war es vielleicht, daß der durch die Zahl elf bezeichnete Staat von Illinois sehr fern lag, und ohne Zweifel hatte sich Tom Crabbe, oder wenigstens sein Traineur John Milner, darüber etwas verdrossen gezeigt.

Das Schicksal sandte sie nach Texas, dem größten Einzelstaate der Union, der allein eine Ausdehnung von 688.340 Quadratkilometer hat. Dieser im Südwesten der Conföderation gelegene Staat grenzt an Mexiko, von dem er erst 1835 abgetrennt wurde, nachdem der General Houston den mexikanischen General Santa-Anna entscheidend besiegt hatte.

Auf zwei Hauptreisewegen konnte Tom Crabbe nach Texas gelangen. Er konnte sich von Chicago aus entweder nach Saint-Louis begeben und von hier aus einen der Dampfer des Mississippi bis New Orleans benutzen, oder mit der Eisenbahn durch die Staaten Illinois, Tennessee und Mississippi bis zur Hauptstadt von Louisiana fahren. Hier galt es dann, den kürzesten Weg nach Austin, dem Sitze der Regierung von Texas, zu wählen, wobei man sich für die Schienenwege oder für einen der Dampfer, die regelmäßig zwischen New Orleans und Galveston verkehren, entscheiden konnte.

John Milner glaubte, um Tom Crabbe nach Louisiana zu befördern, die Eisenbahn bevorzugen zu sollen. Jedenfalls hatte er, nicht wie Max Real, keine Zeit zu verlieren, keine Muße, unterwegs seiner Erholung nachzugehen, denn am 16. mußte er ja in Person am Ziele der Reise eingetroffen sein.

»Nun, Herr Milner,« fragte diesen der Localberichterstatter der »Freien Presse«, nachdem der Ausfall des Würfelns am 3. Mai im Saale des Auditoriums bekanntgegeben worden war . . . »wann denken Sie abzureisen?«

»Noch heute Abend.«

»Ihr Koffer ist bereit? . . .«

»Mein Koffer ist . . . Tom Crabbe,« antwortete John Milner, »und der ist gefüllt, verschlossen, verschnürt und ich habe ihn nur noch zur Bahn zu schaffen.«

»Und was sagt er dazu?«

»Gar nichts. Wenn er seine sechste Mahlzeit beendet haben wird, gehen wir nach dem Bahnhofe, und ich würde ihn gern im Gepäckwagen untergebracht sehn, aber . . . aber . . . das bedeutende Uebergewicht! . . .«

»Ich habe so ein Vorgefühl,« fuhr der Journalist fort, »als ob Tom Crabbe vom Zufall begünstigt werden sollte.«

»Ich auch,« erklärte John Milner.

»Glückliche Reise!«

»Danke schön!«

Dem Traineur kam gar nicht der Gedanke, dem Champion der Neuen Welt ein Incognito aufzuerlegen. Eine – vom materiellen Standpunkte betrachtet – so bedeutende Persönlichkeit wie Tom Crabbe, konnte ja unmöglich unbemerkt bleiben. Seine Abreise wurde also nicht im geringsten geheim gehalten. Am Abend drängte sich eine große Menschenmenge auf dem Bahnsteige des Stationsgebäudes, um jenen sich unter lauten Hurrahs in den Wagen hissen zu sehen. John Milner stieg nach ihm ein. Dann rückte der Zug an, vielleicht fühlte die Locomotive aber dessen größere Belastung, da sie den gewichtigen Boxer zu befördern hatte.

Im Laufe der Nacht legte der Zug dreihundertfünfzig Meilen zurück und erreichte andern Tags Fulten am Ende von Illinois und nahe der Grenze von Kentucky.

