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Jeden Morgen, vor 7 Uhr, sah man den Herrn Lehrer vorbeigehen, den »Bubenlehrer«, wie man ihn nannte. Er holte von Haus zu Haus seine Schüler ab, mit dem Stöckchen in der Rechten, einen widerspenstigen Knaben an der Linken, und hinter sich eine Schar Buben, die wie ein Rudel wilder Schafe einhertrottete. Frau Mena, die Kleinkrämerin, stand schon wartend an der Tür ihres Ladens, mit dem kleinen Aloardo, der unter häufiger Anwendung von Hieben und Maulschellen gekleidet, gewaschen und gekämmt worden war, und der gutmütige und geduldige Lehrer schleppte den Gassenjungen mit, der wie besessen schrie und mit den Füßen um sich stieß wie ein störrischer Esel. Vor dem Essen sah man den Herrn Lehrer wieder, mit dem von oben bis unten beschmutzten Aloardino im Schlepptau, der vor dem Krämerladen abgeliefert wurde, worauf er wieder den andern Knaben an der Hand nahm und ihn nach Hause geleitete.
Das wiederholte sich viermal des Tages, Vor- und Nachmittag; immer führte er einen ungebärdigen Buben an der Hand, und immer folgte eine bunte Schar teils gut gekleideter Knaben, teils schmieriger Jungen mit zerrissenen Gewändern und schiefgetretenen Schuhen hinterher; aber unfehlbar hatte er immer denjenigen Knaben an der Seite, der zunächst wohnte, so daß jede Mutter glauben konnte, ihr Sohn sei der bevorzugte.
Die Mütter kannten ihn alle; seit sie auf der Welt waren, hatten sie ihn am Morgen und am Abend, am Vormittag und am Nachmittag vorbeigehen gesehen, mit seinem verschossenen Hütchen schief auf dem Kopf, den immer gutgewichsten Schuhen, dem ebenfalls gewichsten Schnurrbärtchen, dem steten unveränderlichen, geduldigen Lächeln auf den Lippen, dem pergamentartigen Teint, der an alte Bücher gemahnte, und dem durch Sonne und Bürste schäbig gewordenen Mantel auf den ein wenig nach vorne gebeugten Schultern.
* * *
Man wußte von ihm, daß er sich sehr für das zarte Geschlecht interessierte; seit vierzig Jahren, seit er früh und spät die Straßen durchschritt, wie eine Henne mit ihren Küchlein, schnupperte er immer, mit dem Stöckchen kokett in der Luft umherfuchtelnd, nach Weibern, aber ohne den Schatten irgendeines bösen Nebengedankens, nur von harmlosester Herzenssehnsucht erfüllt. Es hätte ihm genügt, zu wissen, daß sich irgendwo, nah oder fern, eine Schwesterseele befinde. So hatte er auf seinen ununterbrochenen täglichen Leidenswegen in seiner Einbildung bestehende Aufmunterungsstationen: Schaufenster, durch die er im Vorbeigehen schielte, Straßenecken, an denen er sich umwandte, um seine Blicke nach geliebten weiblichen Wesen schweifen zu lassen, die er im Laufe der Jahre altern gesehen oder gänzlich verschwinden, weil sie geheiratet hatten! Nur er, er selbst war immer derselbe geblieben, immer der unermüdlich Jugendliche an Geist und Gemüt, der den Töchtern die nämlichen Gefühle widmete, die er für die Mütter gehegt, und der stets in Gedanken imaginäre Don Juan-Abenteuer ausheckte, er, der doch nichts anderes war als ein armer Anachoret.
Und in den Abendstunden, wenn der Herr Lehrer vor seiner Petroleumlampe im kleinen Stübchen saß, die müden Füße in Filzpantoffeln, eingehüllt in seinen beinahe historisch gewordenen Radmantel, da überkam ihn wie ein Widerglanz aus seinem Beruf die glühende Begeisterung für die Poesie; und während seine Schwester am anderen Ende des Tisches Strümpfe flickte und dabei gleichfalls in ein aufgeschlagenes Buch starrte, schmiedete er Verse für seine Angebeteten, die diese wohl niemals zu Gesicht bekamen. Er war Schullehrer, um leben zu können, aber sein eigentliches Fach war das eines Dichters, und seine Spezialität waren Liebeslieder, Sonette, Oden, vor allem aber Akrostichen. Und während er mit seiner Schülerhorde von einem Ende der Stadt zum anderen wanderte, trug er unter dem verschlissenen Mantel das heilige Feuer der Dichtkunst; und wie viele der jungen liebeslüsternen Jungfrauen lauschten beim Mondenschein seinen Versen – ohne dabei an ihn zu denken. Und doch hätten sie das tun sollen! Wußte er doch nur zu gut, welche Neugier seine Person wachrief, das Herzklopfen, das seine schwärmerischen Blicke verursachten, die Träumereien, die sich an seine täglichen Gänge knüpften! Er war aber zu gewissenhaft, um das alles auszunützen. Eines Tages – er erinnerte sich dessen immer mit einer gewissen Rührung – überreichte ihm ein junges Mädchen, dem er im Hause Unterricht im Schönschreiben gab, eine schöne Blume, die in einer Vase auf dem Schreibtisch stand – eine Rose oder eine Nelke, er erinnerte sich nicht mehr genau, weil sich sein Auge infolge der Verlegenheit verschleiert hatte – und sagte dabei sanftmütig zu dem schüchtern und verwirrt Dastehenden: »Ich habe sie für Sie gepflückt, Herr Lehrer!«
»Aber nein … ich bitte Sie … ich weiß wirklich nicht …«
»Wie? Sie wollen sie nicht?«
»Fahren wir, bitte, in unserer Lektion fort! … Das sind Dinge, die nicht …«
»Ja, aber weshalb wollen Sie sie denn nicht nehmen? Was ist denn da Schlimmes dabei? …«
»Das Vertrauen der Eltern mißbrauchen … unter der Maske des Erziehers …«
Da brach das Mädchen in ein so unbändiges, so impertinentes Gelächter aus, das ihm noch lange Zeit in den Ohren nachklang und ihn noch oft mit Zweifel erfüllte, der ihm angst und bange machte und vor dem er sich verkriechen zu müssen glaubte. Ach, wer mochte wohl klug werden aus diesen närrischen Mädels? Sie verhöhnten ihn hinterrücks. Und später, wenn die Mädchen geheiratet hatten und er vorbeikam, um ihre Kinder zur Schule zu führen, und sie ihn immer noch als genau denselben sahen von ehemals, mit den aufgewichsten Schnurrbartspitzen, da wurden sie von einer zärtlichen Rührung ergriffen bei dem Gedanken an die rosigen Träume der seligen Jugendzeit, die die schwermütige Gestalt des ewigen Liebessuchers in ihnen wachrief …
