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Omars Weisen

Inguschengesänge.

Wir ritten im Tal.

Die Schatten der Berge fielen länger und länger.

Ein kalter Windhauch ließ uns erschauern. Es dunkelte.

Nur vor uns die schneeigen Gipfel glühten noch wunderbar im Wiederschein eines Sonnenunterganges, der ferne die Fluten des Schwarzen Meeres mit Feuer und Purpur färbte.

Als wir den Aul erreichten, erwartete uns unser Freund Wassan Girei an seiner Hofpforte. Jünglinge in Tscherkesska und Papacha nahmen uns die Pferde ab. Wir wurden in das kleine Haus geführt, das zur Aufnahme der Gäste dient, die Kunatzkaja. Im Vorzimmer wurden uns unsere Mäntel abgenommen; Wassan Girei eilte über den Hof, in das Wohnhaus, das Abendbrot auftragen zu lassen.

Wir traten ins Gastgemach. Ein mächtiger Kamin, roh gebaut und rauchgeschwärzt. An den Wänden Betten und Divane. Einige Stühle.

Während des Essens fragte uns der Hausherr, ob wir gern einen Sänger hören wollten. Omar sei eben im Aul.

Wir bejahten eifrig, denn in diesen Sängern leben die Überlieferungen des Inguschen-Volkes, dessen Seele in ihren Liedern glüht und leidet, liebt und haßt.

Es wurde nach Omar gesandt.

Wir aber setzten uns in die Nähe des Kamins, in dem einige mächtige Klötze brannten, während Licht und Schatten in dem Zimmer tanzten.

Da tritt Omar ein, in der Linken seine Tschöndyra, ein rundes Streichinstrument, in der Rechten einen Stock. Ein Knabe leitet ihn mit Ehrerbietung und Sorgfalt. Einige Nachbarn folgen, sie bleiben an den Wänden stehen.

Dem Sänger wird ein Stuhl gegeben, er tastet und setzt sich. Das Licht fällt auf ihn. Wir sehen seine Augen – sie sind starr und leblos – –

Omar ist blind! –

Er fängt an seine Tschöndyra zu stimmen.

Mittelgroß, ein Fünfziger mit rötlichem Haar und Bart. Der Mantel von Wind und Wetter braun gefärbt, die Tscherkesska blau verblaßt.

Er setzt den Bogen an, sicher und taktfest streicht er die Saiten. Stürmischer Jubel quillt aus ihnen hervor. Töne voll Glück steigen höher und höher. Sieghafte Freude jauchzt in ihnen.

Die Hörer ergriff eine edle Begeisterung – was schön und was groß in den Herzen der Menschen, weckte sein Spiel mit Allgewalt auf, das Leben zu wagen zum Siegen oder Sterben. – –

Wir erwachten – er hatte aufgehört.

»Kennt ihr den Ursprung der Weise?«

Wir verneinten.

»Das ist Elmursas Weise.«

»Erzähl doch unsern Gästen«, wendet sich Wassan Girei zum Sänger, »den Ursprung dieser Melodie«. Dann erklärt er uns: »Von jeder Weise weiß er zu sagen, wie sie entstanden.«

Omar starrt mit seinen leblosen Augen nach oben:

»Ich will sie euch erzählen: Als Schamyl Der letzte Vorkämpfer kaukasischer Freiheit. auf der Höhe seiner Macht stand, da beschloß er einen Zug in die Kabarda zu unternehmen, um auch die Fürstin dieses Landes zu zwingen, gemeinsame Sache mit ihm zu machen.

Er sandte Sadullah, seinen Náib, Unterfeldherr. Befehl, sich ihm mit den Reitern der Tschetina Das Land der Tschetschenzen. in der Ebene am Ufer des Terek anzuschließen, wenn er mit seinen Scharen aus den Bergen des wilden Daghestan Der östliche Teil des Kaukasus. herabkommen würde. –

Hoch zu Roß, im Schmuck der Waffen, in endlosen Reihen, harrt auf der Steppe das Heer der Tschetschenzen, der Kämpfer für der Berge Freiheit. Hin und wieder flattert im Sonnenschein eine grüne Fahne mit dem Halbmond. Steil fallen die Ufer zum Terek ab, der geschwollen durch Regengüsse dahinströmt.

Sadullah hält Heerschau.

Morgen soll der Imam Geistlicher Führer, Titel Schamyls. eintreffen.

Da kommt auf dem anderen Ufer ein Wagen gefahren, ein munteres Dreigespann, mit Schellen und Glocken. Auf dem Bock der Kutscher, zwei Frauen darin.

