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VIII.

Worin der Leser einem Quartett ohne Musik beiwohnt, an dem auch Gildas Tregomain theilnimmt.

 

Vor der Thür seines Hauses angelangt, öffnete Meister Antifer dieselbe und begab sich nach dem Eßzimmer. Hier setzte er sich an den Kamin und wärmte seine Füße, ohne ein Wort zu sprechen.

Enogate und Juhel plauderten in der Nähe des Fensters; er bemerkte sie gar nicht. Nanon war in der Küche noch mit dem Essen beschäftigt; heute fragte er nicht, wie es seine Gewohnheit sonst war, zehnmal, »ob sie denn bald fertig wäre?«

Pierre-Servan-Malo war offenbar mit seinen Gedanken beschäftigt. Seinen Angehörigen durfte er ja nicht wohl mittheilen, was aus seinem Zusammentreffen mit Ben Omar, dem Notar Kamylk-Paschas, geworden war.

Auch während des Abendessens blieb der sonst so geschwätzige Meister Antifer stumm wie ein Fisch. Er vergaß sogar von allen Gerichten zuzulangen und blieb nur länger mit dem Nachtisch beschäftigt, indem er ganz maschinenmäßig einige Dutzend Strandschnecken verzehrte, die er mittelst einer langen Nadel mit kupfernem Kopfe aus ihren grünlichen Schalen angelte.

Juhel sprach ihn mehrmals an; er antwortete nicht.

Enogate fragte, was ihm fehle; er schien sie gar nicht zu hören.

»Aber, Bruder, was hast Du denn nur? ... sagte Nanon, als er schon aufstand, um nach seinem Stübchen zu gehen.

– Ach, mich schmerzt ein Weisheitszahn, das ist alles!« antwortete er.

Da dachte jeder im Stillen, zu frühzeitig sei es gerade nicht, ihn auf seine alten Tage endlich »weise« zu machen.

Ohne seine Pfeife anzuzünden, die er sonst den lieben langen Tag über auf dem Walle zu rauchen liebte, stieg er die Treppe hinan und sagte den Seinigen nicht einmal Gute Nacht.

»Dem Onkel steckt etwas im Kopfe! bemerkte Enogate.

– Was könnte er denn wieder haben? murmelte Nanon, den Tisch abräumend.

– Wir werden wohl den Herrn Tregomain holen müssen,« meinte Juhel.

In der That fühlte sich Meister Antifer jetzt mehr gepeinigt und von Unruhe verzehrt, als je vorher in seinem Leben, seit er jenen unentbehrlichen Boten erwartete. Er quälte sich mit der Frage ab, ob er wohl bei seinem Gespräche mit Ben Omar die nöthige Geistesgegenwart und Schlauheit bewahrt habe. Vielleicht wäre es doch thöricht gewesen, so kategorisch aufzutreten, den Mann zu hänseln, statt ihn gefügig zu machen und die Hauptpunkte der Angelegenheit in Ruh' und Frieden zu besprechen. Auch daß er jenen einen Spitzbuben, einen Schelm, ein Krokodil genannt und mit ähnlichen liebenswürdigen Titeln bezeichnet hatte, wollte ihm jetzt nicht ganz richtig erscheinen. Er hätte sein Interesse besser wahrnehmen, hätte handeln, die Sache in die Länge ziehen und sich stellen sollen, als wolle er den Brief ausliefern und als sei ihm dessen Werth unbekannt. Warum mußte er auch gleich fünfzig Millionen verlangen! Daß jener Brief das werth war, unterlag bei ihm keinem Zweifel. Immerhin hätte er die Sache geschickter anfangen sollen. Der Notar konnte sich ja schwer verletzt fühlen und die Lust verloren haben, sich einem solchen Empfange noch einmal auszusetzen. Und wenn der seinen Koffer packte, von Saint Malo abfuhr und nach Alexandria zurückkehrte, dann blieb sein Räthsel ebenso ungelöst, wie früher, und Meister Antifer hätte seiner Länge nach Aegypten nachlaufen können.

