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Das Lied von Niassr

Eine Überlieferung der Inguschen.

1.

Im Hochgebirge des Kaukasus. Gewaltige Gipfel mit ewigem Schnee. Dazwischen grünlich schimmernde Gletscher. Tiefer wildzerklüftete Schluchten, durch himmelanstrebende Wände verdunkelt.

Dort entspringt aus schmaler Felsenspalte der Niassr Don. Tausend Quellen führen ihm der Gletscher trübe Milch zu; von den Felsen tropft es, in Rissen rieselt's, und mancher Bach fällt silbersprühend aus der Höhe in sein Bett, um vereinigt mit ihm um Klippen zu tosen, um Felsen zu schäumen.

Übersprudelnd in Kraft wälzt er Steine einher, schleift sie rund mit der Zeit und eilt, tief im Tale, gen Osten, dem Sonnenaufgang zu.

Von den Schneegefilden in der Höhe weht es kalt. Nachts steigen Nebel aus dem Flußbett – sie wallen und füllen den Abgrund. Doch wenn der Morgen graut, wenn der ewige Schnee hoch oben rosig erglüht, wenn der Sonne erste Strahlen über den Rand des Berges in das dunkle, schlummernde Tal gleiten, dann spielen sie im Nebel und bauen den buntleuchtenden Regenbogen über die Tiefe.

»Allah baut seinen Helden eine Brücke ins Paradies«, denkt scheu der Jäger, der frühmorgens auszog, um auf den Steinbock zu pürschen. An einer Stelle wendet sich das Tal scharf nach Norden, der Fluß durchbricht in kurzer, enger Schlucht das Gebirge. Dann stürzt er donnernd in mächtigem Strahl hinunter in ein noch tiefer liegendes Talbett und nimmt in demselben nun westwärts seinen Lauf, Auf diese Weise wird eine lange, schmale Halbinsel gebildet, die von drei Seiten im Abgrund vom Niassr Don umrauscht wird. Steil fallen die Felsen zur Tiefe.

Nicht liebliche Matten mit Herden und Glockengeläut, nicht fröhliches Jauchzen von Hirten, nicht grüne Wälder auf sanften Abhängen – nein, nur Felsen und Steine, nur Wolken und Schnee und unten, sehr fern, der Fluß. Die Halbinsel ist ein schmaler Felsengrat, der am Ende beim Wasserfall sich trotzig in die Höhe türmt.

Da oben liegt wie eine Krone Niassr Kort, Niassrs Heimatort. Der schmale Pfad, der nach Niassr Kort führt, schlingt sich längs dem Felsengrat. Er biegt um Felsspitzen, hängt über dem Abgrunde, in schwindelnder Höhe. Nur ein Reiter kann ihn auf einmal passieren; ein Ausbiegen ist unmöglich. Darum schreit, langgezogen und wild, der Reiter, ehe er den gefährlichen Weg betritt, um sein Kommen anzuzeigen. Aus dem Aul klingt ihm Antwort, und von den Felsen hallt es wider.

Kein Tor am Eingang und keine Mauern. Die Berge ringsum und der Bewohner, der Inguschen, Herz, beide trotzig und wild von Allah erschaffen, verteidigen den Aul.

Jedes Fleckchen ist dort oben ausgenutzt und mit Häusern bebaut – es sind ihrer nicht viele, etwa zwanzig. Zu Gärten ist weder Raum noch Erde vorhanden. Einige Stunden weiter im Tale des Niassr Don sind Abhänge, die gemäht, und auch kleine Felder, die von den Bewohnern des Auls beackert werden. Eine schmale Gasse zieht sich steinig und winklig durch die unregelmäßig hingebauten Häuser, weißgetünchte Wände, flache Dächer und keine Fenster zur Straße. Eine Metschet gibt es nicht, aber fünfmal des Tages, wie es Vorschrift des Propheten ist, breitet jeder männliche Bewohner seinen Gebetsteppich aus, kniet hin und fleht zu Allah um Segen für sich und die Seinen.

