Else Ury
Was das Sonntagskind erlauscht
Else Ury

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Ninja, die kleine Lappländerin

Droben im Norden, weit, weit von hier, gibt's ein Land, in dem es um die heiße Sommerszeit niemals dunkel wird, selbst um Mitternacht steht die liebe Sonne als ein glühender Feuerball am grauen Dunsthimmel, und der silberne Mond und die flimmernden Sternlein schlafen während des ganzen Sommers. Dieses Land, in dem der heiße Sommer nur auf drei Monate einkehrt, und der eisige Winter neun lange Monate regiert, heißt Lappland.

Jetzt aber war es Winter dort oben in Lappland; strenger Frost herrschte, und der schneidende Nordwind blies das gelbe Gesichtchen und das platte Näschen der kleinen Ninja, welche mit ihren hohen Pelzstiefelchen durch den tiefen, knirschenden Schnee einhertappste, so eisig an, daß es ganz rot wurde. Ihr kleines Händchen in dem dicken Pelzhandschuh war ganz erstarrt; kaum konnte Ninja den Eimer halten, den sie mit frischem, weißem Schnee füllte, um davon die Abendsuppe zu kochen, wenn der Vater hungrig von der Jagd heimkehrte.

Trotz des Röckchens aus dickem Renntierpelz und trotz des warmen Pelzkäppchens schauerte Ninja vor Kälte zusammen.

»Gelt, heut' ist's kalt, Katja?« sagte sie zu ihrem treuesten Freunde, dem kleinen Renntierchen, das ihr wie ein Hündchen auf Schritt und Tritt folgte, und strich liebkosend über sein braunes Fell. Katja schaute mit den klugen, dunklen Augen seine kleine Herrin verständnisvoll an und sprang fröhlich voraus in das Pelzzelt, das in dem weißen, glitzernden Schneekleide wie ein riesiger, spitzer Zuckerhut aussah; das war die Wohnung der kleinen Ninja.

Das kleine Mädchen folgte dem Renntierchen. Statt der Tür hing ein großes Renntierfell vor dem Eingang des Zeltes, kein Fensterchen darin; nur durch das Loch oben in der Decke, durch das der Rauch abzog, schimmerte der liebe Tag hinein. Kein Tisch in der elenden Hütte, kein Stuhl und kein Bettchen; nur längst der einen Wand waren trockene Birkenreiser auf der Erde aufgeschichtet und mit warmen Renntierfellen bedeckt, so sah das Bettchen der kleinen Ninja aus, da schlief sie neben ihrem Renntierchen.

Ninja hing den Kessel mit dem Schneewasser über die Herdstelle, die aus losen Steinen bestand, und zündete aus dürren Ästen ein Feuer auf dem Herde an. Dann ergriff sie einen braunen Topf, begann mit geschickten Händchen das Renntier zu melken und trat mit der warmen Milch an das Bettchen aus Birkenreisern, auf dem das kleine Brüderchen, das erst vier Wochen alt war, sanft schlief. Ganz allein hatte Ninja für das Brüderchen zu sorgen; die liebe Mutter war gestorben und hatte sterbend der kleinen, achtjährigen Ninja das schreiende, neugeborene Kindchen in den Arm gelegt.

Ninja nahm das Pelzsteckkissen hoch; da schlug das Brüderchen die kleinen Äuglein auf und lachte sie an, gierig schluckte es die warme Milch, die Ninja ihm einflößte, und Katja, das Renntierchen, schaute zu.

Da kam der Vater von der Jagd zurück, mit dickem Pelzrock und spitzer Pelzmütze. Hinter sich schleifte er einen jungen, verwundeten Berggeier einher, dem hatte er auf der Jagd den einen Flügel zerschossen. Er schleuderte ihn in eine Ecke und sprach, Ninja freundlich über das glatte, schwarze Haar streichend:

»Da hab' ich doch endlich einen von den wilden Raubvögeln, die uns unsere Kinder und unsere Renntiere stehlen, erfaßt; wenn ich nur erst die ganze Brut hätte. Na, der da soll uns nichts mehr tun; morgen schlag' ich ihn mit der Axt tot und nagle ihn zur Warnung draußen an unserem Zelte an.«

Ein jämmerliches Quieken und Stöhnen ertönte aus der Ecke, wo der junge Berggeier lag; es schnitt Ninja in das mitleidige Herzchen.

