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7. Kapitel. Die Fäden entwirren sich.

Das neue Jahr hatte Schnee gebracht. Nicht nur solchen leichten Puderzucker, den die Sonne, wie ein naschhafter Junge, gleich wieder ableckte, nein, richtigen, dichten Flockenschnee, als ob Frau Holles Wolkenbetten alle zu gleicher Zeit aufgeplatzt wären. Hei, wie das wirbelte, tanzte, kreiste, wie das flockte und stiebte; wie das flimmerte und schimmerte. Hei, wie die Schlittenglöckchen klingelten, wie die Rodel sausten und die langen Skibretter dahinglitten. Das graue Berlin glich einer Alabasterstadt. Die Dächer gleißten wie Schneehalden in der Sonne, die Kirchtürme ragten gleich Gletschern aus der Firnkette heraus. Drunten aber in den Straßen, auf schlohweißem Samtteppich, da jauchzte, juchzte und kreischte es, da purzelte und kegelte es lustig durcheinander. Schneegeschosse flogen; weiße, dickbäuchige Männer mit schwarzen Glotzaugen und roter Rübennase machten sich breit. Wer konnte jetzt noch sagen, daß die Stadt nüchtern und prosaisch sei. In jeder Straße, in der engsten Gasse webte das Wintermärchen.

Freilich, es gab auch Lebewesen, die ganz und gar nicht mit diesem Schneetreiben, das kein Ende nehmen wollte, einverstanden schienen. Das waren vor allem die Stadtväter, die tüchtig in den Säckel greifen mußten, um die sich ständig erneuernden Schneemassen fortschaffen zu lassen. Die Hausmeister waren es, die den ganzen Tag mit klammen Händen, über die sie abgeschnittene Wollstrümpfe gezogen, den Schnee von Hof und Straße zur Seite schaufeln mußten. Eine wahre Sisyphusarbeit. Je mehr man schaufelte, um so toller wirbelte es herab. Das waren die armen Pferde, die schwere Lasten ziehen mußten und in dem hohen Schnee kaum vorwärts kamen, glitten und hinplumpsten. Die konnten absolut nichts Vergnügliches an dem Wintermärchen finden. Und auch die Vögelchen waren wenig erbaut davon. Weiß, alles weiß und kalt. Nur selten fanden sie jetzt mal ein Körnchen Futter.

Die gefiederten Gesellen, die in der Nähe des großen, sonst roten Backsteingebäudes – jetzt sah es wie aus weißem Marmor aus – ihre Wohnstatt aufgeschlagen hatten, waren gut daran. Aus den Klassenfenstern der sozialen Frauenschule streuten liebreiche Mädchenhände vom eigenen Frühstücksbrot für die piepsenden, frierenden, kleinen Gäste. Marietta hatte schon ihre feste kleine Tafelrunde, die sich täglich vermehrte. Und auch drüben im Kinderhort hatten die Spatzen ihren Stammtisch. Mariettas Hortkinder sorgten wie sie selbst für die armen Frierenden und Hungernden. Der Hofgarten unten lag nicht mehr verödet da. Jubelnde Kinderstimmen belebten ihn. Der nackte Kastanienbaum fror nicht mehr in seinem neuen, schlohweißen Hermelinpelz.

Auch die Großen, Verständigen wurden durch das tolle Schneegetriebe wieder ausgelassen wie die Gören. Eben hatte man sich noch höchst gelehrt mit pädagogischer Psychologie beschäftigt, und unmittelbar darauf schlidderte man unten über die glatten Schneeflächen, purzelte, bekam einen Schneeball an die Ohren und teilte selbst welche aus. Diese Winterfreuden übten auf Marietta, das Kind der Tropen, in jedem Jahre aufs neue wieder ihren Zauber aus. Sie war der lustigsten eine, das Temperament ihrer Mutter und Großmutter meldete sich. Die blasse Teerose blühte dabei zur Purpurrose auf.

»Das Mariele müßte vier Wochen zum Wintersport in die Berge, das tät' halt dem zarten Tropenpflänzchen gut«, äußerte sich der alte Geheimrat.

