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5. Kapitel. Aus den Tropen.

Ist das schön, wenn man morgens aufwacht und noch halb schlafbefangen sich zu dem Bewußtsein durchringt: Heute ist Sonntag. Du brauchst heute keinen erschreckten Blick auf die Uhr zu werfen, nicht ohne jeden sanfteren Übergang mit beiden Beinen aus dem Bett zu springen; nicht nach dem im geradezu rasenden Tempo weiterrückenden Zeiger in demselben rasenden Tempo deine Toilette zu vervollständigen; nicht mit dem letzten Frühstücksbissen zur Station zu stürzen, damit dir der Zug nicht vor der Nase davondampft. Es ist Sonntag! Du bist heute ein freier, von der Uhr unabhängiger Mensch!

Auch die Natur schien sich zu diesem sonntäglichen Bewußtsein durchgerungen zu haben. Das geschäftige Tropfen und Pladdern, das die ganze Woche unausgesetzt am Werk gewesen, ruhte. Es hatte aufgehört, zu regnen. Als wüßte der Himmel, was man einem sogenannten silbernen Sonntag in Berlin, dem vorletzten vor dem Weihnachtsfeste, an dem die Geschäfte offen bleiben, schuldig wäre. Es war noch immer kein schönes Wetter – o nein, dazu fehlte noch viel. Aber in den Mehlsuppenhimmel, der tagelang, ohne sich zu verschieben, wie dicker Kleister über dem Häusermeer geklebt hatte, war doch wenigstens Bewegung gekommen. Wenn die Wolken auch noch grau und geschwollen waren, sie verschoben sich doch wenigstens. Es war doch immerhin möglich, daß, wenn auch nicht heute, so doch vielleicht morgen oder spätestens übermorgen wieder ein Fetzen Himmelsblau sichtbar werden oder gar die Sonne eine kurze Gastrolle geben konnte.

Geheimrats machten ihren Sonntagvormittagsspaziergang. Eigentlich hatte Frau Annemarie gemeint, daß der Erdboden noch zu feucht sei und daß es jeden Augenblick wieder lospladdern könne. Früher hatte sie ja eigentlich nie danach gefragt. Aber wenn man schließlich nicht mehr allzu weit von den Siebenzig hält, fängt man doch nachgerade an, Rücksicht auf seine Sachen zu nehmen. Keine alte Dame regnet gern ein. Und dann war doch Marietta nur immer den einen Sonntag zu Hause – mitgehen mochte sie nicht, hatte noch zu arbeiten und wollte auch mal wieder ein bißchen Gesang üben. Und nachmittags kamen die Kinder, Professors und auch die Zehlendorfer. Der Sonntagnachmittag war seit vielen Jahren Familientag in Lichterfelde. Aber ihren Mann allein den Sonntagsspaziergang machen zu lassen, das brachte Frau Annemarie nicht fertig. Sie gehörte zu ihm wie sein Schatten. Und da der alte Herr mit pedantischer Pünktlichkeit, ohne Rücksicht auf Wind und Wetter seine Promenade zu unternehmen pflegte, mußte Frau Annemarie mit, ob sie wollte oder nicht.

Vater Kunze und Lottchen waren ebenfalls ausgeflogen. Sie waren in die Stadt gefahren, um die Weihnachtsschaufenster zu bewundern und um Einkäufe für Muttern, für Geheimrats und Fräulein Marietta zu machen. Denn das ließen sich Kunzes nicht nehmen, daß sie ebenso für Geheimrats unter ihrem kleinen Tannenbaum aufbauten, wie diese für sie unter dem großen.

Frau Trudchen war mit dem Sonntagsbraten angelegentlich beschäftigt. Marietta saß am Flügel und feierte Sonntag. Sie hatte sich diese Feierstunde durch eine ziemlich schwierige sozialethische Abhandlung, die Fräulein Dr. Engelhart von ihnen verlangte, verdient.

Sie sang Schubert und Schumann, die Lieder, die ihre Mutter einst hier gesungen. Ihre Stimme war nicht so voll wie die Frau Ursels, aber sie hatte dieselbe schöne Tonfarbe von weichem Silber. An ihren Gesangsstudien hielt Marietta trotz ihrer sie reichlich ausfüllenden sozialen Tätigkeit fest.