Tom Crabbe fiel es nicht ein, das Land, durch das er jetzt kam, zu betrachten – einen Staat übrigens, der im Bunde seiner Größe nach nur den vierzehnten Rang einnahm. Max Real und Harris T. Kymbale hätten es an seiner Stelle gewiß nicht unterlassen, wenigstens weiterhin Nashville, die heutige Hauptstadt von Tennessee, und das Schlachtfeld von Chattanooga zu besuchen, von dem aus Sherman den Bundestruppen den Weg nach Süden öffnete. Gewiß würde der eine als Künstler und der andre als Journalist einen Abstecher von hundert Meilen nach Great Junction gemacht haben, um Memphis mit ihrer Anwesenheit zu beehren. Das ist nämlich die einzige bedeutendere Stadt, die der Staat am linken Ufer des Mississippi besitzt und die einen recht schönen Anblick bietet, da sie auf dem steil ansteigenden Uferlande erbaut ist, das den Lauf des prächtigen, mit grünen Inseln besäten Stromes beherrscht.

Der Traineur glaubte sich aber nicht von dem einmal bestimmten Reisewege entfernen zu sollen, um Tom Crabbe auf seinen ungeheuern Füßen durch die Stadt mit dem ägyptischen Namen wandern zu lassen. Ebenso hatte er keine Gelegenheit, weder zu fragen, warum wohl, da Memphis vom Meere weit entfernt liegt, die Regierung hier vor sechzig Jahren habe Arsenale und Schiffswerften erbauen lassen, die jetzt übrigens gänzlich verlassen dastehen, noch darauf die Antwort zu hören: In Amerika begeht man eben Dummheiten, ganz wie in andern Ländern.

Der Zug führte den zweiten Partner und seinen gegen alles gleichgiltigen Begleiter schnell durch die Ebenen des Staates Mississippi hin, wobei er Holly Springs, Grenada und Jackson berührte. Die letztgenannte Stadt ist die – übrigens ziemlich unbedeutende – Hauptstadt eines Gebietes, das infolge der ausschließlich betriebenen Baumwollcultur in Bezug auf Gewerbfleiß und Handel stark zurückgeblieben ist.

Die Ankunft Tom Crabbe's, der hier eine Stunde Aufenthalt hatte, brachte indeß eine starke Wirkung hervor. Hunderte von Neugierigen hatten den berühmten Faustkämpfer einmal sehen wollen. Freilich hatte er nicht die Größe Adams, die man, vor der Berichtigung durch den berühmten Cuvier, auf neunzig Fuß schätzte, noch die Abrahams (angeblich achtzehn), oder die des Moses (angeblich zwölf Fuß), er bildete jedoch immerhin ein riesiges Muster der Menschenrasse.

Unter den Neugierigen befand sich ein Gelehrter, der hochachtbare Kil Kirney, der nach peinlich genauer Messung des Champions der Neuen Welt einige Bemerkungen über diesen nicht unterdrücken konnte und frischweg über den »Fall« zu docieren anfing.

»Meine Herren! Bei den von mir angestellten historischen Untersuchungen ist es mir geglückt, die wichtigsten Ergebnisse der Messungen, die sich auf gigantographische Studien beziehen und in Zahlen nach dem Decimalsystem ausgedrückt sind, wieder zu entdecken. Im siebzehnten Jahrhundert gab es einen gewissen Walter Parson, der zwei Meter siebenundzwanzig Centimeter maß; im achtzehnten Jahrhundert tauchte ein Deutscher, Müller aus Leipzig, auf, der zwei Meter vierzig hoch war, ferner der Engländer Burnsfield, zwei Meter fünfunddreißig groß, der Irländer Magrath, zwei Meter dreißig, der Irländer O'Brien zwei Meter fünfundfünfzig, der Engländer Toller, von derselben Größe, und der Spanier Elacegin, der zwei Meter fünfunddreißig Zentimeter Körperlänge hatte. Aus dem neunzehnten Jahrhundert kennt man den Griechen Auvassab, zwei Meter dreiunddreißig groß, den Engländer Hales aus Norfolk, zwei Meter vierzig, den Deutschen Marianne, zwei Meter fünfundvierzig, und den Chinesen Chang, zwei Meter fünfundfünfzig Centimeter groß. Dem ehrenwerthen Traineur des Herrn Tom Crabbe diene nun zur Aufklärung, daß sein Schüler von der Fußsohle bis zur Scheitelhöhe nur zwei Meter dreißig mißt . . .«