Aller Augen sind auf das Gefährt gerichtet.

Sadullah sprengt vor.

»Nun, ihr Helden, da ist schöne Beute«, ruft er allen hörbar, »wer will sie sich holen?«

Es rührt sich keiner.

Der Terek ist hoch geschwollen und braust; es wäre sicherer Tod.

Sadullah hebt sich in den Steigbügeln:

»Wie, ist kein einziger unter euch, der es wagt? – ich bin euer Náib – darum darf ich es nicht – sonst würfe ich mich selbst in den Fluß – trotz meiner Jahre – und holte die Beute – ist keiner unter euch, der Mut hat?«

Es meldet sich niemand, unbeweglich steht das Heer im Sonnenschein.

In den Augen des Náibs glüht zornige Enttäuschung.

Da sprengt vom Ende der Schlachtreihen Elmursa hervor, ein Jüngling noch, kaum kräuselt sich der Schnurrbart auf der Lippe, doch hat er einen Namen als Held in der Schlacht, als Meister auf der Tschöndyra:

»Ich will es wagen, Náib!«

Das steile Ufer hinab und ein Sprung in den schäumenden Fluß.

Ihm nach ein zweiter Reiter, ein Kind, sein jüngerer Bruder:

»Ich würde mich schämen, vor meine Mutter zu treten, wenn ich meinem Bruder nicht folgte.«

Auch er klettert zu Pferde die Böschung hinunter und setzt in das tosende Wasser.

Das Gewehr hoch in der Linken, kämpfen sie tapfer gegen die Flut. Die Macht des Stromes reißt sie mehr als einmal mit sich fort.

Weit unterhalb erreichen sie endlich das andere Ufer.

Die Pferde sind erschöpft. – Die Peitsche gibt ihnen neue Kraft – hinauf im Galopp, der Beute nach, am Wagen vorbei.

Ein Schuß.

Getroffen stürzt ein Pferd. Der Wagen hält.

Laut jauchzt das Heer der Tschetschenzen.

Mit zwei Pferden nur, eine Beute der Brüder, kehrt der Wagen um. Oberhalb ist eine Furt, dort wollen sie den Übergang wagen.

Auch der Náib begibt sich dorthin mit zahlreichen Reitern. Sie sprengen bei der Furt in den Fluß und bilden eine lange Reihe quer durch den Strom. Die Macht des Wassers wird gebrochen und sicher gelangt der Wagen ans andere Ufer.

Der Náib sprengt heran, wild und drohend.

Er prüft die Beute.

Lieblich und zart, zu Tode erschrocken, sitzt mit ihrer Dienerin in dem Wagen die Tochter eines reichen armenischen Kaufmanns aus Mosdock. Lange Wimpern, schwarz und seiden, bleiche Wangen, schwellende Locken.

»Ein Geschenk für Schamyl von seinem treuen Náib«, befiehlt Sadullah.

Umgeben von Reitern fährt der Wagen den Bergen zu.

Schamyl empfängt abends Schuanet.

Was Gewalt begann, vollendete – Liebe. Schamyls Lieblingsgattin, Schuanet, verließ ihn auch in der Gefangenschaft nicht.

Am folgenden Tage stieß der Imam mit seinen Daghestanschen Scharen zu dem Heere der Tschetschenzen.

Vor den Reihen der Reiter umarmte er Sadullah und dankte ihm für das Geschenk.

»Ich habe mein Leben gewagt, – aber den Dank empfängt ein anderer«, sprach Elmursa ärgerlich vor sich hin.

Schamyl fragte, was der Reiter gesagt.

Es ward ihm gemeldet.

Der Imam rief Elmursa. Er umarmt ihn mit Worten anerkennenden Dankes. Der junge Held ist hoch beglückt, daß ihn sein Imam Lobes gewürdigt, ergriff seine Tschöndyra und spielte die jubelnde Weise, die ihr gehört.«

*

Noch einmal entlockte Omar seinem Instrument die jauchzenden Töne, dann setzte er ab: »Jetzt werde ich euch Tugans Weise sagen und spielen.

Es war zur Zeit, da viele Völker gegen Norden durch die Berge zogen. Sie füllten die Täler mit Schrecken, verübten Gewalttat und Raub.

Die Hirten flüchteten vor ihnen höher hinauf.

Auch Albast und Tugan, zwei Brüder, zogen mit ihren Herden auf unzugängliche Weideplätze.