Am Ende des Dorfes, auf der höchsten Spitze des Felsens, über dem Wasserfall liegt das Haus Niassrs des Großmütigen. Ihm zu Ehren heißt der Aul Niassr Kort, der Fluß Niassr Don, denn er führte vor Jahren die Gefährten mit ihren Frauen hierher und baute als erster auf diesem uneinnehmbaren Felskegel sein Haus. Die Russen hatten sein Heim in der Ebene zerstört und Weib und Kind ihm ermordet.

Bei den Inguschen sind alle gleich – sie haben keine Fürsten, wie einige benachbarte Stämme, sie ehren den Weisen und Edlen und eifern dem Mutigen nach. Niassr hat in seinem Aul die Stellung eines Fürsten, ohne den Namen zu führen. Sein Wort wird gehört, sein Rat befolgt.

Sein Haus ist auch das größte im Aul. Sein Gastgemach ist mit Teppichen und niedrigen Divanen geschmückt. – Mehrere Pferde aus kabardinischem Gestüt stehen im Stall am winzigen Hofe; Hafiz, der Stallknecht, besorgt sie. Das Wohnzimmer ist geräumig, mit rauchgeschwärzter Feuerstätte, eine niedrige Tür führt auf einen kleinen Altan, den Niassr auf einer vorspringenden Felsenplatte gebaut hat. Eine Brustwehr umgibt ihn.

Wie in der Luft hängt er über dem Abgrund – weit in der Tiefe das Silberband des Flusses – gegenüber ganz nah und doch unerreichbar die grauen Felsenmassen, die höher und immer höher steigen. Hier im Hause waltet die stolze Hoschefisch, die Niassr im Alter sich zur zweiten Frau genommen. Ihr Haar ist schwarz und glänzt wie Seide, ihre Haut ist weiß, die Lippe rot und voller Glut das Auge. Im Dorfe raunen es sich die Weiber zu. Allah strafe sie und verweigere ihr Kinder.

Niassrs Neffe Hauda, ein Jüngling von 20 Jahren, ist ihm Sohn und Erbe. Einige Mägde und ein alter Knecht Ibrahim bilden mit dem Stallknecht Hafiz Niassrs Hausstand.

2.

Auf dem Altane sitzt auf einem Teppich nach morgenländischer Sitte Niassr, groß und würdevoll. Durch seinen starken, schwarzen Vollbart zieht sich schon mancher silberne Faden; neben ihm ein Mann, dessen stolze südländische Züge und die reiche Kleidung aus dunkelblauem Samt mit Silberborden den Grusinischen Edlen verraten. Schweigend rauchen die Männer ihre Zigaretten und schlürfen schwarzen Kaffee aus kleinen Tassen, die auf einem Gestell vor ihnen stehen.

»Es naht die Zeit, Fürst, da Allah dich die Deinen wird wiedersehen lassen«, beginnt Niassr, »das Lösegeld muß bald hier sein.«

»Als Gefangenen brachtest du mich her, Niassr, du hast mich aber nicht als einen Feind gehalten, sondern wie einen Freund und Gast aufgenommen.«

»Ich habe getan, was in meinen Kräften stand«, antwortete Niassr, »du mußt uns verzeihen, wenn wir hier in den Bergen dich nicht so bewirtet haben, wie du es gewohnt bist.«

»Ich habe nur zu danken«, meinte der Fürst, »und hoffe, daß, wenn wir uns im Leben wiedersehen und begegnen, wir als Freunde einander begrüßen werden.«

»Ich hätte dich längst, Fürst, nach Hause ziehen lassen, denn ich habe dich in diesen Wochen, da du mein Gast bist, kennen gelernt. Ich weiß, daß du ein Mann bist, der sein Wort hält. Das von dir versprochene Lösegeld wäre nach deiner Entlassung ebenso sicher angekommen; aber ich durfte es nicht; die Männer waren damit nicht einverstanden, denn sie kannten dich nicht, Fürst. Und du bist nicht mein Gefangener, sondern der des ganzen Dorfes – ich hätte dich längst ziehen lassen.«