Beim Niederlegen verabreichte er sich denn auch eigenhändig einige tüchtige Ohrfeigen. Die Nacht über konnte er kein Auge schließen. Am Morgen war er fest entschlossen, den Cours zu wechseln, Ben Omar aufzusuchen, ihn durch einige freundliche Worte für die gestrigen Grobheiten zu entschädigen und sich mit ihm unter annehmbaren Bedingungen zu einigen ...

Als er beim Ankleiden um acht Uhr morgens alles noch einmal überlegte – siehe, da öffnete der Frachtschiffer vorsichtig die Zimmerthür.

Nanon hatte nach ihm geschickt, und der vortreffliche Mann war gekommen, den Unmuth des Nachbars auf sich abladen zu lassen.

»Was führt Dich denn hierher, Kapitän?

– Eh ... die Fluth war's, alter Freund, antwortete Gildas Tregomain, in der Hoffnung, dem Brausekopf damit ein Lächeln abzuzwingen.

– Die Fluth? ... versetzte dieser mürrisch. Ich sage Dir, bei mir ist Ebbe, und die wird mich auf der Stelle forttragen.

– Du willst also ausgehen?

– Ja wohl, mit oder ohne Deine Erlaubniß, Du Frachtfuhrmann!

– Wohin denn? ...

– Wohin es mir beliebt.

– Das versteht sich, nirgends andershin. Du willst mir also nicht sagen, was Du vorhast? ...

– O, ich will eine Dummheit wieder gut machen ...

– Oder sie vielleicht noch verschlimmern?«

Obwohl diese Antwort nur so hingeworfen wurde, schien sie dem Meister Antifer doch zum Herzen zu gehen. Er beschloß also, seinen Freund in die Lage der Dinge einzuweihen. So erzählte er ihm denn, beim weitern Ankleiden, sein Zusammentreffen mit Ben Omar und sprach von den Bemühungen des Notars, ihm sein Geheimniß zu entlocken, ebenso, wie von seiner, wohl etwas übertriebenen Forderung von rund fünfzig Millionen für den bewußten Brief.

»Da hat er sich wohl aufs Abhandeln gelegt? meinte Gildas Tregomain.

– Vielleicht, wenn er Zeit dazu gehabt hätte. Ich wandte ihm aber sofort den Rücken und das war vielleicht unrecht.

– Meine ich auch. Der Notar ist also einzig deshalb nach Saint Malo gekommen, um Dir den Brief abzuluchsen?

– Nur deshalb, statt sich einfach der Botschaft an mich zu entledigen, mit der er beauftragt war. Dieser Ben Omar ist ja der vorher angemeldete und seit zwanzig Jahren erwartete Bote Kamylk-Paschas.

– Aha, die Geschichte ist also ernsthaft!« konnte Gildas Tregomain zu bemerken nicht unterlassen.

Das brachte ihm aber von Pierre-Servan-Malo nicht nur einen schrecklichen Seitenblick ein, sondern dieser belegte ihn auch mit so nichtswürdigen Schmeichelnamen, daß das gute Männchen sich gesenkten Auges umdrehte und über seinem rundlichen Leibe verlegen die Hände faltete.

Jetzt war Meister Antifer's Toilette beendigt und er griff eben nach dem Hute, als die Zimmerthür von neuem aufging und Nanon sichtbar wurde.

»Was giebt's denn schon wieder? fragte ihr Bruder.

– O, da unten ist ein Fremder ... der Dich zu sprechen wünscht.

– Sein Name?

– Hier ist er.«

Nanon überreichte ihm eine Karte mit der Aufschrift: »Ben Omar, Notar in Alexandria.«

»Das ist er! fuhr es Meister Antifer heraus.

– Wer denn? fragte Gildas Tregomain.

– Nun, der erwähnte Omar ... Ah, das ist mir noch lieber! Sein Wiederkommen ist ein gutes Vorzeichen. Laß ihn heraufkommen, Nanon!

– Er ist aber nicht allein ...

– Nicht allein? ... rief Meister Antifer verblüfft. Wer kommt denn mit ihm?

– Ein noch jüngerer Herr ... den ich nicht kenne und der auch ein Fremder zu sein scheint.

– Es sind ihrer also zwei? ... Na gut, wir sind auch zwei, um sie zu empfangen. Bleib' mit hier, Kapitän!