»Ja, was soll ich dabei thun,« erwiderte John Milner etwas bitter, »ich kann ihn doch nicht weiter in die Länge ziehen . . .«

»Nein, gewiß nicht,« bestätigte Herr Kil Kirney, »das verlange ich auch gar nicht. Und doch, er ist nicht wenig kleiner . . .«

»Tom,« unterbrach ihn John Milner, »gieb dem gelehrten Herrn doch einen tüchtigen Stoß in die Seite, damit er auch noch die Kraft Deines Biceps messen kann!«

Das gelehrte Männchen zog es jedoch vor, sich nicht zu einem Experimente herzugeben, das ihm voraussichtlich die normale Zahl seiner Rippen nicht übrig gelassen hätte, und so zog sich Kil Kirney denn würdigen und gemessenen Schrittes zurück.

Tom Crabbe wurde auch mit reichen Beifallsbezeugungen überschüttet, als John Milner in seinem Namen die Liebhaber des Boxens zu einem Gange herausforderte. Niemand nahm aber die Herausforderung an, und der Champion der Neuen Welt hißte sich wieder in sein Coupé, während ihm die Umstehenden ihre Wünsche für gutes Gelingen zujubelten.

Die Bahnlinie verlief von hier in nordsüdlicher Richtung durch den Staat Mississippi und erreichte bei der Station Rocky Comfort die Grenze von Louisiana.

Dem Laufe des Tangipaohaflusses folgend rollte nun der Zug bis zum Pouchartrainsee hinunter und an dessen westlichem Ufer über die lange Erdzunge hinweg, die diesen See von dem Maurepasee scheidet und auf der der große Viaduct von Mauchac erbaut ist. Bei der Station Carrolton trifft die Bahn wieder auf den hier etwa vierhundertfünfzig Toisen breiten Strom, der die Stadt mit einer mächtigen Schleife umwindet.

Nach einer von Chicago aus ziemlich neunhundert Meilen (1500 Kilometer) langen Fahrt verließen Tom Crabbe und John Milner in New Orleans endgiltig die Eisenbahn. Sie waren hier am Nachmittage des 5. Mai eingetroffen; es blieben ihnen sonach noch dreizehn Tage, sich nach Austin, der Hauptstadt von Texas, zu begeben – eine reichlich genügende Zeit, wenn auch mit möglichen Verzögerungen zu rechnen war, die ja, ob man von hier aus mit der Southern Pacificbahn den Landweg wählte oder eine nicht lange Seefahrt vorzog, nicht ausgeschlossen waren.

Jedenfalls hätte man von John Milner nicht verlangen dürfen, daß er seinen Crabbe durch die Stadt spazieren führe, um ihn deren Merkwürdigkeiten bewundern zu lassen. Kam durch Zufall ein andrer von den »Sieben« hierher, so würde dieser das sicherlich gethan haben. Austin lag aber noch mehr als vierhundert Meilen entfernt von New Orleans, und John Milner hatte keinen andern Gedanken, als auf kürzestem und sicherstem Wege dahin zu kommen.

Den kürzesten Weg bot zwar die Eisenbahn, die beide Städte unmittelbar verband – vorausgesetzt, daß die Züge überall guten Anschluß hatten. Die Linie verläuft anfangs in westlicher Richtung quer durch Louisiana, und zwar über Lafayette, Rarelant, Terrebone, Tigerville, Ramos und Brashear zum Ende des Lake Grand, wo sie, hundertachtzig Meilen von New Orleans, die Grenze von Texas erreicht. Weiterhin ist sie dann, von der Station Orange bis Austin, noch zweihundertdreißig Meilen lang. Nichtsdestoweniger gab John Milner – vielleicht that er unrecht daran – einem andern Reisewege den Vorzug und hielt es für besser, in New Orleans zu Schiffe zu gehen und nach dem Hafen von Galveston zu fahren, den eine andre Bahnlinie mit der texanischen Hauptstadt verbindet.