Während die beiden so sprachen, stand ein Ingusch am Eingang des Dorfes Wache; seine Tscherkesska war von der Sonne verblichen; um die Taille und über der Brust trug er Patronenreihen; er war mit Gewehr, Säbel und Dolch bewaffnet, und unter der zottigen Papacha (Lammfellmütze) blickten ein paar trotzige Augen. Die Bewohner des Dorfes, die auf einem Raubzuge über die Berge nach Grusien den Fürsten gefangen, hatten diesen Posten aufgestellt, damit er ihnen nicht entwischen könne. Sie hatten den Raubzug unter der Anführung Niassrs gemacht und ihm auch den Gefangenen überlassen; sie waren aber auf seinen Vorschlag nicht eingegangen, den Fürsten vor Eintreffen des Lösegeldes freizugeben. Es waren einfache, wilde, verwegene Gesellen, denen ein Hintergehen des Feindes etwas Rühmliches war, die daher eine Kriegslist des Fürsten fürchteten und ihn darum nicht ohne das Lösegeld ziehen lassen wollten; denn dieses war ein bedeutendes und gehörte ihnen allen. Die Schildwache ging auf und ab, plötzlich bleibt sie stehen und hebt die Hand über die Augen, um sie vor den Strahlen der Sonne zu schützen und besser sehen zu können. Zwei Reiter kommen hintereinander den schmalen Pfad daher, der auf dem Felsgrat nach Niassr Kort führt. Schwer hängen die Satteltaschen zu beiden Seiten herab, sie enthalten das Lösegeld. Der erste Reiter ist ein Ingusch aus dem Aul, der zweite der Verwalter des Fürsten. Als die Männer den Aul erreicht, reiten sie bis vor Niassrs Haus, wo Hafiz die Pferde in Empfang nimmt. Die Nachricht von der Ankunft des Lösegeldes verbreitete sich rasch im Dorfe, und die Männer eilen, sich in Niassrs Haus zu versammeln. Dort wird das Lösegeld empfangen, gezählt und unter die Versammelten verteilt, wobei, wie bei früheren Gelegenheiten, beschlossen wird, daß Niassr als Anführer ein zweifaches Teil erhält.

Am andern Morgen brach der Fürst mit seinem Verwalter auf; er fand beim Erwachen die ihm beim Überfall abgenommenen Waffen neben seinem Lager im Gastgemach. Als der Fürst Niassr darauf aufmerksam machte, daß die Waffen nun doch als Kriegsbeute ihm gehörten, da wollte dieser davon nichts wissen und drang in den Fürsten, die prachtvollen Waffen mitzunehmen. Das tat Hauda sehr leid, er war ein verwegener Jüngling, der seine Freude an den schönen Waffen gehabt und im stillen darauf gerechnet hatte, daß sie einmal ihm gehören würden. Es waren Säbel und Dolch in elfenbeinerner, reich mit Edelsteinen besetzter Scheide und eine Flinte von wahrhaft fürstlicher Pracht, über und über mit Gold eingelegt. Die Flinte schoß ausgezeichnet, und diese besonders hätte Hauda gerne gehabt, seitdem er gesehen, wie der Fürst vom Altane des Hauses einen Adler aus den Lüften geholt, der so hoch kreiste, daß ihn niemand im Dorfe mit seiner altmodischen Flinte hätte erlegen können.

Niassr gab dem Fürsten mehrere Stunden lang das Geleit, sie schieden als Freunde mit festem Händedruck, und der Fürst lud Niassr ein, ihn doch auf seinem Schlosse in der Nähe von Mzchet zu besuchen, was Niassr versprach.

3.

Der Winter kam, und Niassr Kort war während einiger Monate von der übrigen Welt abgeschnitten; gewaltige Schneemassen versperrten den Eingang.

Als dann der Frühling ins Land zog und der Schnee geschmolzen, beschloß Niassr, nach Grusien zu reiten und den Fürsten zu besuchen.

Eines Morgens verließen drei Reiter Niassr Kort, Hauda voran, Niassr in der Mitte, als Dritter der alte Ibrahim, Sie ritten erst nordwärts, bis zur Stelle, da der Niassr Don in die Ebene tritt, dann bogen sie nach links westwärts und ritten am Fuße des Gebirges hin, bis sie die große Straße erreichten, die durchs Gebirge führt und Wladikawkas mit Tiflis verbindet.