»Vater,« sagte sie bittend, »lieber Vater, schlage ihn nicht tot, er ist ja noch so klein und hilflos, fast wie das Brüderchen; denke, wenn dem einer 'was täte, schenk' ihn mir, Vater, ich will ihn pflegen, daß er wieder gesund wird, bitte, bitte!«

Der Vater konnte Ninjas bittenden Augen, die ganz so blickten wie die seiner toten Frau, nicht widerstehen; brummend gab er seine Einwilligung.

»Aber hüte das Brüderchen,« sagte er, »erst vor drei Tagen hat ein großer Berggeier dem Nachbar ein Kind geraubt, sie haben es noch nicht wiedergefunden!«

Ninja versprach es dem Vater; dann wusch sie den wunden Flügel des kleinen Berggeiers mit kühlem Schnee aus und gab ihm Renntiermilch zu trinken. Dankbar blickte der kranke Vogel zu seiner kleinen Pflegerin auf. So vergingen einige Tage, der kleine Geier hockte den ganzen Tag neben dem Steckkissen des Brüderchens, und auch mit Katja, dem Renntierchen, hatte er Freundschaft geschlossen. Die böse Wunde war geheilt; Ninja nahm den jungen Berggeier auf den Arm und trat mit ihm aus dem Zelt hinaus.

»So, du Kleiner,« sagte sie, zärtlich sein Köpfchen krauend, »nun bist du gesund; ich schenke dir deine Freiheit wieder, nun flieg' heim in dein Nest und tue uns nichts!«

Der junge Geier rieb dankbar den Kopf an dein Pelzärmel des kleinen Mädchens, breitete seine Flügel aus und flog davon.

Ninja trat zurück in die Hütte und setzte den gedörrten Fisch zur Mittagsmahlzeit ans Feuer. Da – wurde es plötzlich stockdunkel in dem Zelt; ein riesengroßer, schwarzer Berggeier flog oben zu dem Loch in das Zelt hinein, mit seinem spitzen, gebogenen Schnabel erfaßte er das Pelzsteckkissen und flog mit dem Brüderchen eiligst wieder zum Zelte hinaus. Einen gellenden Schrei stieß die kleine Ninja aus, weinend lief sie aus der Hütte. Da sah sie den schwarzen Raubvogel hoch oben in der blauen Luft mit dem Brüderchen schweben, weiter – immer weiter flog er; vergeblich streckte Ninja schreiend die kleinen Arme hinter ihm aus. Kleiner wurde er – immer kleiner; nun war er nur noch so groß wie ein schwarzer Punkt, und jetzt – war er verschwunden in dem blauen Luftraum.

Da warf sich Ninja auf das Birkenlager nieder und schluchzte zum Gotterbarmen. Ihr Brüderchen hatte ein böser Berggeier gestohlen; nun würde er ihm mit seinem spitzen Schnabel die glänzenden Äuglein aushacken und es dann mit Haut und Haar fressen! Ach, wenn der Vater nach Hause käme, was würde er bloß sagen! Bitterlich weinend vergrub Ninja das Gesicht in den Händen, da bohrte sich plötzlich ein spitzes Schnäuzchen zwischen ihre Fingerchen – es war Katja. Traurig blickte das Renntierchen seine kleine Freundin an und zupfte sie an ihrem Pelzröckchen. Aber Ninja achtete nicht darauf; da lief Katja zum Eingang, sah sich nach dem kleinen Mädchen um, lief wieder zurück, zupfte sie am Röckchen und zog sie zum Zeltausgang. Ninja wurde aufmerksam.

»Katja, soll ich kommen; wollen wir unser Brüderchen suchen, ja?« fragte sie das Renntierchen schluchzend.

Dieses spitzte freudig die Ohren und nickte mit dem Kopfe.

»Ja, komm', Katja,« sprach Ninja, »wir wollen hinter unserem Brüderchen her, vielleicht finden wir es.«

Sie zog ihren kleinen Holzschlitten aus dem Zelt, spannte das Renntierchen vor und schnallte sich ihre Schneeschuhe an die Füßchen. Dann steckte sie das Fischbeinkettchen, aus den Gräten des Walfisches gemacht, und den Bärenzahn, den sie von ihrer Mutter geerbt, in die Taschen ihres Pelzes, schwang sich auf ihren kleinen Schlitten hinauf, und heidi – ging es sausend dahin durch die eisfunkelnde Schneelandschaft.