Dort toste der Bergbach. In seinem Bett funkelte violett und gelb mancher Halbedelstein. Der Steinbock löschte abends seinen Durst mit dem eiskalten Wasser.

Unter einem vorspringenden Felsen hatten die beiden ihren Lagerplatz. Er bot spärlichen Schutz vor Regen und Wind. Hier verbrachten sie die Nächte bei qualmendem Feuer von Reisern. Fügsam lagen die Schafe im Kreise.

Eines Abends sandte Albast den jüngeren Bruder zum Wildbach Wasser zu holen. Träge und mürrisch machte der sich auf den Weg.

Jedes Jahr in nächtlicher Stille geht in den Bergen etwas Wunderbares vor: während eines Augenblicks schläft das Wasser überall.

In der Quelle stockt das Sprudeln.

In seinem Bette steht still der Strom.

Spiegelglatt und ohne Wellen ruht der See.

Ja sogar der Silberbach, der von hoher Felswand niederstäubt, hält in seinem Falle inne.

Wer in diesem Augenblick einen Wunsch ausspricht, dem wird Erhörung.

»Möchte Albast doch verschüttet werden, daß er mich noch nachts nach Wasser schickt«, spricht Tugan unwillig für sich.

Da kracht es hoch oben in den Bergen und dumpf donnernd stürzt die Lawine aus der Höhe. Sie begräbt unter Schnee und Steinen Albast und seine Herde.

Erschreckt und erschüttert läuft Tugan ins nächste Dorf.

Vor Morgengrauen sind sie mit Hacken und Spaten an der Arbeit, den Verschütteten zu befreien. Gegen Mittag vernehmen sie, tief im Schloß der Erde angstvolles Rufen.

Sie graben weiter ohne sich Rast zu gönnen.

Abends sind sie so weit vorgedrungen, daß Tugan ihre Stimme vernimmt und in lauten Jubel ausbricht. Es trennt sie nur noch eine geringe Strecke. Doch die Männer sind müde und beschließen, einige Stunden zu ruhen.

»Morgen wollen wir beenden«, sagen sie, vergessen aber hinzuzufügen: »so Allah will.«

Als sie am andern Morgen zur Unglückstelle kommen, sehen sie, daß in der Nacht ihre ganze Arbeit verschüttet wurde. Noch mehr Schnee und Geröll war herabgestürzt.

Sie gruben tapfer mehrere Tage. Wenn sie anhielten und lauschten, hörten sie Rufe und Töne, die immer schwächer und schwächer wurden.

Als sie sich am vierten Tage durchgegraben hatten, fanden sie unter dem Felsenvorsprung nur die Leiche des Hirten und seine verendeten Schafe.

Da erfand Tugan folgende Weise – hört!«

Omar spielt.

Wie Wellen und Wassergeplätscher klingt es, bald voller Kraft, unaufhaltsam wie ein tiefer mächtiger Strom, bald neckisch, wie das Spielen des klaren Gebirgsbaches um Felsen und Steine.

Plötzlich bricht er ab. –

Wir harren atemlos – doch schon fängt das Wogen und Wallen wieder an. Da geht es wie ein Aufschrei durch die Saiten. Ein Jammern und ein Hilferufen, dann wieder freudig und hoffnungsfroh, um schließlich in Trauer und Leid überzugehen und allmählich zu ersterben. Wir lauschten ergriffen, als die Töne leiser und leiser wurden und der Sang wie mit erstickten Seufzern abbrach.

*

Omar schwieg und schlürfte aus hölzerner Kanne geronnene Milch. Ein Lächeln leuchtete auf seinen wetterharten Zügen:

»Nun sollt ihr noch zum Schluß Kolykants Weise vernehmen und ihre Entstehung.«

Er setzt den Bogen an – und – wir sind in eine andere Welt versetzt, vergessen ist der Wohnraum, der Kamin, der Sänger – wir nehmen teil an einem fremden Schmerz, der riesengroß und allerschütternd aus den Tönen zu uns spricht, von den Saiten der Tschöndyra herausquillt, unsere Seele mit Weh füllt und in den Tiefen unseres Herzens an uns zerrt.

Wer leidet so? Ja, schreit da nicht jemand um Hilfe? Wir müssen hin, ihm zu helfen, verlangt es in uns. –

Da – der Sänger läßt den Bogen sinken.

»Es ist lange her – damals, als noch die Götter sich den Töchtern der Menschen nahten, gewann Ssela, der große Gott, der über Donner und Blitz gebietet, eine Jungfrau lieb – zwei Kinder gebar sie ihm.