– Wie? ... Du wolltest? ...«

Eine befehlerische Geste nagelte den Nachbar auf seinen Platz, eine andre bedeutete Nanon, die Herren heraufkommen zu lassen.

In der nächsten Minute befanden sich diese im Zimmer, dessen Thüre sorgfältig geschlossen wurde. Wenn die hier zu entschleiernden Geheimnisse nach außen drangen, so konnten sie nur durch das Schlüsselloch schlüpfen.

»Ah, Sie sind es, Herr Omar? begann er sorglos, etwas hochmüthigen Tones, den er gewiß nicht angeschlagen hätte, wenn er die Verhandlungen im Hôtel de l'Union hätte wieder anknüpfen müssen.

– Ich bin es, Herr Antifer.

– Und Ihr Begleiter?

– Das ist mein erster Bureaugehilfe.«

Meister Antifer und Saouk, der jetzt unter dem Namen Nazim vorgestellt wurde, wechselten miteinander einen nichtssagenden Blick.

»Ihr Schreiber ist von allem unterrichtet?

– Vollständig, und ich kann ihn bei dieser Angelegenheit nicht entbehren.

– Wie Sie denken, Herr Omar. – Wollen Sie mir nur gefälligst sagen, was mir die Ehre Ihres Besuches verschafft?

– Ich möchte mich mit Ihnen noch einmal aussprechen, Herr Antifer ... mit Ihnen allein, setzte er mit einem Seitenblick auf Gildas Tregomain hinzu, dessen Daumen sich jetzt wie ein Mühlrad umeinander drehten.

– Gildas Tregomain, mein Freund, antwortete Meister Antifer, Ex-Kapitän der ›Charmante Amélie‹, der ebenfalls in die Sache eingeweiht und dessen Unterstützung mir ebenso nothwendig ist, wie Ihnen die Ihres Schreibers Nazim ...«

Ben Omar konnte gegen dieses Ausspielen Gildas Tregomain's gegen Saouk nicht wohl etwas einwenden.

Alle vier setzten sich nun um den Tisch, auf den der Notar seine Schreibmappe niederlegte. Dann ward es still im Zimmer, weil jeder wartete, daß ein andrer das erste Wort sprechen sollte.

Meister Antifer brach endlich das Schweigen, indem er sich an Ben Omar wandte.

»Ihrem Schreiber ist unsre Landessprache doch geläufig, nicht wahr?

– Nein, antwortete der Notar.

– Er versteht sie aber wenigstens?

– Leider auch nicht.«

Das war zwischen Saouk und Ben Omar verabredet worden in der Hoffnung, der Malouin, der dann nicht zu fürchten brauchte, von dem falschen Nazim verstanden zu werden, würde vielleicht ein Wort fallen lassen, aus dem man seinen Vortheil ziehen könnte.

»Nun zur Sache, Herr Ben Omar, sagte Meister Antifer nachlässig. Beabsichtigen Sie, unser gestriges Gespräch an dem Punkte wieder aufzunehmen, wo wir es abbrachen?

– Gewiß.

– So bringen Sie mir also die fünfzig Millionen? ...

– Scherzen Sie nicht, mein Herr!

– Ja, seien wir ernsthaft, Herr Ben Omar. Mein Freund Tregomain gehört nicht zu den Leuten, die ihre Zeit gern mit unnützen Späßen vertrödeln. Nicht wahr, Tregomain?«

Nie in seinem Leben hatte der Frachtschiffer ernsthafter ausgesehen und niemals eine würdigere Haltung bewahrt als jetzt, wo er den Gesichtserker in die Falten seiner Flagge – seines Taschentuches, wollten wir sagen – wickelte und diesem wahrhafte Generalbaßtöne entlockte.

»Herr Ben Omar, fuhr Meister Antifer mit einer, bei ihm ganz ungewohnten trocknen Stimme fort, ich glaube, zwischen uns herrscht ein Mißverständniß, das wohl aufgeklärt werden muß, wenn wir zu erwünschtem Ziele kommen wollen. Sie wissen, wer ich bin, und ich weiß, wer Sie sind.

– Ein Notar ...

– Ja, ja, ein Notar, und überdies ein Abgesandter Kamylk-Paschas, auf dessen Eintreffen meine Familie bereits seit zwanzig Jahren wartete.