* * *
»Treten Sie nur ein, Herr Lehrer, der Bub zieht sich gerade an.«
»Danke, ich warte draußen.«
»Wie, Sie werden doch nicht in der Sonne stehen?«
»Ich habe ja hier draußen meine Knaben. Ich kann sie doch nicht allein lassen.«
»So viel Buben! Sie sind wahrlich nicht zu beneiden. Da gehört wirklich eine heilige Geduld dazu, sich sein Leben lang vom frühen Morgen bis zum Abend mit den Rangen abzurackern!«
»Ja, wir kennen uns schon eine geraume Zeit, vom Sehen wenigstens. Als Sie noch in der Via del Carmine wohnten, das Häuschen mit der kleinen Terrasse. Sie erinnern sich doch?«
»Gewiß. Ja, man wird alt, Herr Lehrer! Na, Ihnen sieht man's wirklich nicht an. Aber ich bekomme schon graue Haare und habe eine Tochter, die beinahe heiratsfähig ist.«
»Apropos, da habe ich eben gerade eine Kleinigkeit mitgebracht für Ihre Frau Tochter. Heute ist ja ihr Namenstag, wenn ich nicht irre: die heilige Lucia.«
»Was ist es denn? Ein Bild von der heiligen Lucia? Nein, ein Gedicht. Lucia, Lucia, komm schnell, sieh nur, was dir der Herr Lehrer gebracht hat.«
»Eine Kleinigkeit, Frau Lucietta. Sie werden mir die Kühnheit verzeihen …«
»Ach, wie schön! Sieh nur, Mama, was für ein schönes Blatt, es sieht aus wie ein Spitzentüchlein.«
»Schlichte Reime. Ja, es ist wie eine Stickerei aus Versen, wie es sich für eine schöne Frau wie Sie gehört. Kleinigkeiten, kaum der Rede wert.«
»Danke, danke. Da ist der Bartolino. Geh schön mit dem Herrn Lehrer, er wartet schon eine halbe Stunde, du Ausbund! …«
»Schau, Mama, wenn man den Rand ringsherum abschneidet, so kann man das Blatt als Bukettmanschette benützen, wenn ich heute Blumen bekomme …«
Armer Herr Lehrer! …
* * *
Die Schule war ein großer weißgetünchter Raum, der im Hintergrunde durch eine bis zur halben Höhe reichende Holzwand abgeschlossen war, hinter der sich ein geheimnisvolles, schlecht beleuchtetes Winkelwerk befand. Vor dieser Wand, in der Nähe einer kleinen, stets verschlossenen Tür stand das Tischchen des Herrn Lehrers mit einer gestickten Decke und darauf zahlreiche Handarbeiten aus Tuchresten und Abschnitzeln: Federwischer, Lampenunterleger, ein Mandarin aus orangegelbem Tuch mit grünen Blättern, das Lieblingsspielzeug der Buben in den Zwischenpausen. Ein weiterer Zimmerschmuck bestand aus einem Rahmen aus perforiertem Pappendeckel – ebenfalls Handarbeit – der zwei vergilbte Photographien enthielt und auf der Holzwand hing; die beiden Photographien stellten den Lehrer und dessen Schwester dar, die einander, trotz seines aufgewichsten Schnurrbärtchens und ihrer wunderlichen Haartracht, glichen wie ein Tropfen Wasser dem anderen: dieselben eingefallenen Wangen, dieselben schmalen Gesichtszüge, dieselben dünnen Lippen, dieselben tiefliegenden trüben Augen, die müde waren vom ewigen Schauen auf die Schülerreihe, auf die öden Wände, auf die nur ein blasser Lichtschimmer durch das einzige verstaubte Hoffenster fiel.
Am frühen Morgen, sobald der Tischler nebenan zu hämmern begann, hörte man zwei schlaftrunkene Stimmen hinter dem Holzverschlage lispeln, und ein Feuerchen flammte auf, dessen matter Widerschein in die Schulstube drang. Der Lehrer ging eine Handvoll Hobelspäne holen, ganz eingehüllt in seinen famosen Radmantel, mit aufgeschlagenem Kragen, die Füße in den Filzschuhen, und machte Feuer an, um den Kaffee zu kochen. Dann stieg eine dünne Rauchwolke durch eine kleine Maueröffnung im Lichthofe zum Himmel empor. Im Hintergrunde des Zimmerchens fing die Schwester des Lehrers zu husten an. Dann begann er seine beiden Schuhe sorgfältig zu putzen und sah währenddessen häufig nach dem Kaffee; und während er in der Rechten einen Schuh hielt, nahm er mit der Linken die Kaffeemaschine vom Öfchen, das gleichzeitig als Kochherd diente, dann das Täßchen ohne Henkel vom Wandbrettchen über dem Ofen, spülte es in einem zersprungenen Napf aus, der in der Nähe des Öfchens zwischen zwei Steinen baumelte, und trug endlich das Licht in einen durch einen alten Vorhang abgetrennten kleinen Raum. Die Schwester erhob sich mühsam von ihrem Bette, hustete, schneuzte sich, seufzte, den Bruder mit ihrem traurigen Lächeln einer unheilbaren Kranken begrüßend.
»Wie fühlst du dich heute, Karolina?« fragte sie der Bruder.
»Besser,« war ihre Antwort.
Inzwischen war die Sonne über dem gegenüberliegenden Dache erschienen, und durch das schmutzige Fenster gewahrte man sie als feinen Goldstaub, und gleichzeitig vernahm man das freche Gezwitscher der Spatzen und das Glockengebimmel der Ziegen.
»Ich gehe um Milch,« sagte der Lehrer.
»Ja,« antwortete sie mit dem ewigen müden Nicken des Kopfes.
Und sie begann sich langsam anzukleiden, während der Schullehrer sich draußen mit dem Ziegenhirten um das bißchen Milch herumstritt, das er sich in ein kleines Glas einfüllen ließ.
Karolina machte inzwischen das Bett ihres Bruders zurecht und schob dabei den alten Vorhang zurück, »um des Bruders Stübchen zu lüften,« wie sie zu sagen pflegte. Und dann kehrte sie langsam die Schulstube aus und reinigte die Stühle einen nach dem anderen, sich hie und da auf den Besenstiel stützend, um mitten im aufwirbelnden Staube zu husten.
Der Bruder kam mit dem bißchen Ziegenmilch – für zwei Soldi – im Glase und mit zwei Brötchen in der Tasche des Mantels zurück. Dann schlug er einen Zipfel des Tischdeckchens zurück, um es nicht zu beschmutzen, und nun saßen die Beiden da und verzehrten in aller Stille ihr Frühstück, langsam, Bissen um Bissen, in Gedanken versunken. Nur zuweilen, wenn sie hustete, erhob der Bruder den Kopf und sah sie besorgt an, um dann gleich wieder die Blicke starr auf den Napf zu richten, der vor ihm stand.
