Else Ury
Was das Sonntagskind erlauscht
Else Ury

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Schwälbchen

Das letzte Haus im Dorfe bewohnte ein armer Bauer mit seinem braven Weibe. Alt und baufällig war die Hütte, das braune Strohdach vielfach geflickt, aber in dem Gärtchen hinter dem Hause, da blühten im Frühling die ersten Primeln und Schneeglöckchen und im Herbst die letzten, bunten Astern, dafür sorgte die junge Bäuerin, die eine gar geschickte Hand in der Blumenpflege hatte. Dem Bauer glückte es weniger, trotzdem er von morgens früh mit dem ersten Hahnenschrei aus dem Bette war und bis zum Feierabendläuten fleißig im Schweiße seines Angesichts sein Stückchen Feld bestellte.

Es wollte ihm nichts gelingen, hatte er Kartoffeln auf seinen Acker gepflanzt, dann gab's gewiß einen Regensommer, und die Kartoffeln faulten; hatte er Weizen oder Gerste gesät, dann kam sicherlich Dürre, und die Halme trugen zum größten Teil taube Ähren. Oder aber ein Hagelschlag kam und vernichtete die gut stehende Saat; bald starb ihm eine Ziege, bald brach eine Seuche unter seinen Kühen aus, was er anfaßte, mißlang.

»Ich bin eben ein Pechvogel,« pflegte er mit bitterem Lächeln zu sagen, »ich habe nun einmal kein Glück!«

Aber eines Tages kam er jubelnd in die kleine, sauber gescheuerte Stube gestürzt, in der seine liebe Frau am Webstuhl saß und fleißig das Schiffchen hin und her warf.

»Frau,« rief er laut, »das Glück ist endlich bei uns eingekehrt, komm' und schau', an unserem Dache nisten Schwalben, die bringen uns sicherlich Glück!«

Die Bäuerin lief schnell mit hinaus, richtig – oben an dem Dachfirst klebte ein kleines Schwalbennest; eifrig flogen die beiden Schwälbchen hin und her, sie trugen Holz, Lappen und Papier in ihrem Schnabel herzu und bauten sich da oben auf dem Strohdach ein lustiges, geräumiges Nest. Wirklich schien mit den beiden Schwälbchen das Glück ins Haus gezogen zu sein; der Bauer schaffte noch einmal so viel als sonst, die Ähren auf dem Felde trugen das Doppelte, und das Korn kam dies Jahr trocken herein.

Die junge Frau aber stand mit sehnsüchtigen Augen zwischen den würzigen Nelken und duftenden Levkojen in ihrem Gärtchen und schaute zu dem Schwalbennest empor. Dort sperrten jetzt sechs hungrige Schwälbchen den kleinen Schnabel auf, und Vater und Mutter flogen ab und zu und steckten den hilflosen Vogelkindern das Futter in die kleinen, weitgeöffneten Schnäbel, schützend breitete die Schwalbenmutter ihre schlanken Flügel über die Kleinen aus, daß ihnen Wind und Wetter nichts anhaben konnten.

»Ach,« sprach da die junge Frau traurig, »hätte ich doch auch ein süßes, kleines Kind, wie wollte ich es lieb haben, es schützen und pflegen, ganz so wie die Schwalbenmutter dort oben!«

Das hörte die Schwalbe oben im Nest, und ihr tat die einsame, junge Frau leid. Als die Kleinen das Fliegen gelernt hatten und groß genug waren, die weite Reise nach den warmen Ländern anzutreten, flogen sie alle mit einem »Behüt di Gott« davon, hinein in die weite, blaue Luft.

Der Winter verging, und als die ersten schwellenden Knospen an dem Fliederbusch im Gärtchen prangten, als die zarten, grünen Grashälmchen neugierig das Näschen aus der braunen Erde steckten, da schaute die Bäuerin wieder nach ihren lieben Schwalben aus.

