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Ki ga areba, me mo kuchi hodo
ni mono wo iu

Enchô (Botan-Dôrô)

Die Augen können, wenn sie wollen,
ebensogut sprechen wie der Mund.

 

II

»Wollt Ihr morgen mit mir zum Tempel auf dem Hügel kommen? Es ist das Fest Nichirens, wir wollen nur die Predigt hören. Begleitet Ihr mich?«

»Ich komme, Itaro San, wenn Ihr geruhet es mir zu gestatten.«

»Ich wünsche es sehr, mein Sohn, um Euret- und um meinetwillen.«

* * *

Eine große Halle öffnete sich auf einen kleinen Garten. Wir gingen geradeswegs auf eine Art Schreibtisch zu, hinter dem ein kleiner Tempelschüler kauerte, der die Namen und die Opfergaben eintrug.

Nachdem dies geschehen war, setzten wir uns an unsern Platz. Itaro zog seine Pfeife hervor und begann zu rauchen.

Ich blickte umher: ich bemerkte keinen Bekannten unter den Anwesenden; alle hatten sich bequem hingestreckt, die einen schliefen, andere gähnten, andere rauchten.

Auf einem erhöhten Tische lagen die nötigen Gegenstände bereit. Das Pult für die heiligen Bücher, die Räucherpfanne, das silberne Glöckchen. Vor dem Tisch hing ein mächtiger Gong in seinem Gestell.

Der kleine Tempelgehilfe setzte sich neben dem Gong nieder; durch die Menge lief ein leichtes Geräusch, wie es über die Wälder vor dem Gewitter läuft; ein Rauschen von Seide und leichten Bewegungen, da jeder sich zurecht setzte, eine beherrschtere oder bequemere Stellung einnahm, denn der Gottesdienst sollte beginnen.

In der Tat erhob sich das Gebet:

»Namu, amida Butsu,
Namu miyô-hô rengekiyo.«

Der kleine Gehilfe begleitete, indem er auf den Gong schlug, diese Litanei in Sanskrit, die niemand verstand.

Als es stille geworden war, trat der Priester ein; er trug ein Kleid aus roter Seide, mit goldenen Blumen und Vögeln bestickt.

Er neigte sich vor den heiligen Bildern, setzte sich auf seinen erhöhten Sessel, ließ sein Glöckchen erklingen, verbrannte Weihrauch auf der Pfanne, und las eine Stelle aus den heiligen Büchern.

Es war Chinesisch. Wieder verstand man nichts; aber man folgte den Vorlesungen mit tiefer Andacht, und in jeder Pause wiederholte die Menge im Chor die heiligen Worte:

»Namu, amida Butsu ...«

Nun trank der Priester eine Tasse Tee und begann darauf seine Predigt in klarer und verständlicher, allen vertrauter Sprache.

Er sprach von Nichiren, dem heiligen Gründer der Sekte, als zwei blaue verspätete Kimonos die Halle betraten. Es waren Miyoko und Umeno aus dem Teehause unter den Ahornbäumen.

Sie setzten sich bescheiden und demütig, ohne erst lange zu suchen, an die erste leere Stelle, die sie fanden; sie glitten durch die Menge wie Aale zwischen zwei Felsen in der Wassertiefe.

»Die Welt ist schlecht,« schrie der Priester, »die Welt ist verdorben, die Welt steht in Flammen, und ihr selbst, ihr Unglücklichen, Ihr nähret das Feuer, das euch verzehrt ...!«

Meine Augen und die Miyokos begegneten einander und unterhielten sich in stummer Zwiesprache, während der Priester weiter schrie und durchaus wollte, daß wir in Brand stünden, und während die Gläubigen in näselndem Tone in Sanskritversen Buddha um Hilfe anflehten.

Und die Augen Miyokos fragten meine Augen:

»Warum seid Ihr nicht nach dem Hause unter den Ahornbäumen gekommen?«

Und meine Augen antworteten:

»Man hatte mir Angst gemacht, Miyoko San. Man hatte mir gesagt, alles Unglück der Männer komme aus einer einzigen Ursache ...«

»So reden alte Leute.«

»Ohne Zweifel.«

»Ihr glaubt es doch nicht?«

»Ich werde nicht mehr daran glauben.«

»Werdet Ihr kommen?«

»Sicherlich.«

»Ist es also versprochen?«

»Morgen werde ich zu dem Hause unter den Ahornbäumen hinaufsteigen.«

»Und was denkt Ihr von dieser Predigt?«

»Nichts denke ich davon: es ist immer dasselbe.«

»Ihr habt recht. Und jetzt wollen wir uns nicht mehr ansehen, sondern die Worte des Priesters hören.«