Endlich ging er, das Stöckchen unterm Arm, das Hütchen schief auf dem Kopfe, das Schnurrbärtchen hinaufgewichst, den Rockkragen aufgestülpt, und zog vorsichtig die nach Tinte riechenden schwarzen Handschuhe an, gefolgt von seiner Schwester, die ihm hartnäckig mit der Bürste über den Mantel fuhr, ihn mit beinahe mütterlichen Blicken betrachtete und mit ihrem resignierten altjüngferlichen Lächeln bis zur Türschwelle begleitete, überzeugt davon, daß alle Weiber in ihren Bruder verliebt seien.
* * *
Auch sie hatte den farblosen Frühling eines Mädchens gehabt, das weder Geld hat, noch hübsch ist. Damals modernisierte sie sich an jedem größeren Feiertage ihr einziges Kleid aus Schafwolle und Seide und ersann vor dem gesprungenen Spiegelchen neue phantastische Haartrachten. O, welche rosigen Bilder gaukelte ihr der Anblick jenes dürftigen Kleidchens vor, während sie nächtelang nähte und strickte und flickte! Und wie bitter war es ihr zumute, wenn sie im Spiegel ihr immer hagerer werdendes schmales Gesichtchen mit den hervortretenden Backenknochen, dem spitzen Kinn und der zu langen Nase sah! Inmitten des fröhlichen und koketten Geplauders der munter beisammensitzenden anderen Mädchen erschien sie wie eine traurig lächelnde Figur und stand seitwärts, still für sich – aus Scham, sagten die einen – aus Stolz, sagten die anderen. Denn auch sie galt für eine Schriftstellerin. In dem trübseligen Zustand ihrer anständigen Armut bedeutete die Schriftstellerei für sie und ihren Bruder eine Art Trost, eine Schmeichelei, einen zartsinnigen Luxus, der sie für das schlecht verhehlte Mitleid der Nachbarn einigermaßen entschädigte. Sie hielt die zierlichen Reinschriften der Verse ihres Bruders, deren Anfangsbuchstaben mit Schnörkeln aller Art versehen waren, sorgsam verwahrt, und als er sich endlich gezwungen sah, sich aus seiner Gleichgültigkeit aufzurütteln und seine geistigen Fähigkeiten in dem anstrengenden und bescheidenen Posten eines »Bubenlehrers« zu verwerten, um sich sein tägliches Brot verdienen zu können, da war sie allein eine eifrige Leserin von Romanen und Gedichten geblieben, bei deren Lektüre es ihr war, als erlebte sie die Liebesabenteuer der Romanhelden mit, deren Freuden und Leiden, deren Begeisterungen und Enttäuschungen. Ihre ganze freudlose Jugend hatte sich in diesen glühenden Träumereien verzehrt, die ihre schlaflosen Nächte mit kühnen Rittern, mit schmachtenden Dichtern, mit wunderlichen und märchenhaften Begebenheiten belebten, von denen sie noch wachend fortträumte, wenn sie die Schulstube kehrte, das dürftige Essen kochte und die fadenscheinige Wäsche flickte. Und unter dem Einflusse aller dieser mittelalterlichen Ritter- und Räubergeschichten bekundete sich ihre ganze schmerzliche Sorge um ihre Unschönheit und Armut auf groteske Weise in künstlichen Stirnlöckchen und wunderlichen Haarwellen an den Schläfen, in altmodisch aufgebauschten Ärmeln und gestärkten Halskrausen.
»Das ist wohl nach der neuesten Modefigur?« hatte sie einmal die eleganteste und grausamste ihrer Freundinnen gefragt.
Ein einziger Mensch hatte sich nicht über sie lustig gemacht – es war schon lange her! Jetzt war er Beamter bei dem städtischen Amtsgericht. Wie stürmisch pochte damals das Herz! Welche süßen Träume umgaukelten sie! Und jetzt war alles vorbei; nichts mehr war von allem zurückgeblieben, wenn sie ihm begegnete mit Frau und Kinderschar! Damals war er ein bleicher Jüngling mit großen träumerischen Augen! Und er stand im Ballsaal abseits von den anderen, in einer Nische, und sah den fröhlichen Tanzpaaren zu, die sich wirbelnd im Kreise drehten. Die Mädchen verhöhnten ihn ein wenig, weil er nie tanzte, und sie nannten ihn den Poeten. Schon von weitem richtete er seine unseligen Blicke auf das schmächtige Mädchen, das allein und vergessen in einer Ecke saß, ebenso einsam wie er. An einem Sonntag endlich ließ er sich ihr vorstellen; er sagte ihr mit verworrenen Worten, daß er schon lange die Ehre ihrer Bekanntschaft herbeigesehnt hatte, denn sie sei seiner Ansicht nach das einzige Wesen, mit dem man an Sonn- und Feiertagen ein paar Worte wechseln könne. Er fühlte das, er ahnte das, und er wußte auch, daß sie sich für die edle Dichtkunst interessiere …
Unterdessen drehten sich die Paare immer noch wirbelnd im Kreise, im matten Scheine der Petroleumlampe, inmitten der staub- und dunsterfüllten Atmosphäre, und es schien den beiden, als wären sie hundert Meilen weit entfernt, ganz so wie in den Romanen, halbverborgen hinter einer gehäkelten Gardine; er, jedes Wort, das aus seinem Munde kam, durch überzeugende Blicke und Gesten begleitend, sie verklärt durch die erste Schmeichelei, die sie aus dem Munde eines Mannes vernahm, mit einer neuen Sanftmut im Blick und einem seligen Lächeln um die Lippen.
»Woran arbeiten Sie gegenwärtig? An einem Gedicht?«
»Nein, an einem Roman.«
»Historisch?«
»Ach nein, Fräulein! Wofür halten Sie mich? Es ist doch endlich an der Zeit, mit den historischen Sujets ein für allemal zu brechen.«
»Ein Roman also etwa im Stile Manzonis?«
»Nein, nein, viel moderner, überfeinerter … erfüllt von der ganzen Nervosität der Zeit, in der wir leben …«
»Und der Titel? Darf man wissen, wie der Titel lautet?«
»Sie ja! ›Liebe und Tod!‹ …«
»Schön! Wunderschön! Und darf man fragen, wie lange Sie daran gearbeitet haben?«
»Ich schreibe seit vier Jahren an dem Roman.«
»Und lassen Sie ihn nicht drucken?«
Der junge Mann zuckte die Achseln mit einem verächtlichen Lächeln.