Der Zufall wollte, daß der Dampfer »Sherman« schon bereit lag, am nächsten Tage nach Galveston abzugehen. Diese günstige Gelegenheit galt es zu benutzen. Dreihundert Meilen (500 Kilometer) Seefahrt auf einem Schiffe, das gut zwölf Knoten in der Stunde zurücklegte, das bedeutete eine Sache von anderthalb Tagen – höchstens, bei ungünstigen Windverhältnissen, von achtundvierzig Stunden.

John Milner hielt es nicht für nothwendig, Tom Crabbe hierüber zu fragen, so wenig, wie man seinen Koffer befragt, wenn dieser zur Abreise verschnürt ist. Nachdem der große Boxer in einem Hôtel seine sechste Mahlzeit eingenommen hatte, legte er sich nieder und schlief in einem fort bis zum hellen Morgen.

Es war um sieben Uhr, als der Capitän Curtis den Befehl ertheilte, die Haltetaue des »Sherman« vom Quai loszuwerfen, gleich nachdem er den berühmten Champion der Neuen Welt mit der dem zweiten Partner des »Match Hypperbone« gebührenden Hochachtung an Bord begrüßt hatte.

»Sehr geehrter Herr Crabbe,« sagte er, »ich fühle mich ausnehmend geschmeichelt durch die Ehre, Sie auf meinem Schiffe zu haben!«

Tom Crabbe sah nicht so aus, als verstände er die Anrede des Capitäns, seine Augen richteten sich vielmehr instinctiv nach der Thür des Speisesalons.

»Seien Sie überzeugt,« fuhr der Capitän des ›Sherman‹ fort, »daß ich alles mögliche thun werde, damit Sie in kürzester Frist glücklich im Hafen anlangen. Ich werde weder meine Kohlenvorräthe schonen, noch meinen Dampf sparen. Ich werde die Seele meiner Cylinder, die Seele meines Balanciers und die meiner Schaufelräder sein, die sich mit möglichster Schnelligkeit drehen sollen, um Ihren Ruhm, Ihren Vortheil zu sichern!«

Tom Crabbe's Mund öffnete sich, wie um zu antworten, schloß sich aber gleich wieder, um sich nochmals zu öffnen und zum zweitenmale zu schließen. Das war das Zeichen, daß die Magenuhr Tom Crabbe's die erste Frühstückstunde geschlagen hatte.

»Die ganze Cambüse steht zu Ihrer Verfügung,« versicherte der Capitän Curtis, »und verlassen Sie sich darauf, daß wir rechtzeitig in Texas landen, und sollte ich deshalb die Sicherheitsventile zuschrauben und die Kessel in die Luft gehen lassen . . .«

»Nein, nein, nichts in die Luft sprengen,« antwortete John Milner mit dem gesunden Menschenverstande, der ihm eigen war. »Das wäre immer ein Fehler . . . vorzüglich aber am Vorabend, wo es gilt, sechzig Millionen Dollars einzustecken!«

Das Wetter war schön und übrigens ist in dem Fahrwasser von New Orleans niemals etwas zu fürchten, wenn dieses auch überraschende Veränderungen der Tiefe u. s. w. zeigt, worauf die Marinebehörden stets ein wachsames Auge haben. Der »Sherman« folgte dem südlichen Stromarme zwischen den Rosendickichten und Binsen seiner flachen Ufer. Der Geruchsnerv der Reisenden mochte dabei wohl etwas unangenehm berührt werden, denn infolge der Zersetzung vieler organischer Abfälle auf dem Grunde steigen von ihm immer zahllose Kohlenwasserstoffblasen auf. Dafür kann man aber in diesem Canale, der zur Haupteinfahrt des großen Stromes geworden ist, niemals auf dem Grunde auffahren.