»Grüß di Gott, grüß di Gott!« klang's da eines Abends aus der Luft, und mit schlanken, schnellen Flügeln kamen sie wieder herzugeschossen, die beiden Schwälbchen, die voriges Jahr auf dem Strohdach gehaust.

Aber – o Wunder – was trug denn die Schwalbenmutter auf dem Rücken? Ein winziges, kleines Mädchen war's, das hatte ihr der Gevatter Storch für die junge Bäuerin mitgegeben. Frau Schwalbe flog in das Gärtchen zu der jungen Frau herab und legte das kleine Mädchen behutsam in die Arme der glücklichen Mutter.

»Quiwitt – quiwitt,« zwitscherte die Schwalbenmutter, sich in die Lüfte schwingend, das sollte heißen: »Siehst du, das habe ich dir von meiner Reise mitgebracht!« –

Nun war das Glück wirklich in das Bauernhäuschen eingezogen; Frohsinn und Freude brachte das kleine Mädchen mit ins Haus. Lisbeth nannten sie die Eltern; aber die Leute im Dorf, die wußten, auf wie seltsame Weise die Kleine ihren Einzug in das Bauernhaus gehalten, nannten das kleine, blondhaarige Mädchen nur »Schwälbchen«. Und bald wurde sie überall, auch von den Eltern, so gerufen.

Das kleine Schwälbchen zwitscherte von morgens bis abends wie ihre Namensschwestern auf dem Dache durch das ganze Haus, schlank und zierlich war sie wie ein Schwälbchen, und sie flog in ihrem kurzen, grauen Röckchen schneller als die anderen Kinder die Dorfstraße entlang.

Und noch ein Geschenk hatte die gute Frau Schwalbe dem kleinen Mädchen mitgegeben, Schwälbchen konnte die Vogelsprache verstehen.

Stundenlang stand sie unten im Gärtchen und schaute dem schnellen, bogenartigen Fluge der Schwalben zu und lauschte ihrem Sange. Jeden Ton verstand Schwälbchen: wie die Mutter die ungeschickten Kleinen im Fliegen unterwies, und wie sie ihnen gute Lehren auf die Lebensreise mitgab. Stets lief Schwälbchen mit ihrem Frühstücks- und Vesperbrot hinaus und teilte es mit ihren lieben Schwalben.

Traurig sah sie zu, wenn ihre guten Freunde zur Winterreise rüsteten und ihr den Abschiedsgruß zuzwitscherten. Und jubelnd lief sie den ersten heimkehrenden Schwalben im Frühling bis zum Weiher am Waldesrand entgegen und rief ihnen ein fröhliches Willkommen zu.

Im Dorfe aber war es laut geworden, daß Schwälbchen die Vogelsprache verstehen konnte; da sprachen die Leute: »Das ist gar kein kleines Mädchen, sondern eine Hexe, eine Zauberin; wir wollen sie aus unserem Dorfe ausweisen, damit sie uns nichts Böses anhaben kann.«

Und sie jagten das arme Schwälbchen trotz des Jammers und der Tränen der Eltern zum Dorfe hinaus.

Traurig zog Schwälbchen die Landstraße entlang und neigte betrübt das zierliche Köpfchen mit den goldenen Haaren. Große Tränen flossen aus ihren blauen Augen; ach, wie einsam und verlassen war sie doch auf der Welt! Doch da – durchschnitten plötzlich schlanke Schwalbenflügel die blaue Luft, und tröstend klang es zu Schwälbchen herab:

»Fürchte dich nicht, Schwälbchen klein,
Bist nicht einsam und allein!
Denn es zieh'n quiwitt – quiwitt –
All' wir Schwalben mit dir mit!«

Da trocknete Schwälbchen die Tränen, und fröhlich zwitscherte sie mit ihren guten Freunden um die Wette.

Sie kam in einen schattigen, grünen Wald, da nisteten viele hunderte kleine Vögel in den Bäumen und Sträuchern; mit klugen Augen schauten sie das kleine Mädchen neugierig an.