Sie übernachteten in Kasbek. Am anderen Morgen setzten sie den Weg fort, immer höher hinauf, bis sie die Wasserscheide, den Paß, erreicht hatten. Kalt war es in der Höhe, scharf blies der Wind, und die Reiter hüllten sich fester in ihre Burkas. Dann wand der Weg sich in großen Biegungen zur Ebene hinab. Hier war schon voller Frühling, Bäume und Büsche prangten in voller Blütenpracht. Azaleen und Rhododendron leuchteten gelb, weiß und rosa. Gegen Abend trafen die Reiter vor dem Schlosse des Fürsten ein, das im Viereck gebaut von gewaltigen, zinnengekrönten Mauern umgeben, trotzig und altertümlich auf einem Hügel lag. Blühende Gärten und Obstplantagen bedeckten die Abhänge, und für die an die kalte Gebirgsluft gewöhnten Inguschen war der milde, laue Frühling von ungewohntem Zauber. In der Nähe des Schlosses angekommen, sprang Niassr vom Pferde und warf die Zügel Hauda zu. »Wartet hier, ich will mich erkundigen, ob der Fürst zu Hause und ob unser Besuch willkommen ist.« Als Niassr vor dem Schlosse angekommen war, fand er das große Tor offen, sah aber keine Wache; er schritt hinein und bemerkte auch auf dem Hofe niemanden. Dem Tore gegenüber führte eine steinerne Treppe ins Hauptgebäude. Als Niassr die Stufen hinaufgestiegen war und durch eine ebenfalls offene Tür in eine ziemlich dunkle, gewölbte Vorhalle getreten war, blieb er ratlos stehen. Mehrere kleine, eisenbeschlagene Türen schienen in das Innere des Schlosses zu führen. Auf gut Glück öffnete er eine derselben. Ein langer, schmaler Korridor lag vor ihm ... Stimmengeräusch drang von seinem anderen Ende her; schmale, kleine Fenster, wie Schießscharten, gingen zur Linken auf den Hof, rechts war nur Mauer. Vorsichtig schlich Niassr weiter; da bemerkte er zur Rechten ein kleines, nicht ganz geschlossenes Fenster, durch das der Lärm drang, den er vorhin vernommen. Er öffnete es vollkommen und sah eine große, gewölbte Halle, in der viele Männer in reicher, grusinischer Tracht saßen. In der Mitte am Tisch die ihm wohlbekannte Gestalt des Fürsten .. eine zahlreiche Dienerschaft stand hinter den Gästen und bediente sie ... deswegen hatte Niassr niemanden auf dem Hofe und bei dem Tore getroffen. Der Fürst sprach gerade ... Niassr hörte zu seinem Erstaunen seinen eigenen Namen nennen .. neugierig lauschte er und vernahm, wie der Fürst die Aufnahme in Niassr Kort rühmte ... er sei dort wie ein Freund, nicht wie ein Gefangener gehalten worden. Er lobte Niassr, seine Weisheit und Großmut, nur eins habe ihm im Hause Niassrs nicht gefallen – gespannt horchte dieser auf – das sei die Hausfrau, die den alten Gatten betrüge und den jungen Stallknecht liebe. Er sei ja mehrere Monate im Hause gewesen und habe sich überzeugen können, daß die stolze Hoschefisch, wenn der Gatte nicht zu Hause, öfter als nötig in den Stall ging und mit geröteten Wangen von dort zurückkam.

Niassr hatte genug gehört ... tief aufatmend schloß er das kleine Fenster und schlich aus dem Schlosse.

»Der Fürst ist nicht zu Hause«, sagte er zu seinen ihn erwartenden Gefährten, wir reiten heim und kommen ein andermal wieder.« Sie nächtigten in einem in der Nähe gelegenen Dorfe, um den Pferden Rast zu gewähren, und am anderen Tage erreichten sie Kasbek gegen Abend. Hier klagte Niassr über heftige Schmerzen im Unterleib und erklärte am anderen Morgen, nicht weiter zu können. Er sandte seine Gefährten voraus mit dem Befehle, aus Niassr Kort einige Leute mit einer Tragbahre nach ihm zu schicken. Darauf wartete er einige Stunden, sagte dann in der Herberge, er fühle sich besser und ritt davon, um bei einbrechender Nacht in Niassr Kort sein zu können. Hauda und Ibrahim waren am Nachmittage dort angelangt, sie hatten Niassrs Erkrankung gemeldet und waren, ermüdet vom langen Ritt, früh zur Ruhe gegangen. In Hoschefischs Augen hatte es aufgeleuchtet; sie entließ die Mägde bis auf ihre alte Amme, auf deren Verschwiegenheit sie sich verlassen konnte, und bereitete ein leckeres Mahl. Sie hieß die Alte die Speisen auf den Altan bringen und ging über den Hof in den Stall, wo Hafiz die Pferde tränkte.