An weißglitzernden, hohen Tannen, an vereisten Fichten, an schneebedeckten Erlen, bereiften Birken und Weiden, die wie mit Zucker bestreut aussahen, flog der kleine Schlitten vorbei; Ninja klatschte dreimal in die Hände, »Hü – ho!« rief sie, da lief das Renntierchen so schnell, daß es kaum den Schneeboden berührte. Ganz genau schien es zu wissen, welchen Weg es einschlagen mußte. Plötzlich kamen sie an das große Meer, das mit schäumenden Wogen gegen das Ufer schlug; keine Brücke gab es da, Ninja und Katja konnten nicht weiter.

Aber Ninja zog das von der Mutter geerbte Fischbeinkettchen aus der Tasche und warf es in das Wasser hinein, da brüllte das Meer plötzlich laut auf; durch die tosenden Wellen aber schwamm ein riesengroßer Walfisch an das Land, der nahm den kleinen Schlitten samt Ninja und dem Renntierchen auf seinen breiten Rücken und schwamm mit ihnen in das unendliche Meer hinein. Wasser, nichts als Wasser war jetzt um die kleine Ninja; angstvoll hielt sie ihr treues Renntierchen umschlungen.

»Katja, werden wir unser Brüderchen wiederfinden?« flüsterte sie ihm leise ins Ohr. Katja nickte klug mit dem Kopfe.

Da tauchte vor ihnen mitten im Meer eine wüste Felseninsel auf; der Walfisch schwamm auf die Insel zu und hielt am Ufer. Das Renntierchen zog den Schlitten mit der kleinen Ninja von dem Walfischrücken auf den steinigen Strand; Ninja bedankte sich bei dem guten Walfisch, dieser warf ihr das Fischbeinkettchen wieder in den Schoß und schwamm davon.

Himmelhohe Felsen ragten steil vom Ufer in die Luft hinein, da konnte Ninja mit ihrem kleinen Schlitten nicht hinauf. Sie stieg ab, klopfte Katja, das sich das fette Renntiermoos, das zwischen den Felsen wuchs, gut schmecken ließ, auf den Rücken, trat an eine Felsenspalte und warf den von der Mutter ererbten Bärenzahn in die Felsenhöhle hinein. Da hörte man ein dumpfes Brummen, und aus dem Felsen trabte ein großer, schneeweißer Eisbär heraus. Eins, zwei, drei, nahm er die kleine Ninja auf den Rücken und begann mit ihr die steilen Felsen hinauf zu klettern. Höher ging's, immer höher; jetzt hatte der Eisbär die höchste Felsenspitze erklommen.

Und was sah Ninja?

Dicht neben sich erblickte sie ein großes Berggeiernest; die Alten waren ausgeflogen, in dem Nest aber hockten viele junge Geier und dazwischen ein Pelzsteckkissen – ihr Brüderchen!

Unversehrt war der Kleine; über ihm stand mit ausgebreiteten Flügeln der junge Berggeier, dem Ninja einst das Leben gerettet, dankbar schützte er den Kleinen vor den krummen, spitzen Schnäbeln seiner Brüder. Als er den Eisbär oben mit Ninja auf dem Felsen erblickte, schlug er freudig mit den Flügeln, faßte das Pelzsteckkissen mit seinem Schnabel und legte das Brüderchen vorsichtig und sanft in Ninjas Arme.

Ninja war glückselig, als sie ihr Brüderchen ganz gesund wieder hatte, jubelnd streichelte sie dem jungen Geier das Köpfchen, der ihr aus Dankbarkeit das Brüderchen errettet.

Der Bär nahm sie und den Kleinen wieder auf den Rücken; Ninja rief ihrem Freunde, dem jungen Berggeier, einen herzlichen Dank zu, und herab kletterte der Eisbär wieder die steilen Felsen bis ans Meeresufer, wo Katja, das Renntierchen, ihnen fröhlich entgegensprang.

Der Eisbär trabte in seine Felsenhöhle zurück; wieder warf Ninja ihr Fischbeinkettchen ins Meer, der Walfisch schwamm heran, lud den ganzen Schlitten wieder auf den Rücken und zurück ging die Reise ans jenseitige Ufer. Fest preßte Ninja das wiedergefundene Brüderchen in ihre Arme und herzte sein kleines Gesicht, und auch Katja rieb sich vergnügt das Näschen an dem Pelzsteckkissen.

Nun waren sie wieder im Lappland; der Walfisch tauchte zurück in das tosende Wasser, und das Renntierchen zog den Schlitten, so schnell es nur konnte, heim.

Niemals wieder hat ein böser Berggeier den Kleinen geraubt; Ninja, die kleine Lappländerin, lebte mit ihrem Brüderchen und mit Katja, dem treuen Renntierchen, vergnügt bis an ihr Lebensende.



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