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15. Kapitel. Goldene Abendsonne.

Die alte Linde in Geheimrats Rosengarten steht in goldenem Blätterschmuck. Jeder Ast, jeder Zweig, ja jedes Blättchen hat heute sein güldenes Gewand angelegt. Septembersonne wirft goldene Strahlenbüschel durch das Geäst, als sei es über und über mit Goldblüten behangen. In den Zweigen der alten Linde zwitschert und jubiliert das heute, als ob der lachende Frühling vor den Toren stände und nicht würdevoller Herbst. Die Finkenfamilie, die in der Linde seit Jahren ihr Quartier aufgeschlagen, fühlt sich heute als Hauskapelle. Sie schlagen und jubeln, all die Finklein, daß eine verschlafene Spätrose ganz erstaunt die Samtaugen aufschlägt.

Schwalben durchschneiden, schon zur Winterreise sammelnd, die klare Herbstluft. Sie halten im Bogenflug inne. Nanu, was ist denn heute da unten im Rosengarten los? Alle Blüten des Spätsommers haben ihre Kelche weit geöffnet in ganz besonderer Farbenfreudigkeit. Schmetterlinge, die letzten des Jahres, flattern gegen die Fenster des Rosenhauses. Aber sie verraten nichts von dem, was sie dort erspähen.

An dem Fenster des Biedermeierzimmers steht eine alte Frau, weißhaarig, mit merkwürdig jung leuchtenden Augen. Still versonnen blickt sie in den goldenen Herbsttag. Fünfzig Jahre – fünfzigmal hat sie die Linde dort drüben in ihrem Goldkleid geschaut. Ist es denkbar, daß sie das ist, sie, Doktor Brauns einstiges goldlockiges Nesthäkchen, die heute ihre goldene Hochzeit feiert? Ist es ihr nicht, als wäre es gestern, allenfalls vorgestern, da sie als junge, glückliche Frau hier mit ihrem Manne sich das Nest gebaut? Fünfzig Jahre – Frau Annemarie schüttelt wehmütig lächelnd den weißen Kopf. Wo sind sie geblieben?

Die Tür geht. Sie hat dessen nicht acht. Ihre Gedanken weilen in der Vergangenheit. Erst als sich ihr ein Arm um die Schulter legt, kehrt sie zur Gegenwart zurück.

»Nun, meine gute Alte, da wären wir halt soweit. Annemie, Fraule, daß wir diesen Tag gesund miteinander begehen können, das ist halt eine Gnade, die nur wenigen zuteil wird.« Er pflegt sonst nicht mehr viel Worte zu machen, der alte Herr. Um so rührender wirken sie.

Frau Annemarie streicht liebevoll über das runzlige Gesicht ihres Mannes, rückt ihm gleich dabei die etwas schiefsitzende weiße Krawatte zurecht.

»Wir können zufrieden sein, Rudi, denke ich. Wenn du auch manchmal ein bißchen geknurrt und gebullert hast, das war nur auswendig. Im Grunde haben wir doch immer nur dasselbe gewollt, das Glück des andern. Der Himmel gebe, daß unser Kind, unsere Jetta, einmal so auf den heutigen Tag zurückblicken kann, mit derselben dankbaren Befriedigung, wie wir es heute tun.« Alte Lippen finden sich in innigem Kuß.

