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Konna kokoro ni
shita no mo amae

Ihr habt mein Herz in
diesen Zustand versetzt.

 

III

Eines Morgens sah ich über meiner Türe einen Strauß von kleinen weißen Blüten hängen. Ich nahm ihn; zwischen den Blumen war ein zusammengerolltes Papier; und auf diesem Papier stand geschrieben:

»Lasset Euer Herz nicht unter den Händen
einer Treulosen welken. Sie und ihre Schwester
werden sich mit zwei Schmieden aus Yamagata
vermählen.«

* * *

Als ich sehr traurig nach dem Orte kam, an dem wir uns trafen, stand sie schon lächelnd da, mit der Miene der Unschuld.

»Otani San,« sagte sie, »ich sehe einen Nebel in Euren Augen.«

Ohne ein Wort zu erwidern, reichte ich ihr das Papier, das ich unter den Blumen gefunden.

Langsam, mit lauter Stimme, las sie den Satz vor, der sie anklagte: »Lasset Euer Herz nicht in den Händen einer Treulosen welken ...« Dann sah sie mich an, als fragte sie: »Glaubt Ihr es?«

»Ich glaube es nicht, Miyoko San,« erwiderte ich. »Ihr seid die Reinste, wie Ihr die Süßeste und die Geliebteste seid ...«

Sie schwieg.

»Hab ich Euch weh getan?« fragte ich.

»Kommt morgen wieder,« sagte sie, »dann werde ich die Kraft haben zu sprechen.«

Sie entfloh; ich aber blieb unbeweglich stehen, das Herz vom Argwohn gequält.

* * *

Zu Hause, unter der Veranda, bewegte sich wieder ein Strauß von weißen Blüten im leichten Wind, der vom Meere kam.

Ich zog ihn so gewaltsam an mich, daß das Papier heraus und zur Erde fiel, die Stufen hinabrollte und sich noch durch die Allee des Gartens bewegte. Ich mußte ihm nacheilen. Ich ahnte wohl, daß es Unglück für mich enthielt, und dennoch lief ich ihm nach ...

Endlich konnte ich es fassen, und ich las:

»Gehet heute abend, wenn die Nacht anbricht,
nach dem Hause unter den Ahornbäumen:
Ihr werdet dort die beiden Schmiede
aus Yamagata sehen.«

* * *

Ich ging hin. Gewiß, ich hätte es nicht tun sollen. Aber wer von euch wäre an meiner Stelle nicht hingegangen? Seid aufrichtig. Wenn jemand euch sagte: »Dort wirst du etwas Schreckliches erfahren,« wer würde nicht hineilen und nachforschen.

Und so wie ich dem Papier nachgeeilt war, das unter dem Winde entrollte, so schritt ich den Berg hinan, um zu sehen, ob es die Wahrheit gesprochen hatte.

* * *

Ich hörte einen Bauern zu seiner Frau sagen:

»Wer mag zu so später Stunde den Berg hinansteigen?«

Und in meinem Herzen gab ich Antwort: »Der, der mit eigenen Augen die Lüge schauen will.«

Wenn der Bauer meine Antwort gehört hätte, er hätte sicherlich gesagt: »Er hat Unrecht.« Und dennoch, wenn er eines Tages einen Brief erhielte, der in einem Strauß von Blüten verborgen ist, auch er würde hingehen, mit eigenen Augen zu schauen, ob es wahr ist, daß sein Weib ihn betrügt.

Und ich sann und sann ...

Sie sagte zu mir: »Morgen werde ich die Kraft haben zu sprechen.« Warum erst morgen? Um Ausreden zu erfinden? Lügen zu ersinnen? Ist das möglich? ... Es ist nicht wahr ... Oh! Was weiß ich denn? Was weiß ich, und was soll ich denken? Miyoko, Ihr, die ich liebte, himmlische Miyoko, Ihr habt mein Herz in diesen Zustand versetzt.

