Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Das Kriegsgericht

Groß und stark, in der malerischen Tracht ihrer Heimat, mit selbstbewußtem treuherzigen Gesichtsausdruck, wandelten Raschid und Selim durch die Straßen der Stadt.

Von den Bergen waren sie gekommen.

Ein Felsental, ein Adlernest auf einem Bergesvorsprung, das war ihre Heimat; dort lebten sie nach Väter Sitte. Schulen gab es keine in jener Wildnis; dreimal des Tages bestieg der Mullah das Minaret und rief die Gläubigen zum Gebet.

Vieh- und Pferdezucht, auch etwas Ackerbau war die Hauptbeschäftigung der Einwohner. Aber auch anderes kam vor, doch davon wurde nicht gesprochen: man war sehr verschwiegen und vorsichtig geworden, seitdem man erkannt, wie wenig Verständnis die zaristischen Behörden für »ritterliche Heldentaten« hatten, die von altersher üblich gewesen waren. Man hielt zusammen, und wenn Allah nächtlicherweise einen »Segen« sandte, so hatte das ganze Dorf Teil daran. Bald waren es Pferde oder Vieh eines feindlichen Stammes, zuweilen auch Waren. Einmal war sogar eine ganze Kamelkarawane mit Teppichen schwer beladen ins Dorf heimgebracht worden, und schöne Perserteppiche schmückten seitdem die einfachen Häuser der Dorfbewohner.

Selim wollte in den nächsten Tagen heiraten. Er war zur Stadt gekommen, um seiner Braut, der schönen Aminett, den Hochzeitsschmuck zu kaufen und noch einiges für dieses Fest zu besorgen. Er hatte seinen Verwandten und Nachbarn Raschid gebeten mitzukommen, um ihm bei den Besorgungen behilflich zu sein.

Als Selim und Raschid gleich nach ihrer Ankunft in der Stadt den Laden des ihnen bekannten Kaufmannes Ali betraten, bemerkten sie nicht das Erschrecken, das sich auf dessen Zügen abspiegelte, als er an den Gürteln der Gäste die langen, landesüblichen Dolche hängen sah. Ali beherrschte sich aber und sagte nichts, sondern führte das Geschäft in hergebrachter Weise weiter; erst als der Kaffee getrunken war und man sich bei der Zigarette nach dem Wohlbefinden der beiderseitigen Verwandten erkundigt hatte, erzählte der Kaufmann, was für schwere Zeiten jetzt seien. Ohne auf die Dolche, die die beiden am Gürtel hatten, zu blicken, teilte er mit, daß vor einigen Tagen ein obrigkeitlicher Befehl durch Anschläge in den Straßen bekanntgemacht worden war, durch den das Tragen von Waffen verboten sei. Es herrsche ja Kriegszustand in der Stadt und die Kriegsgerichte hätten schon zu arbeiten begonnen.

Selim und Raschid sagten kein Wort: wie sie aber den Handel abgeschlossen hatten und den Laden verließen, zogen sie ihre Mäntel, ihre Burkas, fest zusammen, damit niemand ihre Dolche sähe. Sie erspähten einen leeren Hof, blickten sich vorsichtig um, nahmen ihre Dolche von den Gürteln ab und versteckten sie unter ihrem Waffenrock, der Tscherkesska; dann betraten sie mit ruhigerem Gewissen die Straße.

Dem Bergbewohner, der Monate lang in wilder Einsamkeit gelebt, bietet die Stadt immer viel Neues, das Gewoge der Menschen in verschiedenen Trachten, die Läden mit all ihrer verführerischen Pracht, die Kinematographen, die auch im Kaukasus ihren Siegeszug gehalten, alles das war für Selim und Raschid anregend und immer wieder neu. Gemächlich schlenderten sie durch die Menge, tauschten miteinander hin und wieder Bemerkungen aus. Da hörten sie plötzlich einen durchdringenden Schrei und gleich darauf lief ein Tatare an ihnen vorbei, um in einer Seitengasse zu verschwinden. Selim und Raschid blieben stehen und blickten in die Richtung, von woher der Schrei ertönt war. Sie sahen Menschen dahin stürzen, und einen armenischen Kaufmann auf der Erde in den letzten Zügen liegen. Aus seiner Wunde in der Herzgegend rieselte es dünn und rot. Ein auf den Schrei herbeigeeilter Gorodowoi Schutzmann. fing an die Umstehenden auszufragen, ob sie den Ermordeten kennen, und ob sie den Mann gesehen, der den Stoß geführt.

Selim und Raschid hatten die Empfindung, daß es weiser sei, sich aus dem Staube zu machen, um nicht noch als Zeugen in diese Angelegenheit verwickelt zu werden. Wie sie mit etwas beschleunigten Schritten sich entfernten, hörten sie hinter sich rufen und erblickten beim Umsehen den Polizisten, der ihnen nachlief und außer Atem ihnen zuschrie, stehen zu bleiben. Niemand hatte ihm sagen können, wer den Mord verübt; da hatte er die beiden sich entfernenden Kaukasier bemerkt und war ihnen nachgelaufen, vom begreiflichen Wunsche getrieben, seiner Obrigkeit irgend einen Schuldigen vorführen zu können.

*

Erstaunt und Böses ahnend blieben Selim und Raschid stehen. Der Polizist erklärte sie für verhaftet. Wohl fragten sie in ihrem mangelhaften Russisch, was sie denn verbrochen; der Gorodowoi aber, froh, zwei Schuldige zu haben, meinte nur kurz, sie würden das sehr bald erfahren. Selim fragte Raschid leise, ob er dem Polizisten nicht den Garaus machen solle, und entfliehen. Raschid aber schüttelte den Kopf. »Wir haben nichts zu fürchten«, sagte er, »und können ja auch nichts bezeugen, da wir nichts gesehen, sondern nur den Schrei gehört haben.« Als der Polizist mit den beiden stolz vor ihm hergehenden Söhnen der Berge auf den Schauplatz des Verbrechens zurückkam, richtete sich die Aufmerksamkeit aller auf die Verhafteten; die Menge nahm urteilslos wie so oft, gegen die Gefangenen eine feindliche Stellung ein. Der Polizist fing an die Anwesenden auszufragen. Zwar konnte niemand bezeugen, daß das Verbrechen von Selim und Raschid begangen war, aber einige Armenier behaupteten, gesehen zu haben, daß die beiden großen Kaukasier im Augenblick, da ihr Landsmann ermordet wurde, sich ganz in der Nähe befunden hätten. Diese Aussage und der Umstand, daß der Polizist bemerkt hatte, wie sie sich mit beschleunigten Schritten entfernten, genügten, um die Verhaftung aufrecht zu erhalten. Ein Anwesender sagte einem Hinzutretenden, auf Raschid und Selim deutend: »Die Mörder sind schon verhaftet,« Da wandte sich Raschid an den Polizisten und fragte mit mühsam zurückgehaltener Erregung, ob er denn wirklich glaube, daß sie den Armenier ermordet hätten. »Das wird die Untersuchung ans Licht bringen«, meinte dieser, »wer ein gutes Gewissen hat, braucht nicht fortzulaufen.« Laut beteuerten Selim und Raschid ihre Unschuld und schworen bei Allah, daß sie vom Verbrechen nichts wüßten. »Das kennt man, das kennt man«, sagte der Gorodowoi und meldete, militärisch grüßend, seinem mit mehreren Polizisten herbeieilenden Vorgesetzten den soeben geschehenen Mord eines armenischen Kaufmannes und die Verhaftung zweier sich eilig entfernender Eingeborenen, die von mehreren Zeugen im Moment des Mordes in der Nähe des Tatortes gesehen worden waren. »In den Utschástock Polizeirevier. mit ihnen«, befahl der Okolódotschnik, Höherer Polizei-Subalternbeamte. »seht zu, daß sie euch nicht unterwegs entwischen.« Mit Revolvern in der Hand, umringten die Polizisten Selim und Raschid und führten sie unter Drohung, im Falle eines Fluchtversuches sofort zu schießen, in den Utschástock.