Droben, gerade über Großmamas Biedermeierzimmer, nimmt Marietta Abschied von ihren Mädchentagen. Sie schaut sich in dem lieben Raum, der ihr zehn Jahre lang Heimat geworden, feuchten Auges um. Hier ist sie glücklich gewesen, umsorgt von der Liebe der Großeltern, befriedigt durch Arbeit, Streben und Pflichterfüllung. Heute zweigt ein anderer Weg, als der bisher gegangene, ab. Eine neue Straße liegt vor ihr, hell, sonnenhell in unbekanntes Zukunftsland führend. Wie wird die Wanderung sein? Marietta zagt nicht – sie hat einen guten Weggenossen, eine feste Stütze zur Seite, wenn der Pfad auch einmal mühevoll werden sollte. Das Band, das unter Italiens blauem Himmel sich geschürzt, ist in vier Jahren erstarkt und befestigt. Reife Menschen sind es, die heute den Lebensbund miteinander eingehen. Der treu ausharrenden Liebe Horsts haben alle Bedenken, die Mariettas Stolz dagegen emporgetürmt, nicht standgehalten. Er hat ihr Zeit gelassen, sich und ihn zu prüfen. Zeit gelassen, auch ihre soziale Arbeit zu vollenden. Mariettas Kinderheim in Grotgenheide beherbergt seit dem Frühling zahlreiche kleine Gäste. Gerda Ebert hat ihr ganzes Organisationstalent eingesetzt, um in Gemeinschaft mit Marietta alle Schwierigkeiten, die bei der Inbetriebsetzung eines großen Unternehmens nicht ausbleiben, zu überwinden. Sie ist die Oberin des neuen »Nesthäkchen-Heim«, das die Großmama so getauft hat. Gerda zur Seite arbeitet sich die nun bald zwanzigjährige Lotte in den sozialen Wirkungskreis ein. Für den wirtschaftlichen Betrieb hat Marietta Lottes Tante, Frau Neumann, eingesetzt. Großmutter Liebig und Lenchen haben ebenfalls in Grotgenheide eine neue Heimat gefunden. So hat Marietta für alle, deren Wohl ihr am Herzen gelegen, getreulich gesorgt. Und sie wird es weiter tun. Sie wird ihre sozialen Pflichten mit den neuen Herzenspflichten zu vereinigen wissen.

Wenn nur die Trennung von dem lieben Rosenhaus nicht wäre! Aber sie geht ja nicht weit fort, sie bleibt ja in der Nähe. Liebevoll hat Horst ihre Wünsche erraten und hier draußen in Lichterfelde ein kleines Landhaus erworben. Wie ganz anders mußte ihrer Mutter damals zumute gewesen sein, als sie von diesem Raume Abschied genommen.

»Jetta, Kind – die Gäste versammeln sich bereits. Horst kann jeden Augenblick da sein. Und seine Braut steht hier und denkt sicherlich über irgendein soziales Problem nach, anstatt das Brautgewand anzulegen«, schilt Frau Ursel lachend durch die geöffnete Tür. »Warte, ich helfe dir, mein Herz.« Frau Ursel ist bereits in voller Hochzeitstoilette. Donna Tavares ist immer noch eine wunderschöne Frau. Kein Silberfaden schimmert in dem Goldton des Haares, obgleich sie seit drei Jahren zur Großmutter avanciert ist.

Liebevoll ordnet sie den weißen, duftigen Schleier auf dem goldbraunen Haar des geliebten Kindes, legt ihm das grüne Myrtenreis um die Stirn. Nein, das überläßt sie keinem Fremden.

Marietta zieht der Mutter liebe Hand an ihre Lippen. »Mammi, meine kleine Mammi«, sagt sie zärtlich. »Wie schön, daß du heute da bist. Daß ihr alle gekommen seid.« Und dann bittend: »Ich möchte noch hinunter zur Großmama, bevor Horst kommt.«

Noch einen Abschiedsblick: »Leb' wohl, du liebes Zimmer!« Dann schließt sich die Tür hinter Mariettas Mädchenjahren.

Drunten im Biedermeierzimmer auf dem grünen Ripssofa sitzen die greisen Großeltern Hand in Hand. Sie sprechen nicht viel miteinander, die beiden alten Leutchen. Aber sie fühlen dasselbe: Dankbarkeit, herzerhebende Dankbarkeit für ein reiches, erfülltes Leben.

Da tritt die Jugend zu den beiden Altgewordenen, die Enkelin, bräutlich geschmückt.

»Seelchen ...«, sagt die Großmama und nichts weiter. Schweigend zieht sie ihren Liebling an das Herz. –

Die Finken da draußen in der Linde müssen sich fast die Köpfchen aus dem Halse drehen. Nein, was gibt es hier heute alles zu sehen und zu bewundern. Auto um Auto rollt vor das weiße Gartengitter. Festliche Menschen ziehen in das Rosenhaus. Dort den blonden Riesen – oh, den kennen sie gut. Mit dem hat ihre Freundin Marietta so manches Mal hier unter der Linde gesessen. Sogar geschnäbelt haben sie sich, die beiden – nur die Finken haben es mitangesehen.

