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Im Rahmen des gegenüberliegenden Fensters sah man stets das kleine Lämpchen, das die Nacht hindurch brannte, während des langen Winters bis in den März hinein, wenn der kühle Frühjahrsmond die Fassade des stillen Hauses mit seinem weißen Licht übergoß. Das Zimmer war gelb, mit einem dürftigen durchsichtigen Vorhang, der am Fenster hing. Manchmal erschienen dahinter schwarze Schatten, die sich rasch wieder verloren.
Jeden Abend zur selben Stunde sah man ein Licht von Stube zu Stube wandeln, bis zum gelben Zimmer, wo es in der Nähe eines weißen Bettes, das von den nämlichen hastenden Schatten umgeben war, heller aufflackerte. Dann wurde das Haus wieder finster und schien vereinsamt in der großen Stille der Straße. Nur wenn der nächtliche Lärm eines Trunkenen hinaufdrang oder das Vorüberrollen eines Wagens die Fensterscheiben erklirren machte, dann erschien einer jener stummen und traurigen Schatten spähend am Fenster und verschwand wieder.
Während des Tages hatten alle diese geschlossenen Fenster etwas fast Geheimnisvolles. Auf dem Balkon des gelben Zimmers stand ein Nelkenstock, der an der feuchten Wand, in Wind und Wetter, ungepflegt dahinwelkte. Wenn die Sonne unterging, blieb vor dem Tore ein kleiner Wagen stehen, der von bleichen Gesichtern hinter den Fenstern bange erwartet wurde; man konnte ein lebhaftes Hin und Her durch die Zimmer beobachten, und das Licht wurde sogar am hellen Tage in der einsamen Stube sichtbar. Der letzte Besuch, den das Wägelchen in dem entlegenen Gäßchen machte, war kürzer als die bisherigen. Ein Greis mit schneeweißem Haar, den Fuß auf dem Wagentritt, schüttelte mitleidsvoll das Haupt, indem er einem jungen hohlwangigen Mädchen antwortete, das ihn mit flehender Miene und händeringend bis zum Tore geleitet hatte; auch sie schüttelte den Kopf ganz mechanisch, die weitgeöffneten Augen mit fast wahnsinnigem Ausdruck auf den Alten gerichtet. Dann, als er sich entfernt hatte, verbarg sie ihr Antlitz im Taschentuch und trat wieder ins Tor zurück.
Es war ein lauer und linder Frühlingsabend. Von der Straße her ertönte der Gesang eines neuen Liedes, das die geschwätzigen, verliebten Schönen im Mondenscheine sangen. Im ersten Stockwerk des Hauses, hinter einem reichen Vorhang aus Brokat, hörte man den Walzer aus »Madame Angot« spielen. Später vernahm man in der vereinsamten Straße ein Glöckchen, die Schritte und das Gemurmel der Gläubigen, die das Viatikum begleiteten; die Nachbarn eilten herbei, knieten nieder, das Licht in der Hand, und die Menge drängte sich an dem Tore, dessen beide Flügel offen standen, zwischen zwei Reihen schwankender Laternen. Alle Fenster des ärmlichen kleinen Stadtviertels wurden zum ersten Male nach so langer Zeit bei diesem feierlichen Anlasse beleuchtet, während die Menge fremder Leute ins Haus eindrang, mit unruhig flackernden Wachslichtern, die sich bis zum gelben Zimmer fortbewegten. Und nachdem alle wieder fortgegangen waren, blieb das Haus immer noch erleuchtet und verlassen, in traurig feierlicher Stimmung. Man sah bloß von Zeit zu Zeit die gewohnten Schatten, die wie toll in verzweifelnder Hast hin und her huschten.
In der tiefen Stille der späten Stunde schien es, wie wenn hinter den im weißen Mondlicht blinkenden Fensterscheiben verzweiflungsvolle Hilferufe und unterdrückte Seufzer laut würden, und wie wenn Arme flehend zum klaren Himmel gerichtet wären. Eine Nachtigall hub plötzlich auf einem grünumrankten Altan in der mondhellen stillen Nacht zu singen an und träumte von den heimatlichen Wäldern, ihres Gefängnisses vergessend.
Jede Viertelstunde schlug langsam und feierlich die Uhr von der Höhe des Kirchturmes.
Das schwere Schweigen der Nacht senkte sich langsam auch auf das Trauerhaus. Das Licht brannte in der stillen Stube immer noch fort. Nur die trostlosen Schatten bewegten sich noch hastiger und verzagter denn je, und in der Ecke, wo jeden Abend die Lichter heller leuchteten, flackerten jetzt zwei Totenflammen. Gegen Mitternacht hatte man an das Tor klopfen gehört und in dem Zimmer machte sich regsames Leben bemerkbar. Dann hatte sich alles in der traurig trüben Erwartung versammelt. Der Mond streifte jetzt den Fußboden, während die Lichter erloschen. Der eisige Reif träufelte über die Fensterscheiben … plötzlich entstand in dem Halbdunkel ein mühseliges Rennen, ein geschäftiges Jagen fassungsloser Leute, die sich die Haare rauften, und ein Türenschlagen. Dann erleuchtete sich das gelbe Zimmer sehr hell inmitten der Front des ganzen schwarzen Hauses.