* * *

Ich nahm das kleine viereckige Stück roter Seide aus meinem Ärmel, das sie mir eines Abends gegeben. Darauf hatte sie in chinesischen Buchstaben die Inschrift gestickt: »Sei glücklich ...«

In der Tat, ich war glücklich gewesen. Aber ich bin es nicht mehr. Und hart stieß ich das Stückchen Seide, das ich zerknüllt, in meinen Ärmel hinauf; dabei fühlte ich in der Ärmelschnur den Dolch, den mein Vater mir sterbend hinterlassen. »Bewahre ihn,« hatte er mir gesagt. »Solange der Mut dir nicht versagen wird, wirst du dich auf seine Klinge verlassen können. Man macht heutzutage so sichere Klingen nicht mehr, mein Sohn.«

Ich berühre den Dolch, ich streichle ihn zärtlich. Warum tue ich das?

Sollte mir im dunkeln Bewußtsein ahnen, daß ich ihn heute brauchen könnte?

* * *

Ich setzte mich an den Rand des Weges. Ich ziehe die Klinge aus ihrer Scheide. Sie funkelt. Und doch ist es schwarze Nacht. Aber das geringe Licht, das im nächtlichen Raum verweilt, sammelt sich in dem stählernen Spiegel.

Treulos, treulos? Sie ist sicherlich nicht die erste; und nach ihr werden es noch so viele andere sein! Aber was kümmern mich die andern? Ich bin dieser Unruhe müde; ich bin aller Dinge müde. Wenn ich umkehrte? Nein. Ich will sie sehen. Ich will mich davon überzeugen, daß ich das Recht habe, sie zu verachten und die Liebe zu hassen. Ich lasse den Dolch wieder in seine Scheide zurückgleiten, und ich schreite weiter bergauf nach dem Hause der Ungetreuen.

Ja, ich kenne diesen Ort. Hier ist der Kreuzweg, an dem die Fichten mit den gewundenen Stämmen stehen, die sich gen Süden neigen; und hier ist der Baum, der sich teilt und der der Fichte der Verlobten gleicht: auf Takasago, der Insel Takasago ... Hier war es, wo wir uns zuerst begegneten. Erinnerst du dich?

Das Haus unter den großen Ahornbäumen ist nicht mehr weit. Nur noch wenige Minuten. Sind diese Schmiede zwei Brüder? ... Dort unten ist Licht ... Miyoko hat mir mehr Freude verursacht, als irgendein Mensch in der Welt, und zum Danke fühle ich nur Haß für sie ... Dies Licht kommt von dort. Es ist dort. Dort werde ich Miyoko sehen, die einst mein war, Miyoko, die Reinste ... mit einem Schmied aus Yamagata. Mich rächen? und wofür? Sie schuldet mir nichts. Sie hat mir nichts versprochen ... Wie ich leide! ...

* * *

Soll ich ins Haus treten? Nein; nicht gleich. Ich will erst sehen. Ich gehe rund ums Haus. Ich klettere über die Hecke. Ich höre, daß Gäste da sind. Alle Lampen sind angezündet. Ich trete näher. Es ist wahr. Da sind sie; und neben ihnen sitzen gefällig, lächelnd, zärtlich Umeno und meine kleine Miyoko. Die Mutter geht eifrig und dienstfertig hin und her.

Ich beobachte, ein unsichtbarer Zeuge, dieses gewöhnliche Schauspiel; und drinnen weiß kein Mensch, daß ich hier draußen spähend, lauschend, halb wahnsinnig stehe. Niemand denkt an mich.

Sieh nur, Otani, sieh nur: der dicke Mann, der neben Miyoko sitzt, nimmt sie um den Leib. Sie läßt es geschehen. Sie lächelt noch ein wenig mehr. Sie sieht glücklich aus, sie wie ihre Schwester und wie ihre Mutter. Sieh nur, Otani.

* * *

Mir schlug das Herz so heftig, daß ich nicht länger dort bleiben und schauen konnte.

Ich ließ mich gegen die Hecke fallen, und am schwarzen Himmel, der mit tausend Sternen besteckt war, sah ich Bild auf Bild vorübergleiten.

Zuerst kam mein Haus, mein kleines rotes Haus mit seinem Ausblick auf das Meer und die grünen Hügel, und in der Ferne der gewaltige Fuji zwischen den blauen Wassern und dem blauen Himmel; meine ruhige Kindheit am Fuß des Dai Butsu.

Ich höre den Wind in den alten Tamarinden rauschen und den silbernen Ton der Tempelglocke; dann kam Itaro und die nächtlichen Fischfahrten; die Legende von den Käfern und die Predigt auf dem Hügel mit der Geschichte von Tojima Taro: »Er lief durch den Wald, die Steine des Weges rissen ihm die Füße blutig ...«; dann kamen die Begegnungen mit Miyoko, die so süßen Augenblicke ...