Im Utschástock hatten die beiden lange zu warten, ehe der Gewaltige, der Pristaw, Polizei-Leutnant. sich herabließ, sie zu empfangen, barsch und unfreundlich, im vollen Bewußtsein seiner Würde, die ihm fast unumschränkte Macht über die Bevölkerung gewährt. Der Gorodowoi trat militärisch grüßend vor und erzählte, unter welchen verdächtigen Umständen die beiden verhaftet worden waren. Der Pristaw fragte nach Namen, Alter, Wohnort und Konfession der Verhafteten, erkundigte sich, weshalb sie zur Stadt gekommen seien und verlangte ihre Pässe, Raschid, der etwas mehr Menschenkenntnis und Welterfahrung hatte, zog aus seiner Tscherkesska seinen Paß heraus und steckte gewandt einen Zehnrubelschein hinein, während Selim seinen Paß dem Pristaw abgab. So gewandt Raschid auch das Geld in den Paß geschoben hatte, so hatte der Pristaw doch die Bewegung gesehen, kniff verständnisvoll das rechte Auge etwas zu und fragte Raschid: »Bekennt ihr euch schuldig den Armenier ermordet zu haben?«

»Aber nein«, rief Raschid entrüstet aus, »Allah im Himmel ist Zeuge, daß wir es nicht getan haben.«

»Warum entferntet ihr euch so eilig, ehe ihr verhaftet wurdet?« fragte der Pristaw.

»Wir wollten nicht in die Sache verwickelt werden, wir fürchteten, daß man uns als Zeugen hätte haben wollen.«

»Habt ihr denn überhaupt Waffen?« fragte der Pristaw, der die Pässe besehen und unbemerkt und gewandt den Zehnrubelschein in seinen Ärmel hatte verschwinden lassen. Er wollte mit dieser Frage seinen nunmehrigen Protegés die Möglichkeit bieten, ihre Unschuld beweisen zu können, denn wenn sie überhaupt gar keine Waffen bei sich hatten, konnten sie den Mord auch nicht begangen haben. Ungewiß, was sie antworten sollten, wechselten Selim und Raschid einen raschen, fragenden Blick, den nicht nur der Pristaw, sondern auch sein kleiner, häßlicher Schreiber auffing. Dieser war ein Armenier, mit schwarzem Haar, kleinen, dunklen, stechenden Augen und einer großen, dicken hängenden Nase; er bekam nur wenig Gehalt und war gezwungen, sich Nebeneinnahmen zu verschaffen. Er konnte sich Leuten, die ihn gut gestimmt hatten, wirklich nützlich erweisen; es war aber sein Prinzip, eine Versäumnis auf diesem Gebiete nie ungestraft zu lassen. Er hatte gesehen, daß etwas im Ärmel des Pristaws verschwand und wollte nun ein Exempel seiner Macht und seines Einflusses statuieren, denn es ärgerte ihn, daß er bei dieser Gelegenheit nichts erhalten sollte. Es lag ihm überhaupt daran, sich einen Namen zu machen. Die Leute und auch die Gorodowois sollten wissen, daß es gut sei, ihn zum Freunde zu haben, und daß es gefährlich sei, ihn zu übergehen.

Als Raschid und Selim die Frage des Pristaws, ob sie Waffen hätten, etwas unsicher verneinten, stand der Schreiber auf und fragte den Pristaw ehrerbietig, ob es nicht angezeigt sei, die Verhafteten einer Leibesvisitation zu unterziehen. »Sie haben vielleicht versteckte Waffen bei sich.«

Dem Pristaw kam dies ungelegen, aber wegen der anwesenden Gorodowois konnte er nicht gut den Vorschlag des Schreibers verwerfen. Sind sie unschuldig, so ist es ihr Glück, dachte er, haben sie aber Waffen bei sich, so ist es nicht meine Schuld, warum lügen sie. Übrigens habe ich ja die zehn Rubel so wie so. »Untersuchet sie«, befahl er dann den anwesenden Gorodowois.

Wieder fragte sich Raschid, ob er nicht den vor ihm stehenden Gorodowoi zu Boden strecken und durch die offene Tür das Weite suchen sollte, aber der Gedanke, im Vorzimmer vielleicht vom Publikum aufgehalten zu werden und sich dadurch nur noch mehr verdächtig zu machen, veranlaßte ihn, den ihm blitzschnell gekommenen Gedanken ebenso rasch zu verwerfen.

Schon traten die Gorodowois an die beiden Kaukasier heran und fingen an, nicht gerade sanft mit ihren Händen die Körper der beiden zu betasten und abzusuchen. Gleich bei den ersten, in der Brusthöhe vorgenommenen Griffen, wurden die versteckten Dolche gefunden. Die Gorodowois zeigten sie triumphierend dem Pristaw und legten sie vor ihn auf den Tisch hin.

Schuldbewußt senkten Selim und Raschid den Kopf, sie sprachen kein Wort, das Unglück war geschehen, die Dolche entdeckt; sie fühlten ein unabwendbares Unglück immer näher kommen, immer größer werden. Sie wußten, daß das Waffentragen verboten war, aber hofften dennoch, daß der nun wohlgesinnte Pristaw ihnen irgendwie heraushelfen würde.

»Sie sehen, Herr Pristaw«, sagte der Schreiber mit höhnischem Lachen, »es ist so, wie ich sagte.«

Der Pristaw kaute nachdenklich an seiner Unterlippe. Es war ihm nicht klar, was er tun sollte.

»Ihr habt gelogen, ihr Schufte«, fuhr er die beiden Verhafteten an.

»Verzeih uns, Herr Pristaw, wir haben erst in der Stadt erfahren, daß das Tragen von Waffen verboten sei; darum versteckten wir unsere Dolche. Aber wir haben den Armenier nicht getötet. Allah ist unser Zeuge. Beim heiligen Barte des Propheten können wir es beschwören«, versicherte Raschid.