– Sie werden entschuldigen, Herr Antifer; ich glaube Ihnen gern, mir war's aber unmöglich, eher zu kommen ...

– Und warum das?

– Weil ich es erst seit der vor vierzehn Tagen erfolgten Eröffnung des Testamentes selbst weiß, unter welchen Verhältnissen Ihr Herr Vater jenen Brief erhielt.

– Ah, den Brief mit dem Doppel- K ... Auf den kommen wir wohl zurück, Herr Omar?

– Gewiß, es war ja bei meiner Reise nach Saint Malo der einzige Zweck, von seinem Inhalt Kenntniß zu erhalten.

– Nur deshalb hätten Sie die weite Fahrt unternommen?

– Einzig deshalb!«

Während dieses Frage- und Antwortspiels verhielt sich Saouk ganz theilnahmlos und gab sich das Aussehen, als verstehe er davon keine Silbe. Er spielte seine Rolle so ausgezeichnet, daß Gildas Tregomain, der ihn immer von unten ansah, nichts verdächtiges an dem Manne entdecken konnte.

»Nun, Herr Ben Omar, fuhr Pierre-Servan-Malo fort, ich hege vor Ihnen die größte Hochachtung, und Sie wissen, ich würde mir gegen Sie nie ein unpassendes Wort erlauben ...«

Das versicherte er mit überzeugendem Nachdruck, er, der den Mann erst den Tag vorher mit Spitzbube, Schelm, Mumie, Krokodil, u. s. w. tractiert hatte.

»Ich kann mich indeß nicht enthalten, Ihnen zu sagen, daß Sie soeben gelogen haben.

– Mein Herr ...

– Ja, gelogen, wie ein Schiffsbottler, wenn Sie behaupten, Ihre Reise nur unternommen zu haben, um den Inhalt meines Briefes kennen zu lernen.

– Ich schwör's Ihnen zu! versicherte der Notar, der schon die Hand aufhob.

– Was da! Die Kneipzange herunter, alter Omar, rief Meister Antifer, der trotz seiner besten Vorsätze schon wieder in die Wolle kam. Ich weiß sehr gut, warum Sie hierhergekommen sind ...

– Glauben Sie mir ...

– Und auch in wessen Auftrage ...

– Kein Mensch ... ich versichre Ihnen ...

– Immerhin im Auftrage des seligen Kamylk-Pascha ...

– Der schon zehn Jahre lang todt ist!

– Thut nichts! In Ausführung seines letzten Willens befinden Sie sich heute bei Pierre-Servan-Malo, dem Sohne Thomas Antifer's, und Ihr Auftrag geht nicht dahin, von ihm die Auslieferung des betreffenden Briefes zu verlangen, sondern ihm gewisse Ziffern mitzutheilen ...

– Gewisse Ziffern? ...

– Jawohl ... die ziffermäßige Angabe einer Länge, deren es bedarf, um die Breite zu vervollständigen, die Kamylk-Pascha vor einigen zwanzig Jahren meinem Vater brieflich mittheilte!

– Gut heimgeleuchtet!« sagte Gildas Tregomain befriedigt und schwenkte dazu sein Taschentuch, als ob er einem Semaphor am Strande Signale gäbe.

Der angebliche Schreiber verhielt sich noch immer ganz theilnahmslos, obwohl er jetzt wissen mußte, daß Meister Antifer über die Sachlage vollständig unterrichtet war.

»Sie, mein Herr Ben Omar, sind es, der die Rollen vertauscht hat und nun versucht, mir meine Breite zu stehlen ...

– Stehlen! ...

– Gewiß! ... Zu stehlen! ... Und offenbar von ihr, die mein ausschließliches Eigenthum ist, zu eignem Vortheil Gebrauch zu machen!

– Herr Antifer, erwiderte Ben Omar ganz außer Fassung, glauben Sie doch meinem Worte: sobald Sie mir jenen Brief auslieferten, hätte ich Ihnen die Ziffern mitgetheilt ...