Horch – Musik. Aus den weitgeöffneten Fenstern klingen Harmoniumweisen. Und jetzt eine Frauenstimme, weich und voll »Lobe den Herrn meine Seele« – Frau Ursel singt den greisen Eltern, singt ihrem Kinde den Brautgesang.

Ein neugierig fürwitziges Finklein hält es nicht mehr im grünen Blätterhaus. Es wagt sich auf die Steinterrasse, ja, sogar bis auf die Fensterbrüstung. Es kommt gerade zur rechten Zeit. Soeben betritt das goldene Paar den blumengeschmückten Raum, von Kindern und Kindeskindern, von Verwandten und Freunden empfangen. Hinter ihnen schreitet das junge Paar. Horst Braun mit warmem Leuchten in den blauen Augen. Marietta tiefbewegt, blumenhaft zart im Brautgewand, wie die Teerosen in ihrer Hand.

»Mein Urselchen!« sagt Frau Annemarie leise, als der letzte Ton verklungen. Aber sie kommt nicht dazu, der Tochter zu danken, jetzt noch nicht. Ein kleines, schwarzlockiges Mädchen im weißen Spitzenkleidchen, graziös wie ein Elfchen, tritt vor. Anitas Töchterchen Rosita, das erste Urenkelchen, bringt der Großmutter den goldenen Myrtenkranz. Ein wenig zittert Frau Annemaries Hand, als sie jetzt den Ehrenschmuck auf das weiße Haar drückt, als sie ihrem Manne die Goldblüten an den schwarzen Rock heftet. Dann wieder Harmoniumklänge. Sie geleiten das greise und das junge Paar hinaus durch den Garten. Die Spätrosen glühen und duften, die Linde rauscht leise mit den Blättern, und die Finken bringen den Brautleuten einen Jubeltusch. So schreiten sie durch ihren lieben Rosengarten zu den Wagen, die sie zur Kirche führen.

Es ist dieselbe Kirche, in der Doktor Brauns Nesthäkchen vor fünfzig Jahren den Bund fürs Leben geschlossen. Mit den alten Großeltern zugleich empfängt das junge Brautpaar den Segen Gottes.

Alle sind sie zu dem seltenen Doppelfest erschienen, all die Lieben, aus Nord und Süd, aus Ost und West. Brasilien ist vollzählig vertreten. Milton Tavares, ein wenig gealtert, aber immer noch stattlich. Selbst ihren Mann hat Anita zur europäischen Reise bewogen, ihn den Großeltern und der Schwester zugeführt. Marietta hat mit dem Schwager Freundschaft geschlossen, als er ihr erzählt hat, wie sich die sozialen Verhältnisse auf seinen Farmen gebessert, daß er bemüht sei, gesunde Lebensbedingungen für seine Arbeiter einzuführen. Anita, eine blühendschöne, elegante Frau, hat den Arm um ihre Zwillingsschwester geschlungen. »Mir verdankst du dein Glück, Jetta, mir ganz allein«, flüstert sie ihr übermütig ins Ohr. Bruder Juan ist ein sehnig schlanker Junge geworden, vollständig amerikanisch, bis auf sein helles Äußere. Nein, wie hat sich der Junge verändert. Ganz ritterlich benimmt er sich schon gegen die ihm fremd gewordene Schwester. Da sitzen die Lüttgenheider, einen frischen Meereshauch mit sich bringend. Vating, heute ganz friedfertig neben den Brasilianern. Mutting Ilse strahlt über das ganze Gesicht: ihr Herzenswunsch ist heute in Erfüllung gegangen. Selbst Tante Marlene hat nach langen Jahren Grotgenheide verlassen, um dem goldenen Ehrentag der einstigen Jugendfreundin beizuwohnen. Da sind die Zehlendorfer, Onkel Hans, immer noch auf Neckfuß mit seinen hübschen Nichten, die Mädel inzwischen zu jungen Damen erblüht. Tante Vronli mit leicht ergrautem Scheitel neben Onkel Georg, der noch den eigenen, freilich etwas zu eng gewordenen Hochzeitsfrack trägt. Gerdas kluges Gesicht nickt Marietta durch Blumen und Kerzen herzlich zu. Selbst Kunzes sitzen heute mit an der Tafel, anders hat es Frau Annemarie nicht getan. Sie haben es um Geheimrats verdient, sie gehören dazu. Oh, es ist ein stattlicher Kreis Getreuer, der sich heute voller Verehrung um das greise Jubelpaar schart.