»So sieh doch unsere Dolche an, Herr«, sagte Selim, »sie sind ja ganz rein, da ist kein Blut an ihnen.«

Widerwillig zog der Pristaw einen Dolch nach dem andern aus der Scheide, da war kein Blutflecken, das Stahl funkelte wie blankgeputztes Silber.

Raschid und Selims Unschuld am Morde war erwiesen, der Pristaw schob die Dolche in die Scheide zurück, beschloß sie für sich zu behalten und die beiden Verhafteten frei zu lassen. Da stand wieder der Schreiber auf und sich devot dem Pristaw nähernd, zischelte er ihm ins Ohr: »Waffentragen bringt vors Kriegsgericht, Herr Pristaw.«

Raschid und Selim waren viel zu unschuldig, um die volle Bedeutung dieses Wortes zu verstehen und hatten nur die unbestimmte Empfindung, daß sich ihre Lage verschlimmere. Die Gorodowois aber wußten, daß das für die beiden Verhafteten Schweres bedeute und blickten fast mit Mitleid auf die stolzen, schön gewachsenen Söhne der Berge und mancher von ihnen mochte die Empfindung haben: Schade, daß ihnen nicht zu helfen ist. Der Pristaw ließ darauf durch den Schreiber eine Mitteilung an den Vorsitzenden des in der Stadt tagenden Kriegsgerichtes aufsetzen, in dem er die Umstände angab, unter denen Raschid und Selim verhaftet worden waren, er wies darauf hin, daß sie Dolche bei sich gehabt, daß aber an ihnen keine Blutflecken gewesen. Dann winkte er einen älteren Gorodowoi zu sich heran, gab ihm das Schreiben und die beiden Dolche und sagte: »Führe diese beiden Verhafteten in die Artillerie-Kaserne, liefere sie dort an das Kriegsgericht ab und übergib dieses Schreiben und diese bei den Gefangenen gefundenen Dolche dem Vorsitzenden.«

Wie der Gorodowoi sich zum Gehen wandte, befahl der Schreiber: »Bindet ihnen die Hände auf den Rücken zusammen, daß sie euch nicht unterwegs entwischen.« Die Gorodowois holten aus den Taschen ihrer dunklen Mäntel Stricke heraus und schnürten Raschid und Selim, die finster und schweigend diese Schmach über sich ergehen ließen, die Hände auf den Rücken fest.

»Vorwärts, marsch.«

Umgeben von drei Polizisten wurden die beiden in die außerhalb der Stadt gelegene Artillerie-Kaserne geführt. Manches Herz zog sich auf der Straße bei ihrem Anblick in Mitleid zusammen, doch andere schauten ihnen gleichgültig nach – – »es mögen Abreken Räuber. sein, die die Polizei gefangen.«

Raschid und Selim schämten sich mit den auf den Rücken gebundenen Händen am hellichten Tage durch die Straße geführt zu werden. Sie konnten es aber nicht ändern. Der Becher der Schmach mußte bis zur Neige geleert werden. Nebeneinander gehend wechselten sie zuweilen abgerissene Worte in ihrer Sprache – den Gorodowois unverständlich. Es wurde ihnen das nicht verboten. Die Polizisten hatten menschliche Herzen unter der Uniform. Sie wußten, diese zwei Bergbewohner gehen schwerer Strafe entgegen, wozu sollten sie nicht noch miteinander reden?

Als die Artillerie-Kasernen auf dem Felde vor der Stadt sichtbar wurden, näherte sich der neben Raschid gehende Polizist demselben und fragte ihn leise, ob er tatarisch könne.

»Jawohl«, antwortete Raschid in dieser Sprache.

Die beiden andern Gorodowois taten mit kollegialer Liebenswürdigkeit so, als ob sie nichts hörten. Wenn ihr Kamerad mit den Gefangenen etwas zu reden hatte, so mußte er seinen guten Grund dazu haben, und da sie es gehört hatten, so würde er mit ihnen »teilen« müssen, um eine Anzeige ihrerseits zu vermeiden.

»Du weißt, daß wir dich vor das Kriegsgericht führen«, fuhr der Gorodowoi fort.

»Ich weiß es.«

»Das ist kein Scherz.«

»Ich bin aber unschuldig an der Ermordung des Kaufmannes.«

»Ihr wurdet auf der Flucht verhaftet und hattet Waffen bei euch, und noch dazu versteckte, das genügt.«

»Wir kamen zur Stadt und wußten nichts vom Verbot, Waffen zu tragen.«

»Immerhin möchte ich jetzt nicht in deiner Haut stecken«, sagte der Gorodowoi und fügte nach einigen Augenblicken hinzu – »wenn du es willst, könnte ich deinen Freunden Nachricht von deiner Verhaftung zukommen lassen – es ist keine Zeit zu verlieren!«

»Wieso?«

»Einige Urteile des Kriegsgerichtes werden vor Sonnenuntergang vollstreckt.«

Raschid ist es, als lege sich eine unsichtbare Hand um seinen Hals und würge ihn. »Ich habe keine Freunde hier, – nur der Kaufmann Ali in der Alexandrowskaja kennt uns.«

»Nun, der kennt gewiß einen guten Advokaten?«

»Ja, ich glaube, er sagte einmal so was. Bitte, gehe hin zu ihm und sage ihm, er möchte uns den Advokaten senden – meine ganze Familie würde ihm ewig dankbar sein und das letzte Schaf verkaufen, wenn es nötig sein sollte.«

»Ich kann ja wohl hingehen, aber ...«, er zögerte.

»Ach so«, sagte Raschid verstehend, »greif bitte in meine Tscherkesska links, und nimm dir mein Taschenbuch – es müssen noch 30 Rubel drin sein.«

»Nicht hier«, flüsterte der Gorodowoi, »in der Kaserne, im dunklen Vorzimmer. Ich weiß nicht, ob ich es darf, aber ihr tut mir leid, und ich will dem Kaufmanne sagen, was euch widerfahren ist.«

Als sie die Kaserne erreicht hatten und durch einen halbdunklen Korridor in ein Wachtzimmer geführt wurden, trat der Gorodowoi an Raschid heran und zog ihm aus der Tscherkesska ein kleines Buch heraus, das er in seine Tasche verschwinden ließ. Dann überließ er seinen beiden Kameraden die Übergabe an das Kriegsgericht und eilte zum Kaufmann Ali, dem er die Verhaftung seiner beiden Bekannten und die Umstände, unter welchen sie geschah, mitteilte. Mit der Ruhe des Orientalen hörte Ali die Nachricht an; als aber der Gorodowoi sich entfernt hatte, machte er sich eilig auf den Weg zu einem bekannten Rechtsanwalt, einem Mohammedaner, um ihn zu bitten, seinen beiden Freunden zu helfen. Der Rechtsanwalt, ein junger Mensch noch, versprach sein möglichstes zu tun, sagte aber gleich, daß er wenig Hoffnung habe, wenn die Sache dem Kriegsgericht übergeben sei. Vor dem gewöhnlichen Gericht sei es etwas anderes, aber das Kriegsgericht lasse nicht gerne einen Verteidiger zu.