»Niassr kommt heute nicht nach Hause«, sagte sie und trat zu ihm, »Hauda und Ibrahim schlafen schon, und die Mägde habe ich fortgeschickt. Komm, ich habe ein Mahl auf dem Altan für uns bereitet.«

Hafiz, ein hübscher Bursche mit breitem, sehr männlichem Gesichte lächelte verständnisvoll und sagte: »Ich komme gleich.«

Hoschefisch eilte ins Haus zurück – sie breitete einen Teppich auf dem Altan aus und brachte Kissen dorthin. Es währte nicht lange, so kam Hafiz auf den Altan; sein sicheres Auftreten bewies, daß er sich nicht zum ersten Male in solcher Lage seiner Herrin gegenüber befand. Auch war der Ort denkbar geschützt; im Zimmer stand die treue Amme Wache, und was auf dem Altan geschah, konnte niemand sehen als Allah im Himmel und die Adler in der Luft.

Hafiz näherte sich Hoschefisch, umarmte sie und drückte zärtlich seine Lippen auf ihren Mund. Sie litt es, denn die verbotene Frucht war ihr süß. Er wollte sie an sich ziehen.

»Noch nicht, Geliebter«, sagte sie, »laß uns warten, bis der Mond über den Bergen aufgeht.«

Sie speisten; Hoschefisch versorgte ihren Liebhaber mit den besten Bissen. Bald stieg der Mond leuchtend empor und übergoß Altan und Abgrund mit bläulichem Licht. Hafiz war auf ein Kissen gesunken und hatte Hoschefisch auf seine Knie gezogen; er nestelte an ihrem Mieder, als die Tür aufsprang und groß und drohend Niassr vor das erschreckte Paar hintrat. Er war angekommen, leise ins Haus geschlichen, hatte durch eine zornige Gebärde die zum Tode erschrockene Amme am Warnen gehindert und so die beiden überrascht. Sie sprangen auf. Hafiz stand verlegen und unentschlossen vor Niassr, mit dem Rücken zum Abgrund. Hoschefisch aber bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und blieb voll Furcht stehen. Niassr hatte das Recht, sie und ihren Buhlen zu töten – würde er Hafiz in den Abgrund stürzen? Würde er den Dolch gebrauchen? Sie wagte nicht aufzublicken. Da hörte sie die Tür zufallen und den Riegel zugeschoben werden. Sie blickte mit großen, angsterfüllten Augen auf Hafiz, der, bleich und nicht imstande, ein Wort zu sagen, an der niedrigen Mauer lehnte.

Nachdem Niassr den Altan verlassen, befahl er der Alten, die etwas Furchtbares erwartete, Ibrahim zu rufen. Ohne ihm zu sagen, um was es sich handelte, sandte er ihn zu Hoschefischs Vater Elmursa: er solle sofort kommen, wenn ihm das Leben seiner Tochter lieb sei. Dann setzte er sich im Wohnzimmer nieder, rauchte schweigend die ganze Nacht und ließ die Türe nicht aus den Augen.

Am nächsten Tage gegen Mittag kam Elmursa angeritten, ein ehrwürdiger Greis mit langem, weißem Barte. Hoschefischs alte Amme brachte Kaffee, den die Männer schweigend schlürften. Dann erst erzählte Niassr seinem Schwiegervater die ihm angetane Schmach. Voll Spannung blickte Elmursa auf seinen Eidam, in der Erwartung, das Ende seiner Tochter zu erfahren; doch Niassr sagte nichts davon, daß er das verbrecherische Paar umgebracht. »Ich will von einer Bestrafung der beiden absehen und mich scheiden, unter der Bedingung, daß Hoschefisch des Hafiz Weib wird.« Elmursa war sehr ernst, die Schmach, die seine Tochter ihrem Gatten angetan, fiel auch auf ihn, den Vater zurück; er war bereit, selber die Tochter zu strafen, doch das wollte Niassr nicht. »Sie hat Hafiz lieber als Niassr«, sagte er, »sie soll Hafiz haben, sprich mit ihr; es bleibt ihr nur der Abgrund oder die Hochzeit mit Hafiz ... ich will sogar die Aussteuer besorgen.«

