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Kuruma ga mawari

Das Rad dreht sich.

 

VIII

An einem Frühlingstage kam auf einer kahlen steinigen Halbinsel, die zwischen der stillen Lagune und dem ewig blauen Meer lag, während am Horizont sich nicht mehr der Fuji Yama, sondern das heilige »mit Blüten umkleidete und mit Silber gekrönte« Gebirge der Pyrenäen erhob, ein Kind zur Welt, dem meine japanische Seele gegeben wurde.

Ihr wißt, wie mein gegenwärtiges Leben bisher verlaufen ist; aber ihr wißt nicht, welchem Ereignis ich es verdanke, daß ich diese Anstrengung in meinem Gedächtnis machen konnte, von der ich euch gesprochen, so daß ich die Gedanken, die Bilder und die Ereignisse meines früheren Lebens wiederfand.

Es war bei einem Arbeiterumzug am ersten Mai in einer deutschen Stadt, in der mir die plötzliche Offenbarung wurde, daß unsre Seelen aus einem Leibe in einen andern übergehen, wie Reisende von einer Herberge zur andern ziehen, und daß sie die Erinnerung an diese wechselnden Zustände bewahren und wiederfinden können.

* * *

Ich irrte ziellos durch die Straßen der Stadt, als ich zufällig auf den Zug der sozialistischen Arbeiter stieß. Da ich nicht hindurch konnte, blieb ich in der Menge stehen und sah zu.

Sie zogen in dichten Reihen vorüber, nach Gewerkschaften geordnet, Trommeln, Pfeifen und Trompeten voran.

Alle trugen rote Abzeichen im Knopfloch und hielten ihren Stock an der Schulter wie einen Degen.

Sie zogen in abgemessenem Schritt, sie traten mit dem linken Fuß kräftig an, sie gingen absichtlich in militärischem Takt.

Die Fahnenträger, die zumeist groß und dick waren, hatten an ihren Hüten Straußfedern in allen Farben befestigt, die auf dem gewöhnlichen Filz und über borstigen Bärten eine Wirkung übten, die man zum mindesten eine unerwartete nennen darf.

Auf den Fahnen standen in goldenen Lettern die Namen der Gewerkschaften und Vereine. Auf Plakaten, die da und dort aus den Reihen auftauchten, waren in kurzen Sätzen die Weisheit, Befürchtungen, Hoffnungen dieser Leute zum Ausdruck gebracht. Aus den Reihen der Ziegelarbeiter erhob sich ein Plakat: »Mißtrauet den Intellektuellen, sie sind unsre schlimmsten Feinde« und über den Köpfen der Wurstmacher las man: »Wir werden die Welt erlösen.« Andere wieder sagten: »Der unwissendste Arbeiter versteht mehr von praktischer Soziologie als die erlauchten Professoren der Universitäten.« Häufig war der Spruch: »Tod dem Kapital!« Sehr häufig auch wurde das »Recht zu leben« und das »Recht auf Arbeit« betont.

* * *

Ich beobachtete die einzelnen Menschen, aus denen die Gruppen sich zusammensetzten, und da ich aus Italien kam, überraschte mich die Härte ihrer Gesichter. Aufgequollen oder ausgemergelt, unsicher und lächerlich in ihren Feiertagsanzügen, ungewandt, ohne richtige Farbe und unharmonisch, waren diese Männer nicht schön. Die einzelnen Individuen desselben Gewerbes glichen einander. Die gleiche Arbeit hatte ihnen die gleichen Entstellungen aufgedrückt; die gleiche Sklaverei hatte sie in gleicher Weise geformt, zermalmt und gefärbt. In der einen Gewerkschaft waren alle Gesichter erdfarben, in einer andern alle mit Finnen besetzt. Die einen hatten alle einwärtsgebogene Beine, andere waren sämtlich rechtsseitig schief, wie Bäume, die vom gleichen Sturm gebeugt waren.

So schritten sie in diesem ungeheuren Zug dahin, der beweisen sollte, daß sie die Zahl für sich hatten, und wenn sie es einmal wollten, auch die Macht und den Sieg.

Wohl, sie konnten die Macht gewinnen, wenn sie wollten, aber es konnte immer nur eine blinde Macht sein, die wieder nur der Herrschaft einiger gewandter Leute anheimfallen konnte, die aus Befreiern sehr bald die schlimmsten Tyrannen werden mußten. In dieser Menge von Parias sah ich nur den Auswurf, den Abfall der Gesellschaft, Zerbrochene und Besiegte des Lebens, die zu Sklaven bestimmt waren, die nicht einmal der finstern Versuchung der Branntweinhändler zu widerstehen vermochten.