»Willkommen im grünen Wald,« sang die Drossel, und alle kleinen Singvögelchen fielen im Chor ein. Da fühlte sich Schwälbchen gleich heimisch unter all' den Vöglein des Waldes. Frau Schwalbe aber rief den Meister Specht herbei, der mußte mit seinem spitzen Schnabel eine große, alte Eiche aushöhlen, und all' die Vöglein, der lustige Fink, die fröhliche Drossel, der bunte Stieglitz, der gelehrige Star, Amsel, Zeisig, Rotkehlchen, Bachstelze, Kiebitz und Zaunkönig, sie alle trugen grünes Samtmoos und wärmende Blätter hinzu, zum weichen Lager für das kleine Schwälbchen.

So wohnte das kleine Mädchen denn in der geräumigen Eichenhöhle, und alle Singvögelchen hielten vor ihrem Baumhäuschen Wache, daß ihr ja nichts Böses geschah. Morgens klopfte Meister Specht an ihren Baum und weckte sie: »Wach' auf, wach' auf, Schwälbchen, es ist Tag!« und die aufsteigende Lerche sang ihr das schönste Morgenlied. Bachstelzchen flog zum Bach hinab und schöpfte einen frischen Morgentrunk für Schwälbchen, der Kiebitz legte ihr frische Eier, Rotkehlchen pflückte ihr die süßesten, roten Erdbeeren, Blaumeise brachte ihr blaue Heidelbeeren, und Zaunkönig trug ihr im Schnabel die dunkelsten und saftigsten Brombeeren von der Hecke am Zaun zu. Die dreisten Spatzen mausten den Bauern des Dorfes die köstlichsten Kirschen für Schwälbchen aus dem Garten, und die diebische Elster wagte sich gar bis in die Vorratskammern der Bauernhäuser, Wurst, Schinken und Brot schleppte sie in ihrem Schnabel für Schwälbchen herzu. Der Dompfaff vertrieb ihr am Tage die Zeit, er pfiff ihr die lustigsten Weisen vor, der Kuckuck rief ihr mit seinem »Kuckuck – kuckuck« die Stundenzahl zu, damit Schwälbchen auch wußte, wieviel die Uhr ist, und Frau Nachtigall flötete abends ihre süßesten Lieder und sang Schwälbchen in den Schlaf.

So lebte das kleine Mädchen fröhlich unter den Vögeln des Waldes, da kehrte eines Tages die geschwätzige Elster von einem Ausflug zurück und berichtete, was es Neues in der Welt gab; all' die Vögelchen hörten neugierig zu, und auch Schwälbchen lauschte der Erzählung der Elster.

»Denkt euch nur,« sprach die Elster, »was die Menschen draußen in der Welt erzählen: Der König des Landes soll einen Sohn haben, einen schönen, jungen Prinzen, dem hat ein böser Zauberer die Lippen mit einem goldenen Schlüssel verschlossen, nun muß der arme, junge Königssohn sein Leben lang stumm bleiben; still und traurig geht er in dem glänzenden Königsschlosse einher. Aber der König hat eine Bekanntmachung im ganzen Lande erlassen, wer ihm den goldenen Schlüssel bringt, den der alte Zauberer in seinem großen Zauberschlosse in Verwahrsam hat, und seinem armen Sohne wieder die Lippen öffnet, der soll König oder Königin vom ganzen Lande werden, und alles sei ihm untertan.«

»Ach – wie traurig,« sprach Schwälbchen mitleidig, »der arme, arme Prinz, wie gern möchte ich ihm helfen!«

Das hörte Frau Schwalbe, schnell flog sie zu dem kleinen Mädchen hinab: »Quiwitt – quiwitt,« sang sie Schwälbchen ins Ohr, »ich habe auf meinen großen Reisen das wüste Schloß, in dem der böse Zauberer haust, gesehen; unheimliche Nachtvögel flattern um den dunklen Bau. Gevatter Uhu haust in dem alten Turm, er wird sicherlich wissen, wo der Zauberer den goldenen Schlüssel versteckt hat.«