»Und Milton schreibt, ob das Kind nicht mal auf ein paar Monate nach Italien zu den Verwandten seiner Mutter nach Genua gehen könnte. Berlin-Genua, das ist ja für den Amerikaner ungefähr so, als ob wir sagen Berlin-Potsdam.«

»Freilich, Großmuttchen, erst fahre ich in die Berge zum Wintersport, dann auf ein paar Monate nach Italien, und in Genua kann ich mich ja gleich nach Brasilien einschiffen zur Hochzeit von Anita. Etwa in anderthalb Jahren bin ich dann zum Schlußexamen in der sozialen Frauenschule wieder zurück«, lachte Marietta. Es erschien ihr ganz unmöglich, ihre soziale Tätigkeit auch nur einen Tag auszusetzen.

Aber mit ihrer Seßhaftigkeit war es doch zu Ende. Fräulein Engelhart war der Ansicht, daß Marietta Tavares die Hortarbeit vollständig beherrsche. Zum ersten Februar wurde sie zum Recherchendienst abkommandiert. Das gab eine schmerzliche Trennung. Die Kinder wollten ihre Tante Jetta nicht hergeben. Und dieser selbst wurde das Fortgehen von der ihr ans Herz gewachsenen kleinen Schar noch ungleich schwerer. Aber sie blieb ja in der Nähe. Die Frauenschule war ja nur durch den Hofgarten vom Hort getrennt. Da konnte sie schnell mal wieder hinaufspringen. So tröstete sie die Kleinen und sich selbst. Der Trennungsschmerz der Kinder wurde durch die Abschiedsschokolade, zu der Tante Jetta im Kinderhort einlud, schnell versüßt. Ja, Gustel meinte sogar schleckend: »Das wär fein, wenn Tante Jetta immer los fortgehen würde.« Und dann kam irgendeine andere Tante statt ihrer, Tante Grete oder Tante Else oder wie sie gerade hieß, und wenn sie auch vielleicht nicht ganz so gut mit den Kindern umzugehen verstand, sie gewöhnten sich an sie und verlangten nicht mehr nach Tante Jetta. Kinder sind ja undankbar.

Nur Lenchen, ihre treueste kleine Verehrerin, machte eine Ausnahme. Die guckte sich die Augen am Fenster aus, wenn die jungen Damen drüben aus der Frauenschule heimgingen. Oder sie stand sogar Schildwach drunten am Portal und war nicht zu bewegen, nach Haus zu gehen, bis die Tante Jetta ihr einen Gruß zugenickt oder gar ihr freundlich über das semmelblonde Haar gestrichen hatte.

Marietta machte diese rührende Anhänglichkeit des kleinen Lenchens innerlich glücklich. Sie fühlte sich befriedigt in ihrer Arbeit. Sie hatte das Bewußtsein, bereits Gutes geschafft zu haben. Lenchens Mutter hatte durch die soziale Fürsorgeabteilung für Heimarbeit lohnendere Beschäftigung zugewiesen bekommen. Die Wohnungsfürsorge hatte sich auf ihre Bitte der Not in dem ehemaligen Kohlenkeller angenommen. Da Marietta, dank des Weihnachtsschecks aus Brasilien, die notwendigen Mittel zur Verfügung stellte, so hatte man ein kleines Seifengeschäft, dessen Besitzer gerade gestorben, mit anschließender, der Hygiene mehr entsprechender Wohnung für Ottchens Eltern erworben. »Von einem unbekannten Wohltäter«, hieß es. Aber Ottos dankbare Mutter stellte sich denselben trotzdem wie den Engel vom Weihnachtsabend vor, der Licht und Freude in ihr dunkles Dasein getragen.

Die neue soziale Tätigkeit, die Marietta mit dem ersten Februar begonnen, war ungleich schwieriger und unerfreulicher als ihre Hortarbeit. Nicht nur, daß sie stundenlang bei dem hohen Schnee und den dadurch schlechten Verkehrsmöglichkeiten straßauf, straßab laufen mußte. Ein Auto zu nehmen, fiel dem reichen Mädchen, das im Tropenland nichts anderes gekannt hatte, nicht ein. Das Geld konnte sie für ihre Schützlinge besser verwerten. Nicht nur, daß es unermüdlich treppauf, treppab ging. Nein, was ihr die Arbeit erschwerte, war der oft unfreundliche Empfang, dem sie ausgesetzt war, das feindselige Mißtrauen, mit dem man ihren hilfreichen Absichten so manches Mal begegnete. Das kränkte ihr weiches Gemüt und machte sie leicht flügellahm.