Er kannte zwar Selim und Raschid nicht, aber er hatte dennoch Teilnahme für ihr Schicksal, denn er erwartete längere Gefängnisstrafe für sie. Er machte sich sofort auf, nahm eine Droschke und fuhr hinaus in die Kaserne. Dort hatten Raschid und Selim in einer Wachtstube einige Zeit warten müssen. Die Gorodowois hatten mit den Soldaten geplaudert und geraucht. An den Wänden hingen einige alte, graue Soldatenmäntel. Stickige Kasernenluft füllte den Raum. Raschid und Selim standen mit finster zusammengezogenen Augenbrauen da, mit dem Gefühl des geschehenen und des noch kommenden Unheils.

Nach einiger Zeit erschienen mehrere Soldaten mit gezogenen Säbeln und winkten den beiden mit ihnen zu kommen.

Auch die Gorodowois folgten.

Ein langer halbdunkler Korridor, eine schmutzige Hintertreppe, noch ein Korridor, dann wird eine Tür geöffnet und die Verhafteten befanden sich in einem großen Zimmer, das durch drei hohe Fenster hell erleuchtet wurde. Hellgraue Wände mit Leimfarbe gestrichen. Ein lebensgroßes Porträt des Kaisers mit freundlichem Lächeln auf den wohlwollenden Zügen. In der Mitte des Zimmers saßen drei Offiziere an einem langen mit grünem Tuch behangenen Tisch. Der älteste von ihnen ein Oberst, die beiden andern Leutnants. Der Oberst war ein Mann von mittlerer Größe mit spärlichem dunklem Haar, spitzer Nase und Brille. Rechts von ihm saß ein lang aufgeschossener, ziemlich kurzsichtiger blonder Leutnant und beschnitt mit einem kleinen elfenbeinernen Taschenmesser seine wohlgepflegten, rosigen Fingernägel. Der dritte Offizier, ein brünetter junger Mann, hatte, müde von einer durchzechten Nacht, seinen Stuhl etwas zurückgeschoben. Er hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt und gähnte, sich streckend, ohne die Hand vor den Mund zu halten.

Ein Gorodowoi trat militärisch grüßend vor und übergab dem Vorsitzenden das Schreiben und die bei den Verhafteten gefundenen Waffen. Der Vorsitzende las das Schreiben vor, warf einen Blick auf die Dolche, die keinen besonderen Wert repräsentierten und sagte dem Polizisten, es sei gut, sie könnten sich jetzt entfernen. Dann blickte er auf die Verhafteten. Sein Auge war kalt und streng.

»Versteht ihr russisch?« fragte er sie.

»Ein wenig«, antwortete Raschid, der etwas diese Sprache beherrschte, während Selim kaum russisch konnte.

»Nun, ein wenig genügt uns schon«, meinte der Oberst eigentümlich lächelnd. »Ich werde Sie nicht lange aufhalten, meine Herren«, wandte er sich an seine beiden Kameraden, »der Fall ist klar.« Dann fragte er die Verhafteten nach Namen, Alter, Wohnort, Glaubensbekenntnis und schrieb die Antworten alle auf, denn es war ihm von seinen Vorgesetzten befohlen worden, über jeden Fall Bericht zu erstatten.

»Bekennt ihr euch schuldig den Armenier ermordet zu haben?«

»Aber nein«, antwortete Raschid, »niemals – Allah ist unser Zeuge.«

Selim blickte schweigend und gespannt mit seinen großen, schwarzen Augen von einem zum andern der Sprechenden.

»Aber fortgelaufen seid ihr doch«, meinte der Oberst, »oder leugnet ihr auch das?«

»Wie sollten wir das leugnen, Herr, – aber wir gingen und liefen nicht.«

»Warum denn?«

»Wir wollten nicht als Zeugen vors Gericht geladen werden.«

»Gesteht ihr, diese Waffen bei euch gehabt zu haben?«

»Ja! Aber wir wußten nicht, daß es verboten war.«

»Es ist gut. Führt die Gefangenen ins Nebenzimmer«, befahl der Oberst den Soldaten, die mit gezogenen Säbeln neben den Verhafteten standen. Die Gefangenen wurden abgeführt.

»Meine Herren«, sagte der Oberst zu den beiden Offizieren, die in ihren Beschäftigungen bis jetzt fortgefahren waren, von Zeit zu Zeit zu gähnen und sich die Nägel zu säubern und zu beschneiden, »meine Herren, der Fall ist klar – die Verhafteten sind nach dem Morde davongeeilt und haben Waffen bei sich gehabt – dazu noch versteckte, – was beides ein Beweis ihrer Schuld ist.«

»Aber an den Dolchen ist kein Blut«, meinte der blonde Leutnant nachlässig, »wenigstens schreibt es der Pristaw.« Er klappte sein Taschenmesser zu, griff nach einem Dolch und zog ihn aus der Scheide. Der Stahl funkelte hell, »Sie sehen, Herr Oberst.«

»Einerlei, man muß ein Exempel statuieren – diese Eingebornen sollen lernen, unsern Befehlen zu gehorchen«, meinte der Oberst. Seine Stimme klang schneidend scharf.

»Ja, wenn Sie die Sache vom politischen Standpunkt betrachten, dann ist es freilich etwas anderes«, sagte der Blonde nachgebend.

»Die Armee ist berufen, dem russischen Namen in den Grenzgebieten Respekt zu verschaffen«, schnarrte der Oberst.

»O die Politik«, gähnte der brünette Leutnant, – »wenn Sie die da hineinmischen, dann haben wir natürlich nichts mehr zu sagen.«

»Der General hat uns befohlen, scharf vorzugehen, meine Herren.«

»Aber doch nur gegen wirklich Schuldige, Herr Oberst«, wagte der Blonde zu sagen.

»Nun, an ihrer Schuld ist doch nicht zu zweifeln, die Beweise liegen vor uns auf dem Tisch,«

»Natürlich«, meinte der brünette Leutnant. Seine Gedanken waren anderswo, er wollte die Angelegenheit rasch erledigt sehen.

»Sie sind eigentlich doch nur schuldig, die Waffen getragen zu haben«, sagte der Blonde eigensinnig.

»Wir sind zu einem Kriegsgericht versammelt und nicht im Bezirksgericht. Wir haben nur zu fragen, ob die Angeklagten schuldig sind oder nicht.«

»Sie sind schuldig – ja«, meinte der Blonde.

»Natürlich, schuldig!« fügte der brünette Leutnant hinzu, sich auf seinem Stuhle schaukelnd.

»Ich beantrage die Todesstrafe«, erklärte der Oberst, »wir müssen ein Exempel statuieren – den Eingebornen Respekt vor der Regierung beibringen.«

»Natürlich, ich stimme bei«, gähnte der brünette Offizier.