Das Schiff dampfte an verschiedenen Werkstätten und Niederlagen, die gruppenweise auf beiden Ufern lagen, vorüber, weiterhin kam es an dem Flecken Algiers, an der Pointe de la Hache und an Jump vorbei. Zur jetzigen Jahreszeit war übrigens der Wasserstand ein ziemlich hoher. Im April, Mai und Juni schwillt der Mississippi durch starke Regenfälle allemal an, und sein Wasser erreicht erst im November wieder den niedrigsten Stand. Der »Sherman« brauchte seine Schnelligkeit also nirgends zu mäßigen und erreichte ohne Zwischenfall den Port Eads, der nach dem Ingenieur benannt ist, dessen Bemühungen man die Verbesserung der südlichen Fahrstraße zu verdanken hat.

Hier ergießt sich nach einem Laufe von viertausendfünfhundert Meilen (7421 Kilometer) der mächtige Mississippi in den Meerbusen von Mexiko.

Als der »Sherman« über die letzten Landspitzen hinausgekommen war, steuerte er nach Westen zu.

Bis hierher hatte Tom Crabbe die Wasserpartie vorzüglich gut vertragen. Nachdem er immer zur gewohnten Stunde tüchtig gegessen hatte, legte er sich schlafen, und am nächsten Tage nahm er frisch und gesund seinen Platz auf dem Spardeck wieder ein.

Der »Sherman« war schon gegen fünfzig Meilen weit in der offenen See dahingedampft und im Norden zeigte sich die niedrige Küste nur noch als schmaler Streifen.

Tom Crabbe hatte es hier zum erstenmale gewagt, eine Seefahrt zu unternehmen. Zu Anfang schien ihn das Stampfen und Schlingern des Schiffes nur erstaunen zu machen.

Dieses Erstaunen erzeugte aber auf seinem sonst so hochrothen Gesicht doch eine verdächtige Blässe, die John Milner, der selbst gut seefest war, sofort bemerkte.

»Sollte er krank werden?« fragte er sich beim Herantreten an die Bank, auf die sein Gefährte sich hatte setzen müssen.

Er rüttelte diesen an der Schulter und sagte:

»Na, wie geht's denn?«

Tom Crabbe machte den Mund auf, diesmal war es aber nicht der Hunger, der seine Kaumuskeln in Bewegung setzte, obwohl die Stunde der ersten Mahlzeit herangekommen war. Da er ihn nicht rechtzeitig wieder schließen konnte, bekam er einen tüchtigen Spritzer Salzwasser grade in dem Augenblicke in die Kehle, wo der »Sherman« durch eine höhere Welle stark auf die Seite gelegt wurde.

Tom Crabbe rutschte von der Bank und fiel auf das Deck nieder.

»Komm, Tom . . .«, sagte John Milner.

Tom Crabbe wollte sich erheben, versuchte es jedoch vergeblich und fiel, so schwer er war, wieder auf das Deck hin.

Der Capitän Curtis, der den Fall gehört hatte, kam nach dem Hinterdeck.

»Aha . . . sehe schon, was hier los ist,« rief er. »Hat übrigens nichts zu bedeuten, Herr Tom Crabbe wird sich daran gewöhnen. Es ist ja gar nicht zu glauben, daß ein solcher Riese der Seekrankheit verfallen sollte. Das kommt wohl bei Schwächlingen vor; bekäme sie aber ein so kräftig gebauter Mann, so würde dieser desto schlimmer davon zu leiden haben.«

Leider sollte das hier zutreffen, und wohl kaum je hatten Passagiere einem so jammervollen Schauspiele beigewohnt. Der Seekrankheit zu verfallen ist das gewöhnliche Los der Schwachen und Kränklichen; bei diesen verläuft sie dann normal und ohne bleibende Nachtheile. Doch ein Mann von solcher Körperfülle, von solcher Kraft! . . . Er ist dabei mehr in der Lage wie mächtige Bauwerke bei einem Erdbeben gegenüber der Indianerhütte: Diese hält es aus, das große Bauwerk geht dabei aus den Fugen.

Und Tom Crabbe ging aus den Fugen; man mußte fürchten, daß er bald nur noch einen Haufen Ruinen bilden würde.

John Milner war recht ärgerlich über den Vorfall.

»Wir müssen ihn von hier wegschaffen«, sagte er.