Die andern, die stärkeren oder besser ausgerüsteten, fliehen rasch aus dieser Sklavenschar. Die in ihr verbleiben, bleiben nicht freiwillig. Wer es vermag, entflieht aus ihr. Und sie können es, sowie sie sich nur im geringsten bemühen, die geringste Ausdauer haben. Aber diese geringste Mühe, diese Ausdauer ist eben notwendig.

Die da vor mir vorüberzogen, waren sie dieses geringsten Maßes an Energie unfähig? Diese Riesenzahl, die da ihre Macht zur Schau tragen wollte, bestand sie wirklich aus lauter Nullen?

Ich wehrte mich gegen diesen Schluß und ich suchte mich von der Meinung zu überzeugen, daß es nur eines Glaubens bedurfte, um diese dunkle Menge zu erleuchten, nur eines Helden, um sie zu verwandeln und zu einem höheren Leben zu erwecken.

Ich suchte einen Menschen in diesem Menschenstrom, einen Jesus, der der Christus der Armen zu werden vermochte, einen Siddhârta, der die Schranken der Kasten zerbrechen und der Buddha werden könnte, der den Schmerz besiegt.

* * *

Wer Jesus ist, weiß ich, oder glaube es zu wissen, aber wer ist Siddhârta?

Und eine Stimme gibt Antwort: »Ich bin es. Vor fünfundzwanzig Jahrhunderten sah ich, so wie du heute, eine gleiche Menge vor mir, und so wie die deine wurde meine Seele von Schmerz überwältigt.

Ich sah das Volk häßlich, elend, versklavt, ich sah Kranke und Greise; von da an hatte ich keine Freude mehr weder an der Schönheit, noch an der Gesundheit, noch an der Jugend, noch an der Freiheit. Und ich ging in die ungeheuren Wälder hinaus, in das Schweigen und in die Einsamkeit, um nachzusinnen und zu erkennen, wie der Schmerz und der Tod überwunden werden könnten. Unter dem Baume von Uruvela habe ich die vier erhabenen Wahrheiten gefunden, und die dankbaren Menschen haben mich Buddha genannt ...«

* * *

Und ich antwortete der Stimme:

»Buddha! Butsu! Ich glaube mich zu erinnern ... Wo habe ich dich denn gekannt? In diesem Leben hat man mir nur von Jesus gesprochen. Siddhârta, Butsu, mir ist, als ob mein Herz dich geliebt, als ob meine Lippen zu dir gebetet hätten. Ich suche dich, o mein Gott, und ich will dich wiederfinden. Deine Stimme ist verstummt. Wo hab ich dich nur gekannt? ...

Butsu, Dai Butsu, ich glaube mich zu erinnern. Ich sehe dich, groß, sehr groß, vor einem Kloster stehen. Du bist groß, und deine länglich runden Augen sind sanft. Butsu, Dai Butsu! ...

Ich sehe einen langen Pfad, der zu einem Tempel hinaufführt, von dem in kleinen Schlägen eine silberne Glocke ertönt; ich sehe Kirschbäume, Fichten und Bambus; ich sehe so helle und stille Nächte, wie ich sie in diesem Leben niemals gesehen ...«

* * *

Wo bin ich? Der Zug ist vorüber. Die Menge strömt ungeordnet nach. Eine Schar junger Mädchen singt die Loreley:

»Der Gipfel des Berges funkelt
im Abendsonnenschein.«

Was ist das für ein »Berg, der im Abendsonnenschein funkelt?«

Siehst du ihn, den heiligen Berg in leuchtender Weiße? Siehst du ihn dort im Hintergrund der blauen Bucht? Und dieses rote Häuschen, das einsam und schüchtern ans Wasser hinausgebaut ist, sag, erkennst du es wieder?

Und jetzt kommen sie, jetzt strömen sie mir zu, die alten Erinnerungen. Alles ist noch verworren, wie in einem Nebel und erschüttert von der ungeheuren Erregung, die mein Herz bewegt wie ein Gewittersturm, mein Herz, das plötzlich geteilt ist zwischen Jesus und Siddhârta, zwischen Frankreich und Yamato.

* * *

Bin ich es? Bin ich ein andrer? Ist das nicht ein früheres Leben, das sich dem Tode entwindet?

Höre doch: Harfen und Flöten, und ein Liebeslied im Mondschein auf der verzauberten Insel der ewig Liebenden.

Ein geflügelter Engel spricht:

Shikishima no
Yamatogokoro wo
hito towaba
asaki ni niou
yamazakurabana

und ich bin ganz überrascht, daß ich es verstehe: »Das japanische Herz gleicht der Blüte
des wilden Kirschbaums, der in der Morgensonne
duftet.«

Und der Engel lächelt mir zu; aber eine fremde Frau gleitet wie ein Gewitter über das Meer, der Mond verschwindet, der Engel entflieht; die Harfen und Flöten sind verstummt ...