Ssela-Ssata, ihre Tochter, war die Göttin der Schönheit; ging sie vorüber, sanken die Männer aufs Knie und küßten den Saum ihres Kleides, wem sie aber zugelächelt, hatte für immer einen Schatz im Herzen, selig konnte er Schmerzen und Sterben ertragen.

Susska-Solssa, der Sohn, mit Locken von Gold, war ein Krieger und Held, dessen Ruhm die Erde erfüllte. Mit einer Keule bewaffnet, stellte er den Löwen und Bären, kein Mann wagte im Zweikampf ihm entgegenzutreten.

Einer nur war stärker als er, Kolykant, der schwarzlockige, der große und gutmütige Hirt. Ihn anzugreifen getraute sich der Halbgott nicht.

Kolykant wohnte auf dem Abhange des Berges, in einer tiefen Felsenhöhle, in die er abends seine Schafe trieb. Den Eingang versperrte er mit einem riesigen Felsen.

Am Tage führte er, ein Wolfsfell im Riemen um die Lenden, seine Herde über Berg und Tal, auf Wiese und Feld. Sein Liebling, der Leithammel mit den schön gewundenen Hörnern, folgte ihm würdevoll.

Von den Weiden am Bach schnitt er sich Flöten und blies liebliche, einfache Weisen, die im Sonnenschein und Himmelsblau auf und ab stiegen. In seinen Melodien lachte Lebenslust, jubelte Jugend.

Susska-Solssa haßte Kolykant, aber er wagte es nicht, ihm im offenen Kampfe zu begegnen. Nachts, wenn der Hirte schlief, wollte er ihn überfallen. – Eines Nachts schlich sich der Sohn Sselas zur Höhle, aber er konnte den Felsen vom Eingang nicht fortbewegen.

In der nächsten Nacht kehrte er mit sechzig Gefährten zurück, aber auch sie vermochten nicht den gewaltigen Stein von seiner Stelle zu rücken.

Da wandte er sich an die Schwester Ssela-Ssata, die Göttin der Schönheit. Er bat sie um Hilfe, daß nicht ein Sterblicher den Ruhm des Sohnes Sselas verdunkele.

Sie willigte ein und versprach, ihm den Sieg zu verschaffen, nur solle er von Ssela ein Gewitter erbitten.

Susska-Solssa stieg auf den großen Berg und flehte mit ausgebreiteten Armen zu seinem göttlichen Vater.

Er ward erhört.

In gewaltigem Sturm jagte Ssela auf seinem Donnerwagen über die Berge. Schwere Regen gingen nieder, wenn er auf den berstenden und krachenden Wolken dahinfuhr und Blitze in das Dunkel hinunter zucken ließ.

Ssela-Ssata flüchtete vor dem Unwetter in Kolykants Höhle.

Und auch dieser stieg bald, gefolgt von seiner Herde, den Leithammel an der Spitze, den Berg hinan, dem schützenden Obdach zu. Er trat ein. Auf seinem Lager von Heu und Blättern saß Ssela-Ssata.

Sie war blond und hatte große blaue Augen. Ein goldener Gürtel hielt ihr rosenfarbenes Kleid zusammen. Duft wie von Blumen füllte die Höhle. Strahlende Schönheit ging von ihr aus.

Kolykant stand wie angewurzelt.

Schüchtern fragte sie ihn, ob sie bleiben dürfe, bis der Regen vorüber.

Kolykant wandte kein Auge von ihr. »Bleib.«

Er machte ein Feuer an, daß sie sich wärme. Er melkte ein Schaf und brachte ihr die Milch in hölzerner Schale. Er ließ ihr sein Lager, so wollte es das Gastrecht, drei Nächte. In der vierten teilte er es mit ihr –

Das Unwetter hatte noch immer nicht aufgehört.

Mit Sturm und Geheul, mit Donner und Blitz feierte Ssela die Brautnacht der Tochter.

Susska-Solssa kam jede Nacht, doch fand er stets die Höhle verschlossen. Nach der vierten Nacht ging die Sonne strahlend auf, verjüngt und erfrischt prangten Wiese und Wald, lachten Berge und Tal.

Kolykant führte die blökenden, sich drängenden Schafe hinaus.

Damit Ssela-Ssata ihm nicht entfliehe, wälzte er den Fels vor den Eingang. Es fiel ihm schwer. Auf die Herde gab er heute wenig acht. Blumen sammelte er und Früchte, flocht aus Weiden ein Körbchen und brachte es abends der Tochter Sselas.