»Wie Ihr wollt, Miyoko San.«

* * *

»Ach! Ach! wieviele sind unter euch, die reinen Herzens sind? Vielleicht keiner. Wieviele sind unter euch, deren Herz von den sieben bösen Leidenschaften verzehrt wird? Vielleicht alle. Lasset uns bereuen! Lasset uns Heilung suchen! Kehren wir in den Garten der Unschuld zurück. Es ist nie zu spät. Höret die alte Sage von dem Fürsten von Owari, Tojima Taro, der sich in dem Walde der Verderbnis verlor und den sein Diener suchen ging und rettete, als er schon dem Tode verfallen war ...«

Obwohl sie den Entschluß gefaßt hatte, nicht nach mir zu sehen, wendeten sich die Augen Miyokos mir zu und sprachen zu mir:

»Werdet Ihr mich lieben?«

»Das ist mein Wunsch, Miyoko San.«

»Ich weiß Euren Namen nicht, mein Geliebter ...«

»Ich weiß den Euren; Itaro hat ihn mir gesagt.«

»Hören wir jetzt auf die Predigt.«

»Ich möchte lieber lesen, was Eure Augen sprechen.«

»Höret zu: es ist interessant.«

Und der Priester fuhr mit seiner Geschichte fort.

» ... Er hatte Durst; er schöpfte Wasser in der hohlen Hand, und wie in einem Spiegel sah er in seiner Hand ein entzückendes Angesicht. Er wollte es betrachten, aber das Wasser entfloß zwischen seinen Fingern und das Gesicht verschwand. Wieder schöpfte er Wasser und wieder sah er das gleiche Antlitz. Er wollte trinken, und kaum hatten seine Lippen das Wasser berührt, als er jenseits des Brunnens ein junges Mädchen sitzen sah, deren lächelndes Antlitz dem glich, das er in seiner hohlen Hand gesehen hatte ...

Er schritt auf sie zu; aber sie erhob sich und entfloh. Er verfolgte sie. Er lief durch den Wald. Die Steine des Weges rissen seine Füße blutig, die dornigen Zweige zerrissen ihm die Hände und das Gesicht, die Fee lief immer noch ...«

Wieder begegneten unsere Augen einander, ich hörte nicht mehr, wie die Geschichte weiter ging, und ich erfuhr nicht, was mit Tojima Taro geschah, der in den Wald der Verderbnis geeilt war, um die Fee zu verfolgen ...

Ich erwachte erst aus meinem Traum, als all die Gläubigen riefen: »Namu amida, Butsu ...«

Und der Priester fuhr fort:

»Welche Lehre ist in dieser Legende verborgen wie die Perle in der Muschel?

Es ist diese: Man muß dieses Leben nutzen, um das Heil zu finden. Selbst wenn wir uns in Schwierigkeiten befinden, sollen wir den Mut nicht verlieren. Die Lage des Fürsten von Owari war furchtbar: dennoch fand er den Weg in den Garten der Ruhe zurück. Vor allem dürfen wir unser Heil nicht auf ein künftiges Dasein verschieben. Wir würden dann nur noch weiter vom Ziel sein. Die Mutlosigkeit in diesem Leben wird in dem nächsten zur Feigheit. Wollen, bis man dahingelangt, nichts mehr zu wollen, ja nichts mehr zu wünschen, das ist die Lehre des Meisters. Sie ist einfach. Und wenn uns die Kraft gebricht, wenn wir auf dem Wege sinken, wie er selbst gesunken ist, dann lasset uns beten! Das Gebet ist leicht und es ist dem Unwissendsten möglich. Lasset uns beten! Namu amida Butsu, namu miyô-hô rengo-kiyo! Wenn wir sie mit Inbrunst sprechen, wenn wir sie mit Sammlung wiederholen, wenn wir jeden Gedanken in uns vernichten, dann werden diese heiligen Worte, die Nichiren uns lehrte, uns zum Frieden und zur heitern Ruhe führen: Namu amida Butsu, namu miyô-hô renge-kiyo!«

»Namu miyô-hô renge-kiyo!« wiederholten alle Anwesenden mit Inbrunst, während der Tempelgehilfe in gemessenem Rhythmus an den Gong schlug ...

* * *

Der Priester verneigte sich vor den heiligen Bildsäulen und zog sich zurück. Ein Diener schritt ihm voran, der die Bücher trug. Auch wir erhoben uns. Itaro schritt vor mir hinaus; Miyoko fand sich zufällig dicht hinter mir. Sie flüsterte mir zu, was ihre schönen Augen mir bereits gesagt hatten:

»Werdet Ihr nach dem Hause unter den Ahornbäumen kommen?«

Ich antwortete ihr: »Morgen werde ich kommen.«

* * *

Ich dachte an nichts mehr als an diese Einladung und an mein Versprechen. Mit Ungeduld erwartete ich, um einen Tag älter zu sein. Wie lange dauerte es noch bis zum nächsten Tag!