Da war es Gerda Ebert, die der Kusine mit ihrer verstandesmäßigeren Beurteilung der sozialen Arbeit immer wieder frischen Mut zusprach. Wie konnte man sich von einem Einzelfall nur so mitnehmen lassen. Das war doch nur ein kleines Mosaiksteinchen, das sich erst zu dem segensreichen Ganzen zusammenfügen sollte. Nun ja, man hielt ihre Einmischung als Jugendfürsorgerin von seiten der Eltern als durchaus unnötig und unerwünscht. Man hatte ihr deutlich zu verstehen gegeben, daß man allein wisse, was den Kindern guttäte – aber dachte Marietta etwa, das ginge ihr nicht genau so bei ihrer Säuglings- oder Wohnungshygiene? Oh, was hatte sie da nicht schon alles zu hören bekommen. Aber deshalb durfte man die Flinte doch nicht ins Korn werfen. Im Gegenteil, man mußte den unverständigen Menschen klarzumachen suchen, daß die soziale Fürsorge ihr Bestes im Auge habe und daß diese unberufene Einmischung ihren Kindern zugute käme. Oh, Gerda hatte schon manche bekehrt. Sie verstand zu sprechen und für die gute Sache einzutreten. Marietta war viel zu schüchtern, viel zu feinfühlend. Man mußte sich ein dickes Fell anschaffen. Und hatte Marietta ihr nicht berichtet, daß die Leute hier und da ihr schon freundlicher entgegenkämen? Daß sie ihre gute Absicht nicht mehr verkannten? Sicher hatte sie durch ihre Warmherzigkeit überzeugt, nicht durch logische Auseinandersetzungen. Aber das war auch im Grunde ganz gleich. Auf den Erfolg allein kam es an.

So predigte Gerda, und Marietta nahm sich immer wieder vor, nicht so empfindsam zu sein, sich von einem Mißerfolg nicht gleich zurückschrecken zu lassen. Dennoch war sie jetzt oft still und blaß, wenn sie des Abends von ihren Recherchen in das großelterliche Haus heimkehrte. Der Großpapa brummte über die moderne Frauenarbeit, bei der das Notwendigste, die Gesundheit der Frau, Schaden litt. Die Großmama aber legte, wie schon oft, die Sonde liebevollen Verständnisses an und zeigte sich damit eigentlich als der bessere Arzt von beiden.

In der letzten Woche hatte es viel Arbeit gegeben. Es galt jetzt schon, erholungsbedürftige, noch nicht schulpflichtige Kinder für die Ferienkolonien zusammenzustellen. Nach einer langen Liste mußte Marietta ihre Rundreise durch den für sie in Frage kommenden Stadtbezirk antreten. Sie mußte prüfen, ob die gemachten Angaben stimmten, und die Kinder zur ärztlichen Untersuchung in das Jugendfürsorgeamt bestellen.

Wie sie so treppauf, treppab lief, hier einen kleinen Blaßschnabel aufnotierte, dort der Mutter eines kugelrunden Pausbacks den Rat erteilte, ihre Eingabe zurückzuziehen, weil für die Ferienkolonie in erster Reihe elende Kinder in Frage kämen, da fiel ihr ein, warum wohl Frau Neumann ihr Lenchen nicht angemeldet habe. Das Kind war doch wirklich durchsichtig und erholungsbedürftig genug. Am Ende wußte sie gar nichts davon. Man sollte sie darauf aufmerksam machen. Sie konnte ja morgen in der Pause schnell mal in den Hort hinaufspringen und Lenchen einen Brief für die Mutter mitgeben. Es war ihr sowieso schon wieder bange nach ihren Hortkindern. Dabei kam ihr zum Bewußtsein, daß sie Lenchen schon eine Reihe von Tagen nicht gesehen habe. Weder oben am Fenster, noch unten an der Haustür.

Als Marietta am andern Tage in der Pause zwischen Wohlfahrtspflege und Verwaltungskunde schnell mal in den Hort hinüberlief, um Lenchen den Brief an die Mutter einzuhändigen, wurde sie von ihren kleinen Freunden, wie immer, mit Jubel begrüßt. Aber Lenchen war nicht darunter. Sie erfuhr, daß das Kind im Schnee ausgerutscht und unglücklich gefallen sei, sich den Fuß verstaucht habe und schon seit acht Tagen fehle.