Sein blonder Kamerad wollte etwas sagen, er hatte das unbestimmte Gefühl, daß es seine Pflicht sei, gegen diese Strafe zu opponieren, er wußte aber nicht, in was für Worte er seinen Widerspruch kleiden sollte. Doch schon hatte der Oberst, der für rasches Erledigen solcher Sachen war, eine auf dem Tisch stehende Glocke ergriffen und dem hereintretenden Soldaten befohlen, die Gefangenen zur Vernehmung des Urteils herbeizuführen. Die Türe öffnete sich, und unter der Eskorte der Soldaten betraten Raschid und Selim das Gerichtszimmer.

Der Oberst stand auf, ein Papier in der Hand, und ohne die Gefangenen anzusehen, sagte er: »Ihr seid überführt, gegen den Befehl des Gouverneurs Waffen bei euch getragen, und nachdem der armenische Kaufmann ermordet vorgefunden wurde, euch eilig entfernt zu haben; das Kriegsgericht hat euch zum Tode durch Erschießen verurteilt. Das Urteil ist vor Sonnenuntergang zu vollstrecken.«

Raschid konnte genug russisch, um das Gesagte zu verstehen; Selim fest anblickend, teilte er ihm in wenigen Worten den Inhalt des Urteils mit. Raschid wollte sprechen, er wollte eigentlich gegen dieses Urteil protestieren, Allah zum Zeugen seiner Unschuld anrufen, aber sein Stolz ließ es nicht zu, sich vor dem verhaßten Ungläubigen zu demütigen, auch erkannte er, daß es vergeblich sein würde. Hoch aufgerichtet, trotz seiner auf dem Rücken gebundenen Hände, mit flammendem Blick, stand er da, ohne ein Wort zu sagen.

»Was wartet ihr«, schrie der Oberst die Soldaten an, »führt die Gefangenen ins Arrestlokal. Und Sie, Leutnant«, wandte er sich an den rechts von ihm sitzenden brünetten Offizier, »werden die Vollstreckung des Urteils vor Sonnenuntergang leiten.«

»Zu Befehl, Herr Oberst«, meinte der Leutnant mürrisch. Er stand auf und zündete sich eine Zigarette an.

»Und nun, meine Herren«, sagte der Oberst, »es ist Zeit für uns ins Kasino zu gehen und Mittag zu essen. Wir haben heute kaukasischen Schaschlik, Geröstetes Hammelfleisch. der schmeckt ausgezeichnet, wenn er mit Kachetiener Kachetien = eine transkaukasische Provinz. Wein begossen wird.« Die Herren standen auf, reckten sich und verließen unter Vorantritt des Obersten das Gerichtszimmer. Sie begaben sich ins Kasino.

Während die Offiziere zu Mittag speisten, kam der Rechtsanwalt in einer Droschke dort vorgefahren. Er schickte seine Visitenkarte durch einen Burschen hinein, und wurde in einen Saal geführt, der mit dem Bilde des Kaisers geschmückt, zur Veranstaltung von Festlichkeiten der Offiziere diente.

Nach einiger Zeit erschien der Oberst, etwas steif; er dachte, solches zieme sich einem Herrn in Zivil gegenüber. Nachdem der Rechtsanwalt sich vorgestellt und die Herren sich begrüßt, bat der Oberst den Besucher, Platz zu nehmen. Dieser fragte zuerst, ob er die Ehre habe mit dem Vorsitzenden des eben tagenden Kriegsgerichts zu sprechen. Als der Oberst solches bejaht hatte, erzählte der Rechtsanwalt, er habe durch den ihm bekannten Kaufmann Ali die Nachricht erhalten, daß zwei Freunde desselben verhaftet worden seien. Er sei gekommen, um seine Dienste den Verhafteten anzubieten.

»Sie kommen zu spät«, sagte der Oberst trocken, »die beiden Eingebornen, die heute verhaftet wurden, sind bereits zum Tode verurteilt, und das Urteil soll heute vor Sonnenuntergang vollzogen werden.«

Der Rechtsanwalt fühlte, wie es in seinem Innern einen Ruck gab; eine so rasche Erledigung der Angelegenheit hatte er nicht erwartet. Er beherrschte sich aber und fragte den Oberst, ob es ihm möglich sei, Einsicht in die Akten zu gewinnen.

»Akten haben wir eigentlich nicht, ich habe nur einige flüchtige Notizen gemacht, auf Grund deren ich dann meinen Bericht an den General zusammenstelle.«

»Ja, worauf hin haben Sie sie denn zum Tode verurteilt?« fragte der Rechtsanwalt sehr höflich.

»Für das Tragen von Waffen, das, wie Sie wohl wissen werden, verboten ist. Außerdem wurde ein armenischer Kaufmann ermordet und sie entfernten sich eilig vom Tatorte des Verbrechens.«

»Haben sie denn den Mord eingestanden?«

»Das nicht. Aber Sie wissen, wie diese Leute sind. Ihr Prinzip ist, immer zu leugnen. Sie sind hier im Kaukasus alle mehr oder weniger Räuber und Mörder. Und wir haben ein Exempel statuieren wollen und haben sie deswegen verurteilt. Wir müssen diesen fremden Stämmen Respekt beibringen.«

»Das ist gewiß sehr richtig, Herr Oberst«, antwortete der Rechtsanwalt verbindlich, »und ich will nicht ein Wort gegen die Maßnahmen sagen, die Sie aus politischen Gründen für nötig erachten; das würde zu weit führen. Ich möchte Sie nur fragen, ob Sie Beweise haben, daß die beiden Verhafteten den Mord begangen haben?«

»Das gerade nicht«, meinte der Oberst offenherzig, »wir haben eigentlich den Beweis, daß sie den Mord nicht begangen haben. Die beiden ihnen abgenommenen Dolche haben keine Blutflecken.«

Der Rechtsanwalt sprang vom Stuhl auf: »Und Sie haben sie zum Tode verurteilt, obschon Sie die Beweise haben, daß sie nicht die Mörder sein können?«

»O«, sagte der Oberst aufstehend, »wenn nicht diesen Mord, so werden sie doch irgend einen andern auf dem Gewissen haben. Übrigens haben wir sie nicht für den Mord verurteilt, sondern für das Tragen von Waffen. Wir haben ein Exempel statuieren wollen, wiederhole ich, man muß den Eingeborenen Respekt einflößen.«

»Glauben Sie denn nicht«, sagte der Rechtsanwalt und seine Stimme zitterte etwas, »daß die Strafe in keinem Verhältnis zur Gesetzes-Übertretung steht?«

»Herr Rechtsanwalt«, sagte der Oberst sich etwas aufrichtend und sehr steif, »ich habe Ihnen schon gesagt, daß wir ein Exempel statuieren wollten. Steht noch irgend etwas zu Ihren Diensten?«

»Erbarmen Sie sich, Herr Oberst«, sagte der Rechtsanwalt mit gepreßter Stimme. »Sagen Sie mir, kann etwas zur Rettung dieser beiden Unglücklichen geschehen?«

»Ich weiß nicht, was«, sagte der Oberst, die Achsel zuckend. »Das Kriegsgericht hat keine Appellation.«

»Aber man kann doch um Aufschub, und Begnadigung bitten?«

»Ja, wenn es Ihnen gelingt, den Gouverneur für diese Sache zu interessieren. Wenn er das Urteil aufhebt oder eine neue Untersuchung anordnet, dann ist es ja was anderes. Sonst aber vor Sonnenuntergang!«

»Ich werde versuchen, was sich machen läßt«, meinte der Rechtsanwalt und verließ nach eiligem Abschied das Kasino.