»Am Brunnen vor dem Tore, da steht ein Lindenbaum« ... Marietta erinnerte sich des Tages, da sie als Kind im Tropenlande dieses Lied zum ersten Male von der Mutter gehört hatte. »Ein Lindenbaum, was ist das? Ist das eine Palme?« hatte sie gefragt. Und die Mutter hatte ihr erzählt, daß ein Lindenbaum etwas viel, viel Schöneres sei als die herrlichste Palme. Daß er im Frühling goldene Blüten wie Sonnenlicht trüge und goldene Blätter im Herbst. Marietta schaute durch die Scheiben. Da stand er, der Lindenbaum, kahl und nackt. Seine dürren Zweig, arme streckte er zitternd in den grauen Dezemberhimmel. Wie mochte es jetzt drüben im Sonnenlande ausschauen?

Die Gartentürschelle schlug an. Den Kiesweg entlang stampfte der Briefträger dem Hause zu. Nanu – heute am Sonntag? Marietta flog ihm entgegen. Und da hielt sie auch schon den dicken, überseeischen Brief, dessen feinen, fremdländischen Duft selbst die lange Überfahrt nicht hatte ganz tilgen können, in Händen. Er trug die Schriftzüge der Mutter und war, wie stets, an den Großvater adressiert.

Aber bei Heimatsbriefen fiel das Briefgeheimnis fort. Briefe aus Brasilien durften aufgemacht werden, das war stillschweigende Übereinkunft. Knisternd fiel die Briefhülle. Marietta griff zuerst nach dem Brief ihrer Mutter. Anitas in portugiesischer Sprache geschriebene Riesenbuchstaben hatten noch bis nachher Zeit.

»Meine geliebten Eltern! Meine Jetta!« las sie. »Ich falle gleich mit der Tür ins Haus: Unsere Anita ist Braut!«

Der Brief, der so sehnlichst erwartete, sank herab. Also doch! Ja, was war denn das? Was griff ihr denn so eiskalt ans Herz? Marietta preßte mechanisch ihre beiden Hände darauf. Es war doch gar nichts Überraschendes. Sie hatten es doch erwartet. Schon damals, als Anita das letztemal in Europa gewesen. Horst hatte nur Augen für die schöne Anita gehabt. Und als er ihr dann übers Meer folgte, ja – da war's doch schon entschieden. Was wollte das dumme Herz denn eigentlich? Es hatte sich doch nur mit der Schwester zu freuen. Mochten die beiden recht glücklich werden! –

Mariettas zitternde Hand griff aufs neue nach dem Brief. Aber die Buchstaben verschwammen ihr vor den Augen. Es dauerte eine Weile, bis sie weiter lesen konnte.

»Gestern hat sie sich mit dem jungen Ricardo Orlando verlobt – – –«

»Was?« – Marietta mußte zwei-, dreimal lesen, ehe sie ganz begriff. Ricardo Orlando – nicht Horst Braun? Noch schmerzhafter empfand Marietta das wie ein aufgescheuchter Vogel flatternde Herz – unsagbares Mitgefühl mit Horst erfüllte sie. Der Ärmste – wie mochte er unter der Enttäuschung leiden. Das Blut flutete ihr wieder zum Herzen zurück. Rot der Empörung stieg ihr in die erblaßten Wangen. Wie konnte Anita mit einem solchen Manne nur ihr Spiel treiben? –