Elmursa stand auf und ging auf den Altan; Niassr hörte ihn mit der Tochter reden und ihre von leisem Schluchzen begleiteten Antworten; der Vater sagte ihr, Niassr stelle ihr frei, mit Hafiz in den Abgrund gestürzt zu werden oder ihn zu heiraten. Voll Verzweiflung willigte Hoschefisch in die Heirat. Nachdem Elmursa Hoschefischs Zustimmung Niassr überbracht, ließ dieser einige Nachbarn als Zeugen und den Mullah rufen. Als die Leute versammelt waren, öffnete Niassr die Türe zum Altan und hieß das Paar herauskommen. Hoschefisch wollte vor Scham vergehen. Niassr sprach zu ihr gewendet dreimal die sakramentale Formel: »Ich entlasse dich.« Dann wurde Hoschefisch von dem Mullah mit Hafiz getraut und das Paar verließ Niassrs Haus, um in die ärmliche Hütte am Eingang des Dorfes zu ziehen, in der Hafiz' alte Eltern wohnten.

*

Hoschefisch weinte viel, sie konnte die Schmach nicht überwinden, die sie, noch vor kurzem die angesehenste Frau des Aul, hatte erleben müssen. Sie konnte sich in die neuen Verhältnisse nicht einleben, zu dem behandelte Hafiz sie schlecht; die Schwiegermutter lud ihr alle häusliche Arbeit auf; früher hatte sie mehrere Mägde zu ihrer Bedienung gehabt, jetzt mußte sie den ganzen Haushalt allein besorgen. Das Wassertragen fiel ihr besonders schwer; es mußte in kupfernen Krügen von einer am Bergesabhange sprudelnden Quelle auf dem Kopfe heraufgetragen werden. Erdrückt von öffentlicher Verachtung führte Hoschefisch noch einige Jahre ein elendes Leben ... Niassr hatte sich mehr gerächt, als wenn er die beiden in den Abgrund gestürzt hätte.

4.

Als es Herbst wurde, ritt Niassr wieder mit Hauda und Ibrahim über die Berge nach Grusien; er traf den Fürsten zu Hause, der sich alle Mühe gab, Niassr aufs beste aufzunehmen. Er veranstaltete wiederholt ihm zu Ehren Jagden, zu denen er Verwandte und Freunde aus der Umgebung einlud. Doch hatte Niassr ihm nichts von seinem ersten Besuch gesagt. Nachdem er mehrere Wochen der Gast des Fürsten gewesen war, nahte die Zeit, da er nach Hause zurückkehren wollte. Der Fürst bat ihn, noch etwas zu bleiben; er wollte einen Raubzug in das Land der Avaren unternehmen und einige schöne Geschenke für Niassr erbeuten. Ehe er mit seinen Mannen wegritt, vertraute er das ganze Schloß Niassrs Obhut an. Er übergab ihm einen mächtigen Schlüsselbund für die Vorratskammern und bat Niassr als Freund und Bruder, dem ganzen Hause vorzustehen; nur einen Schlüssel bat er Niassr, nicht zu benutzen; er öffne die Tür eines Kellers, den er ihn bitte, nicht zu betreten. Niassr mußte ihm solches versprechen. Der Fürst ritt ab und Niassr blieb allein zurück. Nach einigen Tagen machte er sich daran, das Schloß zu besehen, dabei kam er bei einem Gange durch die Keller auch an eine verschlossene Tür; es schien ihm, als ob jemand in den Räumen stöhne, und mehr aus Mitleid als aus Neugierde schloß er auf, ohne darauf zu achten, daß er den verbotenen Schlüssel benutzte. Sein Auge konnte zunächst in der Dunkelheit nichts unterscheiden; es war ein großer, gewölbter Raum, tief in den Fundamenten des Schlosses, der nur am anderen Ende durch eine schmale Schießscharte Licht empfing. Da hörte Niassr deutlich, wie aus einer Ecke stöhnend sein Name gerufen wurde. Nähertretend bot sich ihm ein Anblick, der ihm das Blut in den Adern erstarren machte. Auf einer gewaltigen Felsplatte lagen auf einem Teppich zwei Gestalten übereinander, beiden waren die Arme auseinandergestreckt und mit Schnüren an zwei in den Fels eingelassene Ringe gebunden. Ein eigentümlich süßlicher Geruch erfüllte den Raum. Niassr sah nun mit Entsetzen, daß die obere Gestalt, ein junger Mann in der Livre der fürstlichen Stallknechte, ein in Verwesung übergehender Leichnam war. Die Gestalt unter ihm aber lebte, es war eine schöne Frau in der reichen Kleidung grusinischer Fürstinnen.