Das Morgengrauen begann fahl und feucht. Und da sah man zum ersten Male nach so langer Zeit das Fenster des gelben Zimmers weit geöffnet und die beiden Kerzen, die am Kopfende des Bettes unbeweglich brannten. Später kamen und gingen Fremde, die mit gleichgültigem Ausdruck, den Hut in der Hand, das Zimmer betraten. Einer, der am Fenster eine Zigarre rauchte, beugte sich hinaus und roch zu der welkenden Nelke; er hatte das bleiche Gesicht eines Kranken oder eines Gefangenen, mit den bläulichen Wangen eines glattrasierten starken Bartes.
Von nun an blieb dieses Fenster geschlossen und finster die Nacht; und die andern Fenster nebenan wurden jeden Morgen geöffnet, um die Spätfrühlingsluft hineinzulassen. Und des Abends erschienen sogar schüchtern an den Fenstern schwarzgekleidete Jungfrauen, die schweigend dem neuen Liede lauschten, dem Klavierspiel, das hinaufdrang, und dem Geschwätz der Nachbarn.
An einem Septembermorgen sah man alle Fenster geöffnet und die Zimmer leer, auch das gelbe, das der verblaßten weißen Vorhänge entblößt worden war und einen dunkelgelben Fleck an der Stelle der Wand zeigte, wo früher das Bett gestanden war. Das ganze Hausgerät war im stillen nächtlicherweile weggeräumt worden und mit ihm hatte sich, ebenso still, die schüchterne kleine Familie entfernt. Eine alte Magd kam den Nelkenstock holen, während der Hausherr in allen Ecken und Enden mit den Maurern Umschau hielt, schreiend und fluchend. Er deutete auf die Flecken in der alten gelben Tapete, auf die schadhaften Ziegel des Fußbodens und spie verächtlich aus, so daß die Alte sich gesenkten Hauptes fortschlich, den Nelkenstock unter dem Schaltuch wie eine Reliquie forttragend.
Die Maurer begannen überall zu schaben und zu hämmern. Und von früh bis Abend hörte man das Kreischen der Tischlersäge. Im letzten Zimmer hatten sie ein großes Gerüst aufgestellt, und durch die Bretter hindurch sah man die Fetzen des gelben Papieres herabhängen. Und dann kamen Anstreicher und Tapezierer; und die Menschen, die da vor einem Monate umgezogen waren, würden jetzt die Erinnerungen ihrer bangen Stunden in diesen freundlichen, neutapezierten Stuben nicht wiedergefunden haben. Das Licht brannte von neuem die Nacht hindurch in diesem ehemaligen gelben Zimmer, hinter den mit blauer Seide gefütterten Spitzenvorhängen; aber die beiden Schatten, die man immer nebeneinander sah, sich haschend, sich nacheilend, flossen ineinander zu weichen Wellenlinien und vereinigten sich zu einem einzigen; und des Morgens sah man auch manchesmal, wenn der Vorhang ein wenig in die Höhe gehoben wurde, ein blondes rotbackiges Köpfchen angeschmiegt an einen braunen und lächelnden Kopf. In dem angrenzenden Zimmer sah man einen großen vergoldeten Spiegel, der das Licht einer mit einem rosafarbenen Schirm bedeckten Lampe zurückstrahlte, und man hörte die heitern Klänge eines Pianoforte, die das Rieseln des nächtlichen Regens übertönten. Als der Frühling kam und die Nachtigall auf dem grünen Altan und die Mädchen im Mondenschein wieder zu singen begannen, da flatterten die beiden Verliebten wie Schmetterlinge hinaus und man sah sie nicht mehr.