Er sprang in seine Droschke und befahl, nach der Uhr sehend, dem Kutscher zum Schloß des Gouverneurs zu fahren. Es war schon halb vier. Würde er den Gouverneur sprechen können?

Er war aufgeregt; zwar hatte er die zwei Verhafteten nie gesehen, aber ihr tragisches Schicksal hatte ihn tief ergriffen. Er war noch nicht durch langjährige Reibung mit Behörden und Beamten abgestumpft. »Fürs Tragen von Waffen zum Tode verurteilt«, das kam ihm zu hart und ungerecht vor. Er wollte gar zu gerne die Verurteilten retten.

Als er endlich vor dem Portal des Schlosses vorgefahren kam und hineineilte trat ihm der große würdevolle Portier entgegen und fragte mit einer gewissen Geringschätzung – – er hatte nur vor einer Uniform Respekt – – zu wem er wolle.

»Ich muß zum Herrn Gouverneur«, antwortete der Rechtsanwalt eilig und nervös.

»Der Herr Gouverneur empfängt nur bis ein Uhr«, meinte der Portier kalt und sachlich.

»Aber es ist eine sehr wichtige Angelegenheit, ich muß den Gouverneur sehen, ich muß ihm gemeldet werden.«

»Seine Exzellenz empfängt nur bis ein Uhr,« wiederholte der Riese in Livree.

»Aber es handelt sich um das Leben zweier Menschen«, fuhr der Rechtsanwalt ihn an. »Sie müssen mich melden.«

»Ich darf nicht«, sagte der Riese, »Seine Exzellenz geruhen auszuruhen um diese Zeit.«

Da griff der Rechtsanwalt zum wunderwirkenden, heilbringenden, alles lösenden Mittel. Er trat an den Riesen heran und ließ etwas in dessen Hand verschwinden. »Was soll ich machen, sagen Sie mir?«

»Ich darf Sie nicht melden«, sagte die lange Livree nun freundlich, »aber sprechen Sie doch mit dem diensthabenden Beamten; wenn Sie den Gouverneur noch heute sehen wollen, so kann es nur durch seine Vermittlung geschehen.«

»Wo kann ich ihn denn sprechen?«

»Bitte, wollen Sie sich hierher bemühen ins Empfangszimmer«, sagte der Portier, und öffnete vor dem Rechtsanwalt eine Türe. »Ich werde Sie ihm melden.«

Das Empfangszimmer war banal und trostlos; ein mit imitiertem Leder bezogener Divan und ebensolche Stühle an den Wänden, unter den Bildern einst regierender Kaiser.

Der Rechtsanwalt ging aufgeregt im Zimmer auf und ab. Die Aufgabe, etwas für die Verhafteten zu tun, war ihm sehr plötzlich zuteil geworden; nur ungern hatte er seine Beschäftigung in seinem; Bureau unterbrochen, aber die Unterredung mit dem Oberst hatte ihm gezeigt, daß hier zwei Unschuldige aus Gründen höherer Politik leiden sollten. Sein Gerechtigkeitsgefühl bäumte sich dagegen auf, er hatte die Sache der Verurteilten zu der seinen gemacht und wollte alles tun, was in seinen Kräften stand, um sie zu retten oder um wenigstens ihr Los zu erleichtern.

Die Tür tat sich auf, und der »Beamte für besondere Aufträge« trat ein. Ein hübscher junger Mann, mit sorgfältig frisiertem Haar und Schnurrbart, in gut sitzendem, schwarzen Frack mit goldenen Knöpfen. Er mußte auf Bällen, die der Gouverneur gab, etwas den Hofmarschall spielen und hatte sich gewisse verbindliche Manieren und Bewegungen angewöhnt, die er auch im Dienste nicht ablegte.

Sehr höflich, aber doch mit einer gewissen Zurückhaltung fragte er den Rechtsanwalt, womit er ihm dienen könne.

Etwas eilig und nervös erzählte dieser, um was es sich handelte und bat den Beamten, ihm eine Audienz beim Gouverneur zu verschaffen; es stünden zwei Menschenleben auf dem Spiel.

»Nur zwei Eingeborene«, entfuhr es dem Beamten mit Geringschätzung.

»Ihr Leben ist ihnen eben so wertvoll, wie einem, der das Glück hatte, in Moskau geboren zu sein und alle bürgerlichen Rechte zu genießen.«

»Ich kann mich hier nicht in Diskussionen mit Ihnen einlassen«, meinte der Beamte mit hochmütigem Ausdruck.

Der Rechtsanwalt lenkte ein, ihm lag das Schicksal der Verurteilten am Herzen. »Ich wünsche auch durchaus nichts zu sagen, was Ihnen mißfallen könnte, ich appelliere in dieser Sache nur an Ihr gutes Herz und bitte Sie um Ihre Fürsprache.«

»Ich kann sehr wenig tun«, sagte der Beamte geschmeichelt. »Seine Exzellenz ruhen eben und nachher trinkt sie Tee im Salon Ihrer Exzellenz und am Abend haben wir Gesellschaft. Aber kommen Sie vor dem Diner zwischen 5 und 6, dann werde ich versuchen, Sie dem Gouverneur zu melden, vielleicht empfängt er Sie.«

Um 7 Uhr geht die Sonne unter, dachte der Rechtsanwalt, da könnte der Gouverneur noch in die Kaserne telephonieren, die Hinrichtung zu verschieben, bis die Angelegenheit von neuem untersucht würde. Er sah ein, daß augenblicklich nichts zu machen sei, dankte dem Beamten dafür, daß er ihn angehört und empfahl sich mit dem Versprechen, um 5 Uhr wiederzukommen. Dann setzte er sich in seine Droschke, und von Unruhe getrieben befahl er dem Kutscher, in die Kaserne zu fahren.

Er spürte keinen Hunger, die Aufregung um das Los der beiden Verhafteten ließ ihn sein Mittagessen vergessen. Er wollte die beiden sehen; er wußte zwar, daß diese Söhne der Berge keinen tröstenden Zuspruch brauchten, aber er wollte doch ihre Bekanntschaft machen und ihnen die Versicherung geben, daß sie einen Freund hätten, der sich ihrer annehme und der alles tun wollte, was in seinen Kräften stehe, um sie zu retten.