»Schade!«
In seinen Augen blitzte es auf, der Antwort halber, die ihm, ohne einen Moment zu überlegen, auf die Lippen kam, und die in dem armen Mädchen einen süßen Wahn erweckte:
»Dieses Wort aus Ihrem Munde ist für mich der schönste Erfolg und genügt mir!«
Karolinas Wangen erglühten vor Freude, und sie neigte das Haupt, und ihre Brust drohte zu bersten vor Stolz und vor Wonne.
»Was sagen Sie da? … Ich?! … Wie können Sie nur so etwas sagen?«
Auch ihn erfüllte das erste Schmeichelwort eines Mädchens mit seligen Gefühlen, und er raunte ihr von olympischer Höhe herablassend zu:
»Im Vertrauen gesagt: der höchste Triumph, nach dem ein Schriftsteller trachtet, ist nur ein Wort … ein einziges Wort des Lobes … der Aufmunterung … das aus dem Munde eines Wesens kommt, das man – – Pardon!« unterbrach er sich plötzlich und trat rasch einen Schritt nach rückwärts.
»Hab' ich Sie getroffen?« fragte entschuldigend der Wirt, der mit der Gießkanne herumging. »Es tut mir wirklich leid … Ich mußte ein bißchen aufspritzen, denn man kommt ja hier um vor Staub. Meinen Sie nicht auch?«
Der Dichter fuhr fort, ohne den Mann einer Antwort zu würdigen: »Es ist wirklich ein Glück, wenn sich zwei gleichgestimmte Seelen begegnen, inmitten einer so furchtbar überhandnehmenden Roheit und Pöbelhaftigkeit …«
»Tanzen Sie nicht?« fragte er endlich.
»Ich? …«
»Seien Sie unbesorgt. Ich tanze auch nicht. Ich finde das Tanzen furchtbar kommun. Versuchen Sie einmal, sich die Ohren fest zuzustopfen und betrachten Sie dann die Tanzpaare; Sie werden sehen, was für einen lächerlichen Eindruck das macht …«
»Das ist wahr! Wahrhaftig, Sie haben recht!«
»Und wenn Sie erst die Gespräche mit anhören würden! … Schauderhaft banal! … Wenn die Leute von der Frisur oder von der Balltoilette reden, so ist das schon ein großer Fortschritt! Apropos, Sie sehen geradezu entzückend aus! Nein, nein, wirklich, Sie können mir's glauben. Sie sind ganz verschieden von den anderen: Sie zeichnen sich durch einen exquisiten Geschmack aus, durch Originalität …«
Dann spannte er den Bogen, um den letzten Pfeilschuß abzulassen. »Kurz und gut: Kleider machen nicht die Leute, aber am guten Geschmack erkennt man die Seele der Menschen …«
* * *
Wie schön der Walzer war, der jetzt gespielt wurde! Wie er ihr die ganze Nacht hindurch in den Ohren klang! Und wie sie ihn vor sich her summte, die Augen voll süßer Tränen, wenn sie im Lichthof nähte! In einem alten Geschirr fristeten schwindsüchtige Nelken ein kümmerliches Dasein: sie schienen ihr Wunderblumen aus einer Märchenwelt, wenn sie, die Augen halb geschlossen, der schönen Minuten in der Ballsaalnische gedachte! Wie glücklich und zufrieden war sie jetzt selbst, wenn sie sich im Spiegel besah! Wie viel Sanftmut und Güte lag in dem Ton ihrer Stimme! Wie viel Poesie lag in dem silberweißen Mond, der die hohe Lichthofmauer küßte! Und in dem Gold der untergehenden Sonne, die den Giebel streifte und auf dem Fenster der Schulstube glitzerte! Leben, leben, selbst in dem traurigen Lichthof, zwischen den vier kahlen Wänden, die eine gewisse intime Schwermut ausströmten, in den schlichten Beschäftigungen, die ihr beinahe lieb geworden waren, in der phantastischen Welt der Bücher, in der Liebkosung jener hingebungsvollen, schützenden, brüderlichen Stimme! Und in der Tiefe des Herzens ein leuchtender Punkt, eine vibrierende Saite, eine geheime Freude, die sie durchschauerte, ein Glaube, ein neues, ungekanntes Gefühl der Zärtlichkeit für alle Dinge und alle Menschen – und die brennende Sehnsucht nach einem neuen Sonntag, einem neuen Tanzvergnügen ohne Tanz, inmitten des Staubes und Dunstes und üblen Petroleumgeruches, von der Gewißheit beseelt, ihn wiederzusehen, ihn, der seit acht Tagen ihr Herz gefangen genommen und ihr Leben ausgefüllt hatte!
* * *
Diesmal kam er ihr, sobald er sie erblickte, mit einem Händedruck entgegen, der mit einem Male ihre geistige Intimität wieder anknüpfte, und er stellte sich neben sie, hinter der gehäkelten Gardine, die Rechte im Westenausschnitt, und hörte nicht auf, mit ihr über sich selbst zu reden, über seine Neigungen, seinen Geschmack, seine wenigen, aber hohen Ideale, über seinen himmelstürmenden Ehrgeiz. Von Zeit zu Zeit, wenn es ihm schien, als ob das Mädchen, müde des unaufhörlichen »Ich«, den Kopf senkte, warf er ihr eine Schmeichelei hin, etwa so, wie ein Kutscher, der mit der Peitsche knallt, wenn er bergaufwärts fährt. Das Mädchen aber senkte pochenden Herzens den Kopf, weil sie gerührt war darüber, daß er gerade ihr gegenüber so offen und aufrichtig sprach. Und er selbst begann, hingerissen von seiner eigenen Beredsamkeit, berauscht von seinem eigenen Wortschwall, ihr sein Herz immer mehr zu eröffnen und ihr sogar seine intimsten Sorgen mitzuteilen: sein Vater, der sich seinen Neigungen, seinem aufstrebenden Talente widersetzte … Während der zwei Jahre Universität hatte er nichts gelernt. Er hatte bloß Verse auf die Bänke des Hörsaales für Zivilrecht geschrieben.
»Ein wahrer Kindesmörder!« bemerkte Karolina lächelnd.
Er küßte sie zum ersten Male mit einem Ausdrucke unsagbarer Zärtlichkeit.
»Karolina! Karolina!« rief der Bruder. Und ganz leise sagte er ihr ins Ohr: »Du vergißt, daß alle dich ansehen. Immer bist du mit dem. Wer ist er denn?«
Da und dort gewahrte man in der Tat in den Gruppen der Mädchen hinter den Fächern schlechtverhehltes Lächeln. Aber Karolina stellte ihn stolz dem Bruder vor: »Der Herr Angelo Monaco, ein hervorragender Dichter, der Verfasser von ›Liebe und Tod‹!«
»Ich weiß, daß auch der Herr ein großer Pfleger der Literatur ist,« sagte Monaco, ihm die Hand mit fürstlicher Geste hinstreckend.