Und obwohl die Nacht noch nicht gekommen war, beschloß ich mich schlafen zu legen, damit die Zeit rascher verginge.

Aber der Schlaf wollte nicht kommen, und ich dachte: »Morgen werde ich sie sehen! Wie süß wird das sein! Das letzte Mal war es ein Zufall. Diesmal ist die Begegnung gewollt; von ihr gewollt und von mir ... Dies also ist der würdige Schluß der schönen Predigt, die ich heute gehört! Dies ist die Perle, die ich in der Muschel Nichirens gefunden! Und Itaro hatte mich hingeführt, daß ich der Andacht pflegen und mich erbauen sollte!«

Ich fühlte eine leichte Reue und lächelte zugleich, und ich hörte die entzückende Stimme Miyokos, die zu mir sprach:

»Achte nicht darauf, mein süßer Freund, was all diese alten Leute reden. Die Sitte ist die Tochter des ohnmächtigen Alters, das eifersüchtig auf die Jugend ist. Da sie selbst nicht mehr lieben und geliebt werden können, möchten sie auch die unschuldige Jugend der Liebe berauben. Alles, was sie sagen, ist Unsinn, und ihre Fabeln beweisen gar nichts. Komm, mein Freund, ich, die ich jung bin wie du und mich darnach sehne, geliebt zu werden, ich werde dir Legenden erzählen, die das Gegenteil sagen, in denen die Liebe süß ist wie reife Früchte und dufterfüllt wie die Blumen.«

Dann wurden meine Gedanken schwankend und verworren. Ich sah Itaro und den Priester, Tojima Taro und die Samurais in einem grauen dämmernden Nebel an mir vorüber gaukeln; ich erinnere mich noch, daß ich murmelte: »All das wiegt nicht einen Blick Miyokos auf,« – dann schlief ich ein ...

* * *

Am andern Tage, als die Zeit gekommen war, brach ich auf, der Liebe entgegen; eine unbekannte Kraft zog mich hin; ich ging gesenkten Hauptes, ohne mich umzusehen, trotz allem, trotz dem Priester und dem Wald der Verderbnis, trotz dem alten Fischer und den Samurais, die in Käfer verwandelt wurden. Ich ging, und all meine Furcht von vordem, alle Legenden und alle Sittenlehren hatten nicht die Kraft, gegen einen Traum anzukämpfen.

* * *

Sie erwartete mich außerhalb der Hecke, die ihren kleinen Garten umgab, und sowie sie mich erblickte, eilte sie auf mich zu. Ich grüßte sie ehrerbietig, aber sie sagte rasch: »Kommt mit mir in den Wald, ich möchte nicht, daß meine Mutter uns sähe.«

Wir wanderten aufs Geratewohl unter den Fichten. Ich wußte ihr nichts zu sagen. Meine Finger streiften ihre Finger. Ich war glücklich. Sehr bald sagte sie: »Es ist wohl schon lange, daß ich vom Hause fort bin? Ich muß heimkehren. Werdet Ihr morgen zur gleichen Stunde an diesen Ort kommen? Werdet Ihr ihn wiedererkennen? Merkt Euch diese Bäume, deren Stämme gewunden sind und sich gen Süden neigen; und diesen hier, dessen Stamm sich spaltet wie die Fichte auf der Insel Takasago ...«

»Ich werde ihn wiedererkennen, Miyoko San, und ich werde morgen zur gleichen Stunde kommen.«

»Oh! Ich vergaß,« sagte sie, »wie heißet Ihr?«

»Otani,« erwiderte ich.

»Vergeßt mich nicht, Otani San.«

»Selbst wenn ich es wollte, könnte ich Euch nicht vergessen.«

»Auf morgen, mein Freund.«

»Auf morgen, sehr geliebte Miyoko San.«

* * *

Ich kam am nächsten Tag, und ich kam an den folgenden Tagen. Es war sehr süß und immer gleich. Wir blieben nicht lange beisammen; höchstens eine Viertelstunde; oftmals nicht so lange, niemals länger ... aber ich blieb davon berauscht für den ganzen übrigen Tag und durch die ganze Nacht.

* * *

Eines Abends, am Nachthimmel leuchteten die Sterne, unter den Fichten war es still, wir waren von dieser Stille ergriffen, da sagte sie:

»In all meinen vergangenen Leben habe ich Euch geliebt, Otani San, und ich werde Euch in allen kommenden lieben ...«


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