* * *

Er unterbrach seine Erzählung, um zu der Ordonanz, die eingetreten war und salutierend vor ihm stand, zu sagen:

»Sie wünschen?«

»Herr Leutnant, der Herr Oberst läßt Sie bitten, zu ihm zu kommen.«

»Ich weiß, ich komme schon; es handelt sich um die Patrouille. Der gute Oberst wird mir seine letzten Instruktionen und ... seinen Segen geben.«

Unser Kamerad hatte all seine Japanismen, seine Philosophie, seinen Buddhismus, Miyoko und Umeno vergessen; er war nur mehr ein Offizier wie wir andern, ein guter Junge, der jetzt einfach seine Pflicht tat.

Wir wünschten ihm Glück, und er sagte lachend:

»Es wird jetzt etwas bewegter zugehen als auf der Insel der ewig Liebenden. Entschuldiget; ich muß fort. Sayonara!«

Wir drückten ihm die Hand und antworteten:

»Sayonara, Otani San.«

* * *

Natürlich redeten wir von ihm, sobald er fort war.

Rasche Wechselreden flogen hinüber und herüber:

»Ich frage mich, wie ein Mensch, der die Wertlosigkeit der menschlichen Erkenntnis so eingesehen hat, wie er, zu gleicher Zeit so religiös sein kann.«

»Ja, welche Religion hat er denn?«

»Er ist ein absoluter Skeptiker.«

»Nein; er hat ein religiöses Gemüt.«

»Ist er Buddhist oder Christ?«

»Seine Philosophie ist nur ein Deckmantel ...«

»Er glaubt an die Seelenwanderung.«

»An die glaube ich auch: sie ist die Religion der Zukunft.«

»Die Religion der Zukunft ist die Philosophie.«

»Durchaus nicht. Religion und Philosophie werden bis ans Ende der Zeiten nebeneinander bestehen. Die eine kann die andere nicht erdrücken. Beide haben ganz verschiedene Gebiete.«

»Ist unsere Religion nicht die beste Philosophie?«

»Sie wissen ... ich ... ich will Sie nicht ...«

»O, Sie können ganz ruhig sprechen.«

»Morgen wird die Menschheit buddhistisch sein.«

»Wer weiß?«

»Was sagen Sie aber zu seiner Geschichte?«

»Jedenfalls merkwürdig.«

»Ich sehe darin nur den Lebenstrieb in seiner äußersten Steigerung.«

»Ein Leben genügt ihm nicht.«

»Er schafft sich noch neue hinzu.«

»Er hat eine erstaunliche Phantasie.«

»Lieber Freund, Sie reden da immer von Möglichkeiten und beachten die Tatsachen nicht.«

»Welche Tatsachen?«

»Erklären Sie mir einmal, wie es kommt, daß dieser junge Mensch uns von Japan erzählt, wie er es eben getan hat, ohne jemals dort gewesen zu sein; daß er die Sprache versteht, ohne sie gelernt zu haben, daß er Verse und Legenden hersagen kann ...«

»Ist es auch wirklich so?«

»Ganz bestimmt, und übrigens läßt es sich doch leicht nachprüfen und feststellen.«

»Es trägt jedenfalls das Zeichen der Echtheit.«

»Und des Erlebten.«

»Es gibt Dinge, die man nicht erfinden kann ...«

So redeten wir den ganzen Abend. Das Geschützfeuer ließ nicht nach. So viele Geschosse platzten flammend, daß man in unsern Linien hell wie am Tage sah.

Der Oberst kam an unserm Unterstand vorüber und sagte mit sorgenvoller Miene:

»Euer Kamerad wird keine leichte Aufgabe haben!«

* * *

Am andern Morgen hörten wir von dem Unglück. Die ganze Patrouille, bis auf zwei Mann, war gefallen.

Wir erinnerten uns seiner Worte: »Morgen abend werde ich beim Appell nicht anwesend sein, und ich möchte euch diesen letzten Freundschaftsbeweis hinterlassen.«

Wir waren traurig. Wir hatten schon viele Kameraden sterben sehen. Um keinen hatte es uns so leid getan. Ein junger Artillerieoffizier, er war noch nicht zwanzig Jahre alt, spielte auf seiner Geige das Ständchen von Schubert mit so viel Empfindung, daß wir alle Tränen in den Augen hatten. Dann spielte er uns den »Kimagayo«, das heilige Lied der Japaner, und jetzt war wirklich die Seele Otanis um uns. Aus den Augen des jungen Geigers, der sehr künstlerisch und empfindsam war, fiel bei den letzten Takten eine Träne. Wir bemerkten es, und er sagte lächelnd: »Ich weine nicht, sehet, es ist ein Tautropfen, keine Träne ...«

* * *


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