– Aha, Sie gestehen damit also, sie zu besitzen? ...«

Der Notar fühlte sich an die Mauer gedrückt. Sonst kaum jemals um Ausflüchte in Verlegenheit, mußte er sich doch gestehen, daß sein Gegner zu schlagfertig war und es das beste sei, so weit klein beizugeben, wie es zwischen ihm und Saouk verabredet worden war. Als Meister Antifer also fortfuhr:

»Also, offne Karten, Herr Ben Omar! Hin und hergekreuzt ist nun genug, wir wollen endlich vor Anker gehen! ... Da antwortete er:

– Gut ... es sei!«

Er öffnete damit sein Portefeuille und entnahm diesem ein mit großen Schriftzügen bedecktes Blatt Pergament.

Das war das in französischer Sprache abgefaßte Testament Kamylk-Paschas, von dem Meister Antifer nun Kenntniß nahm. Nachdem er es mit so lauter Stimme vorgelesen hatte, daß auch Gildas Tregomain kein Wort davon entgehen konnte, zog er ein Notizbüchelchen aus der Tasche und schrieb die Zahlen hinein, die die geographische Länge des Eilands angaben – die vier Ziffern, für deren jede er einen Finger seiner Hand hingegeben hätte. Dann rief er, als stände er auf einem Schiffsdecke und wollte die Sonnenhöhe abnehmen:

»Achtung, Frachtschiffer!

– Achtung! wiederholte Gildas Tregomain, der aus den Tiefen seiner Weste ebenfalls ein kleines Buch hervorholte.

– Jetzt! ...«

Mit äußerster Genauigkeit wurde die kostbare Länge – 54° 57' östlich von Paris – festgestellt und aufgezeichnet.

Dann wanderte das Testament wieder in die Hände des Notars, der es in sein Portefeuille versenkte, welches nun unter dem Arme des falschen Bureaugehilfen Nazim Platz fand. Letzterer saß übrigens noch immer so gleichgiltig da, wie etwa ein alter Hebräer aus Abrahams Zeit in der Sitzung einer heutigen Gesellschaft der Wissenschaften dasitzen würde.

Jetzt war die Sache nun auf dem Punkte, wo sie Ben Omar und Saouk besonders zu interessieren anfing. Mit der Kenntniß der Parallele und des Meridians der kleinen Insel, brauchte Meister Antifer diese beiden Linien auf der Karte nur zu kreuzen, um deren Lage im Durchschnittspunkte derselben zu finden, und das schien er auch sofort vornehmen zu wollen. Er stand nämlich auf, und aus dem flüchtigen Gruße, den er Saouk und Ben Omar neben einer bezeichnenden Handbewegung nach der Treppe zu sendete, konnten diese leicht abnehmen, daß er sie ersuchte, sich nun gefälligst zu entfernen.

Aufmerksam und schmunzelnd beobachtete der Frachtschiffer sein Benehmen. Doch weder der Notar noch Nazim schien gewillt, vom Tische wegzugehen. Daß der Mann sie vor die Thür setzte, lag ja klar vor Augen. Entweder hatten sie ihn aber nicht verstanden oder wollten ihn nicht verstehen, dagegen bemerkte der verdutzte Ben Omar sehr gut, daß Saouk ihn mit einem Blicke – sehr befehlerisch! – aufforderte, noch eine letzte Frage zu stellen.

Er mußte sich also wohl oder übel drein fügen.

»Jetzt, wo ich den Auftrag, den das Testament Kamylk-Paschas mir zuwies, erfüllt habe ...

– Brauchen wir nur noch in aller Freundschaft von einander Abschied zu nehmen, fiel ihm Meister Antifer ins Wort. Der nächste Zug geht zehn Uhr siebenunddreißig von hier ab ...

– Seit gestern zehn Uhr dreiundzwanzig, berichtigte ihn Gildas Tregomain.

– Wahrhaftig, schon zehn Uhr dreiundzwanzig, und ich möchte weder Sie, Herr Ben Omar, noch Ihren Schreiber Nazim der Gefahr aussetzen, diesen Schnellzug zu versäumen.«

Saouk's Fuß fing an, im Zweivierteltacte auf dem Erdboden zu hämmern, und da er gleichzeitig nach der Uhr sah, konnte man glauben, daß ihm daran gelegen sei, bald abzufahren.

