Else Ury
Was das Sonntagskind erlauscht
Else Ury

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Fritz, der kleine Piccolo

Seid ihr schon einmal mit der großen Eisenbahn in die weite Welt hineingefahren, ihr Kinder? Ja? – Dann habt ihr auch sicherlich auf einer Station einen winzigen, kleinen Kellner gesehen, der mit belegten Brötchen am Zuge entlang lief. Solch einen kleinen Kellner nennt man einen Piccolo.

Fritz, der träumerische Fritz, war so ein kleiner Piccolo auf einer großen Bahnstation, an der täglich viele, viele Züge vorbeisausten; aber nicht immer war er dort gewesen.

Früher hatte er mit seiner Mutter in einem freundlichen Städtchen gelebt, dort war er in die Schule gegangen, und die Mutter hatte den spärlichen Unterhalt durch feine Stickereien erworben. Tagein, tagaus saß sie am Fenster, um das sich der wilde Wein lustig emporrankte, das schöne, blasse Gesicht mit dem schimmernden, aschblonden Haar eifrig auf die Arbeit geneigt; nur von Zeit zu Zeit starrte sie durch die Scheiben sehnsüchtig ins Weite.

Nach ihrem Gatten schaute die arme Frau, der vor fünf Jahren nach Australien ausgewandert war, weil ein schlechter Mensch ihn um Hab' und Gut gebracht hatte; sobald es ihm gut ginge, wollte er Frau und Kind nachkommen lassen. Niemals hatte die Mutter ein Lebenszeichen von dem Vater ihres Kindes erhalten; er war in dem fremden Lande gestorben und verdorben.

So zog sie denn aus der Heimat, wo alles sie an die frohe, glückliche Zeit, die sie dort mit ihrem Mann verlebt hatte, gemahnte, weit fort bis in das kleine Städtchen, in dem niemand sie kannte.

Als der Fritz größer wurde, erzählte ihm die Mutter von seinem fernen Vater, und nun schaute auch Fritz durch das Fenster eifrig nach ihm aus. Sowie ein Fremder über den Marktplatz des Städtchens schritt, rief der Kleine: »Papa kommt!«

Aber Papa kam nicht!

Die Mutter grämte sich und starb, und den Fritz, der gerade eingesegnet war, nahm ein Bahnhofshotelbesitzer als Piccolo weit mit fort.

Fritz, der für seine Jahre sehr klein war, bekam einen winzigen Frack, mit langen Schößen daran, einen hohen, steifen Kragen und einen weißen Schlips; ach, wie drollig sah der Knirps darin aus!

Seine schönen, aschblonden Locken, die er von der Mutter geerbt hatte, scheitelte man und klebte sie mit Pomade am Kopfe fest, dann bekam der Fritz eine Serviette unter den Arm, und nun war der kleine Piccolo fertig!

Leicht hatte es Fritz nicht; frühmorgens mußte er schon das Gastzimmer in Ordnung bringen, Gläser spülen und die Servietten in kunstvolle Formen zusammenfalten.

Und wenn ein Eisenbahnzug in die Bahnhofshalle einlief, eilte der kleine Piccolo mit dem großen Brett, auf dem die appetitlichen Brötchen einladend ausgebreitet waren, am Zuge entlang.

»Belegte Brötchen, warme Würstchen, Bier gefällig?« rief er mit seiner hellen Knabenstimme, und manch Reisender schenkte dem hübschen, kleinen Piccolo mit dem treuherzigen Kinderblick ein paar Pfennige Trinkgeld.

Die sparte der Fritz gar eifrig, und wenn ihn die Gefährten mit seinem Geiz aufzogen, lachte er still vor sich hin; er wußte schon, wozu er so fleißig sparte.

Zu seinem Vater wollte er nach Australien, wenn er genug Geld zusammen hatte; o – er würde ihn schon finden! Eine innere Stimme sagte ihm, daß der Vater noch lebte, und mit Sehnsucht dachte er des Fernen, den er kaum gekannt hatte.

Wenn die Züge aus Nord und Süd, aus Ost und West an dem Bahnhof vorbeisausten, dann fragte der kleine Piccolo sie wohl träumerisch: »Habt ihr nicht irgendwo den Vater gesehen?« Aber die Eisenbahnen brausten weiter und ließen den kleinen Piccolo mit seiner Sehnsucht zurück. –

Doch auch manchen Rüffel mußte der Fritz vom Oberkellner einstecken, weil er so verträumt war; bald hatte er vergessen, die Speisekarte auszufüllen, bald war das Bier schlecht eingeschenkt, da setzte es so manche Ohrfeige.

Ein ganzes Jahr lang war der Piccolo nun schon bei seinem Herrn, da saß er an einem Sonntagnachmittag oben in seinem Dachkämmerchen und überzählte seine Ersparnisse. Traurig tat er die blanken Münzen in das Schächtelchen zurück; es war noch so wenig, so schrecklich wenig, nicht einmal bis Hamburg kam er damit.

Plötzlich schreckte er hoch; ein Schnellzug wurde signalisiert, der Kleine griff nach seinem Brett und lief auf den Bahnsteig hinaus.

Der Zug fuhr gerade ein.

»Belegte Brötchen, warme Würstchen, Bier gefällig?« rief der kleine Piccolo; aber nur wenig Absatz fanden seine Sachen heute, der Zug war ziemlich leer.

»Bier!« rief ein eleganter Herr aus einem Abteil erster Klasse.

Fritz lief hinzu und reichte dem Herrn freundlich das Glas Bier hinein.

Plötzlich sah er, wie das Auge des Herrn starr an seinem Gesicht hing, und dann fuhr sich der Fremde mit der Hand über die Augen, wie einer, der sich auf etwas besinnt.

Da riefen andere Gäste nach Bier.

»Das Geld, Herr,« bat der Kleine.

»Ihre Stimme,« murmelte der Fremde, »ihre Haare und ihre Augen!«

»Wie heißt du, Kleiner,« fragte er hastig.

Fritz nannte seinen Namen.

»Mein Junge – mein lieber Junge!« jubelte der Herr, sprang aus dem Zuge und zog den kleinen Piccolo glückselig an das Herz.

Aus den Coupéfenstern schauten die Leute neugierig auf den feinen Herrn, der den kleinen Piccolo noch immer umschlungen hielt.

Da pfiff die Lokomotive – der Zug rasselte davon; Fritz aber wußte gar nicht, wie ihm geschah.

»Bist du mein Vater?« fragte er ganz leise, aus Angst, daß der schöne Traum zerrinnen könnte, dann aber schmiegte er sich innig an die hohe Gestalt des Fremden. »Wenn die Mutter das doch erlebt hätte!« flüsterte er.

Da neigte sich der Vater tiefbewegt zu dem Kleinen und küßte ihn zärtlich.

Er erzählte nun seinem Jungen, wie er in der ersten Zeit mit Armut und Not zu kämpfen gehabt hatte, und als es ihm besser gegangen war, und er nach seiner Frau und nach seinem Sohne geforscht hatte, da erfuhr er, daß die Mutter gestorben sei; über den Verbleib des Kleinen wußte aber niemand etwas.

So hatte sich der Vater, der inzwischen ein reicher Mann geworden war, selbst aufgemacht, um sein Söhnchen zu suchen, und gerade hier mußte er ihn als kleinen Piccolo endlich finden!

Ja – Gottes Wege sind oft wunderbar!



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