Daß sie das gar nicht gewußt hatte. Daß sie sich gar nicht um ihren kleinen Liebling, der so treulich an ihr hing, hatte kümmern können. Und heute war es auch ganz unmöglich. Am Nachmittag hatte sie Innendienst im Sekretariat der Kinderfürsorge. Da mußte sie über das Ergebnis ihrer Recherchen Bericht erstatten und die Eintragungen in die Bücher erlernen.

Aber der nächste Nachmittag war von theoretischer und praktischer Arbeit frei. Freilich, für die Stunden gab es genug zu Hause zu arbeiten. Auch wollten die Großeltern an dem freien Nachmittag gern etwas von Marietta haben. Aber diesmal ging das arme Lenchen vor.

Mit einem ziemlich umfangreichen Paket, das Erfrischungen, Beschäftigungsspiele und ein Märchenbuch enthielt, betrat Marietta das Haus, in dem Lenchen wohnte. Es war ein recht häßliches, baufälliges Haus mit einem unsauberen, schmalen Hof. »Neumann – Quergebäude, vier Treppen«, hatte der Verwalter auf Anfrage der jungen Dame Auskunft erteilt. Neugierige Gesichter tauchten hier und da an Fenstern und Türen auf. Was hatte die schöne, vornehme Dame denn hier zu suchen?

Endlich stand Marietta vier Treppen hoch oben auf dem dunklen Vorraum, auf den mehrere Türen mündeten. Armes kleines Lenchen, daß du hier in diesem häßlichen, düsteren Haus deine Kindheit zubringen mußtest! Wenn es Sommer wäre, hätte man das Kind auf einige Zeit nach Lichterfelde zur Erholung hinausnehmen können. Die Großmama mit ihrem warmen Herzen hätte Marietta sicher die Bitte nicht abgeschlagen. Aber jetzt im Winter hatte das ja keinen Wert.

Auf gut Glück klopfte Marietta an einer der Türen. Eine schlampige Frau öffnete und wies unfreundlich, auf Mariettas Frage nach Frau Neumann, auf eine andere Tür. Richtig, da hing ja ein kleines Schild, das den Namen trug. Bei der Dunkelheit hatte es Marietta übersehen. Die ausgeleierte Türschelle gab nur ein heiseres Schnarren von sich. Keiner öffnete. Marietta begann von neuem zu klopfen.

Es dauerte eine Ewigkeit, bis geöffnet wurde. Gewiß war die Mutter nicht zu Hause. Gerade als Marietta unverrichtetersache wieder kehrtmachen wollte, hörte man drinnen Schritte. Langsam und ungleichmäßig, als ob dem Betreffenden das Gehen schwer würde. Die Tür wurde geöffnet, eine alte, sauber aussehende Frau mit glattem, grauem Scheitel fragte freundlich nach dem Begehr der Dame.

»Ich bin die Tante Jetta aus dem Kinderhort und wollte mich nach Lenchens Befinden erkundigen«, stellte sich das junge Mädchen vor.

»Unser Lenels Tante Jetta – nu kummen Se ooch hinne, kummen Se ooch hinne. Und sein ooch nich beese, daß Se halt so lange haben warten missen. Ich bin Ihnen halt gar so schlecht uff a Fissen. Nee, was wird ooch unser Lenel fir a Freide haben!« Die alte Frau ließ die Hand des jungen Besuches nicht los.

Da rief es auch schon aus dem Nebenzimmer: »Tante Jetta – Tante Jetta – –.« Verhaltener Jubel klang mit.

Durch eine saubere, kleine Küche erreichte Marietta das Wohn- und Schlafzimmer. Da lag auf dem Sofa das Lenchen. Ganz rot vor Freude streckte es Marietta beide Hände entgegen. »Tante Jetta ist da!« sagte sie zu der Großmutter, als könne sie das Glück gar nicht fassen.

»Guten Tag, Lenchen. Was machst du nur für Sachen. Hast du arge Schmerzen, du armes Kind?« Liebevoll streichelte Marietta das semmelblonde Haar.

»Jetzt nicht mehr so doll, nur noch, wenn ich gehen will. Aber zuerst, da hat es mächtig weh getan. Ich war so traurig, daß ich nicht mehr in den Hort gehen konnte und dich gar nicht mehr sehen«, setzte sie leise hinzu.

»Nun bin ich ja bei dir, Lenchen, und habe dir auch was mitgebracht. Wollen wir das Paket mal aufmachen, ja?«

Doch Lenchen schüttelte zu Mariettas Verwunderung den Kopf.