* * *
Der Romancier hatte um die »Ehre angesucht«, das Manuskript seines Romanes im Hause des Lehrers lesen zu dürfen, »um ein unbefangenes und ehrliches Urteil darüber erlangen zu können.« Eines Abends, nach der Schule, wurde ihm ein Platz an dem Tischchen mit dem gestickten Deckchen eingeräumt. Darauf standen zwei brennende Kerzen. Es sah aus wie das Tischchen eines Taschenspielers. Herr Peppino saß da, den Kopf auf die Hände gestützt, ganz durchdrungen von der Absicht, ihm auch seinerseits die Lektüre seiner eigenen Verse zu versetzen, die er angesichts dieses Ereignisses in seiner geschwellten Brust neuerstehen fühlte. Die Schwester war schon durch die Feierlichkeit der Vorbereitungen ungeheuer aufgeregt: die Tür war geschlossen, die Stühle der Schüler standen aneinandergereiht da, wie für eine Menge unsichtbarer Zuhörer bestimmt.
Das Manuskript war umfangreich; es umfaßte nahezu ein halbes Ries Konzeptpapier, lag in einer Mappe aus Maroquin, mit dem Titel in Goldbuchstaben auf dem Rücken, und mit dreifarbigen Bändchen zusammengebunden. Der Autor las mit Überzeugung, jedes Wort durch die Stimme, durch Handbewegungen und durch Blicke unterstreichend, die in den bleichen Mienen Karolinas, die aufmerksam zuhörte, und in dem Antlitz des Bruders, der unerschütterlich dasaß, den Kopf auf die Hände gestützt, den Ausdruck der Bewunderung suchten. Er wurde durch seine eigenen Worte angefeuert wie ein Berberroß durch das Rasseln der Schweinsblasen, die es am Schweife angebunden trägt. Er ermüdete nicht eine Minute und fühlte kaum das Bedürfnis, die Seite umzublättern. Die Blätter flogen, flogen, und es ging dabei ein Rauschen durch den Raum, das dem Rauschen der welken Blätter in der Stille einer Herbstnacht glich. Auf der Gasse hatte nach und nach jedes Geräusch aufgehört. Der Mond trat durch das Fensterchen.
Er war an einer Stelle angelangt, wo der Held seines Romanes, nachdem er in heller Verzweiflung die Reihen der Diener in großer Livree im Vorsaale durchbrochen, den Todestrunk in dem Schlafgemach seiner Schönen trinken ging, die, eben vom Balle heimgekehrt, in einer Wolke von Spitzen und Bändchen dastand. Er drang mit feurigen Worten in sie ein, er wollte ihr, der unbeugsamen Göttin, das Sühnopfer seines Blutes darbringen, seiner Sinne, seiner unermeßbaren Liebe, hier zu Füßen des Altars, auf dem Perserteppich, angesichts des makellos jungfräulichen Lagers … Und nun, nach dem Schlußpunkt, warf er einen triumphierenden Blick auf seine beiden Zuhörer und sah mit grausamer Freude, daß Karolina still vor sich hin weinte, die Augen mit den Händen bedeckt.
Er ergriff ihre Hand und hielt sie lange an seinen Mund gepreßt, um seinen Triumph zu genießen.
»Verzeihen Sie mir!« flüsterte er dann. Sie schüttelte sanft das Haupt und antwortete mit kaum vernehmlicher Stimme:
»Ich habe Ihnen nichts zu verzeihen. Ich bin ja so glücklich!«
Der Mond küßte vom Fensterchen aus schweigsam die gegenüberliegende Wand. Bei der plötzlich eingetretenen Stille erwachte der Lehrer.
* * *
Angelo Monaco begann im Hause des Lehrers zu verkehren, angezogen durch die Sympathie, die man ihm da entgegenbrachte, geschmeichelt durch die glühende Bewunderung, durch die schüchterne und tiefe Liebe, für die er in seiner Eitelkeit so dankbar war, daß er zuweilen eine Erwiderung desselben Gefühles heuchelte. Karolina wartete glücklich und ganz erfüllt von einem neuen Leben inmitten der gewohnten bescheidenen Beschäftigungen, überrascht durch unvorhergesehenes Herzklopfen, durch unerklärlich süße Regungen, über ein Nichts, über einige zur Gewohnheit gewordene Ereignisse, die früher unbemerkt und bedeutungslos an ihr vorübergegangen waren, und sie weidete und labte sich an einem Blick, an einem Lächeln, an einem Wort, an einem Händedruck von ihm, und sie bebte, wenn die Stunde nahte, in der er zu kommen pflegte, und sie wurde von einer tiefen Rührung ergriffen, wenn sie die Strahlen des Mondes durch das Fensterchen dringen sah, wenn sie das Ave Maria läuten oder die Drehorgel spielen hörte, oder wenn ihr Bruder sie beim Namen rief, und sie fühlte eine ungewohnte Verlegenheit und eine neue Zärtlichkeit für ihn. Auch er schien ihr verändert. Seit einiger Zeit behandelte er sie mit liebevoller und fast trauriger Sanftmut, mit taktvoller und mitleidsvoller Zurückhaltung. Eines Tages endlich, als er gerade mit den Knaben fortging, den Hut auf dem Kopf und das Stöckchen in der Hand, rief er sie beiseite, hinter den roten Vorhang, und sagte: »… Weißt du, Karolina … Er wird sich verheiraten … Nein! So höre doch! Mut, Mut! … Schau, ich habe die Knaben hier … Verzeih mir, wenn ich dir einen Schmerz bereitet habe! … Aber ich mußte es dir ja sagen … Wer hätte es dir denn sonst sagen sollen? … Ich bin ja dein Bruder, dein Peppino! …«
Sie wankte ins große Zimmer, sie fühlte, wie sich ihr die Kehle zusammenschnürte, und erst nach einigen Augenblicken hatte sie sich so weit erholt, um stammeln zu können: »Woher weißt du es? Wer hat es dir gesagt?«
»Masino, der Sohn des Kaffeesieders. Heute, als wir ihm zufällig begegneten, und er sah, daß ich ihn grüßte, hat er mir gesagt, daß Angelo Monaco seine Schwester heiratet.«
»Geh, geh,« sagte die Ärmste, ihn mit den zitternden Händen von sich weisend. »Die Knaben warten.«
* * *
Und das war alles. Sie sagte kein Wort mehr, sie klagte mit keiner Silbe mehr. Das letztemal, als sie ihn sah, fand sie Angelo so betrübt, so verschlossen in ihrem Schmerz, daß er den Grund erriet. An der Hoftür sagte er ihr, die Augen zu jenem Fleckchen Himmel gewandt und eine wirkliche Träne in den Augen, Lebewohl, über den Ton seiner eigenen Stimme tief gerührt. Am darauffolgenden Tage schrieb er ihr einen Brief, der von Liebe und Verzweiflung durchglüht war. Es war das erstemal, daß er ihr von Liebe sprach, um ihr zu sagen, daß die seine verhängnisvoll war und daß er sie auf dem Altar des kindlichen Gehorsams hinopfern müsse. »Seien Sie glücklich! Seien Sie glücklich! Fern oder nah, tot oder lebend! …« Es war die einzige Liebesbotschaft, die sie erhalten hatte; und sie bewahrte sie sorgsam auf wie die gepreßte Blume, die er ihr geschenkt, und die verblaßten Bändchen, die sie getragen, als sie einander das erstemal begegnet waren.