»Niassr! Hilf mir.«

»Wer bist du, Unglückliche?« fragte er, nähertretend; »woher kennst du mich?«

»Ich bin die Gemahlin des Fürsten, der mich Unschuldige in diese entsetzliche Lage gebracht hat; als er aus Niassr Kort zurückkam, traute er mir nicht mehr; ich aber habe ihn immer geliebt und bin ihm nie untreu gewesen. Eines Tages, als mich dieser Unglückliche hier gebeten hatte, beim Fürsten Fürsprache einzulegen, damit er eine meiner Mägde heiraten könne, da erschlug ihn der Fürst im Jähzorn und ließ uns hier anschmieden. Eine alte Magd bringt mir Wasser und Brot durch einen anderen geheimen Eingang, und durch sie erfuhr ich auch, daß dir das Schloß anvertraut sei, edler Niassr, und nun bitte ich dich – denn ich weiß, du bist gerecht und großmütig – rette mich aus dieser schrecklichen Lage, denn ich bin unschuldig – ich beschwöre dich.«

»Ich kann dich nicht befreien, Fürstin«, sagte Niassr, »aber ich werde mit dem Fürsten reden, wenn er wieder heimkehrt, Dir wird Hilfe werden.«

Nach wenigen Tagen kam der Fürst zurück, er hatte reiche Beute gebracht und führte Niassr ein schönes Pferd mit silberbeschlagenem Sattel vor, das er ihn anzunehmen bat. Als sie dann beim Mahle zusammensaßen sagte Niassr: »Ich habe noch eine Bitte.«

»Ich will gern tun, was in meinen Kräften steht«, antwortete der Fürst.

»Bitte, versprich es mir.«

»Ich muß doch erst wissen, was es ist«, meinte der Fürst.

»Nein, versprich es mir«, beharrte Niassr.

Da erriet der Fürst, daß Niassr den Keller betreten habe: »Gestehe es ein, du bist in dem Keller gewesen, Niassr, und ich hatte dir verboten, ihn zu betreten.«

»Ehe ich dir antworte, habe ich dir etwas zu erzählen.«

Und nun berichtete er, daß er im Frühjahr schon einmal ins Schloß gekommen sei, und wie er unbemerkt davongeschlichen, nachdem er gehört, wie der Fürst von Hoschefischs Untreue gesprochen. Er sei dann heimgekehrt und habe die beiden überrascht.

»Da hast du sie getötet?«

»Im Gegenteil«, sagte Niassr, »da sie den Stallknecht mir vorzog, habe ich mich von ihr geschieden und sie dem Stallknecht zum Weibe gegeben.«

Als er ein Staunen auf den Zügen des Fürsten sah, fuhr er fort: »Und nun laß mich dich im Namen unserer Freundschaft bitten, befreie die Fürstin aus der fürchterlichen Lage. Mein Weib war schuldig, und ich habe es nicht anders gestraft, als das sie ihren Liebhaber heiraten mußte; du aber hast deine Gattin, die nichts verbrochen, unmenschlich behandelt. Ich bleibe nicht einen Augenblick länger in deinem Hause und werde es nie mehr betreten, wenn du nicht die Unschuldige aus der entsetzlichen Lage befreist.«

Noch zur selben Stunde ward die Fürstin aus dem Keller heraufgeholt.