Der Capitän Curtis rief den Hochbootsmann und ein Dutzend Matrosen zu der außergewöhnlichen Arbeit herbei. Doch obgleich alle ihre Kräfte vereinigten, wollte es nicht gelingen, den Champion der Neuen Welt emporzuheben. Es blieb schließlich nichts anders übrig, als ihn wie eine Tonne auf dem Spardeck hinzurollen, ihn dann mittelst Flaschenzugs auf das Hauptdeck hinabzulassen und bis in die Mitte in die Nähe der Maschine zu schleppen, deren Balancier die hilflose Masse zu verspotten schien, und hier blieb er denn in sich zusammengesunken liegen.

»Nun ja,« äußerte John Milner gegen den Capitän Curtis, »daran ist das verwünschte Salzwasser schuld, das Tom grade ins Gesicht spritzte. Wenn's wenigstens Alkohol gewesen wäre . . .«

»O, wenn das Meer aus Alkohol bestände,« erwiderte der Capitän Curtis, »dann wär' es schon längst bis auf den letzten Tropfen ausgetrunken und von einer Schifffahrt wäre keine Rede mehr!«

Heute war die Seefahrt nicht besonders angenehm. Der in der Hauptsache aus Westen wehende frische Wind veränderte zuweilen seine Richtung, wodurch das Rollen und Stampfen nur noch verstärkt wurde. Da der Dampfer gegen die Wellen ankämpfen mußte, verminderte sich auch seine Schnelligkeit beträchtlich. Die Dauer der Fahrt drohte vielleicht um das Doppelte – auf siebzig bis achtzig, statt der gewöhnlichen vierzig Stunden – verlängert zu werden. Kurz, John Milner machte alle Stadien von Beunruhigung durch, während sein Gefährte alle Stadien der widerlichen Krankheit durchkostete, von dem Umhergeworfenwerden der Eingeweide, den Störungen im Blutgefäßsystem bis zu einem so argen Schwindel, wie er höchstens bei völliger Trunkenheit vorkommt. Der Capitän Curtis gebrauchte darüber den Ausdruck, Tom Crabbe wäre zu nichts mehr gut, als mit der Schaufel zusammengelesen zu werden.

Endlich, am 9. Mai, und nach einem furchtbaren Windstoße, der zum Glück nicht lange anhielt, zeigten sich gegen drei Uhr nachmittags die Küsten von Texas mit ihren Dünen von blendend weißem Sande und einem schützenden Kranze kleiner Inseln, über denen ganze Völker großer Pelikane dahinflatterten. Die Schiffsküche hatte bei der Fahrt aber recht viel erspart, denn Tom Crabbe hatte, obwohl er häufig und fast zu häufig den Mund öffnete, seit der letzten Mahlzeit auf der Höhe von Port Eads nicht das geringste verzehrt.

John Milner wiegte sich in der Hoffnung, daß er sich erholen, daß er das abscheuliche Uebel nun überwinden werde, daß er wieder eine menschliche Gestalt bekäme, in der er sich sehen lassen könnte, wenn der »Sherman«, den die Bai von Galveston dann gegen den Wogendrang des offenen Meeres schützte, nicht mehr umhergeworfen würde. Vergebliche Hoffnung! Auch im ruhigen Wasser wollte der Unglückselige noch nicht wieder genesen.

Die Stadt Galveston liegt am Ende einer Sandbank. Ein Viaduct verbindet sie mit dem festen Lande, und über diesen bewegt sich der ganze Handel, vorzüglich die sehr bedeutende Ausfuhr von Baumwolle.

Der »Sherman« glitt durch eine enge Wasserstraße und legte bald an seiner Landungsstelle fest.

John Milner konnte eine laute Verwünschung nicht unterdrücken. Am Quai standen mehrere hundert Neugierige. Durch ein Telegramm unterrichtet, daß Tom Crabbe sich in New Orleans nach Galveston eingeschifft habe, erwarteten sie hier seine Ankunft.