Vorbei? All das sollte für immer vorbei sein?

Und wie bei der Predigt, aus dem Bedürfnis, zu meinem Schmerz irgend etwas Tröstliches und Geheimnisvolles zu fügen, sagte ich wie die andern dort, ohne die Worte zu verstehen, aber mit inbrünstigem Glauben:

»Namu miyô-hô, renge-kiyo!«

* * *

Und sogleich wurde ich ruhiger und fühlte mich stärker. Es schien mir, als hätte ich von meiner Vergangenheit Abschied genommen; als hätte ich sie begraben; als ginge ich neuen Abenteuern entgegen. Und ich fühlte kein Bedauern. Ich erhob mich. Mit sicherem Schritt ging ich rings um das Haus und trat durch die große Türe in den hellerleuchteten Saal, in dem die beiden Mädchen und die schwerfälligen Schmiede lachend ihre Tassen mit Sake tauschten.

* * *

Nicht ich war es, der am meisten verwirrt war.

Die Alte grüßte mich höflich, erinnerte mich an meinen letzten Besuch und versicherte mich, daß sie gänzlich meiner ehrenwerten Persönlichkeit zu Diensten stünde.

Die Schmiede sagten mit leiser Stimme zueinander: »Wer ist dieser Bursche, der so spät kommt und der zu grüßen vergißt?« Umeno antwortete mit einer kecken Bemerkung, die die beiden dicken Männer zum Lachen brachte.

Ich sah sie scharf an. Der neben Miyoko saß, fragte mich: »Warum seht Ihr mich so an?«

Ich gab keine Antwort.

»Ihr seid offenbar taub oder schwachsinnig,« sagte er wieder.

Da faßte Miyoko mit einer bittenden Gebärde seine beiden Hände.

»Was habt Ihr?« sagte er zu ihr. »Seitdem dieser Eindringling gekommen ist, seid Ihr ganz verändert, Miyoko San; Ihr vermögt nicht mehr zu sprechen und seid ganz verwirrt!«

Umeno antwortete für ihre Schwester.

»Es mißfällt ihr, daß ein Fremder sich in unsere Gesellschaft eingedrängt hat; es mißfällt ihr vor allem, daß dieser Fremde ein Bursche ist, der nichts hat, ohne Eltern, ohne Mittel und ohne Erziehung.«

* * *

Dies wurde mit schneidender Stimme gesprochen; ich sollte wohl vor Schande und Wut sterben; aber es machte mir nichts aus. Ich hatte von anderem zu sehr gelitten!

Umeno war erbittert, da sie mich so unempfindlich sah.

»Er wird nicht fortgehen,« sagte sie mit gezwungenem Lachen.

Ihre Frechheit wirkte ansteckend. Der Mann neben Miyoko sagte grollend:

»Er wünscht vielleicht, daß man ihn hinaustrage?«

Ich griff heimlich nach dem Dolch in meinem Ärmel und antwortete mit langsamer gedehnter Stimme:

»Ihr werdet mich jedenfalls nicht hinausbringen ...«

Er war verblüfft. Er trat auf mich zu ... und stammelte:

»Was?! Ich werde nicht ... ich werde nicht ...?!«

Ich sah ihn an. Es war ein Mann von fünfunddreißig bis vierzig Jahren, dick, groß, mit mächtigen Muskeln.

Ich war vor ihm wie ein Kind vor seinem Vater.

Er hatte offenbar den gleichen Eindruck, denn er sagte mit verächtlicher Miene:

»Wenn ich Euch berühre, schwaches kleines Geschöpf, breche ich Euch in Stücke wie eine Porzellanschüssel. Packt Euch! Habt Ihr noch nicht eingesehen, daß Ihr hier zuviel seid, und daß niemand Eure Gegenwart wünscht?«

»Niemand?« sagte ich und sah Miyoko an, die bleich war wie eine Tote ...

Plötzlich hob der dicke Mann wütend seine Hände gegen mich und heulte: »Schlecht gewaschener Hund, schmutziger kleiner Kerl, hinaus! oder ich schlage dich tot!«

Ich machte einen Sprung nach rückwärts und zog meinen Dolch aus der Scheide. Ich sah, daß er gleichfalls einen Dolch in der Hand hatte; aber ich war schneller als er: ich stieß ihm meine Klinge in den Hals, ehe er auch nur die geringste Bewegung gemacht hatte, um sich zu verteidigen.