Und Frau Schwalbe rief wieder alle Vöglein des Waldes zusammen, die mußten Reiser und Baumäste herbeischaffen, daraus hämmerte Meister Specht einen zierlichen, kleinen Wagen für Schwälbchen, all' die Vöglein spannten sich vor das Wägelchen. Schwälbchen stieg ein, und der Zeisig schwang sich in grüner Kutscherlivree auf den Bock.

Fort ging's durch die Lüfte, im sausenden Fluge zogen die kleinen Vögel den Wagen, und Frau Schwalbe flog voraus und zeigte den Weg.

Grausig schwarz ragte plötzlich ein großes, halbzerfallenes Schloß vor Schwälbchen empor, und ängstlich mit den Flüglein schlagend, flatterten die Vögel zur Erde herab, auch Schwälbchens Herz pochte laut.

Frau Schwalbe aber zwitscherte leise: »Quiwitt – quiwitt« – da steckte der alte Uhu den Kopf aus dem morschen Turme, und die Schwalbe flog zu ihm auf den Söller des Schlosses. Leise berieten die zwei miteinander, der alte Zauberer war gerade ausgegangen, und die Gelegenheit war günstig.

Da rief Frau Schwalbe den schwarzen Raben zu sich herauf, und sie flogen suchend durch das alte Gemäuer.

In alle verstaubten Winkel und Ecken schaute der Rabe, der sich auf das Spitzbubenhandwerk verstand, und der Uhu flatterte mit seinen leuchtenden Augen neben ihm her, damit er in der Dunkelheit sehen konnte.

»Rab – rab« krächzte der Rabe plötzlich laut auf vor Freude; in der Fußbodenritze glitzerte es, mit seinem spitzen Schnabel zog er den goldenen Zauberschlüssel aus dem Versteck und hing ihn Frau Schwalbe um den Hals. Schnell flogen sie, ehe der Zauberer zurückkehrte, zu Schwälbchen herab, die angstvoll ihrer harrte.

Frau Schwalbe warf ihr den goldenen Schlüssel in den Schoß; die Vöglein schwangen sich jubilierend in die Lüfte, fort flog der Wagen, zum Schlosse des Königs.

Vor dem schönen, großen Garten hielt die kleine Vogelequipage; Schwälbchen stieg aus und ging in den herrlichen Garten.

Da begegnete ihr ein schöner, goldlockiger Jüngling.

»Hast du nicht den Königssohn gesehen?« fragte Schwälbchen ihn.

Der schaute sie mit traurigen Augen an und antwortete nicht. Da merkte Schwälbchen, daß er selbst der arme, stumme Prinz war; schnell zog sie den goldenen Zauberschlüssel aus der Tasche und berührte die Lippen des schönen Königssohns.

Und der Jüngling öffnete plötzlich die lang verschlossenen Lippen. »Du hast mich erlöst, holdes Mädchen,« jauchzte er, »nun sollst du auch meine Gemahlin werden und Königin von dem ganzen Reich.«

Glückselig führte er sie zu dem goldenen Thron, auf dem der König saß und das Land regierte. Der schloß seine Kinder freudestrahlend in die Arme, und noch am selben Tage heiratete Schwälbchen den schönen Königssohn und wurde Königin.

Frau Schwalbe aber flog ins kleine Bauernhäuschen zu Schwälbchens traurigen Eltern und holte sie ins glänzende Königsschloß, daß auch sie an dem Glücke der Königin Schwälbchen teilnehmen konnten.

Die Waldvögel aber musizierten und trillierten zur Hochzeit ihre alleischönsten Weisen, und Frau Schwalbe jubilierte laut: »Quiwitt – quiwitt.«



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