An Stelle des Champions der Neuen Welt, des zweiten im »Match Hypperbone« Abgereisten, konnte dessen Traineur jenen freilich nur eine formlose Masse vorführen, die mehr einem leeren Sacke als einer menschlichen Gestalt ähnelte.

John Milner versuchte noch einmal, Tom Crabbe aus seinem elenden Zustande aufzurütteln.

»Nun . . . auf! . . . Geht es denn nicht? . . .«

Der Sack blieb jedoch ein Sack, und man mußte ihn auf einer Tragbahre nach dem Beach Hotel befördern, wo bereits Zimmer für die Reisenden bestellt waren.

Einige Scherzreden, einzelne Sticheleien wurden hörbar, als man ihn vorübertrug, nichts aber von den gewohnten Hurrahs, die ihn bei der Abfahrt von Chicago begleitet hatten.

Doch war ja noch nicht alles verloren. Nach einer Nacht ruhigen Schlafs und nach einer Reihe passend gewählter Mahlzeiten würde Tom Crabbe schon seine Lebensenergie, seine normale Kraft wiederfinden und nicht mehr das traurige Aussehen bieten . . .

Wenn John Milner sich in dieser Weise getröstet hätte, würde er sich doch getäuscht haben. Die Nacht brachte noch keine Besserung im Gesundheitszustande seines Gefährten. Die tödtliche Erschöpfung des Riesen war am nächsten Morgen noch dieselbe wie am Abend vorher. Und doch muthete man ihm irgendwelche geistige Thätigkeit, wozu er ja unfähig gewesen wäre, gar nicht zu, sondern erwartete nur eine rein körperliche Wiedereinsetzung in den status quo. Vergeblich! Sein Mund blieb, seit er wieder festen Boden betreten hatte, hermetisch geschlossen. Er verlangte keine Nahrung, und sein Magen ließ die zu den gewohnten Stunden üblichen Hilferufe nicht ertönen.

So verlief der 10. Mai, nicht anders der 11., und am 16. war der letzte Tag, wo Tom Crabbe in Austin eintreffen mußte.

John Milner faßte da den einzigen Entschluß, der ihm geboten schien. Jedenfalls war es besser, zu zeitig als zu spät anzukommen. Sollte Tom Crabbe sich von seiner Erschöpfung erholen, so erfolgte das gewiß ebenso gut in Austin wie in Galveston, und er befand sich dann wenigstens an dem ihm vorgeschriebenen Orte.

Tom Crabbe wurde also auf einem großen Karren nach dem Bahnhofe geschafft und gleich einem Frachtstücke in einen Wagen verladen. Als es halb neun Uhr abends schlug, setzte sich der Zug in Bewegung, während die Gruppen von Wettlustigen, die auf dem Perron zurückblieben, auf einen Partner in so jämmerlicher Form nicht die kleinste Summe – nicht einmal fünfundzwanzig Cents – zu setzen wagten.

Ein Glück, daß der Champion der Neuen Welt und sein Traineur nicht die fünfundsiebzig Millionen Hektar, die der Staat Texas einnimmt, zu durchmessen hatten. Sie brauchten nur die hundertsechzig Meilen zwischen Galveston und der Hauptstadt des Staates zurückzulegen.

Es wäre ja wünschenswerth gewesen, die von dem prächtigen Rio Grande und so vielen andern Flüssen bewässerten Gegenden zu besuchen, den Antonio, den Brazos, den Trinity, der in der Bai von Galveston mündet, und auch den Colorado zu besichtigen, dessen vielfach gewundene Ufer mit Perlenaustern übersäet sind. Dieses Texas mit seinen endlosen Prairien, wo früher die Comanchen hausten, ist überhaupt ein herrliches Stück Erde. Im westlichen Theile mit Urwäldern bedeckt, die zahllose Magnolien, Sykomoren, Pekan-(Walnuß-)bäume, Akazien, Palmen, Eichen, Cypressen und Cedern enthalten, prangen hier auch die üppigsten Felder mit Orangen, Nopal-(Cochenille-)pflanzen und mit den wunderbarsten Cacteen, während im Nordwesten stolze Höhen schon an die Felsenberge erinnern. Dabei erzeugt das Land vorzüglicheres Zuckerrohr als das der Antillen, in seinem Tabak von Nocogdoches eine bessere Sorte als die von Maryland oder Louisiana; es enthält Farmen von vierzigtausend Acres (1 Acre gleich 0,405 Hektar) mit einem Thierbestand von ebensoviel Häuptern, und seine großen Ranchos züchten zu Hunderttausenden die schönsten, edelsten Pferde.