»Ihr werdet sicher ebenso erstaunt darüber sein, meine Lieben, wie wir es waren. Milton und ich hatten etwas anderes erwartet. Aber Horst hat zu lange gezögert, sich als gründlicher Deutscher zu lange besonnen. Da ist ihm Ricardo zuvorgekommen. Der Deutsche überlegt – der Amerikaner handelt. Und unsere Anita ist, wie ihr ja selber wißt, so durch und durch Amerikanerin, daß ihr die tatkräftige, energisch rasche Art des jungen Orlandos mehr zusagt. Ich sehe es, sowohl für Anita wie für Horst, für ein Glück an, daß es so gekommen ist. Das hätte niemals einen harmonischen Zusammenklang gegeben. Horst hat die ganze Zeit hier unter Anitas Art gelitten. Wenn sie ihn eben noch durch ihre Schönheit und durch ihre sprühende Liebenswürdigkeit entzückt hatte, stieß sie ihn im nächsten Augenblick durch irgendeine oberflächliche oder praktisch kühle Bemerkung zurück. Eine Mutter sieht doch scharf. Milton ist beinahe ebenso enttäuscht, wie Horst. Er hatte gehofft, ihn in seiner Firma aufnehmen zu können. Aber wir fürchten, er wird jetzt nicht mehr in den Tropen aushalten. Übrigens können wir mit unserem Schwiegersohn – Muzi, was sagst du nur dazu, deine Ursel Schwiegermutter! – ja, wir können mit unserem Schwiegersohn durchaus zufrieden sein. Ricardo Orlando ist ein liebenswürdiger, sehr eleganter und auch tüchtiger junger Mann, durch und durch Gentleman. Die Orlandos sind eine reiche, vornehme Familie, sie besitzen große Zuckerplantagen. Anita wird von ihrem Verlobten und seinen Angehörigen vergöttert – das ist das Richtige für sie. Sie ist glücklich, und ich hoffe zuversichtlich, daß es so bleibt. Sie wird euch ja noch selbst schreiben. Dem Horst sagt sie fast täglich, wie dankbar er ihr sein müsse, daß sie ihn davor bewahrt habe, mit ihr unglücklich zu werden. Sie sieht nun mal die Dinge nüchtern und klar an. Vielleicht hat sie recht, und nicht wir mit unserem deutschen, leider etwas sentimentalen Gefühl. Du, meine Jetta, wirst jetzt sicher mit all deinen Gedanken bei uns weilen. Ist es nicht auch in Wirklichkeit zu ermöglichen? Ich kann mir gar nicht vorstellen, daß du der Hochzeit deiner Zwillingsschwester fernbleiben könntest. Ihr zwei gehörtet doch immer zusammen.«

»Nein, – nein – nein!« – sagte Marietta laut in die Lektüre ihres Briefes hinein und erschrak vor ihrer Stimme. Sie vermochte jetzt noch viel weniger nach Amerika zurückzukehren, ganz abgesehen von ihrer Arbeit. Was schrieb die Mutter weiter? Wie gut sich Juan entwickelte. Er lernte fleißig. Aber der Vater legte beinahe noch mehr Wert darauf, daß er bereits mit seinen elf Jahren ein vorzüglicher Reiter war und jeden Sportpreis in der Schule gewann. Ja, der kleine Bruder. Nach dem war Marietta öfters bange. Nach ihm und nach der Mutter. Merkwürdig, sie hatte ihren schönen Vater doch auch lieb. Aber Heimweh, wie nach der Mutter, empfand sie nicht nach ihm. Und Anita, ihr ehemals zweites Ich? Hatte sie sich wirklich so mit ihr auseinander gelebt, daß sie gar keine Freude über ihre Verlobung aufbringen konnte?

Sie griff nach dem großen Bogen mit den Riesenbuchstaben. Anita schrieb stets portugiesisch an Marietta.

»Liebe, kleine Jetta! Was sagst Du dazu? Deine Nita ist Braut. Es war auch Zeit, sonst hätte ich am Ende noch graue Haare bekommen. Du mußt ja Ricardo noch aus unserer Kindertanzstunde kennen. Er ist noch ebenso hübsch, nein, eigentlich noch viel rassiger als damals. Auch so galant ist er noch heute und noch genau so verschossen in mich. Wirklich ein lieber Kerl. Von Musik versteht er leider nicht viel. Er weiß nicht, was er mir alles an den Augen absehen soll. Jeden Tag schenkt er mir etwas anderes, die herrlichsten Schmucksachen, ein schneeweißes Reitpferd, ja sogar ein reizendes, kleines Auto für meinen persönlichen Gebrauch. Auch die Eltern und Geschwister meines Verlobten verwöhnen mich sehr. Die Orlandos sind ja so reich. Sie wissen gar nicht, was sie mit ihrem Gelde anfangen sollen.« –

»Ich wüßte es schon«, murmelte Marietta vor sich hin, und sie dachte an die jammervollen Lehmhütten in dem Arbeiterdorf. Schrieb Anita denn gar nichts von Horst? Konnte sie wirklich so herzlos sein, nur von sich und ihrem Glück zu sprechen?