»Wenn Sie etwa noch Gepäck aufzugeben haben, fuhr Meister Antifer höflichst fort, so ist es jetzt Zeit ...

– Um so mehr, setzte der Frachtschiffer hinzu, weil auf unserm Bahnhof zuweilen starker Andrang ist.«

Jetzt raffte sich Ben Omar doch noch einmal auf und begann, sich halb erhebend und mit niedergeschlagenen Augen:

»Um Vergebung, mir scheint, wir sind mit unserm Gespräch wohl noch nicht zu Ende ...

– Im Gegentheil, vollständig fertig, Herr Ben Omar; ich habe an Sie keine weitere Frage zu stellen.

– Dagegen hab' ich noch eine an Sie, Herr Antifer ...

– Das wundert mich, Herr Ben Omar, doch wenn Sie meinen ... bitte ...

– Ich habe Ihnen die im Testamente Kamylk-Paschas enthaltene Längenangabe mitgetheilt ...

– Ganz richtig, und ich und mein Freund Tregomain, wir haben sie in unsre Notizbücher eingetragen.

– Jetzt müssen Sie mir auch die Breite angeben, die in Ihrem Briefe steht ...

– In dem Briefe an meinen seligen Vater?

– Ja, in diesem.

– Halt, halt! Herr Ben Omar! antwortete Meister Antifer, dessen Stirn sich runzelte. Hatten Sie das Mandat, mir die fragliche Länge zu überbringen?

– Ja, und dieses Mandat hab' ich erfüllt ...

– Mit viel Eifer und gutem Willen, das muß ich gestehen! Was mich aber angeht, so hab' ich nirgends, weder in dem Testamente, noch in meinem Briefe, eine Spur davon gesehen, daß ich irgend jemand die Breitenangabe mittheilen müßte, die einst meinem Vater zugegangen war.

– Indeß ...

– Indeß, wenn Ihnen etwas derartiges bekannt ist, ließe sich über die Sache reden.

– Es scheint mir doch ... stotterte der Notar, daß zwischen Männern, die einander achten ...

– Da irren Sie sich, Herr Ben Omar. Die Achtung hat mit unserer Sache gar nichts zu thun, so viel oder so wenig wir auch vor einander hegen mögen.«

Offenbar ging Meister Antifer's Geduld schon wieder zu Ende und machte einer gereizten Stimmung Platz. Um einem peinlicheren Auftritte vorzubeugen, öffnete Gildas Tregomain auch schon die Thüre, damit die beiden Herren sich leichter entfernen könnten.

Saouk hatte den Mund nicht aufgethan. Ihm als Gehilfen des Notars und als der Landessprache nicht mächtigen Fremden kam es ja nicht zu, aufzubrechen, ehe sein Principal ihn nicht dazu aufgefordert hatte.

Ben Omar erhob sich jetzt aber vom Stuhle, rieb sich den Schädel, schob auf der Nase die Brille zurecht und sagte mit dem Tone eines Mannes, der das thut, was er unmöglich lassen kann:

»Um Verzeihung, Herr Antifer, Sie sind also unwiderruflich entschlossen, mir keine Aufklärung zu geben ...

– Um so mehr, Herr Ben Omar, als meinem Vater in dem Briefe Kamylk-Paschas unbedingte Geheimhaltung auferlegt war, und diese Verpflichtung hat nachher mein Vater mir ebenfalls auferlegt.

– Nun, Herr Antifer, bemerkte dazu Ben Omar, wollen Sie einen guten Rath hören und annehmen?

– Der wäre?

– Diese ganze Angelegenheit auf sich beruhen zu lassen.

– Und warum das?

– Weil Sie unterwegs einer gewissen Person begegnen könnten, die im Stande wäre, Sie berauben zu lassen ...

– So? ... Wer wäre denn das?

– Saouk, der leibliche Sohn des Vetters Kamylk-Paschas, der sich zu Ihren Gunsten enterbt sieht und nicht der Mann dazu ist, sich das ...

– Kennen Sie diesen leibeigenen Sohn, Herr Ben Omar?

– Nein, antwortete der Notar ohne Zögern, ich weiß jedoch, daß er ein sehr gefährlicher Gegner sein dürfte ...