In der Wachtstube der Kaserne fragte er nach den Verurteilten. Ein Unteroffizier mit klotzigen, unbeweglichen Zügen antwortete mit viel Stolz, daß niemand ohne Erlaubnis der Obrigkeit mit den Gefangenen sprechen dürfe. Ein Zivilist war in seinen Augen ein minderwertiges Glied der Menschheit, dem mit Geringschätzung zu begegnen der Würde eines Unteroffiziers entsprach. Eine kleine silberne Münze aber, im richtigen Augenblicke an die richtige Stelle gelegt, bewirkte, daß der Herr Unteroffizier sich auf den Weg machte, um von dem Offizier, dem die Gefangenen anvertraut waren, für den Rechtsanwalt die Erlaubnis zu holen, sie sehen zu dürfen.

»Warten Sie hier«, sagte er gnädig und verschwand. Die im Wachtzimmer sich räkelnden und plaudernden Soldaten beachteten den Zivilisten weiter nicht, der voll innerer Unruhe auf und ab ging. Sehr bald kam der Unteroffizier zurück und sagte selbstbewußt: »Es ist Ihnen gestattet die Gefangenen zu besuchen, aber nur in meiner Gegenwart und nachdem ich mich überzeugt habe, daß Sie keine Waffen bei sich haben, die Sie den Verhafteten zustecken könnten.«

»Bitte, untersuchen Sie mich«, sagte der Rechtsanwalt und hob die Arme etwas.

Der Unteroffizier trat an ihn heran und fuhr mit seinen nicht gerade sehr reinen Fingern in jede Tasche. Als er in der Brusttasche das Taschenbuch des Rechtsanwaltes zwischen seinen dicken Fingern hatte, dachte dieser, der Augenblick sei gekommen, von ihm und seinem Inhalte auf Nimmerwiedersehen Abschied nehmen zu müssen, aber diese Befürchtung war unnötig. Der Besitzer der dicken ungewaschenen Finger war noch in der durch die Silbermünze erzeugten wohlwollenden Stimmung und wußte nicht, wieviel sich in dem erwähnten Buche befand. »Kommen Sie«, sagte er und winkte dem Rechtsanwalt. Hinter dem Unteroffizier her schritt er durch einen langen halbdunklen Gang, dann wurde eine Tür vor ihm aufgeschlossen und er befand sich in einem schmalen Zimmer, das nur spärliches Licht durch ein vergittertes Fenster am andern Ende erhielt. Auf einer Bank an der Wand sah er zwei Gestalten etwas vornübergebeugt sitzen. Um den Unteroffizier liebenswürdiger zu stimmen, bot er ihm eine Papyros an, die dieser, nachdem er erst fast alle andern berührt hatte, aus dem Zigarettenetui nahm Dann trat der Rechtsanwalt an die beiden Gefangenen heran: »Ich bin der Rechtsanwalt D.«, sagte er mit gedämpfter Stimme auf Tatarisch, »der Freund des Kaufmanns Ali, er hat mich gebeten, euch zu helfen.«

»Gepriesen sei Allah, der dich gesandt«, sagte Raschid, und in seinen großen dunklen Augen leuchtete es auf. »Wir sind unschuldig in die Hände dieser Ungläubigen gefallen. Wir haben den armenischen Kaufmann nicht ermordet, wir können es beim Barte des Propheten schwören.«

»Ich weiß, ich weiß, ich habe mit dem Offizier, der das Gericht leitete, gesprochen ... ich weiß, daß ihr den Armenier nicht getötet habt, und auch der Offizier weiß es ... sie haben euch nicht deswegen verurteilt, sondern weil ihr Waffen bei euch getragen habt.«

»In unseren Bergen geht kein Mann ohne Waffen. Wir wußten nicht, daß es verboten war und erfuhren es erst in der Stadt.«

»Ja, Unkenntnis der Gesetze schützt nicht vor Strafe, aber ich bin gekommen, euch zu sagen, daß ich versucht habe, den Gouverneur zu sprechen, um ihn zu bitten, eure Angelegenheit noch einmal zu untersuchen. Noch konnte ich ihn nicht sehen, aber einer seiner Beamten sagte mir, ich solle zwischen fünf und sechs wiederkommen, dann würde ich mit ihm sprechen können.«

»Allah segne dich, daß du dich zweier Unglücklicher annimmst«, sagte Raschid, »und vergelte es dir am Tage des Gerichtes.«

»Was ein Mensch tun kann, will ich für euch tun«, ... der Rechtsanwalt legte seine Hand auf Raschids Schulter ... dabei bemerkte er, daß die Arme der Gefangenen noch immer auf dem Rücken gefesselt waren.

»Ja, seid ihr denn noch immer gebunden?«

»Wie du siehst«, antwortete Raschid, »die Schnüre schneiden ein, sie haben sie so fest angezogen,«

Der Rechtsanwalt stand auf und trat an den Unteroffizier heran: »Ist es Vorschrift, daß die Hände der Gefangenen gefesselt sind?«

»Das kann ich nicht wissen«, antwortete der Unteroffizier mechanisch.

»Aber sie können ja hier im Gefängnis nicht fortlaufen ... kann man ihnen die Hände nicht lösen?«

»Das kann ich nicht wissen.«

Es tat dem Rechtsanwalt leid, kein Taschenmesser bei sich zu haben, sonst hätte er selbst die Schnüre durchschnitten, denn er empfand es als eine unnütze Grausamkeit, die Gefangenen den ganzen Tag über mit auf dem Rücken gebundenen Händen sitzen zu lassen.

»Auf diese Weise könnt ihr ja gar nicht essen; habt ihr denn noch nicht etwas bekommen?«

»Nicht ein Stück Brot, nicht einen Schluck Wasser«, meinte Raschid.

»Wie kommt das«, fragte der Rechtsanwalt den Unteroffizier, »wird den Gefangenen hier nicht zu essen gegeben?«

»Das kann ich nicht wissen.«

»Aber man kann sie doch nicht ohne Nahrung lassen.«

»Die Obrigkeit hat nichts befohlen«, sagte der Unteroffizier gleichgültig.

Der Rechtsanwalt blickte nach der Uhr, es war schon halb fünf.

»Ich muß jetzt zum Gouverneur ... ich tue alles, was ich kann.«

»Wir legen unser Leben in deine Hand und werden es vor Allah am Tage des Gerichtes bezeugen, daß du dich der Unschuldigen und Unglücklichen angenommen hast.«

»Er helfe mir, euch zu retten«, sagte der Rechtsanwalt und verließ das Arrestlokal. Er bestieg seine Droschke und befahl dem Kutscher, zum Schlosse des Gouverneurs zu fahren. In seinem Herzen kochte es; der ungerechte Urteilsspruch und die Behandlung der beiden Gefangenen empörte ihn ... er brannte vor Begierde, ihnen zu helfen, Sie hatten einen so guten, treuherzigen, wenn auch etwas beschränkten Eindruck auf ihn gemacht. In Berg und Schlucht, auf nächtlichem Ritt, in Kampf und Kriegslist, dachte er, da mögen sie ihren Mann stellen ... wenn sie es aber mit Gesetzen, Verordnungen, Beamten zu tun haben, dann sind diese Söhne der Berge hilflos wie Fische im Netz.