Doch, was konnte das Tom Crabbe interessieren, der niemals etwas sah, oder John Milner, der nie auf etwas andres als auf Tom Crabbe blickte?

Gegen Abend hielt der Zug zwei Stunden im Bahnhofe von Houston, bis wohin flach gehende Fahrzeuge gelangen können. Hier sind große Niederlagen für die Waaren erbaut, die auf dem Trinity, dem Brazos und dem Colorado zugeführt wurden.

Am nächsten Tage, am 13. Mai, stieg Tom Crabbe am Ziele seiner Reise im Bahnhofe von Austin aus dem Wagen. Ein wichtiger Mittelpunkt der Industrie, begünstigt durch den Strom, der hier durch eine Barre gestaut wird, ist die Landeshauptstadt auf einer Terrasse des Nordufers des Colorado erbaut, in einer Gegend, wo Eisen, Kupfer, Mangan, Granit, Marmor, Gips und Thon in großer Menge vorkommen. Eine Stadt von mehr amerikanischem Charakter als viele andre in Texas, und erwählt zum Sitz der Regierung des Staates, zählt sie sechsundzwanzigtausend Einwohner fast ausschließlich angelsächsischer Herkunft. Sie ist nur eine einfache Stadt, während die am Rio Grande Doppelstädte sind – mit Holzhäusern an der einen Stromseite und Luftziegelbauten an der andern – wie die halb mexikanischen Ortschaften El Paso und El Presidio.

Eigentliche Amerikaner gab es in Austin nur solche, die jetzt aus Neugier hergekommen waren, vielleicht um ein paar Wetten einzugehen und den zweiten Partner kennen zu lernen, den die Würfel aus dem fernen Illinois hierher verschlagen hatten.

Im Ganzen waren die Leute hier mehr vom Glück begünstigt, als die in Galveston und in Houston. Als er den Fuß auf das Pflaster von Austin setzte, erwachte Tom Crabbe wieder aus der beunruhigenden Stumpfsinnigkeit, die alle Sorgen, alle Bitten, alle Beschwörungen John Milner's nicht zu bannen vermocht hatten. Wohl erschien der Champion der Neuen Welt anfänglich etwas zusammengegangen, etwas schlaff und nicht so recht ungezwungen, doch das war ja nicht zu verwundern, da er, seit der »Sherman« im offenen Meere schaukelte, nichts andres als Seeluft geschluckt hatte. Der Riese hatte sich eben darauf angewiesen gesehen, sich vom eignen Fett zu ernähren; doch auch auf eine solche Kost gesetzt, hätte es ihm gewiß für längere Zeit noch nicht an Nährmaterial gefehlt.

Heute Morgen nahm er aber eine tüchtige Mahlzeit ein – eine Mahlzeit, die gleich bis zum Abend dauerte – Rehkeulen, Hammel- und Rindfleisch, verschiedene Leckereien, Gemüse, Früchte, Käse, dazu Half and Half, Gin, Whisky und auch noch Thee und Kaffee! John Milner empfand schon einen leisen Schreck, wenn er an die Hôtelrechnung dachte, die ihnen bei Beendigung ihres Aufenthalts zugestellt werden würde.

Dieses Spiel wiederholte sich am nächsten wie am übernächsten Tage, und so kam der 16. Mai endlich heran.

Tom Crabbe war wieder die erstaunliche menschliche Maschine geworden, vor der Corbett, Fitzsimons und andre nicht minder berühmte Boxer so vielmals hatten in den Staub beißen müssen.

 


 << zurück weiter >>