Eines schönen Tages endlich schien sich des Lehrers Roman zu entwickeln. Es war beim Erscheinen einer üppigen Blondine, die gekommen war, um ein blasses Knäblein in einer herrschaftlichen Kutsche abzuholen, und die die ganze Schule mit dem Rauschen ihrer Kleider, mit dem Duft ihres Taschentuches, mit dem harmonischen Klang ihrer frischen und lachenden Stimme erfüllte, gleich einem Sonnenstrahl, der den Lehrer und die Schüler blendet. Die arme alte Jungfer hatte viele Jahre hindurch zur nämlichen Stunde die schöne Verführerin erwartet, hinter dem Vorhang in der Schulstube versteckt, stark pochenden Herzens, ganz verwirrt und wie im Banne eines süßen Geheimnisses, in einer seltsamen Gemütserregung, in die sich eine neue Zärtlichkeit für den Bruder mengte, ein Gefühl unbestimmter Eifersucht, und eine Zufriedenheit, ein geheimer Stolz.
Es waren zarte Verschweigungen, keusche Zurückhaltungen, gegenseitige Verwirrungen wegen eines Blickes, wegen eines Wortes, wegen einer entfernten Andeutung, die im Laufe des Gespräches fiel, während die beiden bei Tisch saßen und der eine da, der andere dort einen Zipfel des Tischdeckchens zwischen den Fingern hielt, während sie mit leiser Stimme und mit einer gewissen schämigen Schüchternheit von nichtigen und unbedeutenden Dingen sprachen und dieselben einförmigen Phrasen wiederholten, die ihr farbloses und gleichmäßiges Dasein ausfüllten.
Er neigte errötend das Haupt, wie wenn er auf frischer Tat ertappt würde; und er schwor, daß kein Wort wahr sei, und zuckte mit den Achseln, im Innern jubelnd vor eitler Ruhmsucht, die ihm auf den Lippen lächelte.
Zuweilen legte er ihr, von einer plötzlichen Regung dankbarer Zärtlichkeit durchdrungen, die rechte Hand aufs Haupt mit jenem zurückhaltenden Lächeln, das zu sagen schien: »Sei nur unbesorgt, du dummes, gutes Ding!«
In der instinktiven Rechtschaffenheit ihres Gewissens jedoch fühlte die alte Jungfer einen Widerwillen entstehen, eine schmerzliche Unruhe über alles das, was in diesen heimlichen Romanen unlauter und gefährlich sein mußte. Dann eilte sie zu ihrem Beichtvater und warf sich ihm zu Füßen, von einer religiösen Glut erfaßt, die sie erfüllte, seit sie den größten Schmerz ihrer Jugend erduldet, und die ihr Trost und Entsagung von allen irdischen Dingen bedeutete, und bat um Vergebung wegen der süßen Schuld, die sie nicht begangen, und tat Buße wegen der eingebildeten Sünde, die sich in ihrem Hause eingenistet. Und unter dem glühenden Eindruck dieser Beichte fand sie den Mut, den Bruder durch verschleierte Andeutungen, durch zartes Drängen zu ermahnen, auf den rechten Pfad zurückzukehren, und aus ihren Worten sprach dabei überströmende, fast mütterliche Liebe und Hingebung.
»Peppino!« sagte sie ihm endlich, »du solltest mir eine große Freude bereiten. Du solltest dich verheiraten.«
Er erhob das Haupt, im ersten Augenblick erstaunt, dann aber geschmeichelt durch den Vorschlag, der ihm zwanzig Jahre abnahm, und er führte mit der nämlichen naiven Begeisterung seiner ersten Jugend ins Treffen, daß »die Ehe das Grab der Liebe sei«, um sich dann neuerdings bitten zu lassen.
»Höre auf mich, Peppino! Denn wenn es einmal zu spät sein wird, wirst du es bereuen! …«
Er schüttelte hartnäckig den Kopf, selig darüber, das erstemal sich weigern zu können; ohne den schmerzlichen Ausdruck zu bemerken, der in den Mienen der armen alten Jungfer lag.
»Nein, ich lasse mich nicht kapern. Sei ganz unbesorgt. Ich liebe zu sehr die Freiheit!«
Sie empfand ein merkwürdiges Gefühl der Sympathie, des Mitleids und des Grolls gegenüber jenem schmächtigen und bleichen Knaben, den die blonde Dame abholen kam und den sie für den unbewußten Mitschuldigen in dem, wie sie dachte, unehrbaren Liebeshandel hielt. Sie durchforschte ihn von weitem mit den Augen, hinter dem Vorhange verborgen, gleichsam wie wenn sie auf den klaren hellen Zügen des Kindes einen Widerschein der verführerischen Reize der Mutter finden könnte, sie ward unruhig, wenn der kleine Schüler einmal fehlte, und sie spann einen ganzen häuslichen Roman aus den unscheinbarsten Gebärden und Handlungen des unwissenden Knaben. Sie rief ihn zu sich, wenn sie Gelegenheit fand, mit ihm allein zu sein, liebkoste ihn, forschte ihn aus, machte ihm irgendein unbedeutendes Geschenk und wurde gleichzeitig angezogen und abgestoßen von der kindlichen Anmut.
Eines Tages sagte ihr der Knabe mit strahlendem Antlitz: »Nach den Ferien komme ich nicht mehr in die Schule.«
Sie fragte ihn mit bebender Stimme um den Grund.
»Die Mama sagt, ich bin jetzt schon groß. Ich werde jetzt in ein Institut geschickt.«
So endete auch dieser Roman.
Sie empfand vorerst eine große Erleichterung, aber zu gleicher Zeit einen Zweifel, einen bitteren Kummer, da sie sah, daß auch die letzten Hoffnungen, die sie auf den Bruder gesetzt, dahinschwanden.