»Es ist auch ohne das Paket schön, wenn du bloß da bist, Tante Jetta.« Das Kind war wirklich rührend in seiner Liebe.

Die Großmutter, die mit Wäschenähen beschäftigt war, aber meinte: »Nee, Lenel, wenn die Tante halt so gutt is und se bringt dir was mitte, denn mußte ooch das Paket uffmachen und dich halt damit freien.« Marietta war ganz erstaunt über den Herzenstakt der einfachen Frau.

Sie sah sich, während Lenchen nun ans Auspacken der mitgebrachten Herrlichkeiten ging, in dem Stübchen um. Sicher hatten die Leute mal bessere Tage gesehen. Betten, Sofa, Schrank und Tisch, alles gute, gediegene Arbeit. Weiße, saubere Gardinen, eine Zimmerlinde mit einigen kleinen Ablegern am Fenster. Marietta war in letzter Zeit viel in kleinbürgerliche Wohnungen gekommen. Sie hatte reinliche und verkommene Häuslichkeiten kennengelernt. Aber hier blühte alles vor Sauberkeit. Das kleine Zimmer strömte Gemütlichkeit und Behagen aus.

Die alte Frau war den Blicken des jungen Besuches gefolgt. »Es is halt bei uns hier nischte zu sehen, liebe Dame. Mer haben schon zuville verkaufen missen. Ja, frieher, als ich noch daheeme war im lieben Schläsierland, da hat's halt andersch bei uns ausgesähen.«

»Aus Schlesien stammen Sie, Frau Neumann?« Jäh durchzuckte es Marietta.

»Liebig – Frau Liebig is halt mein Name. Die Tochter heißt Neumann. Nu freilich, nu freilich ooch bin ich von Schläsien härgemacht.« Ihre blaugeäderten Hände flogen mit erstaunlicher Schnelligkeit durch den weißen Wäschestoff.

Ganz still saß Marietta. Als ob ihre Glieder plötzlich zu Blei geworden. »Im lieben Schläsierland« – – – einmal in ihrem Leben hatte sie diese Worte gehört und nie wieder vergessen können. Drüben im Tropenlande war's, im Plantagendorf, von den Lippen einer Sterbenden.

Und hier neben ihr Lenchen mit demselben semmelblonden Haar wie Lottchen, dem gleichen Gesichtsschnitt ... auch die alte Frau hatte diese breitgezeichneten Augenbrauen, die dem Gesicht einen ganz besondern Ausdruck gaben.

»Großmuttel, Großmuttel, sieh nur mal her – Schokolade und ein Glas Erdbeeren und so schöne Spielsachen!« Bei Lenchen kam jetzt doch die kindliche Freude an den mitgebrachten Herrlichkeiten zum Ausdruck.«

»Nee, was is die Tante Jetta ooch gutt zu dir. Nu nähmen Sie ooch unsern scheensten Dank, liebes Fräulein. Nee, was wird's meiner Tochter halt leid tun, daß sie ooch grade Arbeit abliefern gähen mußte«, sagte die alte Frau dankbar.

Marietta saß da und wagte nicht, die Frage zu tun, die ihr auf der Seele brannte? Ob Frau Liebig noch eine andere Tochter habe, die nach Amerika hinüber gegangen sei. Sollte sie in das Schicksal dieser Menschen eingreifen? Durfte sie Lottchen aus dem Frieden des Kunzeschen Familienlebens herausreißen? Aber vielleicht war alles nur Hirngespinst – es stammten doch viele Leute aus Schlesien. Es hatten mehr Kinder semmelblondes Haar.

Lenchen blickte ganz erstaunt auf Tante Jetta. Mit der Feinfühligkeit, die auch in einem Kinde schon gegen Menschen, die es besonders lieb hat, in verstärktem Maße vorhanden ist, empfand sie es, daß Tante Jetta nicht so war wie sonst. War sie ärgerlich oder gar krank?

Viel früher, als sie ursprünglich die Absicht gehabt, brach Marietta ihren Besuch bei Lenchen ab. Jeden Augenblick fürchtete sie, daß sich ihr die schwerwiegende Frage, ihrer Vornahme ungeachtet, über die Lippen drängen konnte. Sie verständigte die Großmutter davon, daß ihre Tochter für die Kleine bei der Ferienkolonie einkommen sollte, damit Lenchen mit einem Kindertransport im Sommer zur Erholung aufs Land geschickt würde.