– Schon gut, wenn Ihnen dieser Saouk also jemals in den Weg kommt, so sagen Sie ihm von mir, daß ich auf ihn, wie auf die ganze Saoukerie Aegyptens pfeife!«

Saouk verzog keine Miene. Pierre-Servan-Malo ging jetzt nach dem Treppengeländer.

»Nanon!« rief er hinunter.

Der Notar näherte sich gleichfalls der Thür und nun folgte ihm auch Saouk, der aus Ungeschick einen Stuhl umgestoßen hatte, mit einem Gesichtsausdruck, als hätte er den unglücklichen Mann des Rechts lieber gleich die Treppe hinuntergeworfen.

Schon an der Schwelle blieb Ben Omar noch einmal stehen und sagte zu Meister Antifer, ohne diesen frei anzusehen.

»Sie haben hoffentlich eine Clausel aus dem Testament Kamylk-Paschas nicht vergessen, mein Herr?

– Welche meinen Sie, Herr Ben Omar?

– Die eine, die mir die Verpflichtung auferlegt, Sie bis zu dem Augenblick, wo sie das Legat erheben, zu begleiten, dabei zu bleiben bis die Fässer ausgegraben sein würden ...

– Sehr schön, Herr Ben Omar, so werden Sie mich also begleiten.

– Dazu muß ich auch wissen, wohin Sie sich begeben ...

– Das werden Sie ja erfahren, wenn wir an Ort und Stelle sind.

– Und wenn das am Ende der Welt wäre?

– Dann ... ja dann ist's eben am Ende der Welt.

– Ja freilich, doch erinnern Sie sich auch, daß ich dabei meinen ersten Bureaugehilfen nicht entbehren kann ...

– Das ist ganz Ihre Sache, ich werde mich ebenso geehrt fühlen, mit ihm zu fahren wie mit Ihnen.«

Damit neigte er sich über das Geländer:

»Nanon!« rief er ein zweites Mal, doch in einem Tone, der verrieth, daß ihm nun die Geduld ausgegangen war.

Unten erschien Nanon.

»Leuchte diesen Herren hinaus! befahl Meister Antifer.

– Es ist ja heller Tag, Bruder! erwiderte Nanon.

– Gleichgiltig, leuchte ihnen nur hinaus!«

Nach dieser etwas gar zu unzweideutigen Aufforderung, sich aufzumachen, verließen Saouk und Ben Omar das ungastliche Haus, dessen Thür hinter ihnen geräuschvoll zugeschlagen wurde.

Jetzt verfiel Meister Antifer in eine Art lustigen Deliriums, einen Anfall, den er in seinem Leben nur recht selten gehabt hatte. Doch wenn er an diesem Tage nicht lustig war, wann hätte er dazu wohl sonst Veranlassung gehabt?

Er hatte sie in der Hand, die vielerwähnte, so lange erwartete Länge! Er konnte jetzt in Wirklichkeit verwandeln, was bisher nur ein Traum gewesen war! Sein Besitz jenes unglaublichen Vermögens hing nur noch von der Eile ab, mit der er sich nach dem Inselchen aufmachte, wo jenes seiner wartete.

»Hundert Millionen! Hundert Millionen! rief er wiederholt.

– Das heißt tausendmal tausend Francs!« setzte der Frachtschiffer hinzu.

Da konnte sich Meister Antifer nicht mehr halten, er hüpfte jetzt auf einem Fuße, dann auf dem andern, beugte sich zusammen, streckte sich wieder aus, wiegte sich in den Hüften, drehte sich wie ein Gyroskop – wenn auch nicht in derselben Ebene – und begann schließlich einen Matrosentanz, wie das Repertoire der lustigen Theerjacken deren eine ganze Menge mit ebenso verschiedenen, wie bezeichnenden Namen enthält.

In die Kreisbewegung dieser Masse riß er dabei auch seinen Freund Gildas Tregomain mit hinein und schwenkte den dicken Mann so heftig herum, daß das ganze Haus bis zum Grunde zitterte. Dazu sang er mit einer Stimme, die alle Fensterscheiben zittern machte:

»Ich habe meinen Me...
Mo me!
Ich habe meinen ri...
Ro ri!
Ich habe meinen ri... ich habe meinen Meridian!«


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