*

Als er in seiner kleinen Droschke vor dem Haus des Gouverneurs ankam, sah er einen geschlossenen Wagen vor der Türe halten, aus dem Damen in eleganten hellen Dinertoiletten ausstiegen. Er wartete nicht, bis seine Droschke vorfahren konnte, sondern sprang ab und eilte hinter den Damen her ins Vorhaus. Der große Portier empfing dienstbeflissen die Gäste des Gouverneurs, nahm den Damen die Abendmäntel ab und hatte weder Wort noch Blick für den Rechtsanwalt, der wie auf Nadeln stand. Immer wieder öffnete sich die Tür und neue Gäste traten ein ... auch einige Offiziere in Epauletten, die galant die mit langen weißen Handschuhen bekleideten Hände, welche ihnen von den Damen mit liebenswürdigem Lächeln gereicht wurden, an die Lippen führten. Der Rechtsanwalt konnte dieses Bild gesellschaftlichen Lebens nicht in sich aufnehmen ... vor seiner Seele stand ein anderes ... er sah ein langes schmales Zimmer, in dem zwei Unschuldige, ungerecht zum Tode Verurteilte, mit auf den Rücken gebundenen Händen schmachteten, und die auf ihn ihre ganze Hoffnung gesetzt hatten. Jenes Zimmer war halbdunkel, als er drin war, und jetzt würden wahrscheinlich die Schatten länger und länger werden und dann – durchzuckte ihn das Wort: »Sonnenuntergang!«

Hastig und nervös sah er nach der Uhr ... noch 20 bis 30 Minuten Zeit ... dann war es zu spät ... er wandte sich zwischen den Schleppen der Damen hindurch, welche teils sich anschickten, an den Armen der Kavaliere die teppichbelegte Treppe hinaufzusteigen, teils vor den hohen Pfeilerspiegeln etwas an ihrer Toilette ordneten, und erreichte den Portier, welcher eine so unwichtige Persönlichkeit, wie diesen Bittsteller, gar nicht beachten wollte. Der Rechtsanwalt gab ihm seine Karte und sagte gebieterisch? »Bringen Sie meine Karte sofort dem diensthabenden Beamten, er hat mich bestellt, um diese Zeit hierher zu kommen.«

»Das ist unmöglich ... ich kann jetzt von hier nicht weg.«

Da riß dem Rechtsanwalt die Geduld: »Augenblicklich bringen Sie die Karte hinein oder ich verklage Sie beim Gouverneur. Es handelt sich um das Leben zweier Unschuldiger, für deren Tod Sie mitverantwortlich sind, wenn Sie diese Karte nicht sofort abgeben.«

Das wirkte.

Der Portier nahm die Karte, stieg die Treppe hinauf und reichte sie einem Diener mit der Weisung, sie dem diensthabenden Beamten zu bringen. Wieder mußte der Rechtsanwalt eine Weile nervös und erregt auf und ab gehen.

Es dauerte nicht lange, da erschien der ihm bekannte Beamte, elegant und liebenswürdig.

»Ich bedauere«, sagte er nähertretend, »es ist mir unmöglich gewesen. Seiner Exzellenz von Ihrem Wunsche Mitteilung zu machen,«

»Aber es handelt sich um das Leben zweier Unschuldiger, die durch ein – – nun wollen wir sagen – – Versehen des Kriegsgerichtes zum Tode verurteilt sind«, schrie fast der Rechtsanwalt vor Aufregung.

»Bitte, schreien Sie nicht so«, sagte der Beamte mit eisiger Kälte, »ich bin nicht taub,«

»Verzeihen Sie, aber das Schicksal der beiden regt mich auf.«

»Sind Sie denn verwandt mit ihnen?«

»Nein, das gerade nicht.«

»Nun, was regen Sie sich denn da auf. Es ist kein Unglück, wenn es zwei Räuber weniger im Kaukasus gibt.«

Um seinen Schutzbefohlenen nicht zu schaden, widerstand der Rechtsanwalt der Versuchung, den eleganten Beamten durch eine kräftige Ohrfeige zu Boden zu strecken. Er bezwang sich und bat: »Melden Sie mich bitte dem Gouverneur.«

»Das ist unmöglich.«

»Es handelt sich um das Leben zweier Unschuldiger.«

»Ich kann es nicht ... es ist nicht möglich jetzt ... ich darf Seiner Exzellenz jetzt nicht mit so etwas kommen ... Sie sehen, es sind Gäste da.«

Einen Augenblick standen sich die beiden Männer gegenüber. In den Augen des Rechtsanwaltes loderte Haß und Empörung. Dann führte der Beamte mit leichter Verbeugung die Hände bedauernd auseinander und der Rechtsanwalt war allein mit dem Portier, der mit herablassendem Interesse die Verhandlung angehört hatte.

Schweren Schrittes stampfte der Rechtsanwalt hinaus und bestieg seine Droschke. Er war so enttäuscht und empört, daß er gar keinen Gedanken fassen konnte.

»Wohin, Herr?« fragte der Kutscher.

»Zurück in die Kaserne«, sagte der Rechtsanwalt, und war selber über diesen Befehl erstaunt ... denn was soll ich da, fragte er sich, ich kann sie doch nicht retten. Soll ich ihnen sagen, daß meine Bemühungen zu nichts geführt haben? Ich habe nicht das Herz dazu.

Dann kam ihm der Gedanke, er könnte vielleicht den Obersten bewegen, die Vollstreckung des Todesurteils aufzuschieben, bis es ihm gelungen, mit dem Gouverneur zu reden.

»Fahr zu, Kutscher, brauche deine Peitsche ... du erhältst ein gutes Trinkgeld.«

Der Kutscher trieb sein Pferdchen an ... Immer wieder mußte der Rechtsanwalt auf die Sonne blicken, die wie ein großer roter Ball am Horizonte niedersank.

Er näherte sich den Kasernen.

Da ... das Geknatter einer Infanteriesalve ... gleich darauf eine zweite ... Das Herz des Rechtsanwaltes wollte stehen bleiben ... dann bedeckte er sein Gesicht mit beiden Händen und brach in Schluchzen aus ...

»Kehr um ... kehr um, wir sind zu spät gekommen.«

»Die haben wahrscheinlich dort jemanden erschossen«, meinte der Kutscher.

Der Rechtsanwalt schämte sich seines Schmerzes und seiner Tränen nicht ... er sah die beiden immer vor sich, wie sie mit gebundenen Händen auf der Bank des Arrestlokales gesessen hatten, und den dankbaren Blick in Raschids Augen, als er ihm von seinen Bemühungen um ihre Rettung mitgeteilt ... dann fiel ihm ein, daß die Verwandten der beiden von ihrer Verhaftung nichts gewußt und sie daher nicht kommen würden, um die Leichen zur Beerdigung abzuholen. Ein ehrliches Begräbnis sollte ihnen dennoch werden.

»Kutscher, kehr um«, befahl er noch einmal, »fahr zurück zur Kaserne.«

... Er wollte um die Auslieferung der beiden Leichen bitten.


 << zurück weiter >>