»Se meinen's gutt, Se meinen's gewiß gutt mit dem Lenel, liebe Dame. Aber gern gäb' ich's halt nich her, das Lenel. Es is halt unser Ein und Alles. Ich hab' schon zuviel hingäben missen.« Die alte Frau strich sich mit der verarbeiteten Hand über die Blaudruckschürze, als wollte sie damit sagen, daß alles dahin wäre.

»Nun, Lenchen würde doch nur für kurze Zeit aufs Land kommen, Frau Liebig, wenn sie überhaupt angenommen wird. Auf vier Wochen oder bestenfalls für drei Sommermonate. Wenn sie nachher mit roten Backen wieder zu Ihnen zurückkehrt, freut sich doch die Großmutter am meisten«, sagte Marietta in ihrer lieben Art, die ihr überall die Herzen gewann.

»Nu ja, nu freilich. Aber so hat schon mancher gesprochen und is nich wieder heemegekommen.« Die alte Frau blickte starr vor sich hin.

Marietta hatte plötzlich die Empfindung, als ob ihr die Luft knapp würde. Atembeklemmend legte es sich ihr auf die Brust. Sie erhob sich schnell, sich zu verabschieden, ehe die Großmutter weitersprechen konnte.

»Also leb' wohl, Lenchen. Und werde nur rasch gesund. Ich schicke einen Arzt, der nach dir sehen soll. Mit solch einer Verstauchung ist nicht zu spaßen. Die darf man nicht auf eigene Faust kurieren. Grüße die Mutter schön. Bald komm' ich mal wieder zu dir«, versprach Marietta.

»Ja, sähen Se, liebe Dame, mit den Doktersch, das is halt ooch solche Sache«, meinte die Großmutter, ihren Gast hinausbegleitend. »Mer kenn'n ihn halt nich bezahlen, den Doktor. Und zum Armenarzt – man hat doch ooch seinen Stolz. Ja, wenn die Tochter aus Amerika Geld schicken täte, aber wer weiß, ob se ieberhaupt noch läbt.« Die alte Frau seufzte tief.

Mariettas Füße waren plötzlich in den Erdboden hineingewachsen. Keinen Schritt vermochte sie weiter zu gehen.

Amerika – da war es, das Wort, um das sich all ihre Gedanken in der letzten Viertelstunde gedreht hatten.

Mechanisch tat ihr Mund die Frage, die ihr auf der Seele brannte: »Sie haben noch eine Tochter in Amerika, Frau Liebig?«

»Nu freilich, nu natierlich. Was halt meine Älteste, meine Lottel is, die is mit ihrem Mann nach Amerika riebergemacht. Zuerscht hat se ooch noch immer geschrieben, ooch ein paar Dollar hat se ihrer alten Muttel geschickt. Aber nu – nu heert man halt gar nischte mehr von drieben. Nur der da droben weiß, ob se noch läbt.«

Mariettas Herz kämpfte sich zusammen. Wenn die alte Frau es hätte ahnen können, daß noch jemand darum wußte, daß vielleicht neben ihr jemand stand, der ihr über ihre Tochter Auskunft geben konnte, der ihre letzten Grüße, ihr letztes Vermächtnis, ihr Kind, in Empfang genommen hatte.

Sekunden, Minuten verstrichen. Das junge Mädchen wurde sich dessen gar nicht bewußt. Wie gebannt stand sie hier in dieser kleinen Küche. Es war, als ob unsichtbare Hände sie festhielten.

»Ihre Tochter ist nach Nordamerika hinübergegangen?« fragte sie, trotzdem sie im Innern vom Gegenteil überzeugt war.

»Nu nee, nach Sidamerika, nach Brasilien is se halt hingemacht.«

»Und sie hieß – – –?« Marietta biß sich auf die Lippen. Bei einem Haar hätte sie selbst den Namen Müller hinzugesetzt.

»Miller heißt se – Lottel Miller, halt grade so wie ihr kleenes Töchterchen. Nu, das kann jetzt ooch nich mehr allzu kleene sein, das muß – warten Se mal, liebe Dame – nu so an die dreizehn, vierzehn kann das Kindel nu ooch schon ganz gutt sein. Ja, wenn man nur wißt, ob se ieberhaupt noch läben tun alle miteenander.« Die in Gedanken versunkene alte Frau sah plötzlich ganz erschreckt hoch. Die Tür schlug vor ihr zu. Ohne weiteres Abschiedswort war ihr Besuch auf und davon.