Im September änderte die Wohnung ihr Aussehen, und in das blaue Zimmer wurde ein großes Ehebett gestellt, das jeden Morgen bei weitgeöffneten Fenstern ehrsam gelüftet wurde. Das Haus erschallte von früh bis Abend vom Geschrei der Rinder und vom Gekreisch des Neugeborenen, das von der Mutter am Fuße des Bettes gestillt wurde. Der Gatte kam abends heim, müde und abgespannt, und stritt die ganze Zeit mit Frau und Kindern herum. Dann saß er bis in die späte Nacht hinein über Rechnungen gebückt, die auf dem abgedeckten Tisch umherlagen, die Stirn gegen die Hände gepreßt, im matten Schein der erlöschenden Lampe. Zeitlich morgens entfernte er sich eiligen Schrittes. Von Zeit zu Zeit vernahm man ein heftiges Klingeln im Vorzimmer und die Mutter eilte ins Schlafzimmer, um sich einzuschließen, und sie machte ihrem Knaben ein Zeichen, den Zeigefinger auf die Lippen gepreßt, er möge sagen, daß sie nicht zu Hause sei. Das Kind kehrte nach einem langen Gestammle zur Mama zurück, die den Kopf wieder rasch herausstreckte, nachdem die Türe so heftig zugeschlagen worden war, daß die Glocke von selbst läutete; und der Mann, der so zornig weggegangen war, blieb in der Mitte der Straße stehen, um nach den geschlossenen Fenstern zu spähen. Manchmal war die arme Frau gezwungen, sich zu zeigen, um den ungläubigen Besucher zu besänftigen, der mit großen Gesten alles mögliche zu beteuern suchte. Die offenen Fenster machten die ganze Nachbarschaft zu unfreiwilligen Zeugen vom Kindergeschrei und vom Gezänke der Eltern.
Eines Tages, gegen Mittag, kam ein altes Männchen mit einem schmierigen Hut und einem Stoß Akten unterm Arm, gefolgt von zwei schlechtgekleideten Männern, die alles durchsuchten und hastig eine Menge Papiere vollschrieben. Die kleine Familie folgte ihnen traurig von Stube zu Stube. Die Sachen wurden fortgetragen, und das wenige von der Einrichtung, das übriggeblieben war, wurde auf einen Handwagen geladen, und hinter diesem schritt betrübt die Familie einher: zuerst der Vater, den Schirm unterm Arm, dann die Frau mit den Kindern hinterher und dem Säugling am Arm, ohne sich nach den Fenstern umzusehen, die Tag und Nacht weit geöffnet blieben, durch Monate und Monate, gleichsam wie wenn der Besitzer des Hauses den üblen Geruch von so viel Elend, das da drinnen eingeschlossen gewesen war, hätte verflüchtigen lassen wollen.
Dann kamen wieder elegante Möbel und reiche schwere Fenstervorhänge in die Wohnung. Man hörte kein Geschrei und kein Gezänk mehr, sondern eine glückselige Ruhe herrschte da drinnen; es schien, als zündeten sich die Lichter von selbst an, sogar im blauen Zimmer, das matt beleuchtet war. Man sah niemand; nur in später Nachtstunde konnte man einen Kopf bemerken, der scheu auf die Straße blickte; und dann wurden die Jalousien leise und behutsam geschlossen; und das Licht, das durch die Ritzen drang, vergoldete die blonden Haare, und auf der gegenüberliegenden Mauer zeichneten sich helle Streifen ab. Nach einigen Minuten hörte man eilige und vorsichtige Schritte auf der Straße, der Schatten des Blondkopfes erschien flüchtig hinter den Jalousien und das Fenster wurde geschlossen …
Eines Abends erklang plötzlich inmitten der tiefen Stille ein drohendes Läuten. Man sah hinter den Vorhängen Schatten verwirrt durcheinander hasten und die Zimmer rasch hintereinander sich erleuchten. Dann tiefes Schweigen der Erwartung, das mit einem Male durch Schreie des Entsetzens und Wutgekreisch unterbrochen wurde.
Die Nachbarn eilten an die Fenster, das Licht in der Hand. Aber in der Wohnung war es inzwischen wieder ganz still geworden, die Töne des Schmerzes und des Zornes waren gedämpft worden inmitten all der prunkvollen Teppiche, Vorhänge und Portieren. Die Fenster blieben eine geraume Zeit geschlossen, und als sie wieder geöffnet wurden, kamen die Maurer in die Zimmer, die das Haus demolierten, um der neuen Straße Platz zu machen, die da durchführte.
Tag und Nacht sah man hinter den abgetragenen Mauern die kahlen und verlassenen Zimmer, mit von den Decken herabhängenden Tapeten und mit aufgerissenen schwarzen Kaminschlünden. Das gelbe Papier wurde wieder unter den zerfetzten Tapeten sichtbar, ebenso konnte man die Spuren des Bettes sehen, die dunkeln Flecken, die Nägel oberhalb des Kamins, an denen früher der vergoldete Spiegel hing, und die Glockendrähte, die über der Türe in dem freigelegten Treppenhause herabbaumelten. Der Wind wirbelte da drinnen den Staub auf, der Regen trat in die Ruinen ein, die Sonne lachte auf die gelben, grünen und blauen Malereien herab, und der Mond und das Laternenlicht drangen nachts hinein und beschienen die fettigen Flecken des Raumes, wo dar Bett gestanden, und die vergoldeten Blumen des geheimnisvollen Boudoirs, so lange, bis die Picke des Maurers nach und nach das ganze Haus niedergelegt hatte.