Das Übel, das an ihr seit vielen Jahren nagte, fesselte sie endlich ans Lager. Der arme Lehrer hatte nicht eine ruhige Stunde mehr: in den kurzen Zwischenzeiten, die ihm die Schule frei ließ, war er damit beschäftigt, zu fegen, Feuer anzumachen, die Betten in Ordnung zu bringen, und sein Schnurrbart wurde immer dünner, sein Gesicht pergamenthafter als je, und die Schuhe waren stets beschmutzt. Die Nachbarinnen wurden von Mitleid erfaßt und halfen ihm aus, so gut sie konnten, bald die, bald jene: Frau Mena, die Witwe des Krämers, mit Schmuck beladen, wie wenn es zur Hochzeit ginge, und Agatina, die flinke und ewig fröhliche Tischlerstochter, die das arme, traurige mit ihrer Heiterkeit erfüllte, so daß der alte Junggeselle zuweilen ganz aus dem Häuschen geriet, wenn die Weiberröcke nur so um ihn herumflogen! Es trat, inmitten seiner Sorgen, wohl auch so ein wenig die Versuchung an ihn heran, fast als fühlte er seine Jugend wiederkehren, und er verspürte feine Stiche im Herzen, die ihm in den düsteren Stunden dann wie Gewissensbisse erschienen.
* * *
»Es geht besser. Sie hat geschlafen.«
Der arme Lehrer ergriff, als er die gute Botschaft vernahm, die zitternde Hand und küßte sie: »Oh, Frau Mena, wie ich mich freue!«
Sie machte ihm ein Zeichen, er möge schweigen, und führte ihn auf den Zehenspitzen in die Nähe der Kranken, die, mit einer großen Sanftmut im Antlitz, auf dem schon leise Todesschatten lagen, süß schlummerte. Und wie wenn die Sanftmut dieses Augenblickes den Frieden auf ihn übertrüge, müde von dem Spaziergange mit den Knaben von einem Ende des Städtchens zum andern, sank er auf den Stuhl hinter dem roten Vorhang, ohne die Hand Frau Menas loszulassen, die sie ihm langsam entzog. Die Stube war schon dunkel, und eine geheimnisvolle Traurigkeit lagerte über dem traulichen Raum.
Plötzlich erwachte die Schwester und rief ihn, da sie erriet, daß er da sei, und zum erstenmal war er, als er das Licht anzündete, verlegen, da er vor ihr mit einer andern Frau stand.
Es war die furchtbare Krisis, die nun eintrat: der Kampf mit dem Tode, der sein Opfer forderte. Die Kranke war zu sich gekommen und betrachtete nun das Licht, die Wände und das Antlitz des Bruders mit großen erstaunten Augen, aus denen die Vision geheimnisvoller Schrecken sprach, und sie liebkoste ihn mit ihrem Lächeln, mit dem Hauche ihrer Stimme, mit der bebenden Hand, von einer unsagbaren Zärtlichkeit durchdrungen, die sich an ihn anklammerte wie an das Leben.
Und als sie allein waren, da sagte sie ihm mit jenem merkwürdigen Ausdruck im Blick und in der Stimme: »Die nicht! … Nicht die, Peppino!«
* * *
Als der August kam, schien sich der Zustand einigermaßen zu bessern. Die Sonne drang durch die Hoftür bis zum Bette, und am Abend vernahm man alle Geräusche der Nachbarschaft, das Geschwätz der Weiber, das Knirschen der Brunnenräder ringsumher, das neue Lied, das Gitarrespiel, mit dem sich der Barbier gegenüber die Zeit vertrieb. Die Tischlerstochter kam mit einer Blume im Haar herein und brachte mit ihrem fröhlichen Lächeln Jugend und Gesundheit ins Haus.
»Nein, nein, gehen Sie noch nicht fort! Sehen Sie nur, wie wohl der Ärmsten Ihr bloßer Anblick tut!«
»Es wird spät, Herr Lehrer. Ich bin nun schon eine Stunde hier.«
»Nein, es ist noch nicht spät. Bei Ihnen zu Hause weiß man ja, wo Sie sind. Aber wahrscheinlich erwarten Sie Ihre Freundinnen vor dem Tor.«
»Nein, nein.«
»Oder der Geliebte, wie? Es wird die Stunde sein, in der er vorbeizugehen pflegt und seine Zigarre raucht …«
»O … Was sagen Sie da?! Aber Herr Lehrer! …«
»Ja, ja, so ein schönes Mädel wie Sie … Das ist doch natürlich. Wer würde sich wohl nicht verlieben, wenn er diese Augen sieht … und dieses Lächeln … und dieses schlaue Köpfchen.«
»Ja, was kommt Ihnen denn eigentlich in den Sinn? …«
Und eines Tages faßte er sich sogar ein Herz, ihr in der vom Mondenschein beleuchteten Türnische zu sagen: »Ach, wäre ich nur der Betreffende!«
»Sie, Herr Lehrer?! … Aber ich bitte Sie! …«
Die Aufregung schnürte ihm die Kehle zu, während das Mädchen aus Respekt die Hand nicht zurückzuziehen wagte, die er ergriffen hatte. Und nun flossen die unzusammenhängenden Worte von seinen Lippen: die Liebe, die alles ausgleicht; die Poesie, die der Duft der Seele ist; die Schätze der Zuneigung, die sich bei schüchternen Gemütern kristallisieren; die göttliche Wollust, die Gedanken in den Mienen der Geliebten zu lesen … Das Mädchen betrachtete ihn fast geängstigt, mit großen, weitaufgesperrten Augen, ganz bleich im Gesicht.
»Ich werde diese Stunde nie vergessen, die Sie mir geschenkt, Agata! Auch diesen Namen nicht! Nie! Getrennt, fern voneinander … werden wir beide dieser Stunde gedenken …«
»Lassen Sie mich fort! Lassen Sie mich fort! Guten Abend.«
* * *
Die Kranke, die, auf eine Menge Kissen gestützt, im Bette saß, sprach mit leiser Stimme mit dem Bruder, der neben ihr saß, den Hut noch immer auf dem Kopfe und das Stöckchen zwischen den Knien. Es schien, als hätte sie ihm etwas sehr Wichtiges zu sagen, denn sie verstummte plötzlich und vermochte kaum weiter zu reden, ihre Blicke ruhten lange auf ihm, und über ihr fahles Antlitz huschte eine vorübergehende Röte. Endlich neigte sie das Haupt und sagte: »Warum denkst du nicht daran, dir einen Hausstand zu gründen?«
»Nein, nein,« antwortete er kopfschüttelnd.