»Ricardos Brüder sind auch sehr schick. Besonders Rodrigo, der ist noch zu haben. Wie wär's, Jetta? Eigentlich doch ganz lustig, wenn wir Zwillinge zwei Brüder heirateten. Wir ziehen zusammen in ein Haus und führen ein fideles Leben miteinander. Du kommst doch bestimmt zu meiner Hochzeit? Dann können wir gleich Eure Verlobung feiern. Rodrigo wird Dir sicher gefallen. Er ist ein Gentleman. Oder aber tröste Horst. Der dumme Kerl ist, scheint mir, böse auf mich. Als ob ich was dafür kann, daß wir nicht zueinander passen. Er ist sicher ein guter Mensch. Aber mir ist er zu gut. Zuviel Gefühlsduselei, und von mir verlangte er dasselbe. Er vergaß ganz, daß ich Amerikanerin bin. Ständig hatte er an mir irgend etwas auszusetzen. Und Du weißt, Jetta, das kann ich nicht vertragen. Ricardo liebt mich so, wie ich bin, und will mich nicht ummodeln wie Horst, mit seiner pedantischen Schulmeisterei. Aber zu Dir würde er schon eher passen. Überleg' es Dir – Rodrigo oder Horst. Wer von beiden gewinnt den Preis? Bei Deinen Armeleutekindern darfst Du nicht alt werden. Das gehört sich nicht für eine Tavares. Ricardo läßt seine Schwägerin grüßen. Er schreibt noch selber. Dich küßt tausendmal Deine Nita.«

Der Brief fiel zur Erde. Marietta achtete dessen nicht. Sie sah nicht die Kinderhandschrift des kleinen Juan noch die markanten Schriftzüge des Vaters. So war Anita. Sie sah sie leibhaftig vor sich, die schöne Schwester, lachend ihre schwarzen Locken schüttelnd, unbekümmert in ihrem Glück darum, daß sie einem andern wehe tat. Ebenso wie sie selbst ihre Ehe schloß, auf Äußerlichkeiten aufgebaut, ohne innere Zusammengehörigkeit, so gedachte sie auch Mariettas Zukunft zu gestalten. Ein bitteres Lächeln ging über das bleiche Mädchengesicht. Rodrigo oder Horst? Wer gewann den Preis? Ein Rennen, eine Sportssache war es für Anita – mehr nicht. Und daran mußte solch ein Prachtmensch wie Horst Braun zugrunde gehen.

Nein – Marietta schüttelte den Kopf, – ein Mensch wie Horst ging nicht an solcher Enttäuschung zugrunde. Der hatte zuviel Rückgrat, zuviel Wertvolleres dafür einzusetzen. Aber weh, bitter weh mochte sie ihm getan haben. Das Bild der Schwester zerfloß. Ein anderes Bild gestaltete sich vor Mariettas geistigem Blick. Sie sah ihn unter den Palmen ihrer Tropenheimat, den großen, hellblonden Mann von der deutschen Waterkant, ein seltsamer Gegensatz zu den dunklen Bewohnern des Landes. Die hellen Brauen über den blauen Kinderaugen waren finster zusammengezogen, seine Lippen fest aufeinander gepreßt. Armer, armer Horst! Aus Mariettas schwarzen Augen rieselten glänzende Tropfen ganz leise, ganz still, sickerten, ohne daß sie sich dessen bewußt wurde, ihr die Wange entlang. So saß sie, losgelöst von ihrer Umgebung, zeitlos. So saß sie noch, als das erste winzige Zipfelchen Himmelsblau sich für Sekunden herauswagte, als graue Wolkenungetüme es längst wieder gefressen. Als Frau Trudchens Sonntagsbraten in seiner ganzen braunknusprigen Schönheit fix und fertig durch das Haus duftete, und die Großeltern, der Großvater wie stets fünf Schritt voraus, von ihrem Spaziergang heimkehrten.

Erst als die Schlüssel im Schloß rasselten, fuhr Marietta aus ihrer Versunkenheit empor, bückte sich instinktiv nach den auf dem Teppich verstreuten Briefblättern und versuchte mit ihrem Tüchlein die Tränenspuren zu tilgen. Da erklang schon der Großmama liebe Stimme: »Jetta, Seelchen, wo steckst du denn? Du hättest doch mitkommen sollen, Kind. Großpapa hat recht, man wird draußen frischer und elastischer. Man darf sich nicht vom Wetter abhängig« – da unterbrach sich die ins Zimmer Tretende. »Ein Brief – Nachricht aus Brasilien – Kind, was ist passiert? Du siehst ja totenblaß aus – – –.« Aufgeregt griff die Großmama nach dem Brief.