* * *

Wie eine schwere Masse brach er über den kleinen mit gebrechlichem Porzellan gedeckten Tischen zusammen. Es war ein schrecklicher Aufruhr. Die Alte, Umeno und der andere Mann entflohen und verbarrikadierten sich in einem Zimmer nebenan. Nur Miyoko allein war geblieben.

»Sayonara,« sagte ich traurig zu ihr.

»Sayonara, Otani San.«

»Ihr werdet mich nicht wiedersehen.«

»Ich fürchte es.«

»Ich liebte Euch, Miyoko San.«

»Ich liebte Euch auch ...«

Darauf ließ sie eine Tapetenwand zurückgleiten und sagte sehr rasch: »Fliehet hier hinaus!« Ich gehorchte. Ich sprang in die Nacht hinaus. Die bewegliche Wand schloß sich hinter mir. Ich überstieg die Hecke. Ich tat ein paar Schritte in den Wald hinein, langsam, geräuschlos, wie eine Katze. Ich wendete mich um; ich sah Laternen zur großen Türe herauskommen und sich in der entgegengesetzten Richtung bewegen, als die war, nach der Miyoko mich gewiesen hatte.

Sie hatte mich gerettet.

* * *

Und von nun an lag das ruhelose Leben der Geächteten vor mir ...

In jener ersten Nacht, während ich aufs Geratewohl und vorsichtig spähend durch das Dickicht und die Bäume dahinschritt, tönte mir immer wieder der Satz aus der Predigt in den Ohren:

»Er lief durch den Wald, die Steine des Weges rissen ihm die Füße blutig ...«

Ich weiß, ich weiß, erwiderte ich ärgerlich auf den Satz, der mich verfolgte. Das war Tojima Taro, und jetzt bin ich es, der durch die Nacht wandelt. Nun, was weiter? Die Sonne wird morgen aufgehen, die Blüten werden duften, ich werde leben ...

* * *

Ich nahm mein Schicksal hin. Ich hatte einen Menschen getötet; in einem Augenblick hatte ich meine Freunde, meine Ruhe, mein Haus verloren, ich war verdammt zu fliehen, an den Türen meine Schale Reis zu erbetteln, Heimat und Namen zu wechseln, und ich ergab mich darein, entsagungsvoll und ohne mich im geringsten gegen das Schicksal aufzulehnen.

Allerdings erfüllte mich auch eine Freude: Miyoko liebte mich noch.

Sie hatte es mir durch ihre letzte Tat bewiesen, und ich hatte es in ihrem letzten Blick gelesen.

Aber alsbald kehrte der Zweifel wieder. Was bedeutete dieses Verlobungsfest, was bedeutete der Tausch der Becher mit Sake?

Und mit den Erinnerungen kehrte die Traurigkeit wieder:

»Alles Unglück der Männer kommt aus einer einzigen Ursache ...«

Wie sehr hatte Itaro Recht gehabt! Dafür, daß wir unsere Augen auf das Obi dieses jungen Mädchens gerichtet, sind wir beide bestraft, dieser Schmied und ich. Er ist vielleicht tot, und mir geht es nicht viel besser.

* * *

Ich wanderte und wanderte ... Bisweilen hielt ich mich auf einem Bauernhof auf, wo es irgendeine dringende Arbeit zu tun gab. Man gab mir ein Lager, Kost und einige Sen, und dann begab ich mich wieder auf den Weg. Ich wanderte den Flüssen entlang, überschritt die Berge, stieg in die Täler hinab, ohne zu wissen, ohne zu fragen, wo ich sein mochte.

Ich mied Dörfer und Städte, und überall waren die Frauen gut gegen mich. Ohne daß ich es von ihnen begehren mußte, boten sie mir die Tasse Tee und die Schale mit Reis.

»Sohn der Wege,« sagten sie mit einem freundlichen Lächeln, »mögen die Götter Euch geleiten und Euch vor allem Unheil bewahren.«

Sie wünschten mir gute Gesundheit und gute Reise, und ich ging und ging, wohin der Zufall mich führte.


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