5.

Am folgenden Morgen verabschiedete sich Niassr von seinem Gastfreunde und brach nach Norden auf. Der Fürst, der sein Unrecht eingesehen und nun in doppelter Freundschaft an Niassr hing, gab ihm mit mehreren Mannen das Geleit. Als sie oben in den Bergen waren und längs des schäumenden Tereks dahinritten, sagte Hauda, der mit Niassr etwas voraus war, es sei doch zu schade, daß der Fürst ihm nicht sein mit Gold eingelegtes Gewehr geschenkt habe.

*

Niassr verwies ihm solche Reden, der Fürst habe sie reich genug beschenkt. »Doch die Flinte möchte ich gar zu gern haben«, meinte Hauda nach einiger Zeit wieder.

»Schlag dir solche Gedanken aus dem Sinn; was nützt es, zu begehren, was man nicht erhalten kann.«

»Ich will dir beweisen, daß ich sie mir hole«, sagte Hauda, wandte sein Pferd und sprengte dem Fürsten entgegen. Niassr blickte ihm nach und sah mit Schrecken, wie Hauda sein Gewehr auf den Fürsten anschlug, um ihn zu erschießen und sich der Flinte zu bemächtigen. Da legte Niassr an und schoß; ins Herz getroffen fiel Hauda tot zu Boden. Als der Fürst, der Zeuge dieses Vorganges gewesen war, hinzugesprengt kam und nun den Zusammenhang erfuhr, zerschmetterte er seine Flinte am Felsen: »Verflucht sei dieses Gewehr, wenn um seinetwillen solch hoffnungsvoller Jüngling sein Leben lassen mußte. Niemand schieße mehr damit.« Die Splitter flogen in die Tiefe und liegen noch dort, wenn sie der Terek nicht fortgeschwemmt hat.

Die Männer bestatteten beim nächsten Dorfe Hauda. Dann trennten sie sich. Niassr setzte seinen Weg mit Ibrahim fort.

Als er sich seinem Aul näherte und Niassr Kort, die Felsen krönend, vor ihm lag – da übermannte ihn Schmerz und Verzweiflung.

Er stieg vom Pferde und warf die Zügel dem klugen Tiere auf den Hals.

Ibrahim wartete ehrerbietig.

Dann breitete Niassr seine Burka auf dem Felsen aus, kniete nieder und – gen Himmel blickend, betete er mit erhobenen Händen:

»Zu dir, Allmächtiger, erhebe ich den Geist, Dir bringe ich die Not, den Schmerz meines Herzens. Du hast ja die Menschen alle erschaffen. Warum, warum all dies Leiden, dies Hassen, dies Unrecht hier? Die Russen haben Weib und Kind mir ermordet, und die zweite Gattin betrog mich und brachte Schmach auf mein Haupt. Hauda, den zum Sohn und zum Erben ich annahm, mußte mit eigener Hand ich erschießen, um die Ehre zu wahren, den Gastfreund zu retten.

Nun bin ich allein und mir graut, das einsame Haus zu betreten. Ich habe weder Kinder, noch sind Glieder meines Geschlechtes am Leben. O gib mir ein Herz für die Armen, die in Not und Elend. Lehre es mich, Schmerzen zu lindern, Wunden zu heilen. Hilf mir, Allgütiger, meinem Volke ein Vater zu sein. Laß mich noch nützlich die Tage gebrauchen, die zu wandeln du mir schenkest im Lande der Lebendigen. Zu dir, Allmächtiger, erheb' ich den Geist und bring dir die Not und den Schmerz meines Herzens.«

Er stand auf und bestieg sein Pferd, um nach Niassr Kort hineinzureiten.

Laut rief er, seine Ankunft anzeigend; aus dem Dorfe kam ihm Antwort und die Felsen hallten's wider. Allein zog er ein in sein vereinsamtes Haus.

Sein Gebet aber ward erhört. Wer Rat brauchte, kam zu Niassr, dem Erfahrenen, dem Weisen; der durch die Fluten tiefen Schmerzes in seinem Leben gegangen war, und dem es gegeben worden, andere im Schmerze zu trösten, in Stunden der Entmutigung aufzurichten.


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