»Ja, jetzt ist es noch an der Zeit. Du mußt daran denken, so lange du noch jung bist … Denn wenn du einmal alt bist … und allein … was willst du da machen?«
Der Bruder, der den Tränen nicht Einhalt zu gebieten vermochte, schnitt kurz ab: »Es ist jetzt nicht an der Zeit, darüber zu reden!«
* * *
Aber sie kam oftmals auf dasselbe Argument zurück.
»Wenn du nur ein hübsches Mädchen fändest, reich, gebildet, aus gutem Hause, das zu dir paßt …«
* * *
Und eines Abends, als sie sich recht schlecht fühlte, da begann sie wieder davon zu reden, mit dem unruhigen Geschwätz ihres Zustandes.
»Nein, laß mich sprechen, jetzt, wo ich ein wenig Atem habe. Ich kann nicht erlauben, daß du dich opferst, um mir Gesellschaft zu leisten … Deine ganze Jugend lang. Eine gute Mitgift kann dir nicht fehlen. Und wenn du die Schule aufgibst, desto besser. Wir werden alle miteinander zusammen leben. Wir werden eine Familie bilden. Ein kleines Stübchen genügt für mich; nur Luft muß es haben. Am liebsten wäre mir ein Stübchen, das auf einen Garten geht. Aus der Straße mache ich mir nichts mehr … Ich habe mir immer den Himmel zu sehen gewünscht, wenn ich im Bette liege … und das Grün, die Bäume … So wie wenn zum Beispiel ein Fenster dort wäre, wo jetzt der Türvorhang ist, ein Fenster, durch das man auf die Felder sieht …«
Im Hofe hörte man den Regen plätschern, einen jener hartnäckigen Herbstregen, und der Blechtopf, der draußen stand, erdröhnte unter der Traufe. Eine Katze miaute, und es klang wie das Wehklagen einer menschlichen Stimme.
Der Lehrer, der das Phantasieren der Schwester angehört hatte, wie sie vom Grün und von der Sonne sprach, fragte zärtlich die wie im Irrwahn Redende: »Möchtest du jetzt, wo der Herbst vor der Tür ist, auch aufs Land?«
»Und diese Schule!« fuhr sie mit trübem Lächeln fort; »wenn du eine gute Mitgift fändest … mit einem kleinen Grundstück …«
»Ach, diese Weiber! Wenn die sich etwas in den Kopf setzen!« antwortete er mit gutmütiger Ironie.
Und er schien mit dem Entschlusse zu zögern. Aber nachdem er darüber nachgedacht, sagte er schließlich: »Nein, nein, ich verkaufe mich nicht!«
Und er knöpfte seinen Rock mit Würde zu. »Wenn ich zu wählen haben werde … man kann ja nie wissen … Nein, nein, es ist unnötig!« schloß er endlich. »Ich liebe zu sehr meine Freiheit.«
Sie beharrte bei ihrer Behauptung, daß er sich entschließen müsse, so lange er jung sei, weil er sonst irgendeiner gemeinen Person oder einer Intrigantin in die Hände gerate.
Und da sich der Bruder nicht fügen wollte, da entfuhren der alten Jungfer in einem Anfall von Eifersucht die Worte, die auf die Nachbarinnen gemünzt waren: »Du siehst ja, daß sie dir schon ins Haus fallen und mit dir spekulieren!«
Und die Ärmste starb mit dem Herzeleid, den Bruder den Nachstellungen dieser arglistigen Weibspersonen überlassen zu müssen.
* * *
Da sie in diesem Winkelwerk eine große Lücke hinterließ, obwohl sie darin nur so wenig Raum im Leben eingenommen hatte, fühlte der Bruder sich wie verloren in dieser großen Einsamkeit, und in seiner Trostlosigkeit ging er in den Stunden, da die Knaben ihn frei ließen, zum Tischler. Er fühlte sich, namentlich in den Abendstunden, in süßer und demutsvoller Dankbarkeit zu dem Mädchen hingezogen, das so barmherzig gegenüber der armen Toten gewesen war. Aber der Tischler wollte gewisse Dinge nicht kapieren, und er gab ihm zu verstehen, daß er mit dem Herrn Lehrer in seiner Werkstatt nichts anzufangen wisse, und dieser möge so freundlich sein, »aus seinen Hobelspänen herauszutreten.«
Bei Frau Mena ging's ihm, kurz nachher, nicht viel besser. Als sie sah, daß die Besuche des Lehrers unter dem Vorwande, nach ihrem Söhnchen Aloardino zu sehen, zu häufig wurden und er nicht aufhörte, ihr für die liebevolle Pflege zu danken, die sie seiner armen Schwester zuteil hatte werden lassen, und er ihr unaufhörlich die Hand drückte und sie anschmachtete, da sagte sie ihm geradeheraus: »Herr Lehrer, sprechen wir uns klar und offen aus; denn in der Nachbarschaft wird über uns schon allerlei gemunkelt!«
Der Ärmste, der dieserart überrumpelt wurde, war ganz verwirrt. Aber endlich faßte er Mut und sagte: »Nun gut, Frau Mena! Auch die Ärmste hatte es vorhergesehen. Ich habe mich nie zu diesem Schritte entschließen wollen, weil ich zu sehr die Freiheit liebe … Aber jetzt, wo ich Sie besser kenne … wenn Sie wollen …«
»O, Sie haben ja ganz gut gerechnet, mein Lieber! Jetzt sind Sie der Knaben überdrüssig! Aber das, was ich habe, das habe ich mir erarbeitet, gemeinsam mit meinem guten Seligen … Aber nicht, damit einer daherkommt und mir alles wegißt! …«
* * *
Jeden Tag früh und abends ging der »Bubenlehrer«, mit einem widerspenstigen Knaben an der Hand, die anderen hinterher, durch die Straßen, den alten Schlapphut schief auf dem Kopf, mit glänzend gewichsten Schuhen, das braune Schnurrbärtchen aufgestellt, mit verblödetem Gesichtsausdruck, wie es nicht anders möglich ist bei einem, der zeitlebens das Abc gelehrt und immer vergeblich nach einer Geliebten geschnuppert hat, bis er alt geworden.
Nach Hause gekommen, sperrte er das Tor gut ab, fegte mit dem Besen die Schule aus, machte sein Bett zurecht und besorgte alle die anderen kleinen häuslichen Verrichtungen, bei denen ihm niemand mehr helfen konnte. Am Morgen, ehe es Tag wurde, zündete er das Feuer im Ofen an, wichste sich die Schuhe, bürstete sich seinen Anzug, der immer noch der nämliche war, und ging in den Hof, Kaffee trinken. Er setzte sich auf den Brunnenrand, ganz allein und schwermütig, den Rockkragen bis an die Ohren emporgezogen. Und jetzt, wo die arme Tote nicht mehr da war, ersparte er noch die zwei Soldi für Milch.