Mit Mühe wälzte er zur Nacht den Fels vor den Eingang; – es wollte nicht ganz gelingen.

Wiederum teilte er das Lager mit der blondlockigen Göttin. – Es schwand seine Kraft, wie der Schnee unter dem Kusse der Sonne.

Als Susska-Solssa, der neidische Halbgott, diese Nacht heranschlich, bemerkte er, daß der Stein nicht ganz den Eingang verschloß. Es hätte ein Hund durch die Spalte eindringen können.

In der folgenden Nacht hatte Kolykant den Fels noch weniger vorzuschieben vermocht, die Spalte war so groß, daß der Sohn Sselas sich mit seinen Gefährten, einer nach dem andern, hindurchzwängen konnte.

Sie überfielen den schlafenden Hirten, sie banden ihn. Sie schlachteten seinen Liebling, den Leithammel. Ssela-Ssata schürte an der Feuerstätte die Glut zu heller Flamme. Sie brieten das Fleisch und schmausten.

Wie Kolykant so dalag, gebunden an Händen und Füßen, gedachte er mit Ingrimm Ssela-Ssatas, deren Gunst so süß und so sonnig, deren Kuß so sinnverwirrend, deren Herz aber so voll Tücke. Er bat, die auf dem Rücken gefesselten Arme zu lösen.

Man verlachte ihn.

Er bat um ein Stück Fleisch vom geschlachteten Hammel.

Sie verhöhnten ihn.

Da bettelte er, Ssela-Ssata möge doch, eingedenk der erwiesenen Liebe und Gastfreundschaft, nur einen der Beinknochen ihm geben.

Man warf ihm den zu und löste ihm so weit die Hände, daß er den Knochen zum Munde führen konnte.

Er sog das Mark heraus, mit den Zähnen nagte er Löcher, er machte sich aus dem Knochen eine Flöte.

Dann fing er an zu blasen, er legte sein Leid in die Weise, seine Trauer und Sehnsucht hinein. Er vergaß die schmausenden Feinde, die arglistige Göttin der Schönheit und rief um Hilfe in langgezogenen, schmerzgeschwollenen Tönen.

So ergreifend blies der gefesselte Kolykant die Flöte, daß die Felsen Mitleid spürten und die Klage weiter gaben dem zarten frühen Morgenhauch. Dieser trug sie in die Schlucht und zum Dorfe, wo Kolykants Bruder Hauda wohnte, dessen Frau auf dem Hofe die Kuh melkte. Sie lauschte der wehmütigen Weise und sah nicht, daß die Milch auf die Erde statt in das Gefäß floß. Die Töne waren voll Sehnsucht, als schrie ein Bedrängter um Hilfe. So konnte nur Kolykant spielen, ihm mußte etwas Schlimmes widerfahren sein.

Rasch weckte sie Hauda und die anderen Männer des Dorfes. Sie eilten zur Höhle.

Da lag Kolykant, spielte und blies und rief Götter und Menschen um Hilfe.

Er war allein.

Fort war der neidische Halbgott, die Gefährten und die arglistige Göttin der Schönheit.

Die Herde hatten sie fortgetrieben.

Nachdem Hauda Kolykants Fesseln zerschnitten, nahm dieser seine Keule und stürmte hinter Ssela-Ssata und Susska-Solssa her.

Als Sselas blondgelockte Kinder, die die geraubten Schafe in einem Tale vor sich hertrieben, Kolykant auf dem gegenüberliegenden Abhange kommen sahen, da fürchteten sie sich und schrieen zum Vater.

Blitz und Donner.

Ein zuckender Strahl traf eine gewaltige Felswand, sie barst und ein mächtiger Strom stürzte sprudelnd heraus, füllte die Talsohle und trennte schützend Sselas Kinder von ihrem Verfolger.

So entstand der Terek. Kolykant war um seine Rache gekommen.

Zorn verdoppelte seine Kräfte, er hob einen riesigen Felsen auf und schleuderte ihn in die Tiefe.

Noch heute sieht man den Stein, halb in der Erde vergraben am Ufer des Terek beim Eingang der Darjelschen Schlucht.

Ein Müller hat einen Teil abgesprengt, um sich zwei Mühlsteine daraus zu hauen.« –

*

Omar schwieg.

Wir wurden durch Wassan Gireis Stimme in die Wirklichkeit zurückgerufen.

»Es ist Zeit, unseren Gästen nun Ruhe zu geben.«

Allgemeines Gutenachtsagen und Friedenwünschen. Der Hausherr half uns beim Auskleiden.


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