Depeschen und Blumen – die Glocke steht nicht still. Woher haben sie es nur erfahren, all die ehemaligen Patienten, daß ihr lieber, alter Geheimrat heute das goldene Fest begeht? Der alte Herr schmunzelt, er fragt zwar den Kuckuck nach solchen Anerkennungen, aber freuen tut's ihn halt doch, daß man ihn noch nicht vergessen hat. Die Gläser klingen, Instrumente und Stimmen erschallen. Manch humorvoll Liedchen besingt das lange Beieinander des greisen Paares, gibt dem jungen ein fröhlich Geleit. Reden auf alt und jung, auf Gold und Grün, auf Brasilien und auf die Waterkant. Die in Berlin von Horst begründete Importfirma Tavares & Co. vivat, crescat, floreat! Ja selbst das neue Nesthäkchen-Heim zu Grotgenheide bekommt sein Hoch.

Die Kerzen sind beinahe heruntergebrannt, da schlägt der alte Geheimrat mit zitternder Hand an sein Kelchglas. Mäuschenstille. Großpapa will sprechen.

»Meine geliebte Frau, liebe Kinder!« Ein wenig heiser klingt die Stimme des alten Herrn, aber immer noch fest und markig. »Auf langer, gemeinsamer Wanderung machen wir heute Rast, wir zwei Alten. Von hoher Warte schauen wir zurück, halten Umschau. Durch Täler zieht sich unser Lebensweg, Täler der Arbeit, der täglichen Pflicht. Hinauf zu Höhen strebt er, Wissen zu erforschen, Kunst und Schönheit zu erringen. Nimmer sind wir müd geworden. Bäume haben wir gepflanzt auf unserem Wege, haben sie behütet, gepflegt und gestützt. Sie haben uns unsere Mühe gedankt, sind grad' und stark emporgewachsen, haben Äste und Zweige getrieben. Heute können wir in ihrem Schatten ruhen. Und ist ein Bäumlein auch in fremdes Erdreich verpflanzt, es hat uns Alten doch seinen Ableger geschickt, daß wir unsere Freude an ihm haben sollen. Aber wie das halt so ist, ein anderer Gärtner hat Gefallen an unserem Ableger gefunden, will seinen Garten mit ihm schmücken. Wir müssen's dulden, dulden's auch gern. Rot ist der Weg gezeichnet, den wir Alten zurückgelegt, den ihr Jungen heut beschreiten wollt. Liebe sind seine Wegmarken. Aller Witterungsunbill zum Trotz sind wir nicht von unseren Wegzeichen abgeirrt. Und heute ist das Ziel erreicht, die Höhe, von der es sich lohnt, Umschau zu halten. Die Sonne steht nicht mehr im Zenit, goldene Abendsonne strahlt schon milde. Ihr wißt es, wer meine Sonne gewesen ist auf der Lebenswanderung. Wer mir den Weg erhellt hat, wenn es auch noch so dunkel um mich wurde. Wer mir nicht nur Licht, sondern vor allem Wärme, innige Herzenswärme gespendet hat. Mir und all denen, die sich um uns scharten. Wer sonnige Heiterkeit ausgestrahlt, Schönheit und Glanz auf unser Leben ausgeströmt hat. Mein geliebtes Weib, Sonne meines Lebens, dir, treuer Weggenossin, danke ich heute für all deine Liebe, all deine Aufopferung. Möge es uns vergönnt sein, noch eine Strecke Hand in Hand in goldener Abendsonne weiter zu wandern.«

Stille herrscht, heilige Stille, als der Greis geendet, als er sich jetzt hinunter zu seinem Weibe neigt.

Durch das Fenster zittert letzter Abendsonnenstrahl und läßt die Goldblüten in Frau Annemaries weißem Haar aufleuchten.


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