Hatte sie das Interesse des fremden Fräuleins mit ihren Privatangelegenheiten zu sehr in Anspruch genommen? Die alte Frau besaß schlichten Herzenstakt. Es war ihr peinlich, lästig gefallen zu sein.

»Tante Jetta war heute gar nicht so lieb wie sonst im Kinderhort«, meinte drin auch Lenchen, über die dagelassenen Gaben streichelnd, als wären sie die Geberin selbst.

Die jagte die vielen Treppen hinab, als ob die Furien hinter ihr her wären. Unten aber blieb sie stehen. Die Beine waren ihr wie gebrochen. Sie fühlte sich zum Umsinken matt. Es war ihr, als ob sie eine gewaltige Last mit sich schleppe: Schwere Verantwortung.

Langsam, Schritt für Schritt, ging sie durch den Schnee. Ihre Gedanken jagten sich, wirbelten durcheinander wie die Flocken, die sich an ihren Mantel, in ihr Kraushaar hingen. Was nun?

Nun war es entschieden. Licht war in die Dunkelheit, die Lottes Herkunft bisher verhüllt hatte, gekommen. Ein Irrtum war ausgeschlossen. Dazu sahen sich die beiden Kinder, Lottchen und Lenchen, zu ähnlich. Sie waren Kusinen, das unterlag keinem Zweifel mehr.

In Mariettas Hand war das Schicksal dieser Familie gelegt. Wenn sie schwieg, würde es wohl kaum jemals zutage kommen, daß Lotte die Enkelin der alten Frau Liebig war. Ob es nicht das Beste für Lottchen war, wenn sie schwieg und ihre Entdeckung ganz für sich behielt? Das Kind hatte liebevollen Ersatz für die verstorbenen Eltern gefunden. Es wuchs in bescheidenen, aber auskömmlichen Verhältnissen auf. Lotte besuchte das Lyzeum, hatte die Möglichkeit, sich in gebildete Kreise hinaufzuarbeiten. Und dort oben in der sauberen Wohnung der alten Frau hatte die Not sich zu Gaste geladen. Tat sie Lottchen, tat sie deren Familie etwas Gutes damit, wenn sie das Kind ihnen zuführte? Noch ein Mitesser mehr – die Sorge durfte sie unbedingt nicht auf die Schultern der schon genügend Darbenden wälzen. Und wenn sie auch selbst die Mittel für Lottes Unterhalt hergab, da waren Kunzes, denen mit dem Kinde das Glück und die Freude ihres Lebens genommen wurde. Nein – nein – sie durfte nicht sprechen. Besser, sie schwieg.

Aber hatte sie ein Recht dazu? Neue Gedanken kamen, verdrängten die anderen, kreisten in ihrem Hirn. Hatte sie nicht die Verpflichtung, zu sprechen? »Nur der da droben weiß, ob sie noch lebt« – – – Hatte der Wind, der um die Ecke raste, ihr soeben wieder diese Worte ins Ohr geraunt? War es nicht ihre Pflicht, der alten Mutter Gewißheit und Ruhe zu geben. Durfte sie ihr das Enkelkind vorenthalten? Und Lottchen selbst ... sie hörte wieder die sehnsüchtige Stimme des Kindes am Heiligabend: »Jedes Kind hat heute eine Mutter oder doch eine Großmutter, die es lieb hat und ihm den Weihnachtsbaum anzündet – nur ich nicht!« Durfte sie das Kind von seinen endlich entdeckten Angehörigen fernhalten?

Flocken jagen, Gedanken kreisen. Scharfer Wind kühlt die brennende Mädchenstirn. Marietta wußte nicht mehr, wie lange sie so in dem Schneetreiben umhergeirrt In einer ganz fremden Gegend fand sie sich wieder. Sie hatte gerade noch die Kraft, zu dem Autoplatz hinüberzugehen und dem Chauffeur die Adresse des Großvaters anzugeben. Dann sank sie in die Polster des elektrischen Wagens, und es war ihr, als ob sie in Nacht versinke.

Eine Ohnmacht bändigte den Wirbelsturm ihrer Gedanken.


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