»Nichts, Großmuttchen, sie sind alle gesund. Nur« –Marietta zwang ihre Lippen zu einem Lächeln – »Anita hat sich verlobt!«

»Gratuliere!« klang es laut zur Tür herein aus dem Nebenzimmer – »hat er halt doch dran glauben müssen, der arme Junge!«

Die Großmama aber sprach kein Wort. Sie vergaß, den langersehnten Brief ihrer Ursel zu lesen. Sie vergaß, Hut und Mantel abzulegen. Ihre klaren Augen forschten besorgt in dem bleichen Gesicht der Enkelin, das deutlich den Stempel des Schmerzes trug. Jähe Erkenntnis durchzuckte die alte Frau: Marietta litt unter der freudigen Botschaft.

»Kind – Seelchen –«, die Großmama griff nach der kalten Mädchenhand, »das haben wir doch kommen sehen. Das haben wir doch gewußt. Das darf uns doch jetzt nicht überraschend sein! Wenn er sogar die Heimat um ihretwillen aufgeben konnte, – – – und Anita wird Horst gewiß eine gute Frau werden. Die Liebe wird veredelnd auf sie einwirken. Ich glaube, Seelchen, wir dürfen uns nur mit den beiden freuen.« Sie zog die schlanke Gestalt in ihre Arme. Oh, ihr Herzblut hätte sie hingeben mögen, wenn sie damit ihrem Liebling diese bittere Stunde hätte ersparen können.

»Anita hat sich mit Ricardo Orlando verlobt.« Mariettas Stimme klang leer.

»Wie – was? Mit wem?« Großmama traute ihren Ohren nicht. Mit dem jungen Orlando? Oh, dann war ja alles gut. Dann hatte sie sich geirrt, Gespenster gesehen. Marietta war lediglich durch die überraschende Nachricht mitgenommen. Wie Zentnergewicht wälzte es sich von Frau Annemaries Brust: Gott sei Dank, daß sie sich geirrt hatte!

Sie schob Marietta ein Endchen von sich ab. »Seelchen, was bist du sensibel. Wie kann dich die freudige Botschaft nur so angreifen. Nun ja, es ist deine Zwillingsschwester, und es ist wohl verständlich, daß du einen für sie so wichtigen Schritt mit der gleichen Erregung aufnimmst, als wärst du es selbst. Aber du mußt widerstandsfähiger werden – – –«

»Und an Horst denkst du gar nicht, Großmama?« kam es vorwurfsvoll von Mariettas Lippen.

»Ich denke schon an ihn, Kind. Aber ich betrachte es nicht als ein Unglück, wie es gekommen. Anitas Schönheit hat es ihm angetan, vielleicht auch ihr kluges, sprühendes Wesen. Aber von einer Seelengemeinschaft kann doch niemals die Rede gewesen sein. Darum wird Horst die Anita schneller vergessen, als man denkt. Sicherlich ist er jetzt durch ihre Verlobung gekränkt, aber glaube mir, Kind, verletzter Stolz wird dabei keine geringere Rolle spielen als das Herz. So, und nun wollen wir endlich den Brief lesen.« Die Großmama ging damit ins Nebenzimmer zu ihrem Mann. Den Brief ihrer Ursel, den mußten sie stets gemeinsam studieren.

Marietta stand allein am Fenster. »Bravo!« hörte sie den Großvater nebenan ausrufen, »das hat das Annele mal gescheit gemacht. Die Dollarprinzessin paßt für den einfachen Horst, wie halt ein Hindumädchen zu mir. Bravo, das freut mich!«

Marietta starrte in den kahlen Garten hinaus. Noch nie war sie sich so verlassen hier in Deutschland vorgekommen. Die Großmama versagte heute, sie konnte sich nicht in ihr Empfinden hineinfühlen. Sie schritt den Weg der verständigen Überlegung, der Vernunft, wo sie selbst bis ins Innerste ihres Herzens erschüttert war.

Frau Trudchens Sonntagsbraten, so wohlgeraten er auch war, wollte heute bei Marietta gar nicht munden. Großpapa polterte, daß sie sich mit ihrer sozialen Arbeit ganz kaputt mache. Die Großmama nickte ihr aufmunternd zu. Aber weder Poltern, weder Aufmuntern noch die Mißbilligung Frau Trudchens: »Jotte doch, man weiß doch schon jar nich mehr, wozu man kocht!« machten auf Marietta Eindruck.

Wie jeden Sonntag deckte sie nach Tisch in Gemeinschaft mit Lottchen den Tisch für die Kaffeegäste. Sie stellte Frau Trudchens großen Mohnkuchen in die Mitte und dachte daran, daß der Vetter Horst denselben besonders gern gemocht hatte.

»Fräulein Marietta,« – Lottchen sah die Schweigsame fragend an – »sind Sie böse, weil ich gestern drei Fehler im Extemporale hatte?«

»Nein, Lottchen, ich bin dir nicht böse, aber das nächstemal nimmst du dich mehr zusammen, nicht wahr!« Marietta hatte dabei die beschämende Empfindung, daß sie selbst sich mehr zusammennehmen müsse. Sie stimmte erleichtert zu, als Lottchen sie bat, mit nach oben in ihr Zimmer kommen zu dürfen, um an ihrer Weihnachtsstickerei für Mutter Trudchen ungestört zu arbeiten. Nur nicht allein sein, nicht denken.

Zu dieser Tätigkeit kam Marietta wirklich heute nachmittag kaum. Es ging an den Familiensonntagen immer recht lebhaft zu. Da war der Onkel Hans und die Tante Ruth mit ihrem lustigen Quartett. Die Älteste, Lilli, ein frischgebackener Backfisch von vierzehn Jahren und sieben Wochen. Das mußte Großmama natürlich mit Schlagsahne feiern. Evchen, die um zwei Jahre jüngere, zählte heute schon Monate und Wochen bis zu ihrem eigenen Backfischtage, da der Backfisch den Hauptanteil an der Schlagsahne bekam. Die kleineren Brüder Edchen und Heinz empfanden es als Zurücksetzung, daß Jungen keine Backfische werden konnten. Da kam der Onkel Georg Ebert, Tante Vronli und Gerda, mit denen es so viel aus der sozialen Frauenschule, aus den Horten und Heimen zu besprechen gab, daß man wirklich nicht zum Nachdenken kam.

Anitas Verlobung erregte natürlich allgemeines Erstaunen. Aber darin war man sich einig, daß Horst Braun zu schade für Anita sei. Onkel Hans, der seine erwachsene Nichte noch heute genau so neckte wie früher den Backfisch, meinte sogar zwinkernd: »Ei, Marietta, wie ist es denn mit dir? Vielleicht tröstest du den armen Jungen?«

»Dazu bin ich wieder zu schade«, sagte Marietta schroff abweisend und den Kopf stolz zurückwerfend, wie es sonst gar nicht ihre Art war.

»Stolz lieb' ich den Spanier – warum nicht auch den Portugiesen?« lachte Onkel Hans, auf Mariettas Abstammung väterlicherseits anspielend.

»Nun – nun. Seelchen, du verstehst doch sonst Spaß«, begütigte die Großmama und fuhr ablenkend fort: »Was habt ihr uns denn für Riesenpakete mitgebracht, Ruth? Es ist doch noch nicht Weihnachten.«

»Aber bald. Marietta hat um abgelegte Sachen und Spielzeug für ihre Hortkinder gebeten. Da bringen wir den ganzen Krempel gleich mit.«

»Wie nett von euch, Tante Ruth.« Marietta tat ihre Abweisung schon wieder leid.

»Das größte Paket habe ich geschleppt, was bekomme ich denn dafür?« wandte sich Onkel Hans wieder an seine Nichte.

»Einen schönen Dank.« Die großen, schwarzen Augen sahen ihn wieder freundlich an.

»Damit ist's nicht getan – unter einem Kuß mache ich's nicht. Oder ist Donna Tavares auch dazu zu schade?«

»Nein, Onkel Hans.« Und sie gab ihm einen herzlichen Versöhnungskuß.

Die Kinder hatten nun aber wirklich ihr Möglichstes beim Vertilgen des Mohnkuchens geleistet. »Jetzt wollen wir spielen«, hieß es.

»Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Bringt die Pakete herein, Kinder«, ordnete Tante Vronli an. »Wir wollen durchsehen, was davon brauchbar ist. Ich habe auch Bedarf für meine armen Kinder.«

»Och, das ist ja langweilig«, meinte der Backfisch Lilli und verfügte sich an den Radio, wo gerade die Funkprinzessin Märchen erzählte.

»Ich werde ihn einstellen, das verstehen Mädels nicht.« Edchen, der bedeutend Jüngere, war Fachmann. Er hatte zu Hause eine Anlage mit Dachantenne selbständig angelegt.

»Der Junge muß mal Ingenieur werden.« Professor Ebert sah ihm anerkennend zu.

»Nee, ich werde Geheimrat und Professor wie mein Großpapa«, rief Edchen.

»Nimm dir's nur gut vor, Büble. Aber du mußt halt nicht von hinten anfangen. Erst kommt der Doktor«, lachte der alte Geheimrat, der bisher etwas mißtrauisch auf Edchens Ingenieurkünste geblickt hatte. »Schau, Hansi,« wandte er sich an den Sohn, »am End' bekomm' ich doch noch mal einen Nachfolger in deinem Jungen.« Es war für den bedeutenden Arzt eine große Enttäuschung gewesen, daß sein Sohn nicht in seine Fußtapfen getreten.

»Edchen wird sich's noch überlegen. Aber wie ist's denn, spielen wir denn nun heute oder nicht?« Hans Hartenstein mischte die Skatkarten.

Die Damen hatten inzwischen die umfangreichen Pakete einer eingehenden Musterung unterzogen, Wäsche, Kleider, Spielzeug und Bücher gesondert. Hartensteins konnten es sich leisten, manches noch recht brauchbare Stück zur Armenbescherung zuzusteuern. Und Tante Ruth hatte ein warmes Herz.

»Diese feinen Leinenhemden könnte ich gut als Erstlingshemdchen für meine Säuglinge gebrauchen. Wenn man sie zuschneidet und näht, gibt es mehrere Dutzende«, überlegte Gerda praktisch.

»Hier wäre ein hübsches Sonntagskleid für unser Lenchen im Kinderhort. Etwas zu lang ist es sicher noch. Aber das läßt sich umnähen«, meinte Marietta erfreut.

»Sieh nur mal, Jetta, die netten Schürzen«, rief die Großmama dazwischen. »Schade, daß die schwarze Schulschürze einen Riß hat.«

»Da setzen wir bunte Borte drauf.« Tante Vronli war daran gewöhnt, jedes Stück gut zu verwerten.

»Das blaue Schurzfell bekommt Ottchen, und den Kaufmannsladen muß Gustel haben. Leider ist er schon etwas baufällig.« »Wie wär's denn, wenn wir uns gleich an die Arbeit machten? Besser könnten wir den Sonntag doch gar nicht zubringen«, schlug Tante Vronli vor.

»Nee, och nee, wir wollen lieber spielen«, lehnten sich die jungen Herrschaften auf.

»Das können wir ein andermal. Kommt nur her, ihr müßt alle helfen. Wenn man jemand eine Freude machen will, muß man alles in gutem Zustande verschenken. Am Tisch ist das Schneideratelier. Ihr Mädel, auch Lottchen, könnt euch dabei beteiligen. Seht mal, hier sind Babyjäckchen, die müssen frisch behäkelt werden. Wer will das übernehmen?« Marietta zeigte ihre Befähigung zur Jugendleiterin.

»Ich« – »nein ich!« Lotte und Evchen überschrien sich.

»Also Evchen darf die Babyjacken umhäkeln. Für Lottchen findet sich noch Arbeit, die Evchen noch nicht versteht. Du kannst doch schon Strümpfe stopfen, Lottchen. Komm her, hier gibt's genug Löcher.« Marietta wies auf einen großen Berg Kinderstrümpfe.

Lotte zog ein Gesicht. »Stopfen ist ja mopsig – – –«

»Wenn man seine eigenen Strümpfe stopfen muß, mag es vielleicht manchmal etwas langweilig sein«, stimmte Frau Geheimrat lächelnd zu. »Aber wenn man es für arme Kinder tut, die sonst frieren müssen, macht es sicher Freude.«

Da griff Lottchen beschämt zu den Strümpfen. Wenn »Tante Geheimrat«, wie Lotte die alte Dame nannte, etwas wünschte, folgte sie sofort.

Gerdas Schere fuhr bereits in den Leinenhemden herum. Frau Vronli als Meisterin richtete die Näharbeiten ein und übergab sie dann zur Verarbeitung ihren Gesellen, zu denen sich auch die Großmama zählte. Da kam auch Lilli von ihrem Radio, wenn auch noch zögernd, herbei und ließ sich Beschäftigung anweisen. Das gute Beispiel wirkte.

Die Jungen mochten nun aber auch nicht müßig dabeisitzen.

»Wir wollen auch nähen helfen«, rief Heinz, der kleinste.

»Dann mußt du auf den Tisch, Heini, ein Schneider sitzt immer auf dem Tisch«, lachte ihn seine Mutter aus.

Heinz erschien es ganz vergnüglich, oben aus dem Tisch zu thronen, und er begann seine Besteigung.

»Junge, willst du wohl mit den Füßen von meinen Lederstühlen herunter«, erhob die Großmama energisch Einspruch.

Marietta kam ihr zu Hilfe. »Kommt her, Edchen und Heini, hier gibt's Jungenarbeit. Wir bringen den Kaufmannsladen wieder in Ordnung und kleben die zerrissenen Bilderbücher. Herr Kunze hat Leim und Kleister, bittet ihn darum.«

»Unser Tropenprinzeßchen will sich nur selber vom Nähen drücken«, zog sie Gerda lachend auf. »Stimmt's, Jetta?«

»Freilich.« Marietta lachte mit den andern mit. »Fürs Nähen kann ich mich noch immer nicht begeistern, trotzdem ich doch eigentlich vor keiner Arbeit zurückschrecke. Aber ihr macht das tausendmal besser als ich.«

»Und wir brauchen Jetta überhaupt notwendig.« Die Jungen zogen die große Kusine zu ihrer Werkstatt.

Alles arbeitete emsig. Scherzworte flogen hin und her. Was schadete es, daß Lilli einen Ärmel oben zunähte, und Heini dem Kaufmann, dem er ein Bein anleimen sollte, auch noch den Kopf abriß? Das ließ sich wieder gutmachen und gab nur Stoff zum Lachen. Man wußte nicht, wo die Zeit heute blieb. Als Frau Trudchen mit den Abendbrottellern erschien, war man empört, schon so früh gestört zu werden.

»Nächsten Sonntag weiter«, tröstete Tante Vronli die Kinder. »Seht nur mal, was wir schon alles geschafft haben.«

»Ja, arbeitet nur nächsten Sonntag alle wieder, so ungestört haben wir noch nie unsere Skatpartie machen können wie heute«, stellte einer der Skatspieler frohlockend fest.

»Ich lade euch zur Belohnung für euren Fleiß zur Weihnachtsbescherung in den Kinderhort ein«, versprach Marietta den Kusinen und kleinen Vettern. »Ihr müßt doch sehen, wie sich meine Kinder über eure Gaben freuen.«

»Au ja – au ja!« Sie kannten sie bereits aus Mariettas Erzählungen, den drolligen Gustel, das Lenchen mit dem Zigarrenbändchen, Paulchen mit dem Schmutznäschen, das niedliche Käthchen und wie sie alle hießen.

»Mich nehmen Sie auch mit, Fräulein Marietta, ja?« bat Lotte.

»Aber freilich, Lottchen, du hast ja so fleißig Kinderstrümpfchen gestopft.«

Am Sonntag, wenn die Kinder da waren, durfte Lottchen ebenfalls an der allgemeinen Tafel teilnehmen. Sie hatte allerdings in Gemeinschaft mit Lilli dabei auch Pflichten. Den mit eingemachten Früchten garnierten Heringssalat – das feststehende Sonntagabendmenü – und die Berge von belegten Brötchen herumzureichen. Aber man machte ihnen das nicht allzu schwer. Es war fabelhaft, mit welchem Eifer man dabei war, ihnen die schweren Schüsseln zu erleichtern. Und heute hatte man ganz besonderen Appetit, wohl von der eifrigen Arbeit.

Onkel Hans schlug ans Glas und brachte einen Toast auf das brasilianische Brautpaar aus. Da durchzuckte es Marietta wieder. Bei der befriedigenden Arbeit für andere hatte sie kaum mehr daran gedacht, daß jenseits des Äquators in ihrem Elternhause Freude und Leid so dicht beieinander waren. »Und nun leere ich mein Glas auf eine baldige Nachfolge unserer jungen Damen.« Onkel Hans trank seinen Nichten Gerda und Marietta blinzelnd zu. Aber die beiden schüttelten den Kopf: »Wir haben gar keine Zeit dazu, unsere soziale Arbeit nimmt uns vollständig in Anspruch«, protestierte Gerda. Marietta stimmte ein. Nur Lilli, der frisch gebackene Backfisch, stieß mit dem Vater auf baldige Nachfolge an.

»Und ich trink' halt auf die baldige Heimkehr des Jungen. Der Horst ist nimmer für Amerika geschaffen, der gehört heim ins deutsche Vaterland!« rief der alte Geheimrat. Wieder klangen die Gläser zusammen, nur die Großmama sah, daß Marietta sich nicht daran beteiligte. Was hatte das Kind denn nur?

Ja, was hatte sie? Das wußte Marietta selbst nicht. Lange stand sie, nachdem die munteren Gäste heimgezogen, nachdem es still im Hause geworden, im Dunkeln